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1
DAS WAHRHEITSVERSTÄNDNIS
MARTIN HEIDEGGERS UND HANS URS VON BALTHASARS
INAUGURALDISSERTATION
ZUR
ERLANGUNG DER DOKTORWÜRDE
VORGELEGT DER
THEOLOGISCHEN FAKULTÄT
DER
PHILOSOPHISCH-THEOLOGISCHE HOCHSCHULE SVD
ST. AUGUSTIN
VON
GERHARD POLLMEIER
AUS
FRANKFURT
2015
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2
ERSTGUTACHTER: Prof. Dr. Peter Ramers, Sankt Augustin
ZWEITGUTACHTER: Dr. Fidelis Regi Waton, Sankt Augustin
DATUM DER RIGOROSA: 17.11.2015; 07.12.2015; 14.12.2015
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3
Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis
.......................................................................................................................
3 1 Einleitung
...........................................................................................................................
6
2 Die phänomenologischen Methoden Martin Heideggers und Hans Urs
von Balthasars ... 9 2.1 Hermeneutische Phänomenologie Martin
Heideggers ............................................... 9
2.1.1 Die phänomenologische Hermeneutik der Faktizität des
Daseins in Sein und Zeit 10 2.1.2 Hermeneutische Phänomenologie
nach der sogenannten „Kehre“ .................... 13
2.1.3 Exkurs: Heidegger und
Husserl..........................................................................
15 2.1.4 Husserls Philosophie
..........................................................................................
15
2.1.4.1 Heideggers Kritik an Husserl
......................................................................
17
2.1.5 Fazit
....................................................................................................................
19 2.2 Phänomenologie Hans Urs von Balthasars
..............................................................
20
2.2.1 Schau von Gestalten in Hinblick auf Goethes Morphologie
.............................. 21 2.2.2 Der seinsphilosophische
Aspekt der Phänomenologie von Balthasars .............. 22 2.2.3
„Orphische Erkenntnisform“ im Hinblick auf Rilke und Trakl
......................... 24
2.2.4 „Symphonie der Wahrheit“ im Hinblick auf Bach und Mozart
......................... 26 2.2.5 Exkurs: Hans Urs von Balthasar
und Romano Guardini .................................... 28 2.2.6
Fazit
....................................................................................................................
31
3 Die Ontologie Martin Heideggers und Hans Urs von Balthasars
.................................... 33
3.1 Grundbegriffe der Fundamentalontologie Heideggers in Sein
und Zeit .................. 33 3.1.1 Der Sinn von Sein und Dasein
als Existenz
....................................................... 33
3.1.2 Die ontologische Differenz
................................................................................
34 3.1.3 Das Dasein und die Frage nach dem Sein
.......................................................... 36
3.1.4 Darstellung der wichtigen Existenzialien des Daseins
....................................... 37 3.1.4.1 Das In- der-
Welt-sein
.................................................................................
37
3.1.4.2 Das Mitsein und das Man
...........................................................................
38 3.1.4.3 Die Erschlossenheit
.....................................................................................
39
3.1.4.3.1 Die
Befindlichkeit...................................................................................
40
3.1.4.3.2 Das Verstehen
.........................................................................................
41 3.1.4.3.3 Die Rede
.................................................................................................
43
3.1.4.4 Das Verfallen als Uneigentlichkeit
............................................................. 44
3.1.4.5 Die Entschlossenheit
...................................................................................
45
3.1.4.5.1 Die Angst
................................................................................................
46
3.1.4.5.2 Das Sein zum Tode und die Sorge
.......................................................... 46
3.1.4.5.3 Der Ruf des Gewissens
...........................................................................
48 3.1.4.6 Fazit
.............................................................................................................
49
3.2 Die Seinsphilosophie Hans Urs von Balthasars
....................................................... 52 3.2.1
Das Sein
..............................................................................................................
52 3.2.2 Die Realdistinktion
.............................................................................................
53
3.2.2.1 Realdistinktion und Zeit
..............................................................................
55 3.2.2.2 Realdistinktion und Gottesbeweis
...............................................................
56
3.2.3 Metaphysik der Singularität
...............................................................................
57 3.2.4 Der analoge Charakter des Seins
........................................................................
59 3.2.5 Die transzendentalen Bestimmungen des Seins
................................................. 61
3.2.6 Subjekt-Objekt
...................................................................................................
63
3.2.7 Fazit
....................................................................................................................
64
4 Das Wahrheitsverständnis Martin Heideggers und Hans Urs von
Balthasars ................. 67 4.1 Martin Heideggers
philosophische Denkwege von der „Neuscholastik“ zum hermeneutischen
Wahrheitsverständnis
...............................................................................
67
-
4
4.1.1 Wahrheit in Sein und Zeit
..................................................................................
69 4.1.2 Anknüpfung beim traditionellen Wahrheitsbegriff
............................................ 70 4.1.3 Wahrheit als
Erschlossenheit
.............................................................................
71 4.1.4 Die ontologische Abkünftigkeit des traditionellen
Wahrheitsbegriffes ............. 72
4.1.5 Zwei äquivoke Wahrheitsbegriffe in Sein und Zeit
............................................ 72 4.1.6 Vom Wesen der
Wahrheit
..................................................................................
73 4.1.7 Blick auf das Wesen der Wahrheit
.....................................................................
74 4.1.8 Wahrheit und Freiheit
.........................................................................................
78
4.1.8.1 Wahrheit und Un-Wahrheit
.........................................................................
81
4.1.8.2 Die Wahrheit des Wesens
...........................................................................
84 4.1.8.3 Die „Kehre“ und der Wandel in Heideggers
Wahrheitsverständnis ........... 85
4.1.9 Wahrheit des Seyns als Ereignis
........................................................................
86
4.1.10 Wahrheit als Überwindung der Ästhetik
............................................................ 89
4.1.11 Die Wahrheit und das Göttliche
.........................................................................
92 4.1.12 Fazit
....................................................................................................................
95
4.2 Wahrheitsverständnis Hans Urs von Balthasars
....................................................... 98
4.2.1 Wahrheit als Natur
.............................................................................................
99 4.2.2 Wahrheit als Freiheit
........................................................................................
105 4.2.3 Wahrheit als Geheimnis
...................................................................................
108 4.2.4 Wahrheit als Teilnahme
...................................................................................
110
4.2.5 Wahrheit und Person
........................................................................................
112 4.2.6 Fazit
..................................................................................................................
115
5 Das Wahrheitsverständnis der beiden Denker – eine kritische
Gegenüberstellung ....... 118 5.1 Grundsätzliches zur Position Hans
Urs von Balthasars im Hinblick auf Martin
Heidegger
...........................................................................................................................
119 5.2 Phänomenologie
.....................................................................................................
120
5.3 Metaphysik
.............................................................................................................
124 5.4 Wahrheit als Offenheit und als Geheimnis
............................................................ 128
5.5 Wahrheit als Freiheit
..............................................................................................
133
5.6 Wahrheit-Zeit-Geschichte
......................................................................................
135 5.7 Wahrheit und Logik
...............................................................................................
139
5.8 Wahrheit und Singularität
......................................................................................
141
5.9 Wahrheit und Gewissen
.........................................................................................
141 5.10 Wahrheit und Ästhetik
...........................................................................................
143
5.11 Wahrheit und die Frage nach dem Göttlichen
........................................................ 145 5.12
Fazit
........................................................................................................................
148
6 Kritik von Seiten der Philosophie und Theologie an Martin
Heideggers und Hans Urs von Balthasars Wahrheitsverständnis
.....................................................................................
152
6.1 Kritische Stimmen zu Martin Heidegger
............................................................... 152
6.1.1 Theologische Kritik
..........................................................................................
152 6.1.2 Philosophische Kritik
.......................................................................................
158
6.1.2.1 Die „Frankfurter Schule“ am Beispiel Jürgen Habermas
......................... 158 6.1.2.2 Emmanuel Levinas
....................................................................................
165
6.2 Kritische Stimmen zu Hans Urs von Balthasar
...................................................... 173 6.2.1
Kritik von Seiten der Metaphysik am Beispiel des Philosophen und
Theologen Jörg Disse
.......................................................................................................................
174
6.2.2 Literaturtheologie
.............................................................................................
176
6.2.3 Bach und Mozart
..............................................................................................
180 6.2.4 Literatur, Musik und Heilige (Spiritualität)- loci
theologici? .......................... 181 6.2.5 Die
Transzendentalphilosophie und Transzendentaltheologie Karl Rahners
.. 182
7 Resümee: Beiträge Heideggers und Balthasars zum
Wahrheitsverständnis .................. 189
-
5
7.1 Beiträge Heideggers zum Wahrheitsverständnis
.................................................... 189 7.2
Beiträge von Balthasars zum Wahrheitsverständnis
.............................................. 193
8 Abkürzungsverzeichnis Heidegger Balthasar
................................................................
197 8.1 Martin Heidegger
...................................................................................................
197
8.2 Hans Urs von Balthasar
..........................................................................................
197 9 Literaturverzeichnis
........................................................................................................
198
9.1 Primärliteratur
........................................................................................................
198 9.1.1 Heidegger, Martin ( Gesamtausgabe und Einzelschriften)
.............................. 198 9.1.2 Hans Urs von Balthasar
....................................................................................
198
9.1.3 Primärliteratur (Jürgen Habermas, Emmanuel Levinas,
Bernhard Welte) ...... 199 9.1.3.1 Habermas, Jürgen
......................................................................................
199 9.1.3.2 Levinas, Emmanuel
...................................................................................
199
9.1.3.3 Welte, Bernhard
........................................................................................
199 9.2 Sekundärliteratur
....................................................................................................
200
-
6
1 Einleitung
In der vorliegenden Dissertation geht es um zwei Denkwege auf
der Suche nach der Wahrheit.
Den einen hat Martin Heidegger (1889–1976) beschritten, den
anderen der katholische
„Literaturtheologe“ Hans Urs von Balthasar (1905–1988).
Gerade Martin Heidegger und Hans Urs von Balthasar haben sich
zeitlebens mit ihrer ganzen
intellektuellen Kraft der Wahrheitsfrage gewidmet und bis in
unsere Tage weltweit mir ihren
Denkanstößen großen Einfluss ausgeübt.
Heidegger versuchte nichts Geringeres als eine Revolution der
Philosophie, eine Destruktion
der überkommenen Metaphysik („Verwindung“ der Metaphysik, wie er
es ausdrückte) und
vollzog dabei den Bruch mit dem „System des Katholizismus“.
Trotz seiner zum Teil
despektierlichen Beschreibung der „Onto-Theologie“ übte er
großen Einfluss auf katholische
Philosophen und Theologen aus; zu nennen sind neben Hans Urs von
Balthasar vor allem
Bernard Welte, Gustav Siewerth, Johann Baptist Lotz und Karl
Rahner. Aber auch auf andere
Philosophen verfehlte sein Denken hinsichtlich seiner
(religions-)philosophischen und
theologischen Implikationen ihre Wirkung nicht; man denke an Max
Müller, Emmanuel
Levinas, Richard Rotry, Jürgen Habermas u.a.
Von Balthasar hingegen reiht sich ein in die Schar der
Philosophen und Theologen vor ihm.
Sein Ziel ist nicht die Zertrümmerung von Philosophie und
Theologie. Sein Anliegen ist es,
die Schultheologie grundsätzlich vor Schaden zu bewahren, sie
jedoch gleichsam zu
entrümpeln und aus der Erstarrung in einem neuscholastischen
Denkkorsett zu befreien.
Ob sich Heidegger mit von Balthasar auseinandergesetzt hat, ist
nicht bekannt. Von H.U. von
Balthasar wissen wir jedoch, das sein Mentor Erich Przywara S.J.
(1889–1972) ihm
vorschlug, das Studium der Neuscholastik mit Gelassenheit zu
betreiben und „Augustin und
Thomas mit Hegel, Scheler und Heidegger zu konfrontieren“.1
Frucht der daraus
erwachsenden „Theologie aus dem Dialog“, wie sie für Balthasar
charakteristisch ist – nicht
zuletzt auf Grund seines Seinsverständnisses, nach dem das Sein
nicht als Bei-sich-sein,
sondern als Gespräch und Begegnung zu denken ist – sind wichtige
Beiträge, in denen der
Theologe von Balthasar von der Philosophie Heideggers
inspirieren lässt, wie vor allem der
dritte Band seiner Apokalypse der deutschen Seele zeigt.2
Ähnlich wie Heidegger favorisiert von Balthasar ein
Wahrheitsverständnis, das Wahrheit
wesentlich auf einer anderen Ebene als der aussagenlogischen
ansiedelt: Wahrheit gehört zum
„Wesen des Seins“, das nur aus sich selbst in unmittelbarer
Evidenz erfahren werden kann.3
Eine genauere Untersuchung des Einflusses des Heideggerschen
Denkens auf das Verständnis
von Wahrheit, wie es von Balthasar entwickelt hat, stellt nach
wie vor ein Desideratum dar.
1 Hans Urs von Balthasar: Prüfet alles, das Gute behaltet
(Ostfildern 1986), S. 9.
2 Hans Urs von Balthasar: Apokalypse der deutschen Seele. Bd. 3:
Die Vergöttlichung des Todes (Salzburg –
Leipzig 1939). 3 Vgl. Hans Urs von Balthasar: Theologik. Bd. 1:
Wahrheit der Welt (Einsiedeln 1985), S. 25.
-
7
Diesem Mangel abzuhelfen, möchte vorliegendes
Dissertationsprojekt einen kleinen Beitrag
leisten.
1. Ausgehend von der auf einer kritischen Rezeption Husserls
beruhenden hermeneutischen
Phänomenologie Heideggers ist es in einem ersten Schritt
notwendig, die für die Frage nach
der Wahrheit zentrale phänomenologisch ausgerichtete
Grundhaltung („theologische
Phänomenologie“) von Balthasars genauer in den Blick zu nehmen –
eine Grundhaltung, die
wesentlich in einer „vollen, indifferenten Aufnahmebereitschaft
[besteht], die zunächst nichts
anderes wünscht, als das Phänomen so rein wie möglich
aufzunehmen“.4 Schon in jungen
Jahren prägte sich durch die Begegnung mit der Welt der Musik
(Mozart, Bach u.a.) und der
Dichtung (Goethe, Rilke, Trakl, Hölderlin) bei von Balthasar die
Sensibilität für die Kategorie
„Gestalt“ aus und die damit verbundene Grundhaltung des aus dem
wahrnehmenden Sehen
und Hören erwachsenden Staunens angesichts der sich zeigenden
„Gestalten“.
2. In einem zweiten Schritt soll sodann das Wahrheitsverständnis
Heideggers und von
Balthasars entfaltet werden. Ausgangspunkt der Beschäftigung mit
Heidegger ist sein Werk
Sein und Zeit (1927), in dem er die Frage nach der Wahrheit eng
mit seiner Analyse dessen,
was er „Dasein“ nennt, verbindet. In diesem Zusammenhang wird es
unerlässlich sein, die
Grundbegriffe der Heideggerschen Daseinsanalyse noch einmal
näher in den Blick zu
nehmen. Seit Heideggers Schrift Vom Wesen der Wahrheit (1930)
umkreist sein Denken bis
in sein Spätwerk hinein besonderes die Frage nach der
„Unverborgenheit der Wahrheit“
(aletheia), der ein besonderes Augenmerk gelten wird. In den
Beiträgen zur Philosophie (Vom
Ereignis) (verfasst zwischen 1936 und 1938, posthum 1989
veröffentlicht) bedenkt Heidegger
das Problem der Wahrheit in Bezug zur Geschichtlichkeit
(„Seynsgeschichte“). In diesem
Zusammenhang spielt der Begriff des „Ereignisses“ eine
herausragende Rolle. Seit 1935
nähert sich Heidegger dem Thema Wahrheit auch von Seiten der
Dichtung her; hier wurde
vor allem Hölderlin sein zentraler Gesprächspartner.
Was das Verständnis von Wahrheit bei von Balthasar angeht, so
werden sich die Analysen-
neben den für die Thematik relevanten Passagen seiner Werke –
vor allem auf sein Opus
Wahrheit der Welt (1947) konzentrieren müssen, das er später
unverändert im Rahmen der
Theologik I in sein Hauptwerk, die Trilogie aus Herrlichkeit,
Theodramatik und Theologik,
aufgenommen hat.5
3. Im Zentrum des dritten Teils der These steht die
Gegenüberstellung der Positionen der
beiden Protagonisten. Dabei wird es zunächst noch einmal um die
von beiden favorisierte
„phänomenologische Methode“ gehen. Sodann werden die Parallelen
der von ihnen jeweils
vertretenen Seinsphilosophie herauszuarbeiten sein. Besondere
Aufmerksamkeit muss sodann
4 Ebd., S. 74.
5 Vgl. dazu ausführlich Gerhard Pollmeier: „Wahrheit der Welt“
als erste Skizze der Trilogie (Frankfurt a.M.
2008).
-
8
der für Heidegger wie für von Balthasar bedeutsamen Frage nach
der Zeit, näherhin nach
„Wahrheit und Geschichte“ und „Wahrheit und Situation“
(„Einmaligkeit“), gewidmet
werden. In einem weiteren Schritt wird es darum gehen, die
Beziehung von Freiheit und
Wahrheit (Gewissen) und das Verhältnis von Wahrheit und Ästhetik
(Dichtung) genauer in
den Blick zu nehmen. Des Weiteren gilt es, die bei beiden
Denkern untrennbare Verbindung
von Wahrheit und Singularität herauszuarbeiten; beide vertreten
ja im Gegensatz zu Kant und
der abendländischen Philosophie den Primat des Individuellen vor
dem Allgemeinen.
Schließlich gilt es, den von beiden Denkern unterschiedlich
gebrauchten Schlüsselbegriff des
„Geheimnisses“, der im Zusammenhang mit dem Wahrheitsverständnis
von zentraler
Bedeutung ist, zu entfalten.
4. Die Positionen Heideggers und von Balthasars haben zum Teil
recht heftigen Widerspruch
erfahren. In einem vierten Durchgang soll deshalb das
Wahrheitsverständnis beider Denker
noch einmal aus einer philosophischen und theologischen
Perspektive kritisch in den Blick
genommen werde. Außerdem soll in der Zusammenschau versucht
werden, ihren nach wie
vor unverzichtbaren Beitrag für eine verantwortliche
philosophische wie theologische
Urteilbildung im Hinblick auf die Frage nach der Wahrheit zu
würdigen.
-
9
2 Die phänomenologischen Methoden Martin Heideggers und Hans Urs
von Balthasars
Sowohl H.U. von Balthasar als auch M. Heidegger sehen einen
Zusammenhang zwischen
Sein und Wahrheit.6 Man kann beider Seins- und
Wahrheitsverständnis nur verstehen, wenn
man sich zuerst mit ihrer jeweiligen phänomenologischen Methode
befasst, der
Behandlungsart und Zugangsmethode zum Phänomen der Wahrheit.
Heideggers
Ausgangspunkt ist die Phänomenologie Edmund Husserls, von
Balthasar beruft sich als
Doktor der Germanistik auf Goethes Morphologie der Pflanzen.
Heidegger trennt sich nach
dem Abbruch des Studiums der katholischen Theologie in einer
längeren Übergangsphase bis
zu seiner Vorlesung im Wintersemester 1919 in einem Prozess der
Auseinandersetzung mit
diversen Philosophen und Theologen (Husserl, Scheler, Lask;
Dilthey, Paulus, Luther,
Pasqual etc.) vom „System des Katholizismus“, in dem es um ewige
und unveränderliche
Wahrheiten geht.
2.1 Hermeneutische Phänomenologie Martin Heideggers
Heidegger übernimmt zunächst die Philosophie in Form der
Phänomenologie Husserls. In
„Mein Weg in die Phänomenologie“ beschreibt er den mühsamen Weg
zum Verständnis der
Logische[n] Untersuchungen (Halle a.d.S. – Tübingen 1913)
Husserls“7. Trotz aller
Schwierigkeiten, die Phänomenologie als „Verfahrensweise“ zu
verstehen, beschäftigte er
sich nach bestimmten Zeitabschnitten immer wieder mit den
Logische[n] Untersuchungen. So
griff er beispielsweise nach dem Studium der beiden Bücher Emil
Lasks Die Logik der
Philosophie und die Kategorienlehre. Eine Studie über den
Herrschaftsbereich der logischen
Form (Tübingen 1911) und Die Lehre vom Urteil (Tübingen 1912)
erneut auf die Logische[n]
Untersuchungen zurück, um Antworten auf Fragen zu finden, die
beim Studium Lasks
aufgetaucht waren. Auch diesmal verlief die Lektüre
unbefriedigend.8 Trotzdem hielt die
Faszination, die dieses Buch auf ihn ausübte auch nach der
Veröffentlichung des neuen
Werkes Husserls Ideen zu einer reinen Phänomenologie und
phänomenologischen
Philosophie (Halle a.d.S. 1913) an. Erst nachdem Heidegger ab
1916 Husserl in Freiburg
persönlich kennen lernte und Schritt für Schritt in das
phänomenologische Sehen eingeführt
wurde, erkannte er, wie die Auseinandersetzung mit Husserl sein
Verständnis der Philosophie
des Aristoteles beförderte.9 Trotz des großen Einflusses
Husserls und der Bestrebungen
Husserls, ihn zu seinem Nachfolger aufzubauen, entwickelte
Heidegger die Phänomenologie
weiter zu einer „hermeneutischen“ durch die Entdeckung des
Hermeneutischen und
Geschichtlichen beim Studium der Geschichtsphilosophie
Diltheys.
6 Vgl. SuZ (GA 2), S. 282, und Hans Urs von Balthasar: W, S
18f.; S. 246-255.
7 Vgl. Martin Heidegger: „Mein Weg in die Phänomenologie“. In:
ZSD, S. 81-90, hier S. 82ff.
8 Vgl. ebd., S. 83.
9 Ebd., S. 86.
-
10
2.1.1 Die phänomenologische Hermeneutik der Faktizität des
Daseins in Sein und Zeit
Aus der Verbindung der Phänomenologie mit der Hermeneutik
entwickelt Heidegger die
phänomenologische Hermeneutik der Faktizität. Sie ist das
Grundthema der frühen Freiburger
Vorlesungen. Im Sommersemester 1923 liest Heidegger „Ontologie“
(Hermeneutik der
Faktizität).10
In dieser Vorlesung wird deutlich, was Heidegger unter der
phänomenologischen
Hermeneutik der Faktizität versteht. In Sein und Zeit wird zwar
auf diese „»Hermeneutik der
Faktizität« des Daseins“ in einer Fußnote (S. 72)
hingewiesen11
, aber sie lässt sich besser
verstehen, wenn man die frühen Freiburger Vorlesungen
studiert.
Beginnen möchte ich in einem ersten Schritt mit dem Begriff der
Phänomenologie, mit dem
sich Heidegger sehr intensiv seit 1909 auseinandergesetzt hat.
Der Phänomenologiebegriff,
wie er insbesondere in Sein und Zeit und in der Marburger
Vorlesung Sommersemester 1927
„Die Grundprobleme der Phänomenologie“ vorkommt12
, soll als Behandlungsart (erstes
methodisches Prinzip) und als Zugangsmethode zum thematischen
Untersuchungsfeld
(zweites methodisches Prinzip) sowie als Bestimmungsart des
Themas der
Fundamentalontologie dargestellt werden13
. Am Anfang des Methoden-Paragraphen § 714
weist Heidegger darauf hin, dass Phänomenologie in erster Linie
ein Methodenbegriff sei. „Er
charakterisiert nicht das sachhaltige Was der Gegenstände,
sondern das Wie dieser.“15
Die
Phänomenologie übernehme weder einen Standpunkt noch eine
Richtung.16
In Sein und Zeit
stellt Heidegger zunächst den formalen Begriff der
Phänomenologie vor. Er erklärt den
formalen Phänomenologie-Begriff durch die Übersetzung und
Erklärung des Sinngehaltes des
aus zwei griechischen Wörtern zusammengesetzten Wortes
Phänomenologie. Phänomen von
φαινόμενον übersetzt er mit: das Sich-an-ihm-selbst-Zeigende.
„Das, als was sich die Sache
zeigt, ist solches, was die Sache in Wahrheit ist.“17
Der zweite Teil des Wortes
Phänomenologie leitet sich von dem griechischen Wort λόγος ab,
dessen Grundbedeutung für
Heidegger die Rede, das Offenbarmachen von etwas, das
aufweisende Sehenlassen ist.18
In
diesem Phänomenologie-Begriff ist das zusammengefasst, was in
der Maxime: »zu den
Sachen selbst!«19
zum Ausdruck kommt. Vom formalen Phänomenologiebegriff
leitet
Heidegger sowohl den vulgären als auch den phänomenologischen
Phänomenologie-Begriff
durch Entformalisieren ab. „Die Entformalisierung ist das
Problem des Bezuges der Methode
10
O (GA 63). 11
Vgl. Ben Vedder: „Die Faktizität der Hermeneutik. Ein
Vorschlag.“ In: Heidegger Studies 12 (1996), S. 95-
107, hier S. 95. 12
GP (GA 24). 13
Vgl. Friedrich-Wilhelm von Hermann: Der Begriff der
Phänomenologie bei Heidegger und Husserl. Wissen-
schaft und Gegenwart. Geisteswissenschaftliche Reihe, Heft 63.
(Frankfurt a.M. 1981), und ders.: Weg und Me-
thode. Zur hermeneutischen Phänomenologie des
seinsgeschichtlichen Denkens. Wissenschaft und Gegenwart:
Geisteswissenschaftliche Reihe, 66. (Frankfurt am Main 1990).
14
Vgl. SuZ (GA 2), S. 27. 15
Ebd., S. 37. 16
Ebd. 17
Friedrich-Wilhelm von Herrmann: Der Begriff der Phänomenologie,
S. 17. 18
Vgl. SuZ (GA 2), S. 44. 19
Ebd., S. 37.
-
11
zu ihrem Gegenstand, ohne dass dadurch die Scheidung zwischen
Methode und thematischem
Gegenstand wieder rückgängig gemacht würde.“20
Der vulgäre Phänomenologie-Begriff
bezieht sich auf Seiendes wie es Gegenstand der positiven
Wissenschaften ist und nicht wie es
sich in vorwissenschaftlicher Hinsicht zeigt.21
. Auch beim vulgären Phänomenologie-Begriff
handelt es sich um eine Methode. Insofern kann die
wissenschaftliche Forschung sich in
methodischer Hinsicht als phänomenologisch ansehen lassen.22
Anders im
vorwissenschaftlichen Bereich: „Im vorwissenschaftlichen Alltag
bedarf es keiner Methode,
keiner methodischen Aufweisung, um die Dinge unserer
natürlich-alltäglichen Lebenspraxis
allererst zum Sichzeigen zu bringen.“23
Im Methoden-Paragraphen von Sein und Zeit geht es aber
ausschließlich um den
phänomenologischen Phänomenologie-Begriff, um die
Behandlungsart, die Zugangsmethode
und die Bestimmungsart des Themas der Fundamentalontologie zu
ihrem thematischen
Gegenstand, dem Sein des Seienden. „Wird der formale
Phänomenbegriff entformalisiert in
Richtung auf das Sein des Seienden und dessen Sinn, dann
gewinnen wir den
philosophischen, den eigentlichen und deshalb phänomenologischen
Phänomen- und
Phänomenologie-Begriff.“24
Heidegger schreibt in diesem Zusammenhang: „Was ist das, was
die Phänomenologie »sehen lassen« soll? Was ist es, was in einem
ausgezeichneten Sinne
»Phänomen« genannt werden muß? Was ist seinem Wesen nach
notwendig Thema einer
ausdrücklichen Aufweisung? Offenbar solches, was sich zunächst
und zumeist gerade nicht
zeigt, was gegenüber dem, was sich zunächst und zumeist zeigt,
verborgen ist, aber zugleich
etwas ist, was wesenhaft zu dem, was sich zunächst zeigt,
gehört, so zwar, dass es seinen Sinn
und Grund ausmacht.“25
Ausdrückliche Aufweisung eines phänomenologischen Phänomens
bedeutet demnach, dass es sich um ein Phänomen handelt, dass im
Gegensatz zu den
Phänomenen im außerwissenschaftlichen- und
positiv-wissenschaftlichen Bereich verborgen
ist, nämlich das Sein des Seienden. Für Heidegger ist zunächst
das faktische Leben und seit
dem SS 192O das Dasein26
„das entscheidende Seiende, weil nur aus ihm und nur ‚für‘
es
entschieden werden soll, ob und wie das Sein selbst sich
bekundet“.27
Zu diesem verborgenen
Sein des Seienden führt eine Zugangsmethode in drei Schritten,
die auf die Schwierigkeit
dieses Weges hinweist. „Die Begegnisart des Seins und der
Seinsstrukturen im Modus des
Phänomens muß den Gegenständen der Phänomenologie allererst
abgewonnen werden.“28
Ein
erster Schritt auf dem Weg (erstes Grundstück) ist die
phänomenologische Reduktion, die den
20
Friedrich-Wilhelm von. Herrmann: Der Begriff der Phänomenologie,
S. 20. 21
Vgl. ebd., S. 21. 22
Vgl. ebd., S. 22f. 23
Ebd., S. 22. 24
Ebd., S. 23 25
SuZ (GA 2), S. 47. 26
Vgl. Helmuth Vetter: „Dasein“. In: Helmuth Vetter (Hrsg):
Wörterbuch der phänomenologischen Begriffe
(Hamburg 2004), S. 99. 27
Ilya Inishev: „Von der Lebenswelt zur Seinsgeschichte.
Verwandlungen des Philosophiebegriffes Martin Hei-
deggers“. In: Emmanuel Mejia – Ingeborg Schüßler (Hrsg.):
Heideggers Beiträge zur Philosophie (Frankfurt
2009), S. 134. 28
SuZ (GA 2), S. 49.
-
12
untersuchenden Blick vom naiv erfassten Seienden zurückführt zum
Sein.29
Aber diese
Reduktion reicht als Grundstück der phänomenologischen Methode
nicht aus, um das
Verborgene des Seins zu entbergen, denn man kann das Sein, auf
das das Seiende in der
phänomenologischen Reduktion zurückgeführt wird, nicht ohne
weiteres finden. Deshalb
fordert Heidegger als zweites Grundstück der phänomenologischen
Methode, die
phänomenologische Konstruktion. Das Sein muss „jeweils in einem
freien Entwurf in den
Blick gebracht werden. Dieses Entwerfen des vorgegebenen
Seienden auf sein Sein und
dessen Strukturen bezeichnen wir als phänomenologische
Konstruktion“.30
Das dritte
Grundstück der phänomenologischen Zugangsmethode (die
Destruktion) ist wohl am besten
beschrieben in § 6 von Sein und Zeit: „Die Aufgabe einer
Destruktion der Geschichte der
Ontologie.“31
Die Destruktion der Geschichte der Ontologie soll den kritischen
Blick schärfen
für das eigene Dasein und seine geschichtliche Verfasstheit. Vor
allem der Seinsbegriff muss
in seiner Entwicklungsgeschichte von den Anfängen an genau in
den Blick genommen und
jeweils auf seine Bedeutung hinterfragt und überprüft werden.
Heidegger sagt: „Soll für die
Seinsfrage selbst die Durchsichtigkeit ihrer eigenen Geschichte
gewonnen werden, dann
bedarf es der Auflockerung der verhärteten Tradition und der
Ablösung der durch sie
gezeitigten Verdeckungen.“32
Die kritische Funktion der Destruktion wird zwar an dritter
Stelle genannt, kommt aber als kritische sowohl bei der
Reduktion als auch bei der
Konstruktion zur Anwendung.33
Für Heidegger ist spätestens in den frühen Freiburger
Vorlesungen die Seinsfrage offen
gehalten durch die phänomenologische Hermeneutik der Faktizität
des Daseins. Was
Hermeneutik bedeutet, war Heidegger klar durch das Studium der
Hermeneutik Friedrich
D.E. Schleiermachers im Rahmen seines Theologiestudiums. Dazu
kam die
Auseinandersetzung mit der Geschichtsphilosophie Wilhelm
Diltheys. Aber er versteht die
Hermeneutik anders als Schleiermacher und Dilthey. Es geht ihm
um eine Bestimmung der
Hermeneutik als eine Hermeneutik der Faktizität oder auch
Hermeneutik des Daseins.34
.
Faktizität ist Gelebtes und Erlebtes, kurz das Leben, die
Lebenswelt selbst. Es geht in der
Hermeneutik der Faktizität darum, „das je eigene Dasein in
seinem Seinscharakter diesem
Dasein selbst zugänglich zu machen, mitzuteilen, der
Selbstentfremdung, mit der das Dasein
geschlagen ist, nachzugehen. In der Hermeneutik bildet sich für
das Dasein eine Möglichkeit
aus, für sich verstehend zu werden und zu sein.“35
. Das griechische Wort ἑρμηνεύειν bedeutet
nicht nur „auslegen“, sondern auch „kundgeben“. Der erste Sinn
der phänomenologischen
Hermeneutik besteht darin, dass das Dasein im
„entwerfend-auslegenden Verstehen“36
sich
29
GP (GA 24), S. 29. 30
Ebd., S. 29f. 31
SuZ (GA 2), S. 31-36. 32
Ebd., S. 30. 33
Friedrich-Wilhelm von Herrmann: Der Begriff der Phänomenologie,
S. 44. 34
Vgl. O (GA 63), § 3 „Hermeneutik als Selbstauslegung der
Faktizität“, S. 14ff. 35
Ebd., S. 15. 36
Friedrich-Wilhelm von Herrmann: Weg und Methode, S. 17.
-
13
selbst kundgibt. „Dieses gibt sich in der Phänomenologie des
Daseins aus seinem je schon im
Vollzug stehenden unthematischen Seinsverständnis durch das von
ihm vollzogene
ausdrückliche ἑρμηνεύειν die in seinem Seinsverständnis
verhüllten Grundstrukturen seines
eigenen Seins, die Seinsweisen des Seienden und den Sinn von
Sein überhaupt kund.“37
Bei der phänomenologischen Hermeneutik im zweiten Sinn geht es
um den dienenden
Charakter der Hermeneutik des Daseins im ersten Sinn für die
regionalen Ontologien.38
Hermeneutik wird verstanden als Ausarbeitung „im Sinne der
Ausarbeitung der Bedingungen
der Möglichkeit jeder ontologischen Untersuchung“39
. Hermeneutik im dritten Sinn heißt
„Analytik der Existenzialität“.40
„Und sofern schließlich das Dasein den ontologischen
Vorrang hat vor allem Seienden – als Seiendes in der Möglichkeit
der Existenz, erhält die
Hermeneutik als Auslegung des Seins des Daseins einen
spezifischen dritten – den,
philosophisch verstandenen, primären Sinn einer Analytik der
Existenzialität der Existenz.“41
Primärer Sinn bedeutet, nur über diesen Sinn kann die
Fundamentalontologie die Frage nach
dem Sinn von Sein erreichen.42
Über die Vollzugsbedingungen der phänomenologischen Hermeneutik
(der Vorhabe, der
Vorsicht, des Vorgriffs) und dem hermeneutischen Zirkel werden
wir im Rahmen der
Daseinsanalyse vordringen bei der Frage nach dem Verstehen.
Zum Schluss muss noch kurz auf den Unterschied zwischen
Phänomen, Erscheinung und
Schein eingegangen werden, um Begriffsverwirrung zu vermeiden.
Erscheinungen und
Schein sind immer im Phänomen fundiert. Ein Phänomen als das
„Sich-an-ihm-selbst-
zeigende“43
ist nie eine Erscheinung oder ein Schein. Nur ein Schein kann
sich im Gegensatz
zum Phänomen so zeigen, wie es nicht ist (Schein). Der
Zahnschmerz kann als Erscheinung
einer Entzündung angesehen werden. Dann wäre die Entzündung das
eigentliche Phänomen,
um das es in diesem Beispiel geht. Erscheinung kann sich auch
als Schein herausstellen.
„Sofern für »Erscheinung« in der Bedeutung von Sichmelden durch
ein Sichzeigendes ein
Phänomen konstitutiv ist, dieses sich aber privativ abwandeln
kann zum Schein, so kann auch
Erscheinung zum bloßen Schein werden.“44
2.1.2 Hermeneutische Phänomenologie nach der sogenannten
„Kehre“
Martin Heidegger vollzieht zwischen 1930 und 1938 eine Wende in
seinem Denken von der
fundamentalontologisch angesetzten Seinsfrage zur
seinsgeschichtlich angesetzten Seinsfrage,
die durch eine „gewandelte Struktur des
Hermeneutisch-Phänomenologischen“45
ausgezeichnet ist. Das bedeutet, dass Heidegger auch nach der
Wende bis in sein Spätwerk
37
Ebd., S. 17. 38
Ebd., S. 18. 39
SuZ (GA 2), S. 50. 40
Ebd., S. 50. 41
Ebd. 42
Vgl. Friedrich-Wilhelm von Herrmann: Weg und Methode, S. 18.
43
SuZ (GA 2), S. 38. 44
Ebd., S. 41. 45
Friedrich-Wilhelm von Herrmann: Weg und Methode, S. 22.
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14
die hermeneutisch-phänomenologische Methode als Denkweg
beibehalten hat, aber im Sinne
des hermeneutisch-phänomenologischen Ereignis-Denkens als
Zugangsweg zum Sein als
Ereignis.46
Zunächst muss nachvollzogen werden, welche Denkerfahrung dem
Wandel im Denken
(Kehre) Heideggers zugrunde liegt. Es handelt sich um eine Kehre
des Blickpunktes in der
phänomenologischen Erfahrung. Es ist „die phänomenologische
Erfahrung von der Herkunft
der Geworfenheit aus dem Wurf als dem Zuwurf der Wahrheit des
Seins, die den Weg des
seinsgeschichtlichen Denkens der Seinsfrage eröffnet“.47
Nach der Kehre wendet sich der
Blick zur Wahrheit des Seyns. Zu dieser Wahrheit des Seins
gehört, dass das Seyn sich von
sich selbst her entbirgt als auch verbirgt. Warum erwies sich
demnach die transzendental-
horizontale Blickbahn von Sein und Zeit als nicht hinreichend?
In Sein und Zeit bleibt die
„Geschichtlichkeit der Erschlossenheit vom Sein im Ganzen“48
unbeachtet. Es ist aber
notwendig, über die Geschichtlichkeit nachzudenken, wenn man
phänomenologisch erfährt,
„dass sich die Anwesenheitsweise des Seienden geschichtlich
wandelt“.49
Heidegger sah die Wahrheit in Sein und Zeit als Unverborgenheit,
aber das Dasein (der
Mensch) ist nicht in der Lage, diese Unverborgenheit des Seins
aus sich herzustellen.50
In
diesem Zusammenhang spielt der Begriff des Ereignisses, wie er
vor allem in den Beiträgen
zur Philosophie51
herausgearbeitet wird, eine zentrale Rolle. „Hier wird
unüberhörbar gesagt,
dass das Geworfensein des Entwurfs sein Er-eignetsein durch das
Seyn für die Wesung des
Seyns ist. Er-eignen heißt, dass der Mensch aus dem Bezug des
Seyns zu ihm »zum Eigentum
des Seyns« bestimmt wird.“52
. Eigentum des Seyns bedeutet in hermeneutischer Hinsicht,
dass der Mensch Kunde zu bringen hat von der gehörten Botschaft
als »Botengänger«53
.
Botschaft heißt, den „Zuwurf der Wahrheit des Seins denken, der
den Menschen als Da-sein
eröffnet und in das Da-sein wirft, so, dass es als geworfen
existiert.“54
Nach der Kehre kommt der Ausdruck „Hermeneutik“ nur noch an
wenigen Stellen vor, dann
aber im Sinne von „Botschaft und Kunde“ bringen. Ebenso ist es
mit dem Begriff der
„Methode“. In den Naturwissenschaften hat für ihn der Begriff
der Methode einen
„Herrschaftscharakter“.55
Herrschaftscharakter bezeichnet hier, dass die Methode den
Gegenstand der Forschung bestimmt. „Nicht ist es das Seiende
selbst, das den Zugangsweg zu
ihm vorzeichnet, sondern die Methode zwingt das Seiende, nach
ihrer Vorgabe sich zu
zeigen.“56
Anstelle der Methode setzt Heidegger die »Gegend« und den
»Weg«57
. „Im
46
Vgl. ebd., S. 31. 47
Ebd., S. 23. 48
Ebd., S. 26. 49
Ebd. 50
Vgl. Seminar in Le Thor 1969 ( GA 15), S. 345 51
BP (GA 65). 52
Friedrich-Wilhelm von Herrmann: Weg und Methode, S. 24. Vgl. BP
(GA 65), S. 263. 53
Ebd., S. 26. Vgl. US (GA 12), S. 129. 54
Friedrich-Wilhelm von Herrmann: Weg und Methode, S. 25. 55
Ebd., S. 28. 56
Ebd. 57
Ebd., S. 29.
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15
Gegnen der Gegend kommt das Zudenkende für das Denken entgegen.
Es begegnet ihm. Im
Gegnen gibt die Gegend das Zudenkende für das Denken
frei.“58
2.1.3 Exkurs: Heidegger und Husserl
Um Heideggers Kritik an seinem Lehrer und Förderer, dem
Begründer der Phänomenologie,
Edmund Husserl verstehen zu können, ist es notwendig, sich
Husserls Philosophie kurz und
vor allem hinsichtlich der Punkte, die für Heideggers Kritik
bedeutsam sind. anzuschauen.
Das ist auch deshalb von Relevanz, da es häufig zu
Missverständnissen gekommen ist, da
viele Forscher sich nicht die Mühe gemacht haben, eine
differenzierte Analyse der
Heideggerschen Phänomenologie durchzuführen.
2.1.4 Husserls Philosophie
Worum ging es eigentlich in Husserls Philosophie? Erstens sollte
die Philosophie neu
begründet werden als Grundlage der Natur-und
Geisteswissenschaften.59
Zweitens intendierte
der wissenschaftstheoretische Cartesianer Husserl60
„eine streng wissenschaftliche,
unpersönliche, Wesensforschung betreibende, systematische,
universale, anti-relativistische,
anti-skeptische, den ‚Stempel Ewigkeit‘ tragende und sachlich
orientierte Philosophie, die als
erste, selbst voraussetzungslose Philosophie“.61
Der Kenner Heideggers weiß nach dieser
kurzen Definition bereits, wo Heideggers Kritik ansetzen wird.
Die Frage nach der Wahrheit
stand dabei im Mittelpunkt des Husserlschen
Forschungsinteresses.62
. Auf Husserls
Wahrheitsbegriff kann hier nicht ausführlich eingegangen werden,
aber es soll eine kurze
Zusammenfassung folgen, um Heideggers Wahrheitsverständnis im
Laufe der Arbeit umso
deutlicher als Kontrastfolie abheben zu können. Man kann
zwischen dem (enger logischen)
Wahrheitsbegriff der Logische[n] Untersuchungen und dem
(umfassenderen metaphysischen)
der Cartesianische[n] Meditationen unterscheiden.63
Im Zusammenhang der Logische[n]
Untersuchungen spielen die Begriffe „Intentionalität“ und
„Evidenz“ im Rahmen einer
phänomenologischen Korrespondenztheorie eine zentrale Rolle.
„Das Anliegen der in den
Logische[n] Untersuchungen entwickelten deskriptiven
Phänomenologie ist daher eine
Untersuchung der verschiedenen Weisen von Intentionalität und
damit auch der
verschiedenen, auf bestimmte Intentionalitätsweisen korrelativ
bezogenen Weisen der
Gegebenheit von Gegenständen.“64
Vor allem der Begriff der Intentionalität wird noch
genauer bei der Beschreibung der Besonderheiten der Husserlschen
Phänomenologie
58
Ebd. 59
Vgl. Holger Zaborowski: „Wahrheit und die Sachen selbst. Der
philosophische Wahrheitsbegriff in der phä-
nomenologischen und hermeneutischen Tradition der Philosophie
des 20. Jahrhunderts: Edmund Husserl, Martin
Heidegger und Hans Georg Gadamer“. In: Markus Enders – Jan Szaif
(Hrsg): Die Geschichte des philosophi-
schen Begriffs der Wahrheit (Berlin – New York 2006) S. 340.
60
Vgl. Michael Großheim:„Phänomenologie des Bewusstseins oder
Phänomenologie des ‚Lebens‘? Husserl und
Heidegger in Freiburg“. In: Günter Figal (Hrsg.): Heidegger und
Husserl (Frankfurt a.M. 2009), S. 106. 61
Holger Zaborowski: „Wahrheit und die Sachen selbst“, S. 340.
62
Vgl. ebd. 63
Vgl. ebd. 64
Ebd., S. 341.
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16
besprochen, denn Heidegger setzt hier mit seiner Kritik der
phänomenologischen Methode
Husserls an, obwohl er selbst den Begriff in seine eigene
Phänomenologie neuinterpretierend
übernimmt. Husserl geht im Paragraphen 39 der Logische[n]
Untersuchungen von vier
verschiedenen Wahrheitsbegriffen auf der Grundlage der
Interpretation der Wahrheit als
adaequatio rei et intellectus aus65
. Husserl entwickelt vor allem in den Cartesianische[n]
Meditationen in phänomenologischer Reduktion auf das
„transzendentale Ego“ die
Phänomenologie zu einer idealistischen transzendentalen
Phänomenologie weiter.66
Wir
wissen bereits, dass Husserls und Heideggers formale
Phänomenologiebegriffe inhaltlich
übereinstimmen. Beim Entformalisieren der formalen
Phänomenologiebegriffe ergeben sich
jedoch deutliche Differenzen, denn Husserl entformalisiert den
formalen
Phänomenologiebegriff in Richtung auf das Bewusstseinsleben,
anstatt wie Heidegger auf das
Dasein. „Der thematische Gegenstand der Husserlschen
Phänomenologie ist das
Bewusstseinsleben mit seinen Erlebnissen bzw. Akten und
demjenigen, was in den
Bewusstseinsakten gegenständlich bewusst ist.“67
Dabei ist zu beachten, dass es nicht um die
Bewusstseinsakte im naiven Sich-an-ihm-selbst-zeigen geht,
sozusagen ohne ausdrückliche
Aufweisung, sondern um die Bewusstseinsakte, reflektiert in der
phänomenologischen
Analyse. Sie sollen so reflektiert werden, dass sie enthüllt
werden können, um zum reinen
Wesen der Akte (immanenten Sinngehalt) und ihrer wesensmäßigen
Beziehung auf die
Gegenstände zu gelangen.68
„Das, was die phänomenologische Reflexion zum Aufweis
bringt, was als Verhülltes des naiven Aktvollzuges nunmehr durch
die phänomenologische
Denkhaltung sich an ihm selbst zeigt und somit zum Phänomen
wird, ist das reine Wesen der
Akte und ihre wesensmäßige Beziehung auf die Gegenstände.“69
Es handelt sich bei den Phänomenen im Verständnis Husserls immer
um intentionale
Bewusstseinsakte.70
Intentionalität bedeutet bei Husserl, „dass jeder
Bewusstseinsakt
wesensmäßig und nicht erst aufgrund des zufälligen Auftauchens
von Gegenständen ein Sich-
beziehen-auf etwas ist“.71
Die Intentionalität ist für Husserl die wichtigste Entdeckung
der
Phänomenologie, weil durch sie die nachfolgenden Entdeckungen
erst möglich sind72
. Husserl
selbst schreibt: „Der Problemtitel, der die ganze Phänomenologie
umspannt, heißt
Intentionalität.“73
Die Gegenstände sind bewusst in der intentionalen Immanenz
des
Bewusstseins. D.h. Husserl unterscheidet zwischen dem generellen
Wesen der
Bewußtseinsakte (Intentionalität) und dem speziellen Wesen, d.h.
„dass jede Aktart sich
65
Ebd., S. 342. 66
Vgl. ebd. S. 343. 67
Friedrich-Wilhelm von Herrmann: Der Begriff der Phänomenologie,
S. 34. 68
Vgl. ebd., S. 35. 69
Ebd., S. 36. 70
Vgl. ebd., S. 39. 71
Ebd., S. 36. 72
Vgl. Celeszine Chibueze Uzondo: Die Fundierung des Erkennens im
„Verstehen“ in Heideggers Sein und Zeit
und danach. Europäische Hochschulschriften, Reihe XX,
Philosophie, Bd./Vol. 705 (Frankfurt a.M. 2007) S.
136. 73
Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie I (Halle
a.d.S. 1913), S. 337.
-
17
gemäß ihrem artmäßigen Wesen auf ihren Gegenstand bezieht, der
wahrnehmende Akt
gegenwärtigend auf ein leibhaft Anwesendes, der wiedererinnernde
Akt vergegenwärtigend
auf ein leibhaftig Gegenwärtig-Gewesenes“.74
2.1.4.1 Heideggers Kritik an Husserl
Zwar ist Sein und Zeit Edmund Husserl in Verehrung und
Freundschaft zugeeignet, aber es
lässt sich nicht verbergen, dass es in diesem Buch auch um eine
Auseinandersetzung mit
Husserls Philosophie geht, ja man sogar von einem Bruch mit
Husserl sprechen kann.75
Schon
in seiner ersten Vorlesung als Assistent Husserls in Freiburg
(1919) treten Differenzen zu
Husserl zu Tage. Auch in den frühen Freiburger Vorlesungen
erarbeitet sich Heidegger immer
deutlicher eine eigenständige philosophische Position. „So
entwickelt er in den Vorlesungen
der zwanziger Jahre eine an die Wurzel gehende Kritik an
Husserls theoretisierender
Auffassung der Phänomenologie, die im gescheiterten Versuch
einer gemeinsamen Abfassung
des »Phänomenologie«-Artikels für die Encyklopedia Britannica
deutlich zum Ausdruck
kam.“76
Trotzdem hält Husserl an ihm als seinen Nachfolger auf dem
Freiburger
Philosophenstuhl auch nach den Querelen um den Artikel für die
Encyclopedia Britannica
(1927–1928) und nach Sein und Zeit fest, denn er hoffte immer
noch, dass Heidegger die
Phänomenologie in seinem Sinn fortführen würde. Nach Heideggers
Freiburger
Antrittsvorlesung zum Thema „Was ist Metaphysik“ kam es dann zum
endgültigen Bruch mit
Husserl.77
Drei wichtige Kritikpunkte Heideggers sollen hervorgehoben
werden, die begreiflich machen,
wie es zu einem unterschiedlichen Wahrheitsverständis kommen
musste:
1. Heideggers Kritik des Husserlschen Bewusstseinsbegriffes;
2. die unterschiedliche Auffassung über das, was Philosophie als
Wissenschaft bedeutet;
3. das faktische Selbst (Ich) im Lebensvollzug.
Zu 1. Heidegger benutzt seine Darstellung von Husserls
Bewusstseinsbegriff zur
grundsätzlichen Kritik an dessen Phänomenologie. Laut Heidegger
sei in der Grundstellung
des Daseins die Grundstellung des Bewusstseins verlassen.78
Nach Husserl ist, so Heidegger,
die phänomenologische Reduktion „die Methode der Rückführung des
phänomenologischen
Blickes von der natürlichen Einstellung des in die Welt der
Dinge und Personen hinlebenden
Menschen auf das transzendentale Bewusstseinsleben und dessen
noetisch-noematische
Erlebnisse, in dem sich die Objekte als Bewusstseinskorrelate
konstituieren.“79
Für Heidegger
74
Friedrich-Wilhelm von Herrmann: Der Begriff der Phänomenologie,
S. 36 75
Vgl. Thomas Rentsch: „»Sein und Zeit«. Fundamentalontologie als
Hermeneutik der Endlichkeit“. In: Dieter
Thomä (Hrsg.): Heidegger Handbuch. Leben – Werk – Wirkung
(Stuttgart – Weimar 2003), S. 54. 76
Christoph Jamme: „Phänomenologie, Heidegger und Husserl“. In:
Dieter Thomä (Hrsg.): Heidegger Hand-
buch, S. 44. 77
Vgl. ebd., S. 45. 78
Vgl. Friedrich-Wilhelm von Herrmann: Der Begriff der
Phänomenologie, S. 50. 79
GP (GA 24) S. 29.
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18
hingegen „ist das reduktiv eröffnete absolute Sein des
Bewusstseins nicht die genuine
Seinsweise des ‚Subjekts‘. Vielmehr gründet sich im reduktiven
Zugang zur absoluten
Seinssphäre das ,Subjekt‘ in sich selbst als dem
transzendentalen ego-cogito-cogitatum und
verschließt sich endgültig gegen die Möglichkeit
phänomenologischer Enthüllung seiner
existenzialen Seinsverfassung und der
selbsthaft-ekstatisch-horizontalen Erschlossenheit von
Sein überhaupt“80
. D.h. Heidegger nimmt eine Neuinterpretation der „Epochē“
(Einklammerung) vor. Husserl versteht darunter die Einklammerung
des faktischen
Vorkommens von etwas, „damit statt der zufälligen jeweiligen
Gegebenheit das Wesen einer
Sache sich zeigen und in den Blick kommen kann. […] Sie ist im
Wortsinne eine
»Enthaltung« vom Realismus der natürlichen Einstellung, derart,
daß die Aufmerksamkeit
nicht mehr bei den Dingen, sondern bei ihrer reinen Gegebenheit
im Erscheinen ist.“81
So
kann man, indem die Gegebenheit der Dinge im Bewusstsein
sichtbar wird, ihren inneren
Aufbau bzw. ihre innere Struktur erkennen.82
Heideggers Begriff der Epochē „setzt nicht die
alltägliche Orientierung an den »tatsächlich« gegebenen Dingen
außer Kraft, sondern die
wissenschaftliche Einstellung nicht, sofern sie noch in einer
natürlichen Einstellung befangen
ist, sondern als wissenschaftliche Einstellung.“83
Husserl ist für Heidegger ein Innenweltdenker84
, dem im Wesentlichen nur die Sphäre des
Bewusstseins wichtig erscheint. Wenn Heidegger von „Immanenz“
und „Transzendenz“
spricht, ist immer Husserl gemeint.85
In Sein und Zeit sagt Heidegger in § 13 über das
Verhältnis von Immanenz und Transzendenz: „Im Sichaufrichten auf
…und Erfassen geht das
Dasein nicht etwa erst aus seiner Innensphäre hinaus, in die es
zunächst verkapselt ist,
sondern es ist seiner primären Seinsart nach immer schon
»draußen« bei einem begegnenden
Seienden der je entdeckten Welt. Und das bestimmende
Sichaufhalten bei dem zu
erkennenden Seienden ist nicht etwa ein Verlassen der inneren
Sphäre, sondern auch in
diesem »Draußen-sein« beim Gegenstand ist das Dasein im
rechtverstandenen Sinne
»drinnen«, d.h. es selbst ist es als In-der-Welt-sein, das
erkennt.“86
Zu 2. Heidegger gilt wissenschaftstheoretisch als Aristoteliker,
obgleich er gleichzeitig auch
kritisch Aristoteles gegenübersteht. Husserl orientiert sich
wissenschaftstheoretisch an
Descartes87
, d.h. er wendet sich vom „naiven Objektivismus zum
transzendentalen
Subjektivismus“.88
Heidegger hält Descartes für einen Philosophen, der sich nicht
an den
80
Friedrich-Wilhelm von Herrmann: Der Begriff der Phänomenologie,
S. 47. 81
Günter Figal: Heidegger Lesebuch (Frankfurt a.M. 2007), S. 12.
82
Vgl. ebd. 83
Ebd., S. 12. 84
Michael Großheim „Phänomenologie des Bewusstseins oder
Phänomenologie des ‚Lebens‘? Husserl und
Heidegger in Freiburg“. In: Günter Figal – Hans-Helmut Gander
(Hrsg.): Heidegger und Husserl. Neue Perspek-
tiven (Frankfurt a.M. 2009), S. 101-136, hier S. 111. 85
Vgl. ebd., S. 115. 86
SuZ (GA 2), S. 83. 87
Vgl. Michael Großmann: Phänomenologie des Bewusstseins, S. 106.
88
Ebd., S. 107.
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19
Sachen orientiert, sondern an vorgefassten formalen Ansprüchen.
In den Paragraphen 19-21
von Sein und Zeit beschäftigt sich Heidegger eingehend mit
diesem Problem. Für Heidegger
ist Aristoteles der eigentliche Phänomenologe. Aus diesem Grund
übernimmt er im Gegensatz
zu Husserls theoretisch orientierten Subjektauffassung viele
Elemente aus dem Bereich der
Aristotelischen Anthropologie.89
Für den Metaphysiker Aristoteles war es selbstverständlich,
„dass zuerst das, was erkannt wird, als das Bestimmende
anerkannt wird“.90
Zu 3. Heidegger verwirft den egologischen Ansatz Husserls als
metaphysisch, d.h. eine
Trennung zwischen dem transzendentalen Ego und dem faktischen
Ich91
. Er entwickelt
stattdessen einen Erfahrungsbegriff, der bei der Faktizität des
konkreten Lebensvollzugs
ansetzt (lebensphilosophische Phase). Später ab der „Ontologie“
(1923) wird aus dem
faktischen Ich oder Selbst das Dasein. Gemeint ist, dass „[d]as
Selbst des faktischen Lebens
[…] kein neutraler Beobachter [ist], sondern eingelassen in die
Bedeutungszusammenhänge
einer holistisch verflochtenen Lebenswelt, in denen es sich
»bekümmernd« und »sorgend«,
also praktisch handelnd, bewegt“.92
Dieses Selbst bzw. Dasein existiert auslegend-verstehend
in seiner Lebenswelt.93
2.1.5 Fazit
Man kann Heideggers Wahrheitsverständnis nur erfassen und mit
dem Wahrheitsverständnis
anderer Denker vergleichen, wenn man sich zuerst mit dem
phänomenologischen
Phänomenologie-Begriff auseinandersetzt, der Behandlungsart und
Zugangsmethode zum
Phänomen der Wahrheit. Dabei handelt es sich um einen mühsamen
Weg, wie man aus „Mein
Weg in die Phänomenologie“ (GA 14) entnehmen kann. Heidegger
trennt sich bei der
Entwicklung seiner phänomenologischen Methode nicht nur vom
„System des
Katholizismus“, sondern auch von seinem Lehrer und Förderer
Edmund Husserl. Aus der
Verbindung der Phänomenologie mit der Hermeneutik erarbeitet
Heidegger die
phänomenologische Hermeneutik der Faktizität. Im
Methodenparagraphen von Sein und Zeit
zeigt Heidegger auf, was unter der Maxime, zu den Sachen selbst,
zu verstehen ist. Er
beantwortet die Frage danach, was in einem ausgezeichneten Sinn
Phänomen genannt werden
muss. Es geht um die Aufweisung dessen, was sich zunächst und
gerade nicht zeigt, um das
Sein des Seienden. Durch die Entformalisierung des formalen
Phänomenologie-Begriffes in
Richtung auf das faktische Ich (Selbst), später Dasein, wird der
Weg eröffnet für die
89
Vgl. Franco Volpi: „Der Rückgang auf die Griechen in den
zwanziger Jahren. Eine hermeneutische Perspekti-
ve auf Aristoteles, Platon und die Vorsokratiker im Dienst der
Seinsfrage“. In: Dieter Thomä (Hrsg.): Heidegger
Handbuch, S. 26-37, hier 31. 90
Martin Heidegger: Einführung in die phänomenologische Forschung
(GA 17), S. 103. 91
Christoph Jamme: „Phänomenologie, Heidegger und Husserl“, S. 44.
92
Matthias Jung: „Die frühen Freiburger Vorlesungen und andere
Schriften 1919–1923, Aufbau einer eigenen
Philosophie im historischen Kontext“. In: Dieter Thomä (Hrsg.):
Heidegger Handbuch, S. 13-22, hier S. 17. 93
Vgl. ebd., S. 20.
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20
ontologische Analytik in Sein und Zeit „als Freilegung des
Horizontes für eine Interpretation
des Sinnes von Sein überhaupt“.94
Die sogenannte Kehre bedeutet keineswegs, dass Heidegger
Abschied nimmt von der
Hermeneutischen Phänomenologie, sondern nach der Kehre wendet
sich der Blick zur
Wahrheit des Seyns. Wegen des Herrschaftscharakters des
Methodenbegriffs in den
Naturwissenschaften ersetzt Heidegger den Begriff Methode durch
die Begriffe Gegend und
Weg.
An seinem Lehrer Husserl bemängelt er vor allem den egologischen
Ansatz in der Trennung
von Immanenz und Transzendenz. Außerdem kritisiert Heidegger den
wissenschafts-
theoretischen Ansatz Husserls, der sich von Descartes herleitet.
Heideggers
Wissenschaftskritik richtet sich gegen die Herrschaft des
Theoretischen. Wissenschaft ist für
Heidegger nicht ein „System von Sätzen und
Begründungszusammenhängen“. In der
Philosophie gehe es vielmehr um etwas, „worin sich das faktische
Dasein mit sich selbst
auseinandersetzt“.95
2.2 Phänomenologie Hans Urs von Balthasars
Wie von Balthasar die Maxime: „Zu den Sachen selbst!“, umgesetzt
und in seinem
grundlegenden Buch Wahrheit der Welt (1947) gebraucht hat, ist
nicht einfach zu
beantworten. Fest steht, dass der Ausdruck „Phänomenologie der
Wahrheit“ in Wahrheit der
Welt, das später im Rahmen der „Trilogie“ den Titel Theologik I
erhält, mehrfach auftaucht.
Von Balthasar schreibt: „So bleibt uns nur der dritte Weg offen:
die Wahrheit der Welt in
ihrer prävalenten Welthaftigkeit zu beschreiben, ohne jedoch die
Möglichkeit auszuschließen,
dass die so beschriebene Wahrheit gewiß Elemente in sich
schließt, die unmittelbar göttlicher,
übernatürlicher Herkunft sind. Eine solche Methode ist
augenscheinlich vorurteilsloser als
jene, die apriori mit der Unmöglichkeit göttlicher Offenbarung
rechnet. Unsere erste
Untersuchung über die Wahrheit in der Welt wird also eine Art
Phänomenologie der uns
bekannten und begegnenden Wahrheit enthalten, und damit
vorwiegend das beschreiben, was
als natürliche Wahrheit anzusprechen ist.“96
In Wahrheit der Welt gibt es sicherlich Anklänge
an Heidegger und Husserl, aber das Problem bezüglich der
Herkunft seiner Ideen besteht
darin, dass er nur Thomas von Aquin zitiert, und zwar aus dem
Grund, „[…] um den Leser
unabgelenkt durch geschichtliche Seitenblicke ursprünglich vor
das Thema zu stellen und ihn
durch unvoreingenommene Schau eine neue Anpassung des geistigen
Auges an das in der
Überlieferung enthaltene Gut gewinnen zu lassen“.97
»Eine Art Phänomenologie« bedeutet,
dass er sich mit seiner Phänomenologie der Wahrheit nicht direkt
auf eine bestehende
Phänomenologie (Husserl, Heidegger etc.) bezieht, sondern eher,
wie auch das Studium seiner
94
Andreas Luckner: Martin Heidegger: »Sein und Zeit«. Ein
einführender Kommentar. Studienkommentar zur
Philosophie. 2., korr. Auflage (Paderborn [u.a.] 2007), S. 20.
95
O (GA 63), S.72. 96
Hans Urs von Balthasar: W, S. 21f. 97
Ebd., S. 9.
-
21
Werke nahe legt, selektiv, eklektisch zu seiner Seinsphilosophie
(Transzendentalien) und
Theologie passende Elemente aus der Literatur, Philosophie und
Musik auswählt und sich auf
diese Weise eine eigene Methode des Zugangs zur Wahrheit
erarbeitet. Manfred Lochbrunner
spricht bei von Balthasars Entwurf der „Wahrheit“ von einer
objektbetonten,
phänomenologischen Grundorientierung: „Der objektorientierten
Denkhaltung entspricht der
phänomenologische Duktus der Wahrheitsstudie. Deshalb ist der
Gestus des Auf-weisens
vorherrschend, weniger des Be-weisens. Das Staunen über die
daseienden Dinge ist stärker
als die kritische Vergewisserung und Begründung im erkennenden
Ich. Die Beweiskraft des
zwingenden Arguments wird in die gewährende, sich-schenkende
Evidenz des Sachaufweises
überstiegen.“98
Welchen Einfluss Goethes Schau der Gestalten auf von
Balthasars
phänomenologischen Ansatz gehabt hat, soll an erster Stelle
dargestellt werden.
2.2.1 Schau von Gestalten in Hinblick auf Goethes
Morphologie
Von Balthasar befasste sich als Germanist, Philosoph und
Theologe zeitlebens mit Johann
Wolfgang von Goethe. Goethe mit seiner phänomenologischen
Vorgehensweise, die an
Gestalten orientiert war, stand ihm näher als die
Transzendentalphilosophie Kants.99
Zwei
eigene Texte über Goethe sind für von Balthasar als Philosoph
und Theologe bezeichnend,
und zwar der Text über Goethe im ersten Band der Apokalypse der
deutschen Seele100
und
zweitens der Text in Herrlichkeit III/1101
. Werner Löser greift aus den Texten Goethes die
Wahrnehmungslehre, die sich aus der Farbenlehre ableiten lasse,
heraus und schreibt:
„Entscheidend ist, dass Goethe sich jedem reduktionistischen
Programm verweigerte, im
Gegenteil: er vereinte die analysierende Erforschung der
Phänomene mit der synthetischen
Wahrnehmung ihrer Gestalt, und er vereinte gleichzeitig seine
Hinwendung zur ganzen
irdischen Natur mit seiner Aufmerksamkeit auf die Gegenwart des
Göttlichen in ihr.“102
Das
bedeutet, der Begriff der Gestalt ist eine Abstraktion, die
Goethe als Naturforscher aus der
Natur entnimmt.103
Zweitens bezieht sich die Gestalt als formgebendes Prinzip der
Dinge „auf
deren geistigen Ursprung im Göttlichen, das in der Natur
anwesend ist“.104
Von Balthasar
wehrte sich gegen die „Zerlegung des Lebendigen“, wie sie in der
Psychoanalyse und den
meisten Schulen der Psychologie durchgeführt werde105
. Er geht von Ganzheiten aus, von
Gestalten, mehr von der Synthese als von der Analyse derselben.
Deshalb kann er in Wahrheit
der Welt schreiben: „Jede Blume, die wir sehen, ist ein
Ausdruck, jede Landschaft hat ihre
Bedeutung. Es wäre völlig vergeblich, diese Sprache in Begriffe
umsetzen zu wollen. Diese
98
Manfred Lochbrunner: Analogia Caritatis. Freiburger Theologische
Studien, Bd. 120 (Freiburg 1981), S. 105. 99
Vgl. Werner Löser: Kleine Hinführung zu Hans Urs von Balthasar
(Freiburg 2005), S. 40f. 100
(Einsiedeln 1998), S. 407-514. 101
Hans Urs von Balthasar: Herrlichkeit. Eine theologische
Ästhetik. III/1: Im Raum der Metaphysik (Einsiedeln
1965), S. 682-748. Vgl. Werner Löser: Kleine Hinführung zu Hans
Urs von Balthasar, S. 42 102
Ebd. 103
Vgl. Peter Legnowski: „Die letzte »säkulare Verwirklichung der
Herrlichkeit«. Zur Goetherezeption Hans
Urs von Balthasars“. In: Walter Kardinal Kasper (Hrsg.): Logik
der Liebe und Herrlichkeit Gottes, Hans Urs von
Balthasar im Gespräch (Ostfildern 2006), S. 134-145, hier S.
141. 104
Ebd., S. 141. 105
Hans Urs von Balthasar: W, S. 126.
-
22
Ausdruckssprache wendet sich nicht primär an das begriffliche
Denken; sondern an das
verstehende, das gestaltende Denken.“106
Das Gestaltverständnis der Berliner
Gestaltpsychologie war ein anderes. Sie lehnte den zentralen
Gedanken Goethes und von
Balthasars ab, dass nämlich das Ganze mehr ist als die Summe
seiner Teile. Die
Gestaltpsychologen in Berlin gingen von der Messbarkeit der
seelischen Funktionen aus. Für
sie korrelieren die seelischen Funktionen miteinander.107
Von Balthasar geht es beim Erfassen
von Gestalten nicht um das Messen, die Analyse oder die
Ursachenforschung, wie in den
modernen Naturwissenschaften, sondern um eine Synthese der
„Vielfalt der Daten“.108
Während Goethe sich mit dem Gestaltbegriff mehr unter dem Aspekt
der Erscheinung
auseinandersetzte, „die auf etwas diese Erscheinung
hervorbringendes verweist, steht bei von
Balthasar bei der Verwendung des Gestaltbegriffes der
Schwerpunkt auf der Frage nach dem
Wesen, das die Erscheinung der Gestalt hervorbringt“.109
Es ist kein leichtes Unterfangen, die
Gestalt der Wahrheit zu erfassen, zumal es bei der Wahrheit
nicht um eine Gestalt der
Geistesgeschichte oder der Heilsgeschichte geht. Man kann sagen,
dass seine Methode eher
der hermeneutischen Phänomenologie als der transzendentalen
Phänomenologie nahe steht.
Das ergibt sich aus dem Bemühen von Balthasars „um eine
sachgerechte Erschließung der
Sinngestalten“.110
An zweiter Stelle möchte ich kurz auf den seinsphilosophischen
Aspekt der Phänomenologie
von Balthasars eingehen.
2.2.2 Der seinsphilosophische Aspekt der Phänomenologie von
Baltha-sars
Die Metaphysik der Transzendentalien ist die ontologische
Grundlage für das, was im
vorherigen Abschnitt über die Schau der Gestalten gesagt worden
ist. Die Transzendentalien,
„die alles einzelne Seiende überschreitenden
Eigenschaften“111
, werden in Wahrheit der Welt
noch in der Reihenfolge wahr, gut, schön beschrieben. In seinem
großen theologischen
Hauptwerk der „Trilogie“, das nach den Transzendentalien
gegliedert ist, kann man von einer
umgekehrten Reihenfolge sprechen: „Ästhetik“, „Dramatik“ und
„Logik“. Wie sich ein
Vergleich der Transzendentalien mit dem „Verfahren der
Phänomenologie“112
aufzeigen lässt,
ist gut zu erkennen im Epilog, in dem von Balthasar in einer
Rückschau begründet, warum er
nicht der „traditionellen Traktaten oder Loci-Theologie“113
folgt, sondern von den
Transzendentalien ausgeht“. Im II. Teil des Epilogs „Schwelle“
genannt, spricht er vom Sich-
zeigen, Sich-geben und Sich-sagen des Wahren, Guten und Schönen.
Was bedeutet das Sich-
106
Ebd. S. 154. 107
Vgl. Hans Urs von Balthasar: H III.1, S. 31. 108
Werner Löser: Kleine Hinführung zu Hans Urs von Balthasar, S.
40. 109
Peter Legnowski: „Die letzte »säkulare Verwirklichung der
Herrlichkeit«, S. 142. 110
Jean Greisch: „Eine phänomenologische Wende der Theologie“. In:
Walter Kardinal Kasper (Hrsg.): Logik
der Liebe und Herrlichkeit Gottes (Ostfildern 2006), S. 371-358,
hier S. 382. 111
Hans Urs von Balthasar: Epilog (Einsiedeln 1987), S. 37. 112
Jean Greisch: „Eine phänomenologische Wende der Theologie“, S.
379f. 113
Hans Urs von Balthasar: Epilog, S. 7.
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23
zeigen im phänomenologischen Sinn? Das Sich-zeigen bezieht sich
auf das Schöne als
Urphänomen. Für von Balthasar ist alles Schöne »epiphan« in
einer Doppelheit. „In dieser
Doppelheit von in sich ruhender lichter Form und von
Über-sich-Hinausweisen der Form auf
ein sich in ihr lichtendes (wirkliches) Wesen liegt die innere
Polarität der transzendenten
Seinseigenschaft Schönheit.“114
Es fällt auf, dass Balthasar bei der Beschreibung der
Gestalt
der Schönheit in Wahrheit der Welt mehr Begriffe aus seinem
reichen Sprachschatz als bei
der Beschreibung der beiden anderen transzendentalen
Bestimmungen des Seins benutzt. So
spricht er von Neidlosigkeit oder Selbstpreisgabe der Schönheit,
Preisgegebenheit,
Wehrlosigkeit und Selbstschutz der Schönheit, um zu beschreiben,
was die Gestalt der
Schönheit ausmacht.115
Diese Reichhaltigkeit der Begriffe und dieses Ringen um den
Begriff
der Schönheit deuten auf die besondere Bedeutung der Schönheit
für von Balthasars
Philosophie und Theologie hin.
Wie verweist zweitens das Sich-geben als zweite
phänomenologische Komponente
(entspricht der transzendentalen Idee des Guten) auf die Gestalt
des Guten? Zunächst muss
darauf hingewiesen werden, dass die transzendentalen
Bestimmungen nicht isoliert
beschrieben werden dürfen. „Sie erbringen in ihrer Gemeinsamkeit
den Beweis für die
unerschöpfliche Tiefe und den überbordenden Reichtums des
Seins.“116
D.h. das Gute ist mit
dem Schönen verbunden und umgekehrt, so dass sich zusammen mit
der Gestalt des Guten
auch die Gestalt des Schönen zeigt. Das Sich-geben verweist also
auch auf das Sich-zeigen,
auf die klassische Maxime, der Phänomenologie, nämlich auf die
Sache selbst. Auf diese
Weise ist also die Ästhetik die Brücke zur Ethik und
umgekehrt.
Das Sich-sagen ist die dritte phänomenologische Komponente und
entspricht der
transzendentalen Idee des Wahren. Auch hier können wir
festhalten, dass sich die
Transzendentalien gegenseitig durchdringen und aufeinander
verweisen. „Insofern das Schöne
und das Gute das Wahre präfigurieren, kann man in ihnen
Vorformen des Sichsagens
erkennen.“117
.
Am Ende des Epilogs wird noch einmal auf das Prinzip der
„circumincessio der
Transzendentalien“ verwiesen. Das bedeutet, dass es sich beim
Sich-zeigen, Sich-geben und
Sich-sagen „um ein einziges »epiphanes« Urphänomen“
handelt.118
114
Ebd., S. 46. 115
Vgl. Hans Urs von Balthasar: W, S. 255. 116
Ebd. 117
Jean Greisch: „Eine phänomenologische Wende der Theologie“, S.
384. – Da es sich in dieser Arbeit haupt-
sächlich um die philosophischen Aspekte des von Baltarsarschen
Wahrheitsverständnisses handelt, möchte ich
nicht versäumen darauf hinzuweisen, dass von Balthasar seinen
philosophischen Ansatz nach seiner Kehre
(1947) in seinem Hauptwerk („Trilogie“) mit dem Theologischen
verzahnt. Er bemerkt zum Verhältnis von
Philosophie und Theologie in der Einleitung zur Wahrheit der
Welt: „Versäumt man diese philosophische Vor-
arbeit, so leidet darunter am meisten die Theologie, die sich
dann auf nichts anderes stützen kann, als auf einige
trockene abstrakte Begriffe, und dadurch in Gefahr gerät, ihren
Eigengehalt aus Mangel an zubereitetem Materi-
al nicht allseitig genug entfalten zu können“ (W, S. 22).
118
Vgl. Jean Greisch: „Eine phänomenologische Wende der Theologie“,
S. 384.
-
24
2.2.3 „Orphische Erkenntnisform“ im Hinblick auf Rilke und
Trakl
Von Balthasar verdankt Goethe das Wahrnehmen von Gestalten, den
Dichtern Georg Trakl
und Rainer Maria Rilke, wie die neuere Forschung zeigt,
maßgebliche Inspiration für seine
Denk- oder Wahrheitsform, die Krenski als „orphische
Erkenntnisform“ beschreibt.119
Orpheus steht als Symbol für den, „der das göttliche Geheimnis
als Ganzes wahrnimmt
(Poesie des Hörens) und besingt“.120
Balthasar war als Germanist sehr gut mit den beiden
Dichtern vertraut, war aber auch offen für alle logoi
spermatikoi, die er bei Philosophen,
Dichtern und Theologen in der Geistesgeschichte suchte. 121
. Er verfasste über Rilke wichtige
Essays122
und unterhielt Kontakte zu den Kreisen um Rilke und Trakl. Auch
von Balthasars
Doktorvater Robert Faesi stand in direktem Kontakt mit
Rilke123
.
Am Beispiel des Sonetts „Wolle die Wandlung“ versucht Krenski,
lyrische Motive Rilkes mit
Motivketten der Theologie von Balthasars zu verknüpfen.124
Wolle die Wandlung. O sei für die Flamme begeistert,
drin sich ein Ding dir entzieht, das mit Verwandlungen
prunkt;
jener entwerfende Geist, welcher das Irdische meistert,
liebt in dem Schwung der Figur nichts wie den wendenden
Punkt.
Was sich ins Bleiben verschließt, schon ists das Erstarrte;
Wähnt es sich sicher im Schutz des unscheinbaren Grau`s?
Warte, ein Härtestes warnt aus der Ferne das Harte.
Wehe-: abwesender Hammer holt aus!
Wer sich als Quelle ergießt, den erkennt die Erkennung;
und sie führt ihn entzückt durch das heiter Geschaffene,
das mit Anfang oft schließt und mit Ende beginnt.
Jeder glückliche Raum ist Kind oder Enkel von Trennung,
den sie staunend durchgehn. Und die verwandelte Daphne
119
Thomas Krenski: „‚Kind oder Enkel von Trennung‘. Zur
Wahrheits-Form der trinitarischen Gottes- und Erlö-
sungslehre Hans Urs von Balthasars“. In: Magnus Striet – Jan
Tück (Hrsg.): Die Kunst Gottes verstehen (Frei-
burg i.Br. 2005), S. 181-219, hier S. 216. 120
Ebd. 121
Dieser von den Stoikern und Vätern benutzte Ausdruck, war von
Balthasar geläufig (vgl. z.B. Epilog 1987, S.
11). Krenski nennt von Balthasar „Katalysator der in der Poesie
seiner Zeit schlummernden logoi spermatikoi“
(Thomas Krenski: „‚Kind oder Enkel von Trennung‘“, S. 216).
122
Vgl. Apokalypse der deutschen Seele III, S. 193-315. 123
Vgl. Thomas Krenski: „‚Kind oder Enkel von Trennung‘“, S. 185.
124
Vgl. ebd. S. 197ff. Dabei ist zu berücksichtigen, was Romano
Guardini zur Gedichtsinterpretation gesagt hat,
nämlich dass „das Gedicht größer [sei] als sein Urheber, so dass
„die Aufgabe des Interpreten auch darauf [ge-
he], dieses Größere herauszuholen“ (Romano Guardini:
„Bemerkungen über Sinn und Weise des Interpretie-
rens“. In: Ders.: Sprache – Dichtung – Deutung. Gegenwart und
Geheimnis (Mainz – Paderborn 1992), S. 231-
234, hier 242f.
-
25
will, seit sie lorbeern fühlt, dass du dich wandelst im
Wind.
Bei seinem Versuch, die lyrischen Motive Rilkes mit den
Motivketten der Philosophie und
Theologie von Balthasars zu verbinden, bietet Krenski keine
Interpretation im Sinne der
Germanistik (Strophe für Strophe, Versmaß, Inhalt und Form),
sondern er sucht nach den
logoi spermatikoi, die von Balthasar in seine Wahrheitsform
(Denkform) integriert. Das
Gedicht fordert dazu auf, dass Harte und Erstarrte zu
zertrümmern, um eine Wandlung
herbeizuführen. Für von Balthasar ist das Harte und Erstarrte
der statische Seinsbegriff der
Theo-Ontologie der Neuscholastik. Hier fordert er eine Wende hin
zu einer Seinsphilosophie,
die Sein als Liebe auslegt. Krenski stellt heraus, das Rilke
„[…] das Sein, das sich ins Bleiben
verschließt, mit den Worten ‚Wandlung‘, ‚Verwandlung‘, ‚Schwung‘
und ‚Wenden‘
[kontrastiert], in denen Gott die immerwährende Bewegung des
innergöttlichen Kreislaufes
angesprochen sieht,“125
und er vermutet, dass von Balthasar „neben patristischen
Impulsen
von Rilkes Werde-Metaphysik beeinflusst ist“, wenn er von einer
„Metaphysik des Werdens“
spricht.126
Die Rilke-Interpretation der 1920er und 1930er Jahre zeigt, dass
auch die
Literaturwissenschaft durchaus die Werde-Metaphysik bei der
Interpretation der Rilkesonette
im Blick hat.127
Von großer Bedeutung in Bezug auf von Balthasars Ontologie bzw.
Theologie ist der Vers
„Wer sich als Quelle ergießt, den erkennt die Erkennung“, ist
doch von Balthasars Ontologie
eine Ontologie von einem „theologischen Apriori“128
her. Von Balthasars Theologie geht aus
von der innertrinitarischen Dynamik des göttlichen Lebens129
und interpretiert die Quelle im
Sinne des klassischen Terminus als „fons totius trinitatis“ (D
490).130
Der Vater (Gott) ist die
Quelle, die sich ergießt. Mit dieser Metapher ist für von
Balthasar die erste radikale Kenose
verbunden. Diese Kenose (Selbstpreisgabe) bezieht sich auf die
Beziehungen (Relationen) der
göttlichen Personen im innertrinitarischen Bereich. Von
Balthasar bemerkt dazu: „[…] nur in
der Preisgabe des Eigenen, die die Trennung ernst nimmt (der
Andere soll ja Er und nicht Ich
sein!), in diesem »unter«-gehen, damit der Andere in sich selber
»auf«-geht, ereignet sich die
absolute Liebe, in der die Weseneinheit verbürgt ist
[...].“131
Hier wird die Liebe Gottes
125
Thomas Krenski: „‚Kind oder Enkel von Trennung‘“, S. 200. Nach
dem Rilke Herausgeber Manfred Engel
deutet das Sonett darauf hin, dass „Rilke Gott nicht als seiend,
sondern als werdend versteht“ (Manfred Engel:
„Mit Nietzsche auf der Suche nach Gott“. In: Ders. [Hrsg,]:
Rilke, Gedichte 1895–1910 I, S. 735-740, hier 736. 126
Thomas Krenski: „‚Kind oder Enkel von Trennung‘“, S. 201.
Ähnlich interpretiere auch der Heideggerschüler
Hermann Mörchen („Sonette an Orpheus“) das Wesen des Seins
gleichbedeutend mit dem Wandel (vgl. ebd.). 127
Krenski verweist in diesem Zusammenhang auf Jakob Henry Wilds
Monographie über Rainer Maria Rilke
(ebd., S. 201), in der dieser ausführt, dass Rilke in Gott „die
sich verwandelnde Gestalt“ erblicke (Jakob Henry
Wild: Rainer Maria Rilke. Sein Weg zu Gott [Zürich – Leipzig
1936], S. 49). Solche Interpretamente findet
Krenski auch bei Gertrud Höhler: Niemandes Sohn. Zur Poetologie
Maria Rilkes (München 1979), S. 245, und
Adrienne von Speyer: Die Welt des Gebetes (Einsiedeln 1951) S.
22. 128
Manfred Lochbrunner: Analogia Caritatis. Freiburger Theologische
Studien, Bd. 120. (Freiburg i.Br. 1981),
S. 244. 129
Vgl. Thomas Krenski: „‚Kind oder Enkel von Trennung‘“, S. 200.
130
Vgl. ebd., S. 202. 131
Hans Urs von Balthasar: TD IV, S. 74.
-
26
sichtbar, die „[…] nicht vor allem Transzendenz, und vor allem
nicht Sich-Verlieren, Sich-
Entwerfen, sondern ebenso sehr Einwohnen des Geliebten in uns“
ist.132
Für von Balthasar ist
mit Erkennung der Sohn gemeint. In Theologik III drückt er es in
seiner ihm üblichen
Bildsprache so aus: „So bleibt nur übrig, die väterliche Hingabe
als Akt unvordenklicher
Liebe zu verstehen, die der Sohn als solche empfängt, und zwar
nicht »passiv« als Geliebter,
sondern da er die substantia des Vaters als dessen Liebe
empfängt, zugleich als Mitliebender,
Rückliebender, dem All der väterlichen Liebe Antwortender, zu
allem in Liebe bereit.“133
Von Balthasar übernimmt den Sonettverses „Jeder glückliche Raum
ist Kind oder Enkel von
Trennung“ – ohne diese Metapher kenntlich zu machen – in seiner
Trinitätstheologie. Er
spricht im Blick auf die Zeugung des Sohnes von einer Trennung
in Gott. Durch diese
Trennung entstehe ein unendlicher Abstand in Gott, so „dass der
Ganz-Andere entsteht“.134
2.2.4 „Symphonie der Wahrheit“ im Hinblick auf Bach und
Mozart
Was hat Musik mit Philosophie und Theologie zu tun? Bei von
Balthasar lohnt es sich,
diesem Zusammenhang nachzuspüren, denn schon in seinen Kinder-
und Jugendjahren
beschäftigte er sich mit keinem Bereich der Kultur mehr als mit
Musik.135
Seine
Klavierlehrerin führte ihn, der selbst über ein absolutes Gehör
verfügte, ein in die
Musikliteratur des 19. Jahrhunderts.136
Nach seinem Abitur in Feldkirch begann er ein
Germanistikstudium in Wien, der Stadt, die nach dem 1. Weltkrieg
im Wagner-Fieber lag.137
Er besuchte die musikalischen Aufführungen, die Wien als Stadt
der Musik bot. Er wohnte
bei dem Psychologen Rudolf Allers, einem hervorragenden
Pianisten, mit dem er oft abends
Mahlersymphonien spielte, die er vierbändig gesetzt hatte.
Dieses Interesse für Musik hielt bis
ins hohe Alter an. Am 22. Mai 1987 erhielt er in Innsbruck den
„Mozart-Preis“.138
Anlässlich
der Preisverleihung sagte von Balthasar: „Die Jugend war
bestimmt durch Musik, ich hatte als
Klavierlehrerin eine alte Dame, die Schülerin von Clara
Schuhmann gewesen war, die mich in
die Romantik einführte, deren letzte Ausläufer ich in Wien
auskostete: Wagner, Strauß und
besonders Mahler. Das alles nahm ein Ende, als ich Mozart ins
Ohr bekam, der dieses Ohr bis
heute nicht mehr verließ; so teuer mir in den reifen Jahren Bach
und Schubert blieben, Mozart
war der unverrückte Polarstern, um den die zwei anderen ( der
Große und der kleine Bär)
kreisten.“139
Man kann nicht genau sagen, wann er, um bei der bildhaften
Redeweise zu
132
Hans Urs von Balthasar: „Rilke und die religiöse Dichtung“. In:
Stimmen der Zeit 63 (1932), S. 183-192, hier
S. 183f. In diesem Zitat zeigt sich eine Bildsprache, die von
Fachtheologen häufig kritisiert worden ist (dazu
später mehr). 133
Hans Urs von Balthasar: TL III, S. 145. 134
Hans Urs von Balthasar: TD IV, S. 7. –Diese Interpretation von
Balthasars hat im Bereich der Dogmatik zu
erheblicher Kritik geführt. Darüber wird noch ausführlicher bei
der Kritik von Balthasars von Seiten der Theolo-
gen hingewiesen. 135
Vgl. Werner Löser: Kleine Hinführung zu Hans Urs von Balthasar,
S. 43. 136
Vgl. Thomas Krenski: Hans Urs von Balthasar. Das Gottesdrama
(Mainz 1995), S. 15. 137
Vgl. ebd. 138
Vgl. Werner Löser: Kleine Hinführung zu Hans Urs von Balthasar,
S. 43. 139
Hans Urs von Balthasar: „Dank des Preisträgers an der Verleihung
des Wolfgang Amadeus Mozart-Preises
am 22. Mai 1987 in Innsbruck“. In: Elio Guerriero: Hans Urs von
Balthasar. Eine Monographie (Einsiedeln –
Freiburg 1993), S. 419-424. hier 420.
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27
bleiben, Mozart ins Ohr bekam, aber es gilt als historisch
gesichert, dass es in den ersten
Baseler Jahren war, als er die Gelegenheit hatte, über Adrienne
von Speyer Karl Barth
kennenzulernen.140
Es kam zu einer Freundschaft, in der neben der Philosophie
(Analogia
entis, Transzendentalien) und der Theologie Mozart eine
entscheidende Rolle spielte. Karl
Barth äußerte sich im dritten Teil der Kirchliche[n]
Dogmatik141
in einem „Sonderexkurs über
Mozart“ zu Mozarts Musik. Darin weist er darauf hin, dass eine
wichtige Eigenschaft der
Musik Mozarts ihre „große freie Sachlichkeit“ sei, die „das
Subjektive nie Thema“ werden
ließe. Mozart sei frei „von dem Krampfe, selber durchaus etwas
sagen zu müssen und zu
wollen. Er war selber nur Ohr für jenes Klingen und sein
Vermittler für andere Ohren“.142
Sowohl von Balthasar als auch Karl Barth verstehen seine Musik
als ein absichtsloses
Spiel.143
„Dieses absichtlose Spiel begreifen beide als ein Gleichnis
jenes Gottes, dessen
hypostasierte Weisheit von Anbeginn vor seinem Thron spielt und
in Jesus von Nazareth
Mensch wurde.“144
Karl Barth sieht in Mozarts Musik zwar nicht das Evangelium,
aber doch
sieht er in ihr „Gleichnisse des im Evangelium von Gottes freier
Gnade geoffenbarten
Reiches“.145
Von Balthasar erkennt in der Zauberflöte und in der
Jupitersymphonie „ein Gleichnis der
absichtlosen Schönheit Gottes“146
selbst, bei dem es nicht um die Vertonung subjektiver
Gefühle ( Abschiedsschmerz )147
, nicht um einen Mythos geht, sondern um einen
unsichtbaren jenseitigen offenen Raum.148
Dieser Raum könne, so von Balthasar, das irdische
Spiel aufnehmen: „Dieses wird in diesem Raum nicht erst
nachträglich gerechtfertigt oder
umgewertet, es wird auch nicht zerfällt in eine vergängliche
Spreu und einen ewigen Kern,
der allein in die himmlischen Scheunen eingeheimst würde,
vielmehr spielt sich das
unverkürzte Irdische jeweils schon im raumgebenden Medium des
Jenseitigen ab. Keine
Transposition findet statt: die Welt ist im Raum der Erlösung,
die Erde befindet sich im
Himmel in ihrer wahren und eigentlichen Position.“149
Demnach könne man Mozarts Musik
nicht als etwas rein Irdisches deuten, da sie umschlossen werde
vom Raum der Gnade. Eine
„natura pura“ gebe es nicht. Alles Geschaffene befinde sich im
Raum der Gnade. In diesem
„Raum der Gnade“, so Werner Löser, „kann sich das Irdische in
seiner weltlichen Gestalt und
in all seinen Schattierungen spielerisch entfalten. So deutet
sich an, dass von Balthasar
Mozarts Werk, dessen Dimensionen am
Zauberflöten-Abschiedsterzett exemplarisch
abgetastet werden, als Entsprechung zu seiner Theologie
versteht, in