Wahrheit? Staat und die Politik gegen den Staat und die Politik kehren woll- ten. Der Staat wird bei Badiou zur ontologischen Form der Regie- rung bzw. Verwaltung des Sys- tems der Tatsachen. Weil das so ist, könne er nicht abgeschafft, wohl aber vom "Überschuss" der Politik "durchlöchert" werden. Politik aber unterliege, wieder im Gegensatz zur westlichen De 4 mokratie, nicht dem parlamen- tarischen Konsens der Meinun 4 gen. Sie realisiert stattdessen Wahrheitsmaximen radikaler Gleichheit, ereignishaft hervor- gebracht und situativ bewährt in "Prozeduren" der Emanzipation. Es liegt auf der Hand, dass Ba- diou hier die zentrale strategi- sche Frage der Linken des 21. Jahrhunderts anschneidet. Zu- gleich erschließt sich so die Dringlichkeit der Frage, wie man aufhören kann, Subjekt einer Wahrheit zu sein. Mit der Ant- wort darauf klärt sich auch, wie es umgekehrt möglich sein kann, Subjekt einer Wissen- schaft, einer Kunst. einer Liebe und einer Politik der Emanzipati- on zu bleiben, jenseits und nöti- genfalls gegen den Konsens. Thomos Seibert ist Philosoph, Mitarbei· ter von medico international in Frank- furt o. M. und Redakteur der Halbjah· resschrift "Fontömas" zur Entwertung des Wissens. sondern zur je eigensinnigen An- erkennung beider. Das ist der Kern materialistischer Dialektik und kehrt sie zugleich gegen Szientismus und Antiphiloso- phie. Und gegen die imperiale westliche Demokratie, die von beiden, vom Szientismus wie der Antiphilosophie, profitiere_ Den zweiten Unterschied, den von Staat und Politik, entnimmt er Marx, Lenin und Mao, die den '. f' universale Enzyklopädie dessen zu, was "als Eins gezählt'; d. h. als Tatsache präsentiert und reprä- sentiert wird. Dem Denken ge die Bergung dessen, was das System der Tatsachen als ereig- nishaft hervorbringt und stets als neue Wahrheit des Wissens, der Kunst, der Liebe oder der Po- litik "überschießt" und "durchlö- chert." Anders als bei Heidegger führt die Unterscheidung von Wissen und Denken aber nicht ; rialistische Dialektik" und beruft sich dazu, wie Deleuze und Neg 4 ri, nicht nur auf Marx, sondern auch auf Nietzsehe und Heideg- ger. Ihnen entlehnt er zwei Un 4 terscheidungen, mit denen er von der Antiphilosophie zur Phi- losophie kommen will. Den ers- ten Unterschied, den von Wissen und Denken, prägte Heidegger, der sagte, "die Wissenschaft denkt nicht': Dem folgend schreibt Badiou dem Wissen die zu VerJeugnern der politischen Wahrheit des "Toten Jahrzehnts." Die eigene Treue zu dieser Wahrheit teilt er mit zwei ande- ren Philosophen, Gilles Deleuze und Toni Negri. Mit dem ersten verband ihn eine umfangreiche Korrespondenz, ihm hat er ein schönes, lesenswertes Buch ge- widmet. Dem zweiten spricht er anerkennend die sokratische Tu- gend zu, ein erfolgreicher Ver- führer der Jugend zu sein. Mit beiden analysiert er die Gegen- wart als durch einen imperialen Kapitalismus bestimmt, der sich durch eine aggressive Rhetorik der Demokratie und der Men- schenrechte und durch "huma- nitäre" Militärinlerventionen absichert. Auch hier stößt er auf den Verfall einer Wahrheit, dies- mal den der Wahrheit der Demo- kratie. Dem setzt er die Wieder- herstellung der Philosophie ent- gegen, bestimmt aus der Treue zur Wahrheit und deshalb kom- promisslos gegenüber dem heu- tigen gesellschaftlichen Kon- sens. So wird er selbst zum Anti- demokraten, und in der Hitze des Gefechts nimmt er diese Zu- schreibung als Ehrentitel auf. Damit nicht genug. Mit De- leuze und Negri teilt Badiou das Verfahren, die Philosophie me- thodisch der Antiphilosophie auszusetzen. Er nennt das "mate- VON THOMAS SEIBERT PRO Alain Badiou ist Philosoph und Mathematiker, schreibt Ro- mane und Essays zu literatur und Malerei. Und er deutet an, das Glück einer großen Liebe er- fahren zu haben. Er war und ist linksradikaler Aktivist, nach dem Mai 68 in Frankreich Leitungska- der der maoistischen UCF/ML, dann ihrer ach folge formation l:Organisalion politique (OP). Nach seiner Dialektik muss das auch so sein, sind Wissenschaft, Kunst, Liebe und Politik für ihn doch historische "Prozeduren': die metahistorische Wahrheiten und Subjekte hervorbringen. De- ren jeweilige "Kompossibilität" bestimmt die Philosophie, die selbst keine Wahrheiten schafft. Im "autobiographischen Ge- ständnis eines Philosophen" ver- merkt er, seit Jahren von dersel- ben Frage "heimgesucht" zu wer- den und philosophisch im Grun- de gar nichts anderes als die Ant- wort darauffinden zu wollen. Die Frage lautet, "Wie kann man auf- hören, das Subjekt einer Wahr- heit zu sein?" Aufgedrängt wird sie ihm von der eigenen Genera- tion. Von der wurden nicht nur prominente einzelne - Glucks· mann, Levy, Courtois -, sondern ungezählte andere von Zeugen Politik der
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Politik der Wahrheit? - Mosse Lectures · Heute hält der französische Startheoretiker Alain Badiou seine Rede über Demokratie, Politik und Philosophie bei den Berliner Mosse lectures.
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Wahrheit?
Staat und die Politik gegen denStaat und die Politik kehren wollten. Der Staat wird bei Badiou zurontologischen Form der Regierung bzw. Verwaltung des Systems der Tatsachen. Weil das soist, könne er nicht abgeschafft,wohl aber vom "Überschuss" derPolitik "durchlöchert" werden.Politik aber unterliege, wiederim Gegensatz zur westlichen De4
mokratie, nicht dem parlamentarischen Konsens der Meinun4
gen. Sie realisiert stattdessenWahrheitsmaximen radikalerGleichheit, ereignishaft hervorgebracht und situativ bewährt in"Prozeduren" der Emanzipation.Es liegt auf der Hand, dass Badiou hier die zentrale strategische Frage der Linken des 21.Jahrhunderts anschneidet. Zugleich erschließt sich so dieDringlichkeit der Frage, wie manaufhören kann, Subjekt einerWahrheit zu sein. Mit der Antwort darauf klärt sich auch, wiees umgekehrt möglich seinkann, Subjekt einer Wissenschaft, einer Kunst. einer Liebeund einer Politik der Emanzipation zu bleiben, jenseits und nötigenfalls gegen den Konsens.
Thomos Seibert ist Philosoph, Mitarbei·ter von medico international in Frankfurt o. M. und Redakteur der Halbjah·resschrift "Fontömas"
zur Entwertung des Wissens.sondern zur je eigensinnigen Anerkennung beider. Das ist derKern materialistischer Dialektikund kehrt sie zugleich gegenSzientismus und Antiphilosophie. Und gegen die imperialewestliche Demokratie, die vonbeiden, vom Szientismus wie derAntiphilosophie, profitiere_
Den zweiten Unterschied, denvon Staat und Politik, entnimmter Marx, Lenin und Mao, die den
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universale Enzyklopädie dessenzu, was "als Eins gezählt'; d. h. alsTatsache präsentiert und repräsentiert wird. Dem Denken oblie~
ge die Bergung dessen, was dasSystem der Tatsachen als ereignishaft hervorbringt und stetsals neue Wahrheit des Wissens,der Kunst, der Liebe oder der Politik "überschießt" und "durchlöchert." Anders als bei Heideggerführt die Unterscheidung vonWissen und Denken aber nicht
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rialistische Dialektik" und beruftsich dazu, wie Deleuze und Neg4
ri, nicht nur auf Marx, sondernauch auf Nietzsehe und Heidegger. Ihnen entlehnt er zwei Un4
terscheidungen, mit denen ervon der Antiphilosophie zur Philosophie kommen will. Den ersten Unterschied, den von Wissenund Denken, prägte Heidegger,der sagte, "die Wissenschaftdenkt nicht': Dem folgendschreibt Badiou dem Wissen die
zu VerJeugnern der politischenWahrheit des "Toten Jahrzehnts."
Die eigene Treue zu dieserWahrheit teilt er mit zwei anderen Philosophen, Gilles Deleuzeund Toni Negri. Mit dem erstenverband ihn eine umfangreicheKorrespondenz, ihm hat er einschönes, lesenswertes Buch gewidmet. Dem zweiten spricht eranerkennend die sokratische Tugend zu, ein erfolgreicher Verführer der Jugend zu sein. Mitbeiden analysiert er die Gegenwart als durch einen imperialenKapitalismus bestimmt, der sichdurch eine aggressive Rhetorikder Demokratie und der Menschenrechte und durch "humanitäre" Militärinlerventionenabsichert. Auch hier stößt er aufden Verfall einer Wahrheit, diesmal den der Wahrheit der Demokratie. Dem setzt er die Wiederherstellung der Philosophie entgegen, bestimmt aus der Treuezur Wahrheit und deshalb kompromisslos gegenüber dem heutigen gesellschaftlichen Konsens. So wird er selbst zum Antidemokraten, und in der Hitzedes Gefechts nimmt er diese Zuschreibung als Ehrentitel auf.
Damit nicht genug. Mit Deleuze und Negri teilt Badiou dasVerfahren, die Philosophie methodisch der Antiphilosophieauszusetzen. Er nennt das "mate-
VON THOMAS SEIBERT
PRO Alain Badiou ist Philosophund Mathematiker, schreibt Romane und Essays zu literaturund Malerei. Und er deutet an,das Glück einer großen Liebe erfahren zu haben. Er war und istlinksradikaler Aktivist, nach demMai 68 in Frankreich Leitungskader der maoistischen UCF/ML,dann ihrer achfolge formationl:Organisalion politique (OP).Nach seiner Dialektik muss dasauch so sein, sind Wissenschaft,Kunst, Liebe und Politik für ihndoch historische "Prozeduren':die metahistorische Wahrheitenund Subjekte hervorbringen. Deren jeweilige "Kompossibilität"bestimmt die Philosophie, dieselbst keine Wahrheiten schafft.
Im "autobiographischen Geständnis eines Philosophen" vermerkt er, seit Jahren von derselben Frage "heimgesucht" zu werden und philosophisch im Grunde gar nichts anderes als die Antwort darauffinden zu wollen. DieFrage lautet, "Wie kann man aufhören, das Subjekt einer Wahrheit zu sein?" Aufgedrängt wirdsie ihm von der eigenen Generation. Von der wurden nicht nurprominente einzelne - Glucks·mann, Levy, Courtois -, sondernungezählte andere von Zeugen
Politik der
Heute hält der französische Startheoretiker AlainBadiou seine Rede über Demokratie, Politik undPhilosophie bei den Berliner Mosse lectures. WieGiorgio Agamben oder Toni Negri umgibt ihn dieAura unnachgiebiger Radikalität und erneuerterKapitalismuskritik. Zu Recht? Ein Pro und Contra
ALAIN BAOIOU (geboren 1937 in Rabat, Marokko) ist Philosoph, Mathematiker, Dramaturg und Romancier. Er istProfessor und Direktor des Instituts für Philosophie an der Ecole normale superieure in Paris und unterrichtet außerdemals Professor am College international de philosophie in Paris und an der European Graduate School in Saas·Fee. AlainBadiou war lange einer der führenden Köpfe des französischen Maoismus und ist heute noch parteipolitisch aktiv.Er spricht zweimal in Berlin: Unter dem Titel ",Democracy' against Democracy", heute um 19 Uhr bei den Masse lecturesim Hauptgebäude der Humboldt-Universität, Senatssaal, Unter den linden 6, und morgen, Freitag, um 20 Uhr in denKunst-Werken in der Auguststraße in Berlin·Mitte (beide Male in englischer Sprache). Die taz dokumentiert BadiousRede bei den Mosse Lectures in einer der kommenden Ausgaben.
VON MARTIN SAAR
CONTRA Die Popularität. derersich das philosophische WerkAlain Badious seil einigen Jahrenauch in Deutschland erfreut,zeigt an, dass hier jemand einenNerv getroffen hat. Denn einerseils tritt mit diesen Schriftenein Autor ins Zentrum der Aufmerksamkeit, der mit seinen inzwischen verstorbenen Generationsgenossen Deleuze, Lyotardund Derrida zentrale lheoretische Bezugspunkte teilt und eineauch hier lebhaft rezipierte Diskussion und einen Denkstil fortzusetzen verspricht, die allmählich zu verschwinden drohen.Andererseits hat Badiou schonvon früh an selbstbewusst mar·kiert, dass er sich an zentralenPunkten von einer "Philosophieder Differenz" distanziert, undeinen theoretischen Neuanfangin Aussicht gestellt, dessen Anspruch auf nichts Geringeres alseine neue Ontologie zielt.
Diese Kombination aus Anschlussfahigkeit und Originalitätsversprechen macht neugie·rig; und seil der Übersetzung desersten Bandes seines monumentalen Hauptwerks "Das Sein unddas Ereignis" (frz. t988, dt. ZOOS),das auf atemberaubende Weisezwischen Metaphysikgeschichteund moderner Mathematik hin
und her schaltet, steht nun einerÜberprüfung des Badiou-Effektsnichts mehr im Weg.
Großes Echo haben auch Badious kleine polilische Schriftengefunden, in denen er sich alsscharfer Polemiker gegen den liberalen Zeitgeist und das politische Denken seiner Zeitgenossen profiliert hat. Oie Aura unnachgiebiger Radikalitäl, dendiese Texte verbreiten und dievon Badious maoistischer Vergangenheit und seinem Engagement in der unorthodoxen französischen linken noch verstärktwerden, spiegell den grundsätzlichen GeSlUS seines philosophischen Projekts, und er selbst beharrt auf der Kontinuilät zwischen beiden Registern.
Dennoch fallt es schwer, dieÜbertragung seiner Überlegungen zur Ontologie auf die Politikohne Nachfragen zu akzeptieren.
Mit denselben Grundkategorien wie in seiner "platonischen"Theorie der Wahrheit charakterisiert Badiou in seinen Büchernzur "Ethik" (frz. 1993, dt. Z003)und zur "Metapolitik" (frz. 1998,dt. Z003) das Verhältnis von politischer Überzeugung und Subjektivität: Im Bereich der Politikgilt keine allgemein als verbindlich anerkannte Moral und keinZwang des besseren öffentlichenArguments, vielmehr entstehtdas polilisehe Subjekt erst durch
eine Entscheidung zur überindividuellen Wahrheit. die von einem Ereignis ausgelöst wird. Erstin der ,;rreue zum Ereignis" wirddas an sich substanzlose Subjektzum Ort einer "universalen Singularität': In der Politik geht esdamit, richtig verstanden, wederum die Interessen und Meinungen von lndividucn noch umihre verschiedenen Identitäten,sondern um "Wahrheit'~ DieseVolte gegen Relativismus undPartikularismus mag zwar kriti·sehen Biss gegenüber plumpenVersionen von Pluralismus und
Multikulturalismus haben, sieleidet allerdings daran, dass relativ unbestimmt bleibt, was hierEreignis und Universalität genaubedeuten.
Badious Lieblingsbeispielewie das Bekehrungserlebnis desPaulus, dem er in seinem gleichnamigen Buch die ..Begründungdes Universalismus" (fn. '997,dt. zooz) zuschreibt, oder die Ursprungsimpulse der chinesischen Kulturrevolution sindplausible Fälle von radikalenBrüchen und der Etablierung einer neuen Ordnung auf den
Trümmern einer alten. Aber können sie anzeigen. wieso politisches Engagement notwendigerweise eine "Affirmation des All·gemeinen" ist?
Die rigorose Distanz, mit derBadiou den gegenwärtigen demokratischen Institutionen,dem "kapitalistischen Parlamentarismus'; gegenübersteht, ver·liert an Überzeugungskraft,wenn man sich fragt, ob sich mitseiner eigenen Vorstellung vonPolilik der Kompromiss- undStreitcharakter demokratischerPolitik überhaupt artikulieren
lässt. Denn was ,Wahrheit" heißt.ist hier doch gerade umstritten.
Die Verpflichtung der Politikauf das Universelle würde vor·aussetzen, was gerade noch nichtetabliert ist, nämlich die verbindliche Kennlnis des Allgemeinen. Dann erscheinen allerdings der emphatische Ton vonBadious Texten und die unwider·stehliche rhetorische Souveränität seiner öffentlichen Auftrittein einem weniger vorteilhaftenLicht. Denn womöglich ist dieapodiktische Geste seiner politischen Interventionen die Kehrseite eines axiomatischen Stilsdes Philosophierens, der sicheher arn mathematischen Beweis als am legitimen Konfliktvon Perspektiven orientiert. Dieser Verdacht würde auch auf seinPublikum fallen. Sollte etwa dasBedürfnis, auf das die SchriftenBadious antworten, der Wunschnach klaren Ansagen, nach einem Meister sein?
Mortin Soor ist WissenschaftlicherAssistent am Institut für Politikwissen·schoften on der Goethe-Universität inFrankfurt am Maln