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I DIPLOMARBEIT zur Erlangung des akademischen Grades der Magistra der Philosophie PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema Wiederholung und Verschiebung hegemonialer Geschlechterkonstruktionen im Film Martina Reiterer eingereicht bei: Ao. Univ.-Prof. Dr. Ralser Michaela Leopold-Franzens-Universität Innsbruck Fakultät für Bildungswissenschaften März 2012
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PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

Apr 21, 2023

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Erich Kistler
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Page 1: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

I

DIPLOMARBEIT

zur Erlangung des akademischen Grades der Magistra der Philosophie

PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

Wiederholung und Verschiebung hegemonialer

Geschlechterkonstruktionen im Film

Martina Reiterer

eingereicht bei:

Ao. Univ.-Prof. Dr. Ralser Michaela

Leopold-Franzens-Universität Innsbruck

Fakultät für Bildungswissenschaften

März 2012

Page 2: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

II

Page 3: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

III

in gedænken

an meine mutter

Page 4: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

IV

Vor_wort

Zur besseren Lesbarkeit des Ungewohnten an dieser Stelle eine kleine Einführung.

„Um die Illusion zweier sauber geschiedener Geschlechter aufrecht zu erhalten, kennt unsere Sprache nur

die zwei Artikel ´sie´ und ´er´ sowie die zwei darauf bezogenen Wortendungen, zumeist das weibliche

´...in´ und das männliche ´...er´. Alles, was außerhalb dieser Ordnung liegt, wird fortwährend verleugnet,

denn der Vorstellungshorizont unserer Sprache ist auf eine binäre Struktur eingegrenzt.“1

In meiner Arbeit, in der es um Leben, Begehren und Körper geht, die nicht den zwei

Geschlechtern zugeordnet werden wollen, möchte ich eine Möglichkeit finden, im System der

Sprache eine Veränderung zu perFormen. Dazu werde ich in Anlehnung an Steffen Kitty

Herrmann mit dem Unterstrich im Wort (Leser_in2) eine bipolare Geschlechtsmarkierung durch

eine kontinuierliche Vorstellung von Geschlecht in der Sprache anstreben. Der _ ist dabei eine

„Verräumlichung des Unmöglichen, des Unsichtbaren, ein Platz für alles, was sich zwischen den

rigiden Grenzen der Zweigeschlechtlichkeit tummelt“3. Hinsichtlich Artikel und Pronomen werde

ich ein ´d_´ und ein eher hilfloses ´sie_er´ verwenden, sowie in Anlehnung an Antke Engel4 die

Universalform ´man´ durch ´tran´ ersetzen, um dessen maskuline Konnotation aufzugeben. Die

Großschreibung im Wortinneren beispielsweise bei ´ReProduktion´ oder ´PerFormance´ soll eine

Untrennbarkeit und Gleichzeitigkeit mehrerer Dimensionen des Wortes zum Ausdruck bringen:

so ist jedes Reproduzieren zugleich ein Produzieren und umgekehrt, ebenso wie jedes

perFormen eine Wiederholung von Gegebenen und zugleich ein Formen ist und umgekehrt.5

1 Herrmann, 2003

2 Vgl. Lann Hornscheidt & Nduka-Agwu, 2010, S. 36-37

3 Herrmann, 2003

4 Vgl. Engel, 2009, S. 13

5 Vgl. Lann Hornscheidt & Nduka-Agwu, 2010, S. 27-28

Page 5: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

V

Inhalt

1. EINLEITUNG 1

2. PÄDAGOGIK - SUBJEKT - MEDIEN 5

3. QUEER CINEMA 9

3.1. DER BEGRIFF QUEER 9

3.2. NEW QUEER CINEMA_ QUEER ALS COMMUNITY-BEGRIFF 11

3.3. QUEER CINEMA _ QUEER ALS THEORIE-BEGRIFF 13

4. DER SUBJEKTBEGRIFF 16

4.1. GESCHLECHTLICHE SUBJEKTIVIERUNG 18

4.2. DAS KONZEPT DER PERFORMATIVITÄT 25

5. HANDLUNGSMÖGLICHKEITEN & FILM 30

5.1. PERFORMATIVES WIDERSPRECHEN 31

5.2. ZUR SOZIALEN PRODUKTIVITÄT VON FILM 33

5.3. MEDIALE PERFORMATIVITÄT DES FILMS 35

6. FILMANALYSE 38

6.1. ANALYTISCHES VERFAHREN 39

6.2. BEGRIFFE DER FILMANALYSE 40

7. ANALYTISCHER TEIL: UNTERSUCHUNG DES FILMS TODO SOBRE MI MADRE 43

7.1. FILMDATEN 44

7.2. EINORDNUNG DES FILMS IN QUEER CINEMA 45

7.3. NARRATIONSSTRUKTUR: 47

7.4. PROTAGONIST_INNEN 55

7.5. FILMSTRUKTUR 57

7.6. ORTE DES FILMS 57

Page 6: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

VI

8. PERFORMATIVE VERSCHIEBUNGEN SOZIALER KONVENTIONEN AM BEISPIEL DER

HETEROSEXUELLEN MATRIX 58

8.1. PERFORMATIVITÄT (MEDIALER) GESCHLECHTSSUBJEKTE 59

8.2. WANDELBARKEIT VON (GESCHLECHTS)KÖRPER 61

8.3. (GESCHLECHTS)IDENTITÄT 64

8.4. INSTITUTIONALISIERTE BEZIEHUNGEN: FAMILIE 71

8.5. EXKURS: GESCHLECHTSKÖRPER UND –IDENTITÄT ZWISCHEN DEN GESCHLECHTERN IN XXY 75

9. PERFORMATIVE VERSCHIEBUNGEN VON INSZENIERUNGS- UND DARSTELLUNGSFORMEN

AM BEISPIEL INTERTEXTUELLER BEZÜGE 78

9.1. GENRE 80

9.2. FILM IM FILM 83

9.3. THEATER IM FILM 92

10. RESÜMEE 99

11. QUELLENVERZEICHNIS 103

11.1. LITERATURVERZEICHNIS 103

11.2. FILMVERZEICHNIS 108

11.3. ABBILDUNGSVERZEICHNIS 109

12. ANHANG 110

Page 7: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

1

1. Einleitung

ALVARO: ¡Alex! ... Alex. Explícame. ¿Vos no sois...? ALEX. Soy las dos cosas.

ALVARO. Pero eso no puede ser.

ALEX. ¿Vos me vas a decir a mí qué es lo que puedo o no ser?6

„Ich bin beides.“ Alex, Hauptcharakter in Lucía Puenzos XXY7 ist Mann und Frau; mit dem

Einwand „Aber, das kann nicht sein“ drückt Álvaro das aus, was festgelegt und natürlich scheint:

Es gäbe zwei Geschlechter und jeder Mensch sei diesen zuordenbar. Das nicht zuordenbare

Dazwischen hat in diesen Normen keinen Platz, es ist begrifflich nicht wirklich fassbar und

´existiert´ dem Anschein nach nicht.

Das Interesse dieser Untersuchung liegt in der Herstellung, aber insbesondere in der

Verschiebung von geschlechtlichen Differenzverhältnissen im medialen Kontext Film.

Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass in Filmen, Fernsehserien oder Musikvideos Geschlecht

immer wieder als zentrale Kategorie auftaucht und dabei vorwiegend eine heterosexuelle

Geschlechterordnung und eindeutige Geschlechterrollen inszeniert werden. Es gibt aber auch

Filme, die sich dem entgegenstellen und hegemoniale geschlechtliche Normen in Frage stellen

und umformulieren. Alternative Formen von (Geschlechts)Identitäten, Subjekt,

Begehrensstrukturen werden thematisiert, Formen des Zusammenlebens und körperliche

UnEindeutigkeiten werden neu verhandelt und damit einer hegemonialen Geschlechterordnung

Alternativen entgegengestellt.

Wie und ob es mit diesen Filmen des Queer Cinema gelingen kann, hegemoniale

Geschlechterkonzepte aufzubrechen, dieser Frage soll in der vorliegenden Arbeit am Beispiel des

Spielfilms Todo sobre mi madre8 von Pedro Almodóvar nachgegangen werden.

Eine kritische Sozial- und Kulturwissenschaft ist daran interessiert, gesellschaftlich-soziale

Ungleichheiten aufzuzeigen und Handlungsmöglichkeiten und Gegendiskurse zu initiieren, die an

deren Abbau interessiert sind. Einen Blick auf Filme zu werfen, ist für eine auch in pädagogische

Diskurs- und Handlungszusammenhänge intervenieren wollende Forschung unter anderem

deshalb interessant, weil Filme Ausschnitte sozialer Wirklichkeit inszenieren und damit

6 ALVARO. Alex! ... Alex. Erkläre es mir. Du bist nicht…? ALEX. Ich bin beides. ALVARO. Aber, das ist

unmöglich. ALEX. Willst du mir erzählen, was sein und was nicht sein kann? (XXY, 2007, 00:57) 7 XXY, ARG 2007, R: Lucía Puenzo

8 Todo sobre mi madre – Alles über meine Mutter (ESP/FRA 1999) R: Pedro Almodóvar

Page 8: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

2

verfügbar machen. Sie stellen sozialisierende Räume dar, in denen Selbst- und Fremd-

erfahrungen gemacht und agency-Möglichkeiten ausgelotet werden können.

Die (selbstgestellte) Aufgabe feministischer Wissenschaft ist es, den konzeptuellen Raum für das

Denken der Möglichkeit von effektivem sozialem Handeln, von Umdeutung und subversiver

Entfaltung zu schaffen9, um Veränderungen in der Gesellschaft herbeizuführen. Dieses

Wissenschaftsmodell will nicht nur beschreiben und analysieren, um ein Verständnis von der

Welt zu erlangen, in der wir uns befinden, sondern auch konstruktiv verändernd in

gesellschaftliche Verhältnisse eingreifen. Theoretische Einsichten sollen Werkzeug für

Möglichkeiten der Umgestaltung von gesellschaftlichen Verhältnissen bereitstellen. Ein

(post)feministischer Ansatz, der mir nützlich erscheint, einerseits Verstrickungen von Individuum

und Gesellschaft zu theoretisieren, und dabei gleichzeitig erlaubt, Überlegungen zu

Handlungsmöglichkeiten in Bezug auf Medien anzustellen, ist der diskurstheoretisch,

poststrukturalistische Ansatz von Judith Butler, der die theoretische Grundlage dieser Arbeit

darstellen wird.

Judith Butler fragt zunächst nach Prozessen der (geschlechtlichen) Subjektivierung, die den

vorherrschenden gesellschaftlichen Diskurs und die geschichtliche Positionierung ebenso wie

individuelle Erfahrungen und innerpsychische Prozesse einbeziehen. Kein Individuum ist von

Geburt an ein bestimmtes Subjekt oder hat irgendwann eine festgelegte, abgeschlossene

Identität; diese müssen in einem Prozess performativer Wiederholung und asymptotischer

Annäherung an ein Ideal andauernd neu hergestellt werden. Subjektpositionen sind in einen

gesellschaftlichen Diskurs eingebettet, in dem nur bestimmte Subjekte als solche anerkannt

werden, andere tummeln sich an den Rändern gesellschaftlicher Zugehörigkeit.

Die Möglichkeit etwas zu verändern, liegt für Butler jenseits der Alternative Determinismus-

Voluntarismus im Moment der veränderten Aufführung gesellschaftlicher Normen. In jeder

Wiederholung liegt zugleich die Möglichkeit perFormativen Widersprechens in Form von

Verschieben und Umgestalten dessen, was wiederholt wird.

Wie kann nun mit diesem theoretischen Werkzeug die Rolle der Medien erklärt werden, und

welche Aufgabe übernimmt Queer Cinema in diesem Zusammenhang? Um diese Frage zu

beantworten, werde ich das Konzept der PerFormativität auf Film beziehen und unter

Berücksichtigung der speziellen Medialität von Film die Unterscheidung von Andrea Seier

aufgreifen, die eine analytische Trennung zwischen Geschlechter-PerFormativität und medialer

9 Vgl. Benhabib, 1993

Page 9: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

3

PerFormativität vorschlägt. Mit dieser Unterscheidung lässt sich eine agency-Funktion von Film

denken, die nicht ausschließlich auf die Intention von Individuen zurückzuführen ist.

Film und Fernsehen nehmen in unserer Gesellschaft einen immer wichtigeren Stellenwert ein.

Filme bieten Identifikationsmomente, adressieren bestimmte Subjektpositionen, wiederholen

und perFormen gesellschaftliche Normen und gestalten auf diese Weise mit, was

(gesellschaftlich) möglich ist und was nicht. Indem sie aber Normen wiederholen, gehe ich mit

dem Konzept der PerFormativität davon aus, dass sie auch potentiell eine gewisse Macht haben,

diese Normen zu reflektieren, verändert zu wiederholen und damit umzugestalten. Sie können

Identifikationsangebote machen, die auch ´Identitäten´ beinhalten, die gesellschaftlich

unsichtbar bleiben oder abgelehnt werden. Schließlich können Zuschauende potentiell als

Subjekte adressiert werden, die sich von den der Norm entsprechenden Anrufungen

unterscheiden.

Allerdings können Filme nicht alles einfach so ´verkehrt herum´ thematisieren, da sie, um für die

Rezipient_innen verständlich und interessant zu sein, wiederum auf Gekanntes zurückgreifen

müssen, d.h. auf Normen, Kontexte, die identifizierbar sind und die nicht zu weit entfernt von

der Lebenswelt der Adressat_innen sind. Filme greifen dabei auf inhaltliche, ästhetische und

formale Konvention zurück. Durch die impliziten oder expliziten Zensuren10 haben Filme einen

Rahmen, der Momente des Widerständigen mehr oder weniger ermöglicht oder verhindert.

Mein Fokus in der Analyse der Filme liegt auf geschlechtliche Normen und Subjektivierungen, da

ich davon ausgehe – und dies gleichzeitig problematisiere – dass Geschlecht eine wichtige und

primäre Subjektivierungsweise ist, die ein Individuum immer11 schon geschlechtlich in eine

binäre Ordnung einweist. Aktuell wie historisch wird ein enger Zusammenhang thematisiert

zwischen Geschlechtsidentität und medialer Inszenierung sowie zwischen medialer Produktion

von geschlechtlichen Differenzen und deren Aneignung durch die Zuschauenden.12 Trotz

gegenteiliger Erkenntnisse sowohl in geistes- als auch naturwissenschaftlicher Forschung wird

Geschlecht immer noch (oder wieder?13) naturalisiert; gleichzeitig wird damit ein

gesellschaftliches hierarchisches Ordnungssystem legitimiert, das Existenzweisen verhindert und

ausgegrenzt, die nicht in die hegemoniale Matrix passen.

10

Dazu zählen Reglementierungen, welche Inhalte gezeigt werden dürfen, Produktionsbedingungen und Ressourcen, aber auch gesellschaftliche Tabus, Sendezeiten,…. 11

von Geburt an und teilweise schon vor der Geburt 12

Vgl. Seier, Von >Frauen und Film< zu >Gender und Medium<?- Überlegungen zu Butlers Filmanalyse von Paris is burning, 2006, S. 81 13

Vgl. dazu beispielsweise den populärwissenschaftliche Ratgeber Warum Männer nicht zuhören und Frauen schlecht einparken von Allan und Barbara Pease

Page 10: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

4

Um den Geschlechtsstereotypen nicht in Form von Beschreibungen noch mehr Raum zu geben,

werde ich in meiner Arbeit Filme des Queer Cinema untersuchen, die sich – zumindest potentiell

– gegen Festschreibungen von Geschlechternormen stellen und diese konstruktiv in Frage

stellen. In einer Analyse des Films Todo sobre mi madre14 von Pedro Almodóvar werde ich

herausarbeiten, welche gesellschaftliche Normen, die die Geschlechterordnung betreffen, wie in

Frage gestellt und verschoben werden.

Bezogen auf dieses Erkenntnisinteresse geht es einerseits darum, welche Film-Realität in Bezug

auf das von Butler entworfene Analyseraster der heterosexuellen Matrix entworfen wird; also

Normen, die sowohl Körperlichkeit, Indentitäts-Entwürfe als auch Beziehungsstrukturen

betreffen. Andererseits werde ich Verschiebungen im Film thematisieren, die in der medialen

PerFormativität des Films liegen. In Todo sobre mi madre werden dies vor allem intertextuelle

Bezüge auf Theater und Film sein.

14

Todo sobre mi Madre, ES/FRA 1999, R: Pedro Almodóvar

Page 11: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

5

2. Pädagogik - Subjekt - Medien

Die Erziehungswissenschaft ist keine einheitliche Disziplin oder Denkrichtung, sondern zeichnet

sich durch vielfältige Subdisziplinen, Denkströmungen und sie anleitende politische Haltungen

aus. Pädagogische Konzepte sind immer in Bezug auf ihre Entstehungskontexte zu denken und

bleiben letztlich bezogen auf das Selbstverständnis, das eine Gesellschaft von sich hat. Dabei

antworten sie auf drei zum Teil widersprüchliche Anforderungen: auf die Forderung der

Gesellschaft nach Anpassung und Integration, den Wunsch nach ´verbessernder´ Veränderung

und den Anspruch der Individuen nach Anerkennung und zugleich nach Freiheit und

Selbstbestimmung.15

Mein Zugang zu den Erziehungswissenschaften ist durch den Studienschwerpunkt ´kritische

Geschlechter- und Sozialforschung´16 in einem Feld situiert, in dem Differenzverhältnisse im

Allgemeinen und Geschlechterverhältnisse im Besonderen in gesellschaftlichen

Zusammenhängen thematisiert werden. Geschlecht und Sexualität werden nicht einzig

hinsichtlich Subjektivität, Körper und intimer Beziehungen gedacht, sondern in Bezug gesetzt zu

geschichtlichen Regimen normativer Heterosexualität, zu rigider Zweigeschlechtlichkeit, zu

politischen und ökonomischen Machtverhältnissen. Kritische Pädagogik begreift Bildung über

deren personenbezogene Dimension hinaus immer auch als gesellschaftspolitisches Moment. Ihr

Ziel von Bildung ist, individuelle und gesellschaftliche Möglichkeiten der Emanzipation aus

ungerechten Verhältnissen zu erweitern.

Das in dieser Arbeit nachskizzierte Konzept der Subjektivierung ist eine mögliche Zugangsweise,

die eine Denkweise der Verstrickung von Individuum und Gesellschaft in dem Sinne ermöglicht,

dass vorherrschende gesellschaftliche Diskurse und die geschichtliche Positionierung ebenso wie

individuelle Erfahrungen und psychische Prozesse in die Subjektkonstituierung einbezogen

werden. Agency in Bezug auf ungerechte Verhältnisse kann dabei mit Judith Butler als

PerFormativität gedacht werden, die es erlaubt, Handlungsmächtigkeit und Täterschaft jenseits

der Alternative Determinismus-Voluntarismus zu denken.

Was bedeutet dies nun für pädagogische Zugänge? Das Konzept der Subjektivierung lässt keine

Gegenüberstellung von Pädagogik und gesellschaftlicher Machtverhältnisse mehr zu, sondern

begreift sie als aktiv beteiligt an der Produktion von Bedeutungen und deren Hinterfragen

ebenso wie an der Festschreibung hierarchischer Subjektpositionen oder deren Verschiebung.

15

vgl. Rendtorff, 2003, S. 183 16

Studium Erziehungswissenschaften mit Vertiefung im Studienzweig „kritische Geschlechter- und Sozialforschung“

Page 12: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

6

Dem entsprechend kann die Aufgabe einer kritischen Pädagogik, die sich auf das Konzept der

Performativität beruft, mit Jutta Hartmann folgendermaßen formuliert werden: Sie ist

herausgefordert,

„in historischer und gegenwartsbezogener Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Selbstverständlichkeiten […] diskursive und nichtdiskursive Konstruktionsmechanismen von […] Identität sowie deren gesellschaftliche Funktionalität zu bearbeiten […]

- […]zu fragen, wie über individuelle und diskursive Konstruktionen hinaus Politik und Ökonomie Teil der Prozesse sind, die die Konstitution von […] Subjekten orchestrieren;

- eine Kunst des Lebens anzuregen, […] sich selbst über das Analysieren und Reflektieren normativer Grundlagen und eigener Grenzen sowie über deren experimentelles Wiederholen und spielerisches Überschreiten ´auszuarbeiten´ […]. “

17

Unter dieser Perspektive ist es Aufgabe der Pädagogik, Verstrickungen in gesellschaftlichen

Machtverhältnissen zu verstehen und zu reflektieren und eine „inhaltlich zurückgenommene[18]

Haltung von ´Kritik´“19 zu entwickeln. Dies geschieht auf mindestens zwei Ebenen: in der Selbst-

Reflexion der Disziplin ebenso wie in Bezug auf die Adressat_innen pädagogischer Kontexte.

Werden Erziehungs- und Bildungswirklichkeiten als inszeniert und symbolisch über die Situation

hinausweisend konzipiert, gilt ein perFormativitätstheoretischer Blick besonders symbolischen

Praxen dieser Wirklichkeiten. Darunter sind all jene Praxen zu verstehen, die die Funktion haben,

Zugehörigkeiten herzustellen, sie erfahrbar und benennbar zu machen; Inszenierungen, die den

Charakter von Gruppen, wie beispielsweise Familie oder Schulklassen konstituieren.20 Zugleich

markieren diese Praxen Nicht-Zugehörigkeiten und tragen so zur Herstellung von Verhältnissen

der Differenz bei. Für eine differenzkritische Pädagogik bietet sich vor allem ein Blick auf Spiele,

Rituale, sowie Praxen des Kind- und Jugendlich-Seins an. Das In-der-Welt-Sein wird als

Inszenierung verstanden.21 Aber auch Medien rücken in diesem Zusammenhang ins Blickfeld, da

sie – wie schon weiter oben angedeutet – sozialisierende Räume zur Verfügung stellen und mit

speziellen Mitteln Ausschnitte sozialer Wirklichkeit besonders hervorheben und inszenieren.

In Bezug auf die Adressat_innen pädagogischer Kontexte geht es darum Reflexionswerkzeug für

die Auseinandersetzung mit subjektiver, aber auch sozial-gesellschaftlicher Realität zur

Verfügung zu stellen, indem beispielsweise Konstruktionsmechanismen von Geschlecht und

Ethnie zum Gegenstand pädagogischer Auseinandersetzung gemacht werden, und Normen,

17

Hartmann, 2001, S. 79 18

Eine inhaltlich zurückgenommene Kritik formuliert ihre exakten Kriterien nicht positiv, um nicht in einer normativen Festlegung erneut Ausschlüsse zu produzieren. 19

Mecheril & Witsch, 2006, S. 12 20

Vgl. Hoffarth, 2009, S. 26 21

Vgl. dazu ebd. ; Wulf & Zirfas, 2007

Page 13: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

7

Normalitätsvorstellungen, ebenso wie Identitätsannahmen produktiv irritiert werden. Wenn

Grenzen – seien es geschlechtliche, sexuelle, ethische, Grenzen sozialer Herkunft oder

körperlicher- und geistiger Unversehrtheit22 – als bewegliche anerkannt werden, öffnen sich

neue Gestaltungsmöglichkeiten von Subjektivitäten.23

Wie sind nun (audiovisuelle) Medien in diesem Prozess der Verstrickung von Individuen und

gesellschaftlichen Machtverhältnissen zu verorten? Medial vermittelte Lernprozesse sind

zunehmend Teil der Grundsozialisation des Menschen:

„Weil jeder Mensch von Geburt an in eine Informations- und Mediengesellschaft hineinwächst, wo sich die Sphären des Medialen und des Nicht-Medialen immer stärker gegenseitig durchdringen, sind Erziehungs- und Sozialisationsprozesse immer weniger ohne Bezug auf medial vermitteltes Verhalten zu denken.“

24

Bei der Analyse von Filmen geht es darum, Verstrickungen von Subjekten in machtvolle Diskurse

zu verstehen. Zudem kann einer medialen Welterschließung prinzipiell kreatives, reflexives und

widerständiges Potential zugeschrieben werden. In meiner Analyse werde ich einen besonderen

Fokus auf eben dieses Widerständige legen, das mit Mecheril et al. „als Bildungsmöglichkeit

[verstanden und] als Bildungsprozess untersucht“25 werden kann, wobei gleichzeitig reflektiert

werden muss, „aufgrund welcher Ermöglichungsbedingungen sich dieses Potential aktualisieren

kann.“26 Die Perspektive Performativität kann von der Medienpädagogik „für eine

erziehungswissenschaftliche Reflexion zunutze [ge]macht“ 27 werden, indem „pädagogische

Situationen, Handlungen und Konzepte, aber auch außerpädagogische […], so sie pädagogisch

relevant sind“28 reKonstruiert werden und dabei „diskursive Technologien der Inszenierung,

Praxen der Wiederholung bzw. Verschiebung von Machtverhältnissen“29 berücksichtigt werden.

Die vorliegende Untersuchung ist unter anderem für einen an Medien und

Differenzverhältnissen interessierten Zugang von Pädagogik von Bedeutung, als dass sie einen

22

Welche Differenzen wann aktiviert und relevant gemacht werden ist kontextabhängig. Das Überschneiden und Zusammenwirken von gesellschaftlichen Differenzstrukturen werden unter dem Stichwort Intersektionalität verhandelt. Dabei geht es um die Überkreuzung und Interpendenz verschiedener Ungleichheitskategorien wie insbesondere race, class, gender, desire, age, (dis)ability. In meiner Untersuchung geht es darum, allgemein ´Differenz´ als konstruiert und eingebunden in Machtstrukturen zu thematisieren und dabei Film als agency-Möglichkeit zu Untersuchen. In der Filmanalyse werden sex, gender und desire als Ungleichheits-kategorien in Bezug auf Geschlecht fokussiert. 23

vgl.Hartmann, 2001, S. 81 24

Moser, 2006, S. 32 25

Mecheril & Witsch, 2006, S. 14 26

Ebd. S.14 27

Ebd. S.13 28

Ebd. S.13 29

Hoffarth, 2009, S. 229

Page 14: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

8

Film aufgreift, der sehr bekannt ist und für Filmische Bildung als relevant eingestuft wurde. Todo

sobre mi madre ist Teil eines Filmkanons von 35 Filmen, der auf Einladung der Bundeszentrale

für politische Bildung zusammengestellt wurde, um

„bedeutenden Werken der Filmgeschichte auch im Schulunterricht mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen und so der filmschulischen Bildung […] neuen Auftrieb zu geben.“

30

In der Analyse von Todo sobre mi madre wird es darum gehen, wie in Filmen

Konstruktionsmechanismen sichtbar gemacht und Normalität irritiert werden können, und

welchen Stellenwert Film potentiell in reflexiver Auseinandersetzung mit sozialer Wirklichkeit

haben kann. Der Film wird hinsichtlich der Inszenierung gesellschaftlicher Diskurse und Normen

untersucht; gleichzeitig werden mögliche Verschiebungen in Bezug auf die heterosexuelle Matrix

herausgearbeitet.

30

http://www.bpb.de/themen/3EQGBL,0,0,Der_Filmkanon.html (14.03.2012)

Page 15: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

9

3. Queer Cinema

“There, suddenly, was a flock of films that were doing something new, renegotiating subjectivities, annexing whole genres, revising histories in their image […] They´re here, they´re queer, get hip to

them.”31

Was ist Queer Cinema? Wo sind die Filme einzuordnen, die vielversprechend neue

Geschlechtsentwürfe thematisieren? Den Begriff Queer Cinema (QC) zu bestimmen, ist nicht so

einfach, wie es auf den ersten Blick scheint. In meiner Recherche bin ich zunächst fast

ausschließlich auf „New Queer Cinema“ gestoßen32, einer zeitlich begrenzten Bewegung, eines

Momentes in der Filmgeschichte Anfang der neunziger Jahre. Aber wenn es ein Neues QC gibt,

muss es doch auch ein ´altes´ oder allgemeineres QC geben.

Um QC zu beschreiben, werde ich zunächst kurz die Entwicklung und Aneignung des Begriffes

queer darstellen, und zwar in seiner zweifachen Bedeutung: Als umbrella term für die queer

community und als theoretischen Begriff in der Queer Theory. Aus diesen unterschiedlichen

Bedeutungen von queer ergeben sich potentiell auch verschiedene Definitionen für QC. Zunächst

entstand der (engere) Begriff des ´New Queer Cinema´ etwa zeitgleich mit der Aneignung des

queer-Begriffs durch die community und eng eingebettet in dessen Kontext, sodass eine

Transformation in den Diskussionen der queer community in der Darstellungsform der Filme

nachvollziehbar ist. Fasst man den Begriff queer in eine durch die queer Theory mögliche

offenere Leseweise, können jenseits dieses historischen Momentes eine Vielzahl von Filmen zu

QC gezählt werden, nämlich all jene, die Brüche in der heteronormativen Begehrensstruktur

aufweisen.

3.1. Der Begriff Queer

Was der Begriff queer meint, hat sich in den letzten Jahrzehnten gewandelt. Ursprünglich kommt

er aus dem englischsprachigen Raum und bedeutet „eigenartig, komisch, seltsam, sonderbar,

suspekt, verdächtig, verrückt, verschroben, wunderlich, zweifelhaft.“33 Queer wurde lange als

Schimpfwort für schwule ´Männer´ benutzt und hatte in den 1950er, 60er Jahren bis hinein in

die 1980er eine pejorative Bedeutung. Im Rahmen der schwul-lesbisch politischen Bewegung in

31

Rich, 1992/2004, S. 15-16 32

Rich, New Queer Cinema, 1992/2004; Rich, Queer and the present danger, 2000; Aaron, New Queer Cinema, 2004; Brunner, 2008; Pick, 2004; Richardson, 2009 33

LEO Online Wörterbuch

Page 16: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

10

den USA während der 1980er-90er Jahre wurde der Begriff als positive Selbstbezeichnung

angeeignet und galt nunmehr als Kürzel für die eigene „andere“ Identität, auf die man stolz

war.34 Queer steht hier für eine kämpferische politische Einstellung, für neue Allianz über

bisherige Gruppengrenzen hinweg, sodass queer ein umbrella term für nicht-heterosexuelle

Gruppen wurde und neben schwulen und lesbischen auch bisexuelle, transgender und

intersexuelle Personen integrierte. Queer versprach Minoritäten aufzunehmen und Hierarchien

und Abgrenzungen innerhalb der schwul-lesbischen Bewegung entlang von race und class

aufzuheben.

Innerhalb der Queer Theory hat der Begriff queer noch eine weitere komplexe Bedeutung, die

sich nicht mit der eben beschriebenen deckt35. Queer Theorie ist – folgt man Butler als einer

ihrer prominenten Vertreterin – eine politisch motivierte, theoretische Denkfigur, die jegliche

Identität problematisiert und diese Kritik politisch situiert. In diesem Zusammenhang ist queer

eine Strategie des Offenhaltens und der permanenten Auseinandersetzung um den Inhalt einer

Identität oder eines politischen Begriffs und somit auf Dauer gesetzte Uneindeutigkeit.36 In

Bezug auf das Konzept der Heteronormativität, das alle gesellschaftlichen Strukturen umfasst, ist

queer ein weit gefasster Begriff, mit dem alles bezeichnet werden kann, was nicht der Idee der

einen ´normalen´ Sexualität entspricht: Queer Theory sucht auf vielfältige Weise nach Brüchen in

der naturalisierten und heteronormativ organisierten Verbindung von sex, gender und desire.37

Im Unterschied zu queer als Community-Begriff, dem es um eine Eingliederung dessen geht, was

aus bestehenden Begriffen ausgeschlossen ist, geht es in der queer Theory darum „eine

Vorstellung von Differenz und Zukünftigkeit […] einzubringen, die eine unbekannte Zukunft

entwirft, eine die jenen Angst macht, die deren konventionelle Grenzen verteidigen wollen.“38

34

Butler diskutiert diese Bedeutungsverschiebung des Begriffs queer in Körper von Gewicht (S. 307-331) als eine politische Taktik der Resignifikation, einen subversiven Akt, im Zuge dessen aus einer Beleidigung, einem Schimpfwort, einer entwürdigenden Anrede (hate speech) eine positive Selbstbezeichnung gemacht wird. Ausführlicher dazu in Kapitel 4.3. 35

Zu der unterschiedlichen Verwendung von queer als Begriff der queer community und als Begriff der Queer Theory schreibt Skadi Loist (2006) in Queer Cinema - Der Versuch einer umfassenden Begriffsbestimmung. 36

Butler, Körper von Gewicht, 1997, S. 310ff 37

Vgl. Kapitel 3.3 dieser Arbeit 38

Butler, Hass spricht, 1998, S. 227

Page 17: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

11

3.2. New Queer Cinema_ queer als Community-Begriff

Der Ausdruck “New Queer Cinema“ (NQC) wurde von der Filmjournalistin Ruby Rich im

gleichnamigen Artikel39 geprägt, in dem sie eine Häufung von queeren Filmen auf renommierten

Filmfestivals40 in der Saison 1991-1992 beschreibt. Einige dieser Filme sind Paul Verhoeven´s

Basic Instinct (1992), Derek Jarman´s Edward II (1991), Christopher Münch´s The Hours and

Times (1991), Tom Kalin´s Swoon (1992), Gregg Araki´s The Living End (1992) und Laurie Lynd´s

R.S.V.P. (1991). Dieser Kanon an Filmen macht sichtbar, dass NQC in einem kulturellen Moment

entstanden ist, in dem der Begriff queer salonfähig wurde: queer wurde als ´tolerierte´

Minderheitenposition abgelehnt, AIDS konnte nicht mehr ignoriert werden, und die

heterozentristische Empfindsamkeit von queerer Sichtbarkeit wurde herausgefordert. In diesem

Sinne war NQC nicht nur politisch, sondern sehr oft auch didaktisch.41 Die Filme benutzen kein

einheitliches ästhetisches Vokabular und keine gemeinsame Strategie42, sie kommen aus

unterschiedlichen Kino-Traditionen und wurden in unterschiedlichen Kulturen innerhalb der

westlichen Welt gemacht43. Trotzdem sind sie durch einen gemeinsamen Stil verbunden, den

Rich ´Homo Pomo´ nennt (homosexual postmodernism): In all diesen Filmen sind Spuren von

Aneignung, Pastiche und Ironie ebenso wie Spuren von historischen Revisionen zu finden. Sie

arbeiten mit eindeutig sozial-konstruktivistischem Ansatz und brechen mit alten Filmen der

schwul/lesbischen Identitätspolitik. Die Arbeiten seien “respektlos, energetisch, abwechselnd

minimalistisch und exzessiv“.44

Etwa ein Jahrzehnt später definiert Michele Aaron NQC als eine Gruppe von Filmen, die am

besten durch den Begriff defiance beschrieben werden können, was so viel heißt wie

Auflehnung, Missachtung, Trotz.45 Defiance sei nicht etwas, was die Filme charakterisiert, aber

es sei das, was sie queer macht. Diese Haltung operiert auf verschiedenen Ebenen:

NQC trotzt (a) den Rollen von akzeptierten Subjekten, die von der westlichen populären Kultur

vorgegeben sind und lässt (b) Marginalisierte auf eine Weise zu Wort kommen, die auf ein

positives Image verzichtet. Die Geschichte wird (c) nicht als unantastbar wertgeschätzt und

umgeschrieben, (d) Filmische Konventionen von Form, Inhalt und Genre werden missachtet.

39

Rich, New Queer Cinema, 1992/2004 40

Toronto´s Festival of Festivals, Gay and Lesbian Film Festival in Amsterdam, Sundance Film Festival in Park City 41

Richardson, 2009, S. 48 42

vgl. Rich, New Queer Cinema, 1992/2004, S. 16 43

vgl. Richardson, 2009, S. 49 44

Rich, New Queer Cinema, 1992/2004, S. 16 45

Aaron, New Queer Cinema: An Introduction, 2004

Page 18: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

12

Schließlich trotzt (e) das NQC auf viele verschiedene Arten dem Tod, insbesondere in Bezug auf

AIDS.46

Aaron verweist darauf, dass NQC nur im Kontext von queer und seiner Entstehung als sozialer

Begriff verstanden werden kann. In diesem Sinne berücksichtigt seine Definition von NQC eine

Entwicklung in den Filmen, die die Diskussionen innerhalb der queer community vor allem in

folgenden Punkten mit einbezieht:

Die Filme des NQC lassen Marginalisierte zu Wort kommen. Dies geschieht nicht nur, indem

lesbisch-schwule Subkultur47 fokussiert wird, auch Untergruppen dieser community bekommen

eine Stimme. Hier spiegelt sich der Anspruch von queer wieder, dass ´Lesben´, ´People of Color´,

transgender Personen, ´Trans-´ und ´Intersexuelle´ repräsentierter Bestandteil der queer

community werden sollen. 48

Im NQC ändert sich die Herangehensweise von Repräsentationsformen: Es trotzt dem positive

imagery, das sich auf die Repräsentationspolitik der 70er-80er Jahre bezieht, wonach Figuren

möglichst positiv als `der nette Typ von nebenan` dargestellt werden sollten, um den negativen

Stereotypen des Classical Hollywood entgegenzuwirken. NQC erzählt gegen diese stereotypen

Einschränkungen der Darstellung seiner Charaktere auch Fehler und Verbrechen, wie

beispielsweise die Geschichte queerer Mörder in Swoon, 1992.49

Die Geschichte wird nicht als unantastbar wertgeschätzt, im Gegenteil, im Sinne von „rewriting

history“50 werden geschichtliche Ereignisse umgedeutet und umgeschrieben. „Man könnte […]

sagen, dass die Vergangenheit, die nicht mehr ist, aber gewesen ist gerade aus dem Grunde ihrer

Abwesenheit das Sagen der Erzählung fordert.“51 Im Geschichten neu und anders erzählen,

werden Erzählungen flexibilisiert und konkurrierende Lesearten eingebracht. Filme, die

(historische) Erzählungen umdeuten sind beispielsweise Edward II, in dem über König Edwards

homosexuelle Beziehung mit Gaveston erzählt wird, oder Boys don´t cry (1999), in dem eine

andere Geschichte über Teena Brandton erzählt wird als zum Zeitpunkt ihres Mordes in den

Medien verhandelt wurde.

46

Aaron, New Queer Cinema: An Introduction, 2004, S. 3-5 47

Anat Pick (2004) arbeitet heraus und kritisiert, dass - während queer idealerweise einen emanzipierten und potentiell grenzenlosen Bereich von sexuellen und sozialen Beziehungen signalisiert- die meisten Produkte, die Anfang der 90er Jahre als `neu´ & `queer´ identifiziert wurde, überwältigend männlich, weiß und mittelständisch sind und fordert nicht nur ein sichtbarmachen von Unsichtbarem (weibliche Sexualität) sondern mit Teresa de Lauretis ein Nachdenken über Blickregime. 48

Loist, Queer Cinema.Der Versuch einer umfassenden Begriffsbestimmung, 2006, S. 19 49

Vgl. Ebd.; Aaron, New Queer Cinema: An Introduction, 2004 50

Rich, New Queer Cinema, 1992/2004 51

Ricoeur, zitiert in Jörissen & Marotzki, 2009, S. 53

Page 19: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

13

Filmische Konventionen von Form, Inhalt und Genre werden missachtet. Viele Filme des NQC

deuten Genres um oder mischen sie, was Rich als Aneignung von Genres bezeichnet. Auch

werden Gattungsgrenzen aufgehoben und beispielsweise Spielfilm und Dokumentation

gemischt. Als Beispiel für das Missachten von Filmischen Konventionen können die von Pick52

beschriebenen Kurzfilme von Sadie Benning genannt werden, die in der Tradition der Riot Grrrls

stehen.

Die Filme trotzen dem Tod vor allem in Bezug auf AIDS. NQC war stark beeinflusst von der

Strategie von ACTUP, welche das Verständnis von AIDS in der Öffentlichkeit verändern wollte,

weg von einer Stigmatisierung von infizierten Personen zu einem Bewusstsein von AIDS als

Pandemie. 53 Für die Darstellung im Film bedeutet dies, dass zwar die Krankheit symbolisch

dargestellt wurde, aber nicht mehr in Form von Körpern, die von AIDS zerstört sind.

3.3. Queer Cinema _ queer als Theorie-Begriff

Wenn ich nun New Queer Cinema als Ausgangspunkt nehme und mit dem von J. Butler

thematisierten queer Begriff der Queer Theory54 erweitere, eröffnet sich eine Definition, die QC

weiter fasst als das eben umrissene New Queer Cinema.

Queer als theoretischer Begriff richtet sich gegen Identität und identity politic zugunsten eines

offenen hybriden Identitätsbegriffs. Butler55 problematisiert Identity Politic als eine Variante von

Repräsentationspolitik, der ein totalisiertes Kollektiv-Subjekt vorgängig ist. Allerdings wird dieses

Subjekt erst durch die Repräsentation geschaffen.56 Als eine Antwort darauf werden im NQC den

Rollen von akzeptierten Subjekten getrotzt; es ist Teil von NQC, Marginalisierte zu Wort kommen

zu lassen.57 In der Queer Theory wird Ein- und Ausschluss konsequenter gedacht. Jede der

Identitätspolitik zu Grunde gelegte Kategorie muss potentielle Subjekte aus

Repräsentationsgründen ausschließen, was nicht einfach durch eine höhere Aufmerksamkeit

gegenüber den Achsen der Differenz gelöst werden kann: Nicht nur Differenzen zwischen den

52

Pick, 2004, S. 110-111 53

Richardson, 2009, S. 76-78 54

Ich verwende den Begriff Queer Theory in Bezug auf Butler als einer ihrer prominentesten Vertreterinnen, allerdings gibt es auch andere Zugänge zu Queer Theory 55

Vgl. die Abhandlung von Butler in Unbehagen der Geschlechter (1991) über identity politics der Frauenbewegung 56

Ausführlicher zu Butlers Kritik an Identitätspolitiken in Kapitel 4.1 57

Vgl. Aaron, New Queer Cinema: An Introduction, 2004, Loist, Queer Cinema.Der Versuch einer umfassenden Begriffsbestimmung, 2006, Richardson, 2009

Page 20: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

14

Subjekten machen Identitätspolitik problematisch, sondern auch unlösbare Differenzen

innerhalb jedes Subjektes.

Diese Dilemma lässt sich auch nicht lösen, indem sich NQC gegen stereotype

Repräsentationsformen im positive imagery stellt, oder, wie Richardson beschreibt, durch

Gleichgültigkeit gegenüber political correctness. Wenn Repräsentation mit dem Konzept der

PerFormativität gedacht wird, werden ´Repräsentationen´ im Film zu Zitaten, die an

Bedeutungsproduktion und Wirklichkeitskonstruktion beteiligt sind. Welche Möglichkeiten

verändernd einzugreifen sich dadurch für QC ergeben, wird im Laufe der Untersuchung

thematisiert.

Filme des NQC nehmen Geschichte nicht als unantastbar und gegeben hin, sondern schreiben

vor allem homophobe Vergangenheit im Sinne einer ´rewriting history´ um.58 Durch das

Neuerzählen von (historischen) Erzählungen treten subversive Deutungsmuster in Widerstreit

mit hegemonialen Deutungen. Dadurch wird der Wahrheitsanspruch verhandelbar.

Ein weiteres Merkmal von NQC ist das Missachten filmischer Konventionen von Form, Genre und

Inhalt. Dies kann als kritisches Potential gedacht werden das darin besteht, Fixierungen zu

durchkreuzen. Wenn das Konzept der PerFormativität auf Film als Medium übertragen wird,

können diese Momente des Verschiebens von Konventionen als agency-Funktion gedacht

werden.

Im Anschluss an Foucault thematisiert Butler Geschlecht als regulierendes, Heterosexualität

privilegierendes Konstrukt. Die heterosexuelle Matrix, die gegenwärtig die Intelligibilität in den

meisten Gesellschaften bestimmt, stellt eine normierende Beziehung zwischen anatomischem

Geschlecht, sozialem Geschlecht und Begehren her. Queer Theory sucht nach Brüchen in diesen

normalisierten und naturalisierten Verbindungen. Zu Queer Cinema können alle Filme gezählt

werden, die in ihren Entstehungs- und Rezeptionskontexten mit Normen brechen, welche sich

auf die heterosexuelle Matrix beziehen: auf die Verbindung von sex, gender und desire. Nach

dieser Definition gibt es Queer Cinema seit es Film gibt. Als Beispiel führen Benshoff und Griffin

einen Kurzfilm von 1895 an, in dem W.K.L. Dickson in einem Einminüter zwei tanzende Männer

gefilmt hat. In diesem kleinen Film lassen sich Brüche in erwarteten Repräsentationsmustern

einer normativen Heterosexualität nachzeichnen und damit queere Filmkultur bereits in die

Geburtsstunde des Films ansiedeln.

58

Zur Geschichtlichkeit in NQC vgl. Aaron, New Queer Cinema: An Introduction, 2004, Rich, New Queer Cinema, 1992/2004

Page 21: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

15

Exkurs: Eine kleine Geschichte des Queer Cinema59

Geschlechtertausch und Crossdressing waren beliebte Themen des queeren Kinos zu Beginn des

20. Jahrhunderts; in den 1920-30er Jahren spielten viele großen Diven zumindest temporär

einen Mann in den sog. Hosenrollenfilmen60. Als Beispiel kann Marokko61 genannt werden, in

dem Marlene Dietrich im Hosenanzug eine Frau küsst. Auch der aktivistische Film, der aufklären

will und sich gegen die Verfolgung von Homosexuellen einsetzt, ebenso wie der lesbische Film

geht zurück in die Zeit diese Zeit, wie Skadi Loist im Artikel ´Queer Cinema. Eine Kinogeschichte

zwischen den Kategorien´ herausarbeitet.

Allerdings wurde ab den 1930er Jahren in Hollywood eine Selbstzensur der Filmwirtschaft

eingeführt, der sog. Hays Code, der die moralischen Standards der Gesellschaft besonders

hinsichtlich Kriminalität und Sexualität sicherstellen sollte. Zunächst auf freiwilliger Basis wurden

ab 1934 bis 1967 Produktionsfirmen dazu verpflichtet, jegliche Darstellung von Intimität und

Sexualität zu tabuisieren, wie z. B. auch eine offene und positive Darstellung von Homosexuellen

oder »gemischtrassigen« Paaren.62 Eine offene Darstellung war also nicht mehr möglich; in

Nebenrollen wie in der Figur des effeminierten Mannes, der Sissys, des Mannweibs, der

Tomboys und der gefährlichen Buch-Lesbe, tauchten dennoch queere Gestalten auf. Diese

wurden oft als kranke Perverse dargestellt, die kuriert oder eliminiert werden mussten, sodass

am Ende der gewaltsame Tod oder Selbstmord stand.63

Vor allem in Untergrund- und Avantgarde-Filmen wurde seit Ende des Zweiten Weltkrieges mit

Hollywoodkonventionen und (sexuellen) Tabus gebrochen, bis schließlich Ende der 1960er Jahre

Feminismus, Bürgerrechtsbewegung, die freie Liebe der Hippies und die aufkeimende Schwulen-

und Lesbenbewegung Folgen zeigten und sowohl der Hays Code als auch verschiedene Gesetze,

die Homosexualität verboten, gelockert, bzw. aufgehoben wurden, und vermehrt Filme mit

queeren Inhalten sowohl in Europa als auch den USA hergestellt wurden. In den 1980er Jahren

entstanden im Rahmen der AIDS-Krise Bewegungen wie ACT UP, die Aktivismus und Politik um

den Begriff ´queer´ etablierten und einen stolzen Umgang mit Andersartigkeit propagierten, in

dem es nicht um Anpassung, sondern um Anerkennung von Ungleichheit und radikalem Bruch

mit Normen ging.64 Die daraus entstandenen Filme wurden 1992 von Ruby Rich als `New Queer

Cinema` bezeichnet.

59

Zum geschichtlichen Abriss vgl. Loist, Queer Cinema. Eine KInogeschichte zwischen den Kategorien, 2011 und die Filmdokumentationen The celluloid closed (USA, 1995) R: Rob Epstein & Jeffrey Friedman und Fabulous! The Story of Queer Cinema (USA, 2006) R: Lisa Ades & Lesli Klainberg. Letztere zwei beziehen sich allerdings ausschließlich auf US-amerikanische Filme. 60

Vgl. Loist, 2011, S. 29 61

Marokko (USA 1930) R: Josef von Sternberg 62

Vgl. Loist, 2011, S. 30 63

Vgl. ebd. S.30 64

Loist, 2006, S. 33

Page 22: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

16

4. Der Subjektbegriff

„Bueno, lo que estaba diciendo, que cuesta mucho ser autentica, señoras. Y en estas cosas no hay que ser tacaña, porque

uno es más autentico, cuanto más se aparece a algo soñado de si mismo.” 65

In diesem Kapitel werde ich zunächst der Frage nachgehen, wie sich der Subjektbegriff seit dem

19. Jh. In Europa verschoben hat. Das ´Subjekt´ als Schlüsselkonzept der Kultur- und

Sozialwissenschaften des 20. und 21. Jahrhunderts versteht sich nicht mehr als Endpunkt einer

selbstgenügsamen Theorie, sondern will Werkzeug und Sensibilisierungsinstrument für

materiale Analysen sein.66 Eine Vertreterin dieser neuen Subjekttheorie ist Judith Butler. Wie

auch Foucault, gilt Butlers Interesse gilt den Mechanismen der Produktion einer bestimmten

Idee des Subjekts: einer Genealogie67, in der das Subjekt „die sprachliche Bedingung [der]

Existenz und Handlungsfähigkeit [des Individuums ist]“68. Dabei fokussiert sie geschlechtliche

Subjektivierung, was sie für meine Untersuchung besonders relevant macht. Butler geht von

einer Kritik an der Frauenbewegung aus, die ein vorgängiges Kollektiv-Subjekt Frau voraussetzt,

dieses in ihrer identity politic erst schafft. Butler arbeitet heraus, wie Geschlecht als

regulierendes, Heterosexualität privilegierendes Konstrukt funktioniert und thematisiert den

Zusammenhang von queeren Subjektpositionen und der Dekonstruktion normativer

Geschlechtermodelle, was für die Analyse von queeren Filmen in Bezug auf geschlechtliche

Differenzverhältnisse gewinnbringend sein wird.

Historischer Wandel des Subjektbegriffes

Andreas Reckwitz beschreibt in seiner Einführung in das Feld der Subjektanalyse einen

sogenannten theoretischen ´Tod´ dieses klassischen Subjektes und skizziert den Übergang vom

klassischen Subjektbegriff, bei dem das Subjekt im Zentrum steht, zu einer Subjekttheorie, in der

das Subjekt dezentriert wurde.69

65

AGRADO. Nun, wie gesagt, es kostet 'ne ganze Menge, authentisch zu sein. Und in diesen Sachen darf man nicht knausrig sein, denn jemand ist umso authentischer, je mehr er_sie dem Bild ähnelt, das er_sie von sich erträumt.“ (Todo sobre mi madre, 1:18-1:19, Übersetzung MR) 66

Vgl. Reckwitz, 2008, S. 10-11 67

Die Genealogiebe hauptet, dass Dinge „ohne Wesen sind oder ihr Wesen ein Stückwerk aus ihnen fremden Bedeutungen“ sei. (Foucault, zitiert in Villa, 2003, S. 43 das heißt auch Subjekte sind in dieser Denkweise nicht ontologische oder essentialistische Gegebenheiten, sondern immer schon Interpretation. 68

Butler, Psyche der Macht, 2001, S. 15 69

Vgl. Reckwitz, 2008, S. 5-22

Page 23: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

17

Die klassische Subjektphilosophie geht auf Descartes „Ich denke also bin ich“ zurück. Mit

unterschiedlichen Variationen70 geht sie von der Grundannahme einer Autonomie des Subjektes

aus. Dieses erscheint als Ursprung des Denkprozesses, als Träger des Denkens, Fühlens,

Vorstellens und Erkennens. Es erkennt sich selbst als Ich, als transparente, selbstbestimmte

Instanz des Erkennens und Handelns. Ihm werden universale, allgemeingültige Eigenschaften

zugeschrieben, die in der Natur oder in der Vernunft begründet sind. Da in diesem Konzept

Subjekt-Sein mit Mensch-Sein einhergeht, kann der Subjektstatus auch bei abweichendem

Verhalten nicht entzogen werden.

Dieser Subjektbegriff gerät seit dem 19. Jahrhundert bei einer Reihe von Theoretiker_innen71 in

Kritik und wird in unterschiedlichen Konzepten dezentriert. Das Subjekt erweist sich in seiner

Form als abhängig von gesellschaftlich-kulturellen Strukturen und verliert dabei seinen

´transzendentalen´ Status72, seine universale Struktur: Es ist nicht ausgestattet mit

Eigenschaften, die ihm a priori zukommen. Das Interesse der ´neuen´ Subjektanalyse gilt den

historisch spezifischen gesellschaftlichen Ordnungen, kulturellen Praxen und Diskursen der

Subjektivierung.73 Diese werden unter dem Gesichtspunkt betrachtet, welche Formen des

Subjekts, des Körpers und der Psyche sie produzieren. Der Blick verschiebt sich: Statt ein

reflexives Subjekt vorauszusetzen, wird es als Produkt hochspezifischer kultureller

Subjektivierungsweisen sichtbar. Wenn das Subjekt nicht mehr mit Mensch-Sein gleichgesetzt

ist, und das Individuum sich den Subjektstatus ´erarbeiten´ muss, ist es auch immer dem Risiko

ausgesetzt, diesen seinen Subjektstatus zu verlieren. Die zentrale Forschungsfrage dieses neuen

Subjektkonzeptes lautet dann: „Welche Codes, Körperroutinen und Wunschstrukturen muss sich

der Einzelne einverleiben, um zum zurechenbaren, vor sich selber und anderen anerkannten

„Subjekt“ zu werden?“74

70

Reckwitz skizziert drei Zweige der klassischen Subjektphilosophie der frühen Moderne von 1600 bis 1800: Das Ich als unzweifelbaren reflexiven „cogito“ bei Descartes bis zum deutschen Idealismus (Kant, Fischte, Schelling); der vertragstheoretische Individualismus (Hobbes, Locke), der Gesellschaft als Produkt eigeninteressierter Individuen sieht und ein dritter Strang, der Subjekt primär als ein Selbst, als einen expressiven Kern der Selbstverwirklichung sieht (vgl. Reckwitz, 2008, S. 11-12). 71

Butler, Derrida, Dewey, Foucault, Freud, Heidegger, Marx, Nietzsche, Wittgenstein 72

Den es Foucault zufolge im post-kantianischen Disurs der Humanwissenschaften hatte Foucault, zitiert in Reckwitz, 2008, S. 13 73

Reckwitz, 2008 74

Ebd. S. 14

Page 24: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

18

4.1. Geschlechtliche Subjektivierung

„Nichts im Menschen – noch nicht einmal sein Körper – ist ausreichend stabil, um als Basis der Selbsterkenntnis

und für das Verständnis anderer Menschen zu dienen.“75

Butlers Interesse gilt den Mechanismen, die Menschen als geschlechtliche Subjekte adressieren.

Sie geht nicht davon aus, dass es ein Subjekt ´an sich´ gibt, sondern dass dieses erst produziert

wird, beispielsweise in Theorie und Praxis von Bewegungspolitik. Ausgehend von einer

Problematisierung der Subjektherstellung im Rahmen von identity politic beschreibt sie zwei

Ebenen von Praxen der Subjektivierung, die sich wechselseitig bedingen: eine individuell-

subjektive und eine politisch-soziale Ebene. Sowohl Differenzen zwischen den Subjekten als auch

unlösbare Differenzen innerhalb eines jeden Subjektes machen Identitätspolitik problematisch.

Kritik an der identity politic

„Das feministische Subjekt erweist sich als genau durch dasjenige politische System diskursiv

konstituiert, das seine Emanzipation ermöglichen soll.“76 Mit dem politischen System ist die

identity politic gemeint, jene Strategie, die im Namen strukturell benachteiligter sozialer

Gruppen Politik macht: Politik von oder für ´Schwule´, ´Behinderte´, ´Frauen´, ´Alte´, ´Arbeiter´.

Denjenigen, in deren Namen man Politik betreibt, wird eine gemeinsame und naturalisierte77

Identität unterstellt.

Eine soziale Bewegung, die sich auf Frauen bezieht (Frauenbewegung, Feminismus), geht von

einem Kollektiv-Subjekt „Frau“ aus, das von der Bewegung repräsentiert wird. Die feministische

identity politics ist also eine Variante der Repräsentationspolitik: Die Bewegung repräsentiert ein

der Politik vorgängiges Subjekt. Das Subjekt dieser Politik sind nicht die konkreten Individuen

sondern ein imaginiertes Kollektivsubjekt, das erst durch die Bewegung selbst hergestellt wird

und sich dann als Rechtssubjekt materialisiert. Das wird dann zum Problem, wenn sich

75

Michel Foucault, Nietzsche, Geneology, and History, S.87, zitiert in Riki, 2006, S. 11 76

Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, 1991, S. 17 77

In diesem Zusammenhang ist eine Parallele zwischen der Geschichte der ´Frauen´-Bewegung und der ´Homosexuellen´-Bewegung aufschlussreich: Historisch gesehen ist Homosexualität erst seit dem 19. Jh. als solche benannt und strafbar (§175 im StGB), was nicht heißt, dass es homosexuelle Handlungen vorher nicht gab oder diese nicht auch als ´perverse Handlungen´ abgelehnt wurden. Um die Jahrhundertwende zum 20. Jh. wurden im Kampf gegen diesen Paragrafen Argumente aus dem Anomaliediskurs der damals entstandenen Sexualpathologie übernommen. Homosexualität wurde als natürlich stark gemacht, als angeboren und damit unpolitisch ausgewiesen um ´Homosexuelle´ zu entkriminalisieren. Auch in den 50er Jahren gab es zahlreiche Organisationen, die für die Entkriminalisierung von Homosexualität mit dem Argument einsetzten, diese sei biologisch angelegt und damit nicht selbst verschuldet, darf also nicht verfolgt und verurteilt werden. Sowohl die ´Frauen´-Bewegung als auch die ´Homosexuellen´-Bewegung ließen sich auf Diskurse von Wissenschaft und Politik ein, in denen sie mit Argumenten zur Natur von ´Homosexuellen´ und ´Frauen´ identifiziert wurden oder sich selbst damit identifizierten. (vgl. Degle, 2008, S. 45-46

Page 25: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

19

herausstellt, dass das geschlechtliche Subjekt entlang von Herrschaftsmechanismen

hervorgebracht wird und sich durch Ausschlüsse herstellt, die jedoch, sobald es in Rechtsstruktur

und Politik etabliert ist, nicht mehr sichtbar und nachvollziehbar sind.78

Ein weiteres Problem liegt darin, dass Geschlechtsidentitäten in verschiedenen geschichtlichen

Kontexten nicht übereinstimmen und dass rassistische, ethnische, sexuelle, regionale und

klassenspezifische Modalitäten nicht einfach additiv zur Identität ´Frau´ dazugezählt werden

können, sondern sich diskursiv überschneiden. Die Geschlechtsidentität lässt sich nicht aus den

politischen und kulturellen Vernetzungen herauslösen, die Identität Frau ist immer eine je

spezifische, je nach politischen und räumlichen Kontexten, historischen Konstellationen,

individuellen biografischen Situationen. Diese Spezifität wurde von Frauen eingefordert, die sich

in der heterosexuellen, weißen, Mittelschichtsfrau der Frauenbewegung nicht wiedergefunden

haben. Nach Butler ist die reale Spezifität der jeweiligen Identität ´Frau´ womöglich so groß, dass

sie die angenommene Gemeinsamkeit der Frauen untergräbt und damit feministische Politik ad

absurdum führen könnte.79

Butler räumt dennoch ein, dass der Feminismus ´die Frauen´ braucht, um als politische Praxis zu

funktionieren, „aber er muss nicht wissen, ´wer´ sie sind“80.

Subjektivation

In folgendem Abschnitt soll der Frage nachgegangen werden, wie diese Produktion des Subjektes

funktioniert.

„Über Subjekt wird oft gesprochen, als sei es austauschbar mit ´Person´ oder ´Individuum´. […] Das Subjekt [ist] nicht mit dem Individuum gleichzusetzen, [sondern ist] die sprachliche Gelegenheit des Individuums, Verständlichkeit zu gewinnen und zu reproduzieren, also die sprachlichen Bedingungen seiner Existenz und Handlungsfähigkeit.“

81

Im Anschluss an Michel Foucault spricht Butler von ´Subjektivation´, ein Begriff, der „den Prozess

des Unterworfen-werdens durch Macht (…) und zugleich den Prozess der Subjektwerdung“82

bezeichnet. Dies beinhaltet ein Werden durch kontinuierliche perFormative Selbstarbeit und

Selbstpräsentation, mit der eine Unterwerfung unter Normen und Diskurse einhergeht.

78

Vgl. Butler, Körper von Gewicht, 1997, S. 21-22 79

vgl. Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, 1991, S. 18 80

Butler, zitiert in Villa, 2003, S. 41 81

Butler, Psyche der Macht, 2001, S. 15 82

Ebd. S. 8

Page 26: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

20

Zugleich sind alle normativ als Ideal konstruierten Subjektvorstellungen realiter immer

Verfehlungen ausgesetzt, da sie als institutionalisierte Wunschvorstellung niemals ganz

erreichbar sind und sich in reellen Erfahrungen und nicht-diskursiven Praxen als brüchig,

inkohärent, widersprüchlich, prozesshaft und folglich als veränderbar erweisen.83 In diesem

Werden ´materialisieren´ sich Diskurse und werden real gelebt. Real sind wir also nicht ein

abstraktes Subjekt, d.h. eine ´Frau´, ein ´Schwuler´, eine ´Unternehmerin´ sondern ein konkretes

Jemand, zu dem wir durch Anrufungen in Form von Bezeichnungen oder Identitätskategorien

gemacht werden. Diese sind vor uns da und überdauern uns und führen gewissermaßen ein

Eigenleben.

Wie kommt es aber dazu? Wie funktioniert diese Formierung des Subjekts? Butler beschreibt

Praxen der Subjektivierung auf zwei Ebenen, welche aber nur analytisch trennbar sind und sich

wechselseitig bedingen: eine individuell-subjektive Ebene und eine politisch-soziale Ebene.

Anrufung-Umwendung

Zentral im Prozess der Subjektivierung ist die „Anrufung“, ein von Louis Althusser eingeführtes

Konzept: „die Anrede ruft das Subjekt ins Leben.“84 Durch das Angesprochen werden, wird d_

Angesprochene erst zu dem, als der er_sie angesprochen wird. Althusser beschreibt zur

Illustration eine gesellschaftliche Szene85, in der ein Passant durch das Gesetz (in Form eines

Polizisten) angerufen wird: „He, Sie da!“, sich umwendet und dadurch die Begriffe akzeptiert,

mit denen er angerufen wurde. Indem ein Mensch eine Anrufung auf sich bezieht, gliedert er

sich als Subjekt in die diskursive Ordnung ein. Der Mensch erkennt sich selbst über die Annahme

eines Titels, der ihm von einem anderen verliehen wird: „der Akt der Anerkennung wird zu

einem Akt der Konstitution“86 Die Subjektivierung erfolgt durch eine Objektivierung, durch die

Wahrnehmung von sich selbst in der dritten Person. Anrufungen operieren mittels

83

vgl. Villa, 2003, S. 63/Bröckling, Das Unternehmerische Selbst 84

Butler, Hass spricht, 1998, S. 34 85

„Man kann sich diese Anrufung nach dem Muster der einfachen und alltäglichen Anrufung durch einen Polizeibeamten vorstellen: "He, Sie da!". Angenommen die vorgestellte Szene spiele sich auf der Straße ab und das angerufene Individuum wendet sich um. Es wird durch diese einfache Wendung um 180 Grad zum Subjekt. Warum? Weil es damit anerkannt hat, daß der Anruf "sehr wohl" ihm galt und "niemand anders als es angerufen wurde". Wie durch Erfahrungen belegt, verfehlen diese praktischen Telekommunikationen der Anrufung praktisch niemals ihren Mann; sei es durch mündlichen Zuruf oder durch Pfeifen, der so angerufene weiß immer, daß er es ist, der gemeint war. Dies ist auf alle Fälle ein merkwürdiges Phänomen, das nicht allein durch ein "Schuldgefühl" erklärt werden kann, trotz der Vielzahl der Leute, die "sich etwas vorzuwerfen haben. (…) In Wirklichkeit spielt sich dies alles nicht in einer zeitlichen Aufeinanderfolge ab. Die Existenz der Ideologie und die Anrufung der Individuen als Subjekte ist ein und dasselbe.“ Althusser, 1970 86

Butler, Hass spricht, 1998, S. 34

Page 27: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

21

Identitätskategorien: Personen werden in der Anrufung aufgefordert, eine spezifische Identität

anzunehmen. Dabei geht es nicht um eine Bestätigung einer gegebenen Identität, diese wird

durch die Anrufung erst hergestellt.

Der Prozess der Identitätskonstitution erfordert neben dem Akt der Anrufung auch die

Annahme, also die Aneignung des Namens durch das Individuum. Eine Person muss also auch

etwas tun, sie muss die Anrufung auf sich beziehen. Dieses Tun wird von Butler ´Umwendung´

genannt und ist selbst Teil der Subjektivation. Erst in der Annahme wird eine Identität

produziert. Durch die Umwendung erkennt der betreffende Mensch das Gesetz und dessen

Gültigkeit an; es ist ein Akt der Unterwerfung unter Normen. Dadurch wird er einerseits zu

einem Subjekt, das vom Gesetz zum Objekt gemacht werden kann, andererseits ist er auch

Subjekt des Gesetzes, auf das er pochen kann, wenn seine Rechte verletzt werden. Subjekt des

Gesetzes zu sein, bedeutet die Macht des Gesetzes über die eigene Person anzuerkennen. Die

Wendung zum Gesetz wird zwar nicht durch den Ruf erzwungen; dennoch übt sie mit dem

Versprechen auf Identität indirekt Zwang aus. Die Annahme der Normen ist die einzige Form,

sich selbst als Subjekt wahrzunehmen, beinhaltet aber immer auch Verwerfung des `Anderen`,

den Verlust möglicher anderer Existenzen. Sie verstrickt das Subjekt mit einer Macht, die es von

anderen Identitäten von vornherein abschneidet. Demnach ist das Subjekt nicht frei, d_ zu sein,

welche_r es sein möchte. Butler spricht aus diesem Grund von Umwendung als einen

ambivalenten Vorgang: einerseits ist es die einzige Möglichkeit des Ichs, der Selbst-

Wahrnehmung, gleichzeitig ist es ein Vorgang der Selbstunterjochung und

´Selbstverknechtung´.87

Das Problematische an der Funktionsweise der Identitätskategorien ist nach Butler ihre

zeitweilige Totalisierung: „Identitätskategorien haben niemals nur einen deskriptiven, sondern

immer auch einen normativen und damit ausschließenden Charakter.“88 Zumindest zeitweilig ist

ein Name alles, was man ist, und damit ist man immer etwas anderes nicht. Damit wird das Ich

zumindest vorläufig totalisiert. „Je spezifischer Identitäten werden, desto mehr wird eine

Identität eben durch diese Besonderheit totalisiert“.89 Subjektformierung ist damit ein Prozess

der Unsichtbarmachung. Unsichtbar gemacht wird, was man nicht ist und als das ´Andere´

verworfen wird; was aber gleichzeitig konstitutiv zu dem gehört, was man als Subjekt ist. So ist

eine ´Frau´ gleichzeitig ´Nicht-Mann´, wer sich als homosexuell outet, definiert sich zugleich als

nicht-heterosexuell, d_ ´Ausländer_in´ ist ´Nicht-Inländer_in´.

87

vgl. Butler, Psyche der Macht, 2001, S. 157-158 88

vgl. Butler, Kontingente Grundlagen: Der Feminismus und die Frage der "Postmoderne", 1993a, S. 49 89

Butler, Psyche der Macht, 2001, S. 96

Page 28: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

22

Die Macht unterwirft Menschen und verwandelt sie gleichzeitig in Subjekte; um Subjekt sein zu

können, muss der Mensch folglich die Bedingungen seiner Unterwerfung annehmen, auch wenn

sie schmerzhaft für ihn sein sollten. Wenn der Subjektstatus dem Menschen zugesprochen wird,

wenn er sich in vorgeschriebener Weise gewissen Normen unterwirft, so kann er nach Butler

immer wieder dann entzogen werden, wenn ein Subjekt seine Handlungsmacht dazu benutzt,

die Normen in grundlegender Weise in Frage zu stellen. Gegenwärtig gibt es in der westlichen

Gesellschaft nur den anerkannten Subjektstatus90 als ´Mann´ oder ´Frau´. Jenseits dessen ist

kein Subjektstatus möglich, was zu schmerzhaften Anpassungen des Körpers durch medizinische

Normierung geführt hat und führt: es ist immer noch üblich, den Körper intersexueller

Menschen in dieses duale Körperbild einzupassen, wie dies auch im Film XXY91 thematisiert wird.

Für eine Personenstandsänderung müssen transgender Menschen medizinische Anpassungen an

das gewünschte Geschlecht nachweisen oder ein psychologisches Gutachten einholen.

Auf politisch-sozialer Ebene werden nur bestimmte Subjekte als legitim anerkannt. Wer oder

was als intelligibel, eben als gesellschaftlich integrierbar gilt, ist historisch verschieden und bleibt

im Wandel. In der Schaffung von spezifischen Bedingungen, wer oder wie ein Subjekt sein muss,

um als ein solches anerkannt zu werden, manifestiert sich für Butler die Macht der Diskurse92.

Diese gehen den Subjekten voraus und überdauern diese und materialisieren sich in Form von

Institutionen, Gesetzen, sozialen Codes. Sie sind eine soziale Struktur der Macht, die

mitbestimmend sind, wenn es darum geht, Anrufungen anzunehmen oder abzulehnen. Einem

Baby wird gleich nach der Geburt der Titel ´Mädchen´ oder ´Junge´ und ein Eigenname93

zugewiesen; damit werden Bedingungen der Möglichkeit sein_ihrer sozialen Lebensfähigkeit,

sein_ihres Subjektstatus geschaffen; bevor das Kind sich fragen kann, wer es ist oder sein kann,

ist es schon längst ein Subjekt.

90

Dennoch gibt es anerkannte Subjektstatus zwischen den Geschlechtern: Hijras in Indien (drittes Geschlecht), Fa´afafine in Polynesien (Mann, der als Frau lebt) 91

XXY (ARG/FRA/ESP 2007) R: Lucía Puenzo 92

Butler (1993) benutzt den Diskursbegriff im Foucaultschen Sinne: „dieser Diskursbegriff ist zu unterscheiden von geschriebener und gesprochener >Rede< und von Formen der Darstellung und Bedeutungskonstruktion. Der Diskurs über Subjekte (…) ist für die gelebte und aktuelle Erfahrung eines solchen Subjekts konstitutiv, weil ein solcher Diskurs nicht nur über Subjekte berichtet, sondern die Möglichkeiten artikuliert, in denen Subjekte Intelligibilität erreichen, und das heißt, in denen sie überhaupt zum Vorschein kommen.“(Butler, Für ein sorgfältiges Lesen, 1993b, S. 132) 93

Das deutsche Namens- und Personenstandsrecht verpflichtet Bundesbürger_innen dazu, sich als männlich oder weiblich einzuordnen und eindeutig männliche oder weibliche Vornamen zu tragen.

Page 29: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

23

Durch Überschneidungen und die Koexistenz verschiedener diskursiver Anrufungen entstehen

neue Anforderungen, bzw. werden sie in neue Kontexte gestellt, sodass Möglichkeiten des

Wandels, der Subversion und Veränderung den Diskursen selbst immanent ist.94

„Als gesellschaftlich spezifische Organisationsformen der Sprache präsentieren sich Diskurse im Plural, sofern sie im zeitlichen Rahmen koexistieren […] und ungewollte Überschneidungen instituieren, aus denen spezifische Modalitäten diskursiver Möglichkeiten erzeugt werden.“

95

Allerdings müssen sie immer auch als in einem System kultureller Normen lesbar gedacht

werden, und sind deshalb damit nicht beliebig offen. Es geht nicht darum, jede Möglichkeit als

Möglichkeit zu feiern, sondern diejenigen umzugestalten, die bereits existieren, wenn auch in

Randbereichen des Intelligiblen bzw. die als unintelligibel und unmöglich gelten.96

Diskursive Rahmung des Geschlechts(-Körpers)

Was hat der Körper mit Subjektivierung zu tun? Nach Judith Butler ist Körper nicht einfach

etwas, was man hat oder was man ist, sondern ein Repertoire von Möglichkeiten, von denen nur

jene lebensfähig sind, die in ein System von kulturellen Normen integrierbar sind.97 Die

mittlerweile etablierte Unterscheidung von sex als anatomisches Geschlecht und gender als

soziales Geschlecht weist Butler zurück mit dem Argument, der Zugriff auf den Körper an sich ist

nicht möglich, auch sex ist immer schon kulturell im Diskurs vorgeformt. Es gibt keine biologische

Zweigeschlechtlichkeit, die der diskursiven Konstruktion des Geschlechtes vorausgeht:98 Körper

wird in seiner geschlechtlichen Materialität erst durch in der jeweiligen Kultur lesbare Zeichen

interpretierbar, dadurch werden Möglichkeiten geschlechtlicher Identität eröffnet oder

verschlossen. Zugleich entzieht sich das biologische Geschlecht (sex) der Sprache und ist

´unverfügbar´. Geschlecht und Begehren sind zwei jener „Norm[en], die die Materialisierung von

Körpern regier[en].“99 Ein Körper ohne Geschlechtszuordnung ist unmöglich; geschlechtliche

Konstruktionen sind lebenswichtig, da der Mensch darauf angewiesen ist, um überhaupt etwas

zu sein und Identität ausbilden zu können. Die Bildung eines Subjekts verlangt eine

Identifizierung mit dem normativen Phantasma des ´Geschlechts´. Diese Identifizierung kann nur

stattfinden, indem alle ´nicht lebbaren´, ´unbewohnbaren´ Zonen des sozialen Lebens abgelehnt

94

Vgl. dazu den Begriff der Différance bei Derrida 95

Butler, Körper von Gewicht, 1997, S. 212 96

Vgl. Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, 1991, S. 218 97

Vgl. Butler, Körper von Gewicht, 1997, S. 22ff 98

Vgl. Haraway , 1992 und Butler, 1993 99

Butler, Körper von Gewicht, 1997, S. 23

Page 30: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

24

werden100. Ein Individuum jenseits dieser als natürlich und alternativlos geltenden Ordnung wird

wie weiter oben beschrieben als veränderungsbedürftig, pathologisch, als nicht intelligibel

zurückgewiesen.

Zur Analyse des diskursiven Rahmens, in dem Intelligibles und Verwerfliches hergestellt wird,

entwickelt Butler das Konzept der heterosexuellen Matrix, die der hegemoniale geschlechtliche

Regulierungsmechanismus in der modernen, westlichen Gesellschaft ist.

Das, was als ´das Geschlecht´ bezeichnet wird, umfasst aber weit mehr als den

Geschlechtskörper. Butler arbeitet eine Verbindung zwischen anatomischem Geschlecht (sex),

sozialem Geschlecht (gender) und heterosexuellem Begehren (desire) heraus; wenn die

Kontinuität zwischen sex-gender-desire aufrechterhalten wird, kann nach Butler von intelligiblen

Geschlechtsidentitäten gesprochen werden.

„Geschlechter-Ontologen [fungieren] in einem etablierten, politischen Kontext stets als normative Anweisungen, die festlegen, was als intelligibles Geschlecht gelten kann, die die Fortpflanzungszwänge der Sexualität aufrufen und festigen und die Vorschriften aufstellen, die die sexuell oder geschlechtlich bestimmten Körper (sexed or gendered bodies) erfüllen müssen, um ihre kulturelle Intelligibilität zu erlangen.“

101

Ein Subjekt ist also intelligibel, wenn er oder sie eindeutig einem Geschlecht zuordenbar ist, also

eindeutig Mann oder Frau ist: Diese Eindeutigkeit beinhaltet, dass eine ´Frau´ einen ´weiblichen

Körper´102 hat, sich nach weiblichen Geschlechts-Normen verhält und einen Mann begehrt, oder

ein ´Mann´, der einen ´männlichen Körper´und eine ´männliche Geschlechtsidentität´ hat und

eine ´Frau´ begehrt. Die einzelnen Ebenen dieser Matrix stabilisieren sich wechselseitig, und

indem alle ´Anderen´ ausgeschlossen werden, die der Norm der Intelligibilität widersprechen.

Das sind alle Existenzweisen, in denen sich sex und gender nicht entsprechen oder deren

Begehrensstruktur nicht heterosexuell ist, also ´Homosexuelle´, ´Intersexuelle´, ´Transvestiten´

und all jene, die sich nicht den etablierten Regeln einer von geschlechtlicher Bipolarität bei

gleichzeitiger Heterosexualität gekennzeichneten Gesellschaft fügen.

100

Vgl. Butler, Körper von Gewicht, 1997, S. 23 101

Ebd. S. 217 102

Einen Körper, der zu dem historischen Zeitpunkt vom wissenschaftlich-medizinischen Diskurs als weiblich definiert wurde. Die Diskussion um Mokgadi Caster Semenya nach dem Sieg bei der Leichtatletik-Weltmeisterschaft in Berlin 2009 zeigt, dass auch das anatomische Geschlecht im öffentlichen Diskurs verhandelt wird. Der Leichtatletikverband ordnete nach ihrem Sieg Tests zur Überprüfung des Geschlechts an und Mokgadi Caster Semenya wurden für ein Jahr für den Wettkampf gesperrt, bis sie im Sommer 2010 die uneingeschränkte Wettkampf-Erlaubnis als Frau bekam.

Page 31: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

25

4.2. Das Konzept der PerFormativität

„Wie kann man von einem Diskurs konstituiert sein,

ohne von ihm gänzlich determiniert zu sein?“ 103

So die Frage von Seyla Benhabib an Judith Butler in ´Streit um Differenz´. Wie kann Agency in

diesem Konzept der Subjektivierung gedacht werden, in dem es kein autonomes, intentionales

Subjekt mehr gibt? Und wie kann in diesem Zusammenhang Film gedacht werden? Butler

antwortet auf die Frage Benhabibs auf zwei Ebenen: zum einen entwickelt sie den Begriff des

´postsouveränen Subjekts´, das im Bewusstsein agiert, dass es weder völlig autonom noch völlig

determiniert ist. Zum anderen deutet sie Handlungsmächtigkeit104 (agency) im Konzept der

PerFormativität um: Handlungsmächtigkeit ist nicht willentliche Absicht eines autonomen

Individuums, sondern in der Verstrickung von Subjekt und diskursiven Strukturen in der

perFormativen Wiederholung angesiedelt. Als subjektanalytischer Schlüsselbegriff liefert

PerFormativität eine Erklärung, wie sich Diskurse materialisieren, und wie es möglich ist,

trotzdem politisch tätig zu werden mit dem Ziel, eine Transformation des gesellschaftlichen

Normengefüges herbeizuführen. Das Konzept der PerFormativität entwickelt Judith Butler in

Anlehnung an John L. Austins Sprechakttheorie, ebenso wie Jacques Derridas Konzept der

Iterabilität und Pierre Bourdieus Habituskonzept.

Performative Äußerung - Realitätserzeugende Diskurse

In Bezug auf die Wirkmächtigkeit von Sprache unterscheidet John L. Austin zwei Formen von

Sprechakten: perlokutionäre Äußerungen und illokutionäre performative Äußerungen. 105

Perlokutionäre Sprechakte oder konstative Äußerungen beschreiben einen bestimmten

Sachverhalt oder behaupten Tatsachen. Sie sind entweder wahr oder falsch, das bedeutet, eine

Aussage kann einen Effekt hervorrufen oder auch nicht. Dies zeigt sich erst nach der Aussage.

Sprache und Handlung stehen in einem Wirkungszusammenhang, dieser ist jedoch nicht durch

ein Gesetz legitimiert.106 Performative Äußerungen hingegen vollziehen die Handlung, die sie

benennen: über den Akt der Äußerung wird ein sozialer Tatbestand erst produziert. So wird mit

dem „Ich taufe Dich auf den Namen …“ der Akt der Namensgebung ausgeführt. Es werden

Handlungen vollzogen, Tatsachen geschaffen und Identitäten gesetzt. In diesem Sinne können

Aussagen nicht wahr oder falsch sein, jedoch gelingen oder fehlschlagen: Sie müssen in Form

103

Benhabib, 1993, S. 109 104

Den Begriff Handlungsmächtigkeit benutzt Villa im Einführungswerk zu Judith Butler Villa, 2003 105

Vgl. Austin in Butler, Hass spricht, 1998, S. 11 106

Vgl. ebd.

Page 32: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

26

eines Rituals oder einer Zeremonie auftreten, um wirkungsmächtig zu werden. Gelingende

Aussagen müssen in der Zeit wiederholbar sein und damit ein Wirkungsfeld aufrechterhalten,

das sich nicht auf den Augenblick der Äußerung beschränkt, sondern auf eine Geschichtlichkeit

verweist.

Butler bezieht sich auf die perFormative Dimension eines Sprechaktes, welche argumentiert,

dass Sprechakte das erzeugen, was sie äußern, indem die Äußerung durchgeführt wird: „Die

Bedeutung (meaning) der performativen Handlung liegt […] genau darin, dass Bezeichnung und

Ausführung zusammenfallen“107 Diskurse sind für Butler perFormativ in der Weise, in der sie

realitätserzeugend sind. Allerdings funktionieren nicht alle Diskurse automatisch als

PerFormative. Die Wirkung ist einerseits abhängig vom Kontext, in dem gesprochen wird, zum

anderen spielt der Status d_ Sprechenden eine entscheidende Rolle hinsichtlich der materiellen

Wirkung von Äußerungen. So ist eine Richterin Kraft ihres Amtes berechtigt jemanden für

schuldig zu erklären, ein Gärtner aber nicht.

Iterabilität - Zitat mit Bedeutungsverschiebung

Um zu analysieren, wie Macht durch Diskurse ausgeübt wird, die unmittelbar prägend sind für

das, was unter Realität verstanden wird, also die Macht der perFormativen Äußerung zu

erklären, stützt sich Butler auf Jacques Derridas Ausführung zur Iterabilität108: Eine perFormative

Äußerung könne nur gelingen, wenn sie eine andere dafür geeignete, codierte Äußerung

wiederhole und sich so zu einem Zitat derselben macht. Jedes sprachliche, geschriebene oder

gesprochene Element oder Zeichen müsse reiterierbar, d.h. wiederholbar und zitierbar sein, um

verstanden zu werden. Keine perFormative Äußerung könne gelingen,

“wenn ihre Formulierung nicht eine 'codierte' oder iterierbare Äußerung wiederholte, mit anderen Worten, wenn die Formel, die ich ausspreche, um eine Sitzung zu eröffnen, ein Schiff oder eine Ehe vom Stapel laufen zu lassen, nicht einem iterierbaren Muster konform, wenn sie also nicht in gewisser Weise als 'Zitat' identifizierbar wäre."

109

Mit Hilfe des Zitats koppelt Derrida die Bedeutung einer Aussage nicht an eine Person, sondern

an das Zeichen selbst. Sinn ist nur möglich, weil es ein vorgängiges System, einen ´Text´ gibt, in

dem ein Rückgriff auf Zeichen unabhängig von den Sprechenden möglich ist. Dabei umfasst

107

Butler, Hass spricht, 1998, S. 68 108

Iteration bedeutet einerseits Wiederholung und Verdoppelung eines sprachlichen Ausdrucks (Rhetorik), gleichzeitig wird der Begriff in der Mathematik verwendet, für ein Verfahren der schrittweisen Annäherung an eine exakte Lösung. In dieser doppelten Bedeutung des Wortes ist also das zitieren enthalten, aber gleichzeitig ist jede Wiederholung nur eine Annäherung, nicht aber exakt identisch mit dem Original. 109

Derrida, 1976, S. 150

Page 33: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

27

´Text´ alles: „Die Rede ist ein Text, die Geste ist ein Text, die Realität ist ein Text.“110 Die

Wiederholbarkeit des Zeichens erschöpft sich allerdings nicht in der bloßen Reproduktion oder

einfachen Wiederholung desselben. Vielmehr verbindet Derrida Wiederholung mit Andersheit.

In der Wiederholbarkeit wird das Zeichen zum Zeichen, in der konkreten Wiederholung wird es

wieder mit einem neuen Kontext verknüpft und verändert sich dabei. Es ist niemals möglich,

eine Äußerung zweimal in derselben Weise zu wiederholen, weil der Kontext sich nicht fixieren

lässt. Somit sind alle Markierungen und Äußerungen potentiellem Misslingen ausgesetzt, der

Bruch (force de rupture) mit dem Kontext ist bei Derrida notwendiges Strukturmerkmal jeder

Äußerung.111 Indem es bei Derrida keine feste Bedeutung mehr gibt, verdanken die Zeichen ihre

Bedeutung allein der Möglichkeit ihrer Wiederholung und sind deshalb einem stetigen

Resignifikationsprozess unterworfen, welchen Derrida mit différance112 bezeichnet. Aus ihrer

Dekontextualisierung und ihrer Fähigkeit, neue Kontexte an sich zu ziehen, leitet sich für Derrida

die Kraft der performativen Äußerung ab. Während Austin die Konventionen, die notwendig

sind, damit eine performative Äußerung funktioniert, mit ´Ritual´ und ´Zeremonie´ verbindet,

wandelt Derrida sie vollständig in sprachliche ´Iterierbarkeit´.113

Butler durchdenkt Iterabilität als gesellschaftliche Logik; dabei stellt sich das Problem, dass

bestimmte Äußerungen schneller, andere aber nicht so einfach mit früheren Kontexten brechen.

So erzielen beispielsweise Begriffe des hate speech114 ihre verletzende Wirkung durch das

Aufrufen eben dieser Kontexte.115 Derrida hat die Wiederholungsfunktion von Äußerungen nicht

auf gesellschaftliche Begebenheiten bezogen. Daher ist es zum Teil schwierig, das Konzept für

eine Gesellschaftsanalyse heranzuziehen. Dennoch bietet Derridas Formulierung die

Möglichkeit, „Performativität in Verbindung mit Transformation zu denken, mit dem Bruch mit

früheren Kontexten, der Möglichkeit, Kontexte zu inaugurieren, die erst noch wirklich werden

müssen.“116

110

Derrida,1987, zitiert in Plößer, 2005, S. 30 111

Vgl. Butler, Hass spricht, 1998, S. 209, 212 112

Différance: ist eine Wortschöpfung, Wortverschiebung von Derrida: er nimmt den Begriff Différence, der Verschieden, Different heißt und verändert in der Wiederholung einen Buchstaben und schafft damit einen Verweis auf unablässige Verschiebung von Bedeutungen in der Wiederholung. 113

Vgl. Butler, Hass spricht, 1998, S. 212-213 114

Hassrede, z.B. „Kanacke“, „Krüppel“. Butler schreibt zur Selbstaneignung solcher Begriffe des hate speech in Bewegungskontexten (Krüppelbewegung, Kanack attack), in denen doch ein Bruch mit Kontexten funktionieren kann. 115

Butler untersucht dies in „Hass spricht“, 1998 116

Butler, Hass spricht, 1998, S. 214-215

Page 34: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

28

Habitus - Zitatenkette auf der Ebene des Körpers

Als einen mehr gesellschaftsanalytischen Zugang zieht Butler das Habitus-Konzept von Pierre

Bourdieu heran, mit dem ReProduktion von (Körper)Wissen erklärt wird und verbindet es mit

der perFormativen Äußerung, womit auch Veränderung und ein Außen der Intelligibilität

gedacht werden können.

Die Habitustheorie von Bourdieu ist eine Theorie des Körperwissens. Der Körper wird als Ort und

Speicher einer sedimentierten Sozial- und Individualgeschichte gesehen, die in die körperliche

Hexis eingelagert und damit nicht so ohne weiteres ablegbar ist und in Ritualen des Alltags wird

immer wieder hergestellt wird. Dabei handelt der Körper

„nicht nur in Übereinstimmung mit bestimmten geregelten und ritualisierten Praktiken […], er ist selbst diese sedimentierte rituelle Aktivität, sein Handeln ist in diesem Sinn eine Form von verkörpertem Gedächtnis.“

117

Die Materialität des Körpers wird als eine Form von praktischer Aktivität gefasst; der Körper

eignet sich die Regelförmigkeit des Habitus an, indem er nach den Regeln eines gegebenen

gesellschaftlichen Feldes spielt. Dies ist nach Bourdieu seine Möglichkeit, an eben diesem

teilzuhaben.

Butler kritisiert, dass nach diesem Konzept kaum Veränderungen stattfinden könnten, das Außen

der Intelligibilität, die Möglichkeit des Überschreitens der Regeln und Normen fehlt. Um diese

Überschreitungen theoretisch zu ermöglichen, verbindet Butler die Habitustheorie mit dem

Konzept der PerFormativität. In dieser Verbindung wird die theoretische Unterscheidung

zwischen Gesellschaftlichem und Sprachlichem aufgelöst: „Das gesellschaftliche Leben des

Körpers stellt sich durch eine Anrufung her, die sprachlich und produktiv zugleich ist.“118 Liest

man den Habitus als eine stillschweigende Form der PerFormativität, als „eine Zitatenkette, die

auf der Ebene des Körpers gelebt und geglaubt wird“119, dann wird der Habitus geformt, er formt

aber auch. Körper ist einerseits Sedimentation von Sprechakten, die ihn konstituiert haben.

Wenn die Konstitution allerdings scheitert, trifft die Anrufung in dem Moment, in dem sie ihre

Forderung erhebt, auf einen Widerstand; dann überschreitet etwas die Anrufung, und dieses

Überschreiten wird als Außen der Intelligibilität120 gelebt. Im Gegensatz zu Bourdieu betont

Butler dieses Außen, die Normalität einer Unberechenbarkeit sozialer Praktiken.

117

Butler, Hass spricht, 1998, S. 218 118

Ebd. 217 119

Ebd., 219 120

Butler nennt als Beispiel für dieses Außen der Intelligibilität Homosexualität, Transsexualität, usw.

Page 35: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

29

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass unter PerFormativität nicht ein einzelner Akt zu

verstehen ist, sondern eine sich wiederholende Praxis, die innerhalb eines regulativen Systems

zu denken, ist und in der Subjekt erst ermöglicht und hergestellt wird.

„Eine performative Handlung ist eine solche, die das, was sie benennt, hervorruft oder in Szene setzt und so die konstitutive oder produktive Macht der Rede unterstreicht.“

121

Butler betont den zitathaften Charakter von perFormativen Äußerungen, in denen durch

Zeitlichkeit Verschiebung stattfindet. Dabei sind alle Bereiche des menschlichen Lebens von

Zitaten und Wiederholungen durchzogen, auch Körperpraxen und Medien, wie in Kapitel 5

herausgearbeitet wird. Subjektpositionen und Identitätsangebote werden innerhalb eines

Systems von Zitaten reProduziert, gleichzeitig beinhaltet dieses System immer auch das Risiko

der Fehl- und Umbenennung.

Nach Butler wird Geschlechtlichkeit ständig neu durch perFormative Akte hervorgerufen; damit

wendet sie sich gegen eine dichotome Teilung von Natur und Kultur, von biologischem und

sozialem Geschlecht.

„Geschlechtsidentität [ist] die wiederholte Stilisierung des Körpers, ein Ensemble von Akten, die innerhalb eines äußerst rigiden regulierenden Rahmens wiederholt werden, dann mit der Zeit erstarren und so den Schein der Substanz bzw. eines natürlichen Schicksals des Seienden hervorbringen.“

122

In einem Prozess andauernder Aufführung geschlechtlicher Konventionen wird das Geschlecht

erst hergestellt, aber in eben diesen Wiederholungen steckt auch Potential zur Veränderung.

Butler verweist auf die Unterscheidung zwischen Gender als Performanz und Gender als

Performativität, weil ihre Thesen oft missverstanden wurden.123 Performanz kommt aus dem

Bereich der Theaterwissenschaften und bezeichnet ein „künstlerisches Tun“, das intentional und

eine Einzelhandlung ist (oder einige wenige Aufführungen). Im Gegensatz dazu beruht

PerFormativität, wie oben beschrieben, auf Konventionen und Iterabilität und kann nicht als

intentionale Handlung behandelt werden.

„Performativität ist weder freie Entfaltung noch theatralische Selbstdarstellung, und sie kann auch nicht einfach mit der darstellerischen Realisierung [performance] gleichgesetzt werden.“

124

Es geht in der Geschlechter-PerFormativität also nicht darum, dass man das Geschlecht wie ein

Kleidungsstück an- und ausziehen kann. Die Kraft der PerFormativität liegt in der Möglichkeit,

sich auf etwas Geschichtliches, auf Konventionen zu beziehen, aber gleichzeitig im Zitat

Veränderung herbeizuführen.

121

Butler, Für ein sorgfältiges Lesen, 1993b, S. 123-124 122

Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, 1991, S. 60 123

Butler, Für ein sorgfältiges Lesen, 1993b, S. 123-124 124

Butler, Körper von Gewicht, 1997, S. 139

Page 36: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

30

5. Handlungsmöglichkeiten & Film

Agency im Sinne von (politischer) Handlungsmöglichkeit ist in diesem Konzept dort situiert, wo

Diskurse reProduziert werden; in der perFormativen Bewegung, in der bestehende Normen und

Regeln durch Rezitationen affirmiert und bestätigt werden, können sie auch umgedeutet und

neu definiert werden. Mit Butler gehe ich von einem erweiterten Politik-Begriff aus, der

folgende Fragen einschließt:

„Wie kann man die Fundamente aufbrechen, die alternative, kulturelle Konfigurationen der Geschlechteridentität verdecken? Wie kann man die `Prämissen` der Identitätspolitik destabilisieren und ihnen ihre phantasmatische Dimension zurückerstatten?“

125.

Das Politische ist im Anschluss an der Kritik an Identitäts- und Repräsentationspolitik in

Bezeichnungsverfahren verortet, durch die Identität gestiftet, reguliert und dereguliert wird.

„Die kritische Aufgabe [des Feminismus] besteht darin, Strategien der subversiven Wiederholung auszumachen […] und die lokalen Möglichkeiten der Intervention zu bestätigen, die sich durch die Teilhabe an jenen Verfahren der Wiederholung eröffnen, die Identität konstituieren und damit die immanente Möglichkeit bieten, ihnen zu widersprechen.“

126

Die Möglichkeit zu Handeln ist dabei eine ´abhängige Handlungsfähigkeit´.127

„Wer handelt (d.h. gerade nicht das souveräne Subjekt), handelt genau in dem Maße, wie er oder sie als Handelnde innerhalb eines sprachlichen Feldes konstituiert sind, das von Anbeginn an durch Beschränkungen, die zugleich Möglichkeiten eröffnen, eingegrenzt wird.“

128

Das ´postsouveräne Subjekt´ agiert im Spannungsfeld zwischen diskursiver Konstitution und

sprachlicher Wiederholung; es ist nicht autonom und weiß dies auch, es ist aber auch nicht

vollkommen determiniert und ist sich auch dessen bewusst.129 Nach diesem Konzept entgehen

die Subjekte der Polarisierung zwischen Normgeber_in und Normbefolger_in, zwischen Macht

und Ohnmacht, zwischen Voluntarismus und Determinismus. Wenn anerkannt wird, dass sowohl

Subjekte als auch gesellschaftliche Strukturen durch perFormative Praxen hervorgebracht

werden und mit diesen verstrickt sind, kann kritische Handlungsmöglichkeit an eben diesem Ort

der perFormativen Praxen entstehen. Der Handlungsbegriff wird damit neu gefasst: nicht als die

Möglichkeit eines intentionalen Subjektes oder Individuums, sondern als ein postsouveränes,

performativ asymptotisch hervorgebrachtes Subjekt im Bewusstsein des Eingefasst-Seins in

Diskurse. Die Anerkennung der Abhängigkeit des Subjektes vom Diskurs bedeutet nicht

125

Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, 1991, S. 216 126

Ebd. 127

Plößer, 2005, S. 118 128

Butler, Hass spricht, 1998, S. 29 129

vgl. Villa, 2003, S. 57

Page 37: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

31

zwangsläufig Resignation, sondern beinhaltet immer auch Anerkennung der Freiheitsgrade

zwischen Diskurs und Subjekt.130

Bei Butler geht es nicht um die Frage, ob wiederholt wird, sondern wie wiederholt wird131. Im

Wie liegt die Möglichkeit zur Umdeutung, zur Verschiebung von Bedeutungen, zum Widerspruch

gegen das, was erzwungen wird. Wann und unter welchen Umständen Verfehlungen und

Umdeutungen als Abweichung gelten und als solche verworfen werden, beispielsweise weil sie

Unsicherheit, Irritation und Abwehr auslösen, und wann es dagegen zu einer Umschreibung,

Veränderung der Normen kommt und damit zu einer Erweiterung des Gesellschaftlichen

Möglichkeitsraumes und zu einer Veränderung von Wahrnehmung und Denken, ist

kontextspezifisch und lässt sich nicht allgemein sagen und festschreiben. Die Zeit des Diskurses

und die des Subjektes sind nicht deckungsgleich, sodass „der Täter […] das ungewisse

Funktionieren der diskursiven Möglichkeiten sein [wird], durch die die Tat funktioniert.“132

5.1. PerFormatives Widersprechen

„[Es ist] keine radikale Politik des Wandels ohne performativen Widerspruch möglich.“133

Voraussetzung für Handeln ist eine Entlarvung von scheinbar Natürlichem als Konstruiertes134

und damit verbunden ein Sichtbarmachen und sich Bewusst werden von Verhältnissen als

sedimentierte Normen. Dies hat Butler mit ihrer Genealogie135 vom vergeschlechtlichtem

Subjekt geleistet. Butler geht aber noch einen Schritt weiter: Sie will nicht nur Naturalisierungen

aufdecken, sondern mit diesem Wissen eine Umdeutung von Begriffen anstreben und

Handlungen ermöglichen, die Verhältnisse variieren, parodieren, unterlaufen und damit

womöglich ändern. Dies kann durch das Konzept der PerFormativität in einer veränderten und

verändernden Wiederholung von Praxen geschehen, in Form von Ironie, Satire, Geschlechter-

Parodie, unautorisiertem Sprechen, Umdeutung von Begriffen und Bildern, usw.

130

Vgl. Villa, 2003, S. 55-56 131

Vgl. Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, 1991, S. 217 132

Butler, Für ein sorgfältiges Lesen, 1993b, S. 125 133

Butler & Spivak, Sprache, Politik, Zugehörigkeit, 2007, S. 46 134

Der konstruktivistische Aspekt in diesem Konzept besteht in der Frage danach, wie ist es zu etwas gekommen ist. Vgl. dazu auch Foucault: Archäologie des Wissens und Genealogie der Macht. Es geht um eine Aufzeichnen von Vergangenem, von Normen, die sich in Gesetzen, in Wahrnehmungen, in Institutionen,… sedimentiert haben. 135

Herleitung, Ableitung, geschichtlichen Werdegang

Page 38: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

32

„Sobald wir der Ansicht widersprechen, daß keine politische Position bei einem performativen Widerspruch verharren kann, und es zulassen, daß das Performative wie eine Forderung und ein Akt funktioniert, dessen Wirkungen sich mit der Zeit entfalten, dann können wir auch die entgegengesetzte These in Betracht ziehen, der zufolge keine radikale Politik des Wandels ohne performativen Widerspruch möglich ist.“

136

Wie kann in der perFormativen Herstellung von Geschlecht die heterosexuelle Matrix als

hegemonialer Diskurs angegriffen und verändert werden? Dominante Setzungen bedürfen einer

dekonstruktiven Zersetzung, indem tran sie „wiederholt, subversiv wiederholt und sie

verschiebt, bzw. sie aus dem Kontext herausnimmt, in dem sie als Instrumente der

Unterdrückungsmacht eingesetzt wurden.“137 Unter perFormativem Widersprechen ist gemeint,

etwas zu tun, was nicht vorgesehen ist, und dieses Tun öffentlich zu machen. Es geht hier nicht

um Sprechen im engen Sinn, sondern um perFormative Praxen, die das ganze Leben umfassen.

All jene Praxen, die mit der heterosexuellen Matrix brechen und dabei Normen und Rechte für

sich einfordern, können als perFormative Widersprüche potentiell die Matrix in Frage stellen

und ihrer Legitimation berauben. All jene, die am Rande des Intelligiblen stehen, die aus dem

Universellen ausgeschlossen sind, können über das Einklagen desselben den Rahmen in Frage

stellen, der es begrenzt.

„[Eine] Forderung […] zu stellen bedeutet, bereits mit ihrer Ausübung zu beginnen und hinterher ihre Legitimation zu verlangen, es bedeutet, die Lücke zwischen Ausübung und Verwirklichung zu verkünden und beides auf eine Weise in den öffentlichen Diskurs einzubringen, dass die Lücke sichtbar wird und zu mobilisieren vermag.“

138

Beim perFormativen Widersprechen geht es nicht um die Eingliederung dessen, was aus den

bestehenden Begriffen ausgeschlossen ist. Dies hätte immer wieder weitere Ausschlüsse zur

Folge. Vielmehr geht es nach Butler darum, „eine Vorstellung von Differenz und Zukünftigkeit

[…] einzubringen, die eine unbekannte Zukunft entwirft, eine, die jenen Angst macht, die deren

konventionelle Grenzen verteidigen wollen.“139 Im Folgenden sind Beispiele PerFormativen

Widersprechens angeführt; ausführlicher möchte ich diese im Analyse-Teil herausarbeiten.

Praxen veränderter und verändernder Wiederholung sind beispielsweise die

Begriffsaneignungen. Wie an `queer` skizziert, ist es im Kontext einer Bewegung gelungen, ein

ehemaliges Schimpfwort zu einer positiven Selbstbezeichnung umzudeuten und ihm dadurch

seine verletzende Kraft zu nehmen. Im Rahmen der Queer Theory wurde ´queer´ zu einer

Strategie des Offenhaltens und der permanenten Auseinandersetzung um den Inhalt von

136

Butler & Spivak, 2007, S. 46 137

Butler, 1993a, S. 52 138

Butler & Spivak, Sprache, Politik, Zugehörigkeit, 2007, S. 47 139

Butler, Hass spricht, 1998, S. 227

Page 39: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

33

Identität oder eines politischen Begriffs und symbolisiert so auf Dauer gesetzte Uneindeutigkeit,

sowie Anerkennung der Brüchigkeit und Instabilität von Identitäten.

Auch Ironie, Satire, Parodie sind besonders geeignete Fehlaneignungen von Bezeichnungen oder

Anreden. Sie kritisieren etwas und führen es vor, während sie es wiederholen und lenken damit

die Aufmerksamkeit darauf, dass es sich um ein Zitat handelt. Wenn es sich dabei um eine

ästhetische Umsetzung handelt, kann das Wort verwendet und zugleich ausgestellt, vorgezeigt

werden.140 Dabei wird Geschlecht als Konstruktion sichtbar gemacht und entnaturalisiert.

PerFormativer Widerspruch sind Ironie, Satire und Parodie, indem sie gleichzeitig öffentlichen

Raum für sich beanspruchen.

Das Neuerzählen und Umdeuten von (historischen) Erzählungen entwickelt die Fähigkeit, eine

Zukunft zu entwerfen, die im Augenblick nicht vorgesehen ist, wohingegen mit einer Fixierung

der Vergangenheit werden verlorene Ehren und Demütigungen wiederaktiviert141 werden. In

verändertem Wiedererzählen können verschiedene Lesearten miteinander konkurrieren und in

„Streit um die Vergangenheit“142 treten, dabei geht es um Verhandlung von Bedeutungsgebung.

Da Medien und Film gewissermaßen einen öffentlich diskursiven Raum darstellen, in dem

Diskurse perFormativ wiederholt werden, werde ich im Folgenden ausloten, inwiefern Film

Möglichkeiten perFormativen Widersprechens bietet.

5.2. Zur sozialen Produktivität von Film

“¿Cómo amaríamos si no hubiéramos aprendido en los libros cómo se ama? ¿Cómo sufriríamos? Sin duda sufriríamos menos.”

143

In diesem Abschnitt soll der Frage nachgegangen werden, wie soziale Produktivität von Film

gedacht und wie das Konzept der PerFormativität für eine Analyse filmischer

Geschlechterinszenierungen produktiv gemacht werden kann. Film gerät im Zusammenhang mit

Geschlechter-PerFormativität mindestens zweifach ins Blickfeld. Einerseits als beteiligt an

Bedeutungsproduktion und Wirklichkeitskonstruktion und damit ´Kampffeld´ verschiedener

hegemonialer und subversiver Diskurse und andererseits in seiner spezifisch medialen

140

Vgl. Butler, Hass spricht, 1998, S. 143 141

Vgl. Riceur in Jörissen & Marotzki, 2009, S. 54 142

Jörissen & Marotzki, 2009, S. 54 143

“Wie würden wir lieben, hätten wir nicht in den Büchern gelernt, wie wir lieben? Wie würden wir leiden? Ohne Zweifel litten wir weniger.“ Manuel Vázquez Montalbán (2002), Los Mares del Sur, 190, Übersetzung MR

Page 40: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

34

Performativität, in der Diskursives und Bildliches ineinandergreifen. Dabei beansprucht Film

öffentlichen medialen Raum und greift auf Gesellschaftliche Konzepte und Normen zurück.

Wenn ich nach der Relevanz kultureller Praktiken für die Durchsetzung und Anfechtung der

heterosexuellen Matrix im Allgemeinen und im Besonderen nach der Bedeutung von Filmen des

Queer Cinema in diesem Zusammenhang frage, bietet es sich an, an die Cultural Studies und

insbesondere an Stuart Hall anzuknüpfen. Dieser thematisiert Medien als kommunikativen Akt

zwischen kultureller Produktion, Darstellung und Rezeption. Mediale Produkte werden nicht als

Abbilder von Wirklichkeit oder Ausdruck von Bedeutung verstanden, sondern als beteiligt an

Bedeutungsproduktionen. Damit haben Medien politisches Gewicht, sie unterstützen oder

unterminieren Diskurse, machen Themen zugänglich und verhandelbar oder verschweigen sie.

Film ist mit den Cultural Studies materielles Objekt der Repräsentation und Inszenierungspraxis,

und als solches an Subjektivierungspraxen beteiligt.

Stuart Hall, encoding/decoding

Stuart Hall beschreibt Film als einen Prozess von Encoding und Decoding144: Diskurse aus der

Realität werden im Film kodiert, das heißt, in ein Filmformat übersetzt, indem sie selektiert,

aufbereitet und gebündelt werden. Im Dekodieren werden Filme gelesen, d.h. in die Realität der

Zuschauenden übersetzt. Dieser gesamte Prozess ist eingeschlossen in ein System von

Produktionsverhältnissen, in eine technische Infrastruktur, sowie in Wissenssysteme und damit

auf einen Rahmen von Bedeutungen und Ideen bezogen.145 Der Code eines Filmes lässt sich

somit nicht einfach fixieren, sondern entzieht sich der Kontrolle; jeder Text hat potentiell

unzählige Bedeutungen, wobei allerdings die Bedeutungen nicht gleichrangig nebeneinander

gestellt sind, sondern in einer nach Dominanz sortierten Hierarchie angeordnet. Es gibt ein

Muster bevorzugter Lesarten, welches in die gesellschaftliche (institutionelle politische,

ideologische) Ordnung eingeschrieben ist. Dominante Bedeutungen werden durch Strukturen

hegemonialer Diskurse als Wahrheiten inszeniert, indem sie ihren ideologischen Gehalt

verschleiern und Aussagen als natürlich legitimiert darstellen.146

Das Performativitäts-Konzept versucht Bedingungen zu beschreiben, die das Gelingen von

Sprechakten oder von kulturellen Praktiken gewährleisten. Wenn nun der Film mit den Cultural

Studies als kommunikativer Akt gesehen wird, ist der Film ist in dem Moment eine perFormative

Handlung, in dem er von Zuschauenden gesehen wird und damit Öffentlichkeit für sich

beansprucht. In diesem Sinn geht es auch beim Film um die Bedingungen der PerFormativität.

144

Vgl. gleichnamiger Artikel Hall, 1977/2004 145

Ebd. 69 146

Ebd. 70

Page 41: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

35

Allerdings hat Film eine spezifische Medialität und eröffnet damit andere

Handlungsmöglichkeiten als beispielsweise Gesprochenes oder über körperliche Praktiken

Aufgeführtes.

5.3. Mediale Performativität des Films

In ihrem Artikel "Across 110th Street"147 kritisiert Andrea Seier, dass im Anschluss an Butlers

Konzeption der PerFormativität die Spezifität medialer PerFormativität zugunsten einer

Kontingenz geschlechtlicher Normen übersprungen und aufgelöst wird und dadurch

Ungenauigkeiten entstehen148. Im Folgenden werde ich im Anschluss an Sibylle Krämer und

Andrea Seier eine speziell medienspezifische Ausformulierung des Konzeptes der Performativität

in Bezug auf Film aufgreifen, um dadurch auf speziell filmische Möglichkeiten der Subversion von

Geschlecht zu blicken.

Über Medialität149 lässt sich Film ähnlich wie der Körper über das Habituskonzept als spezifische

Materialisierung von Diskursen fassen. Die Bedeutungsbildung eines Filmes kann mit Krämer als

´Spur des Mediums´ bezeichnet werden, die die Materialität der Sprachlichkeit in einer

Eigensinnigkeit vollzieht, die sich nicht an das Modell vereinbarter Zeichenbedeutungen hält150:

„Spuren werden nicht gemacht, sondern werden hinterlassen. Das Medium ist zwar nicht die

Botschaft, doch die Botschaft ist die Spur des Mediums.“151 Dies lässt die Vorstellung von Filmen

als intentionales, intersubjektiv kontrollierbares Zeichenhandeln zu kurz greifen. Die mediale

PerFormativität eines Films ist nach Seier in einer Weise an filmischer Bedeutungsproduktion

beteiligt, die von Filmemacher_innen, Darsteller_innen und sonstigen beteiligten Personen nicht

völlig kontrollierbar ist. Filme sind damit nicht einfach Medien oder Instrumente in den Händen

politischer Subjekte, sondern Kräfte, die den Status von Subjekten mit hervorbringen oder

unterlaufen. Dadurch wird Filmen eine gewisse agency-Funktion zugestanden152.

147

Seier, 2004 148

Auch von Butler selbst in der Analyse des Dokumentarfilms Paris is Burning in Körper von Gewicht, 1993. 149 Krämer verwendet einen weiten Medienbegriff: Für sie sind Medien „konstitutiv für die menschliche

Sprachlichkeit, insofern verschiedene Medien immer auch verschiedenartige Sprachpraktiken eröffnen. […] Gesprochene und geschriebene Sprache unterscheiden sich nicht nur in der Erscheinung, vielmehr in der Art von Handlungen, die wir mit ihnen vollziehen können.“ Krämer, 1998, S. 39 150

Vgl. Seier, 2004, S. 49-50 151

Krämer, 1998, S. 39 152

Vgl. Seier, 2004, S. 50

Page 42: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

36

So wie der Geschlechtskörper die Rezitation einer Kette von Geschlechterbedeutungen und -

handlungen ist, die zugleich gegenwärtig sind und über sich hinausweisen, ist auch jeder

einzelne Film in ein diskursives Netz von Signifikationspraktiken eingelassen, die schon immer

über ihn hinausweisen.153 Dieses diskursive Netz ermöglicht den Film erst und reglementiert ihn

zugleich. Diskurse werden für den Film selektiert, aufbereitet und im Film gebündelt aufgeführt.

Dieses Selektieren und Aufbereiten ist an Bedingungen der Produktion geknüpft (z.B. technische

Mittel, Ressourcen), aber auch an implizite und explizite Wissenssysteme (z.B. moralische

Richtlinien wie der ´Hays Code´ in Hollywood). So wie jede perFormative Äußerung ist Film

immer schon in ein Feld von Konventionen eingelassen. Dabei sind die Konventionen, auf die ein

Film zurückgreift sowohl gesellschaftliche Diskurse und Ordnungssysteme, als auch speziell

mediale und ästhetische Verweise. Auf der Basis von Reproduktion und Wiederholung erzeugt

der Film eine Illusion der Gegenwärtigkeit und weist dabei zugleich über den aktuellen Moment

hinaus. Hier erweist sich die weiter oben beschriebene Unterscheidung von Performanz und

PerFormativität als brüchig. Sie ist zwar analytisch notwendig, das Konzept der PerFormativität

explizit zu machen, ist aber insofern komplexer, als dass auch der Film als Performanz – das In-

Szene-Setzen im Film – immer auf perFormative Wiederholung, d.h. auf die Wiederholung von

Geschichtlichem angewiesen ist.154

Filme sind auf inhaltliche, ästhetische und mediale Konventionen angewiesen, d.h. sie greifen

auf Machtrelationen, Inszenierungs- und Darstellungsformen, ´Blickregime´, Distributions- und

Rezeptionsformen usw. zurück. Eine Fokussierung ausschließlich auf eine Kontinuität

geschlechtlicher Normen im Film würde zu kurz greifen, um die PerFormative Herstellung und

Verschiebung von Geschlechtlichkeit im Film zu klären.

153

Seier, 2006, S. 49 154

Vgl. Seier, "Across 110th Street". Zur Überlagerung performativer Prozesse in Tarantinos JACKIE BROWN (USA 1997), 2004, S. 50

Page 43: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

37

Exkurs Blickregime

Die Art und Weise, wie die Welt wahrgenommen wird, und wie das Subjekt Sichtbarkeit erfährt,

hat Kaja Silverman155 als ´Blickregime´ bezeichnet und eine analytische Unterscheidung von drei

Dimensionen des Sichtfeldes ausgearbeitet: Gaze, Screen und Look. Mit Gaze sind die historisch-

kulturellen Regeln gemeint, die bestimmen, wie etwas dargestellt werden kann, damit es

intelligibel ist. Als ´Blickregime´ kontrolliert und stiftet es die Identität des Subjekts, auch wenn

es die Form, die eine Identität trägt, nicht determiniert.156 Vergleichbar mit dem Diskurs

organisiert es das Feld des Sichtbaren auf bestimmte Weise. Screen umfasst das Bildrepertoire

einer Gesellschaft. Es ist zu verstehen als kulturell generiertes Repertoire von Bildern, das uns in

Relation zu sex, age, race, nationality, class definiert157. Der Look ist der Blick eines konkreten

Individuums, der durch Biografie, soziale Positionierung, psychische Disposition strukturiert ist,

aber gleichzeitig immer auch dem Gaze unterworfen und auf den Screen angewiesen ist. Er

kommt vom Subjekt und ist von Mangel gekennzeichnet.158

„If the Gaze is like an imaginary camera […] then the screen is what decides how the subject will be ´photographed´. Only forms of Identity mandated by the dominant fiction will enter visibility. All the rest – the subjects not ratified by the dominant fiction - will be screened out.”159

Filme sind in der Lage, den dargestellten (auch marginalisierten) Subjekten Idealität zu

gewähren. Das bringt sie nicht notwendigerweise in Knechtschaft von dominanten Erzählungen,

es kann sie auch herauszufordern, indem es sich diesen widersetzt. Dabei geht es nicht um ein

Bereitstellen von positiven Bildern von ´Frauen´, ´Schwarzen´, ´Homosexuellen´ oder anderen

marginalisierten Gruppen – solche Bilder würden Identität reEssentialisieren. Vielmehr schlägt

Silverman vor, über Mechanismen der Identifikation die ästhetischen Ideale und die

gesellschaftliche Intelligibilität von Bildern zu verändern.

„[W]e cannot idealize something without at the same time identifying with it. Identification is therefore a crucial political tool. […] We need aesthetic works which will make it possible, for us to idealize […].”160

Die politische Arena, in der kulturelle Repräsentationen verändert werden können, ist somit der

Screen. Veränderung geschieht zwischen Screen und Look.

155

Silverman, 1996, zitiert in Engel, 2009, S. 206 156

Vgl. Silverman, 1992, zitiert in Chaudhuri, 2006, S. 114 157

Silverman, 1992, zitiert in Chaudhuri, 2006, S. 115 158

Chaudhuri, 2006, S. 114 159

Ebd. S.155 160

Silverman, 1996, S. 2

Page 44: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

38

6. Filmanalyse

Unter Film- und Fernsehanalyse werden verschiedene Methoden verstanden, die gemeinsam

haben, dass

“in der konkreten Untersuchung der Strukturen des einzelnen Produkts charakteristische Merkmale von Film und Fernsehen [herausgearbeitet], auch neue Erkenntnisse [gesammelt] und neue Dimensionen der filmischen und televisuellen Ästhetik [erschlossen werden].“

161

Erkenntnisse und Einsichten über medial-ästhetische Strukturen werden sprachlich formuliert,

um auf diese Weise bewusst gemacht zu werden. Eine Versprachlichung bedeutet zwar eine

Reduktion der Gesamtgestalt eines Films, der ein Zusammenspiel aus vielen gerade auch

nichtsprachlichen Elementen ist,162 dennoch können vorhandene, aber verborgene

Bedeutungsinhalte im Film erschlossen, und dadurch der ästhetische Genuss gesteigert werden.

Die Film- und Fernsehanalyse dient der Erkenntnisgewinnung und ist je nach Erkenntnisinteresse

unterschiedlich ausgerichtet, nicht nur in Bezug auf die Perspektive, worunter der Gegenstand

Film betrachtet wird, sondern auch in Bezug auf die Arbeitsschritte und dem hinzugezogenen

Material. Hickethier u.a. plädieren daher für eine Vielfalt der Methoden, um ein umfassendes

Bild von Film und Fernsehen zu erlangen163; die Präzisierung des Standpunktes und der

Perspektive in der konkreten Analyse liegen im eigenen Erkenntnisziel.

Wie in den vorhergehenden Kapiteln ausgearbeitet wurde, können Filme als Quelle verstanden

werden, die Ausschnitte gesellschaftlicher Realität repräsentieren. Dabei greifen Filme auf

gesellschaftliche und medial-ästhetische Konventionen zurück und wiederholen diese. Da diese

Diplomarbeit darin besteht, Möglichkeiten des perFormativen Widersprechens von

heteronormativen Verhältnissen zu untersuchen, ist die Analyse der Filme darauf fokussiert,

welche gesellschaftlichen und medialen Konventionen in Bezug auf Körperlichkeit, Identität und

Beziehungsstrukturen im Film aufgegriffen und verschoben werden. Auch wenn die

Fokussierung auf die Triade sex-gender-desire eine Engführung der aufgegriffenen

gesellschaftlichen Konventionen bedeutet, werde ich aus forschungsökonomischen Gründen

vorwiegend auf eben diese Triade eingehen, weil damit die Komplexität und weitreichende

Wirkmächtigkeit von Konstruktionen deutlich gemacht werden kann. Auch auf speziell filmische

Konventionen wie mediale Ästhetik, Genre oder intermediale Bezüge greift der Film zurück,

wobei auch hier eine Eingrenzung vorgenommen werden muss: da der Film Todo sobre mi

161

Hickethier, 1996, S. 26 162

Vgl. ebd. S.27 163

Vgl. ebd. S.30

Page 45: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

39

madre offensichtlich viele verschiedene mediale Bezüge herstellt, wird ein Fokus der Analyse

darin bestehen, Verschiebungen durch eben diese Zitate herauszuarbeiten.

6.1. Analytisches Verfahren

In meiner Filmanalyse gehe ich nach dem von Lothar Mikos (und anderen) beschriebenen

Verfahren vor, worin zwischen Beschreibung, Analyse und Interpretation unterschieden wird.

Die Beschreibung ist eine Operation, in der das auf dem Bildschirm Sichtbare sprachlich

dargestellt wird, also die sprachliche Sicherung der Datenbasis, die der Analyse zugänglich sein

soll. In der Beschreibung muss deutlich werden, welche Sinnangebote der Filmtext gibt, und wie

Bedeutung gebildet wird164. Es ist der Versuch einer Übersetzung von Filmen in Sprache und

orientiert sich am Erkenntnisinteresse der Analyse. Ich werde in der Beschreibung vor allem auf

Inhalt und Figuren eingehen, da es in der Fragestellung explizit um Subjekte,

Beziehungsstrukturen, Körperlichkeit geht. Allerdings können in der Beschreibung nur erste

Sinnangebote und Bedeutungen beschrieben werden, weitere Möglichkeiten werden erst im

Laufe der Analyse sichtbar.

In der Analyse müssen Komponenten herausgearbeitet werden, die zur Bedeutungsbildung

beitragen. Ein Film wird zerlegt, um die Struktur offen zu legen. Da der Film in kleinere Einheiten

gegliedert und relativ detailgenau betrachtet und beschrieben werden kann, nähert sich die

Filmanalyse der literarischen Textanalyse an.165 In der Analyse wird auf das Exemplarische und

das Besondere geachtet, das in Bezug zum Film als Ganzen gesetzt wird.166 Für meine Analyse

des Films Todo sobre mi madre hat es sich als sinnvoll erwiesen zunächst ein Szeneprotokoll zu

erstellen, das für Faulstich und Korte für eine Wissenschaftliche Analyse Grundvoraussetzung

sind.167 Dies enthält Nummer und Dauer der Szene, sowie Angaben zur Handlung168. Die

Handlungssequenzen werden zur Veranschaulichung in einer Sequenzgrafik169 dargestellt. In

weiteren Szeneprotokollen170 werden entsprechend der Fragestellung strukturelle und mediale

Konventionen sowie inhaltliche Verweise auf Körperlichkeit, (Geschlechts)Identität und

Beziehungskonventionen expliziert.

164

Mikos 2008, S. 78 165

Vgl. Blüher, Kessler, & Tröhler, 1999, S. 4 166

Vgl. Mikos, 2008, S. 91 167

Vgl. Ebd. S 97 168

Anhang: 1. Szeneprotokoll 169

Sequenzgrafik Kapitel 7.3. 170

Anhang: 2.-4. Szeneprotokoll

Page 46: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

40

In der Auswertung geht es darum, die Teile aus der Analyse wieder zusammenzusetzen und sie

in ihrer Funktion für die Bedeutungsbildung zu untersuchen. Die Strukturelemente müssen in

ihren Beziehungen und Abhängigkeiten zu einem systematischen Ganzen zusammengefügt und

in mediale, historische oder gesellschaftliche Kontexte eingeordnet werden.171 Die Auswertung

erfolgt theoriegeleitet und ist am Erkenntnisinteresse orientiert. Dabei muss eine Balance

zwischen Theorie und Interpretation gefunden werden: „Die besten Beispiele der [A]nalyse sind

[…] oft Gratwanderungen, die jedoch durch die Kraft ihrer theoretischen Reflexion abgesichert

und vor dem Absturz in die Willkür der Interpretation bewahrt werden.“172 Die Interpretation

der Strukturelemente sollte im Hinblick auf die Bedeutungsbildung plausibel und für die

Lesenden der präsentierten Analyseergebnisse nachvollziehbar sein.

6.2. Begriffe der Filmanalyse

Im Folgenden werde ich die Begriffe kurz erklären, die ich in der Filmanalyse verwende. Ich

beziehe mich dabei großteils auf Mikos‘ Lehrbuch der Film- und Fernsehanalyse.

Die Struktur eines Films fügt sich aus Einstellungen, Szenen und Sequenzen zusammen:

Filme bestehen aus vielen Einzelbildern, die in einer Einstellung miteinander verknüpft sind.

Eine Einstellung gilt daher als die kleinste Einheit beim Film. Sie ist definiert durch den

Bildausschnitt und die Entfernung zur Kamera; der Anfang und das Ende einer Einstellung

werden durch Schnitte gesetzt.173 Mehrere Einstellungen, die eine Einheit von Ort und Zeit

bilden, in der sich eine kontinuierliche Handlung vollzieht, ist eine Szene. Nach Mikos174 können

dabei vier Arten von Szenen unterschieden werden: Dialogszenen ohne Aktion, Dialogszenen mit

Aktion, Aktionsszene ohne Dialog und Deskriptive Szene ohne Dialog. Eine Gruppe von

miteinander verbundenen Szenen, „die eine Handlungseinheit bilden ´und sich durch ein

Handlungskontinuum von anderen Handlungseinheiten´ unterscheiden“175 stellen eine Sequenz

dar.176

171

Vgl. Mikos, 2008, S. 99-101 172

Blüher, Kessler, & Tröhler, 1999, S. 6 173

Vgl. ebd. 91 174

Vgl. ebd. 92 175

Hickethier, zitiert von Mikos, 2008, S. 92 176

Oft wird Szene und Sequenz synonym verwendet, z.B. Bordwell/Thompsen

Page 47: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

41

Einstellungsgrößen legen die Nähe und Distanz der Kamera zum abgebildeten Geschehen

fest177 und tragen so zur Bedeutungsbildung bei.

Panorama & Totale zeigen eine Landschaft, eine Stadt in ihrer flächigen Ausdehnung und

schaffen so einen Überblick über die Situation bzw. informieren über die Beschaffenheit des

Handlungsortes. Halbtotale & Halbnah: Hier werden die Figuren im Handlungsraum

präsentiert, die Zuschauenden haben den Eindruck, in der direkten Umgebung des Geschehens

zu sein. Nah & Groß: In der Nah- und Großaufnahme werden von den Figuren lediglich der Kopf

und evtl. ein Teil des Oberkörpers gezeigt. Mimik und Gestik sind gut zu erkennen. Aufgrund der

Nähe kann auch von einer intimen Einstellung gesprochen werden. Bei Detailaufnahmen wird

die Bedeutung einzelner Gesichtspartien oder von Gegenständen hervorgehoben, und dadurch

auf nachfolgende oder vorherige Situationen verwiesen.

Über die Montage werden einzelne Einstellungen miteinander verbunden, der Begriff

bezeichnet die zeitliche Anordnung der Einstellungen:178

Mit Establishing Shot ist eine Einstellung zu Beginn einer Sequenz oder Szene gemeint, die

zunächst einen allgemeinen Überblick über den Handlungsraum gibt, in dem die Szene spielt und

Charaktere agieren. Die nächste Einstellung zeigt die Sicht über die Schulter der einen Person auf

die andere. Damit werden die Zuschauenden direkt ins Geschehen einbezogen. Wenn die beiden

Figuren (oder mehrere) einen Dialog führen, werden sie oft im Schuss-Gegenschuss-

Verfahren aneinandergeschnitten: Mal sieht tran die sprechende, mal die zuhörende Person.

Im Point of View-Schnitt wird zunächst eine Person gezeigt, die in Richtung außerhalb des

Bildes schaut, im darauf folgenden Bild ist aus der Perspektive der Person zu sehen, wohin sie

blickt. Auf diese Weise werden die Zuschauenden in die subjektive Sichtweise und in die

mentalen und emotionalen Prozesse d_ blickenden Akteur_in einbezogen.

Ton und Sound179: Grundsätzlich wird in Musik, Geräusch und Stimmen unterschieden, wobei

die Quelle des Tons entweder zum Erzählwert gehört, also diegetisch im Film enthalten ist und

Teil der Erzählung, oder non-diegetisch von außerhalb der Erzählwelt hineinwirkt,

beispielsweise als Stimme einer externen Erzählenden. Weiters wird unterschieden, ob die

Tonquelle im Bild zu sehen ist (ON) oder aus dem OFF kommt.

177

Vgl. Mikos, 2008, S. 194-199 178

Vgl. ebd. S. 222-228 179

Vgl. ebd. S. 235-239

Page 48: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

42

Mit Intertextualität180 ist die Beziehung eines (Film-)Textes zu anderen Texten gemeint.

Intermedialität ist eine Art von Intertextualität, die das Zitieren eines Textes aus einem

Medium in einem andern Medium meint. Der Text, der die Grundlage eines neuen Textes bildet,

wird Hypotext genannt, wohingegen mit Hypertext der neu entstandene Text bezeichnet

wird, der ersteren beispielsweise durch Parodie oder Nachahmung überlagert. Ein Paratext

steuert die Rezeption des eigentlichen literarischen Textes als Titel, Klappentext, Widmung oder

Vorwort. Auch das Genre, das so viel wie Gattung oder Art bedeutet, stellt intertextuelle

Zusammenhänge her.

Alice Bienk181 nimmt folgende Kategorisierung von Zitatformen vor, die für eine Analyse von

filmischer Intertextualität unterstützend ist. Dabei können alle Zitate Ironisch-parodistisch oder

ernst gemeint sein und in Kombinationen auftreten.

Das visuelle Zitat zitiert Szenarien, Orte, Bilder. Diese werden in einem ähnlichen oder anderen

Kontext präsentiert als es beim Original der Fall ist. Im dialogischen Zitat wird im Gespräch

von Figuren eines Films explizit auf einen anderen Film, auf Figuren oder Szenarien verwiesen.

Im auditiven Zitat werden Musik, Geräusche oder Gesprochenes des Originalfilms zitiert oder

imitiert. Das Motiv-Zitat greift ein Motiv aus einem anderen Film wird auf. Daneben gibt es

Verweise auf andere Kontexte, die nicht auf einen anderen Film oder andere Medien verweisen,

sondern außerhalb der Filmwelt liegen.

180

Vgl. Mikos, 2008, S. 272-281 181

Vgl. Bienk, 2008, S. 126-127

Page 49: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

43

7. Analytischer Teil: Untersuchung des Films Todo sobre mi

madre

HUMA. ¿Pero tú sabes actuar? MANUELA. Sé mentir muy bien, y estoy acostumbrada a improvisar.

182

Seit Anfang der 1990er Jahre wurden vor allem in den USA, aber auch in Europa queere Filme

salonfähig. Ein sehr berühmter Film, der etwa zehn Jahre später in den internationalen Kinos lief,

ist Todo sobre mi madre von Pedro Almodóvar. Der Film erhielt zahlreiche nationale und

internationale Auszeichnungen. Pedro Almodóvar ist wohl der bekannteste zeitgenössische

Regisseur Spaniens. Mit Marisa Paredes, Antonia San Juan, Cecilia Roth und Penélope Cruz

wirken sehr bekannte Schauspielerinnen mit. Aber nicht nur der Bekanntheitsgrad des Filmes

macht ihn für meine Analyse relevant, sondern vor allem der Umgang mit Identitätskonzepten,

die Überschreitung geschlechtlicher Grenzen und die Bezüge auf andere mediale Texte.

Der Film soll nun im Spannungsfeld von Geschlechterkonstruktionen und medialen

Konventionen im Hinblick auf perFormative Verschiebungen hin untersucht werden. Die

Kriterien zur Untersuchung haben sich in erster Linie aus Butlers Theoretisierung der

heterosexuellen Matrix ergeben und zentrieren sich um die Inszenierung von sex-gender-desire.

Dabei wird das Konzept der PerFormativität auf das Aufgreifen sowohl sozialer als auch medialer

Konventionen bezogen, und der Film auf das Potential perFormativen Widersprechens hin

untersucht. Erkenntnisleitende Fragestellungen der Analyse sind: Welche Forderungen werden

im Hinblick auf Körper, Identität und Begehren gestellt? Welche (veränderten) Normen gelten in

der Filmrealität? Welche Lücken zwischen konventionellen, hegemonialen Normen und denen,

die sie perFormativ Wiederholen, werden sichtbar gemacht und vermögen dadurch zu

möglicherweise zu mobilisieren? Welche Vorstellungen von Zukünftigkeit werden eingebracht?

182

HUMA. Kannst du (schau)spielen? MANUELA. Ich kann sehr gut lügen und ich bin es gewohnt zu improvisieren. (Tsmm, 1999, 0:52)

Page 50: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

44

7.1. Filmdaten

Originaltitel: Todo sobre mi madre

Deutscher Titel: Alles über meine Mutter

Regie & Drehbuch: Pedro Almodóvar

Land/Jahr: Spanien/Frankreich, 1999

Filmlänge: 97 Min.

Produktion: El Deseo, Renn Productions, France 2 Cinéma

Besetzung: Cecilia Roth (Manuela), Marisa Paredes (Huma Rojo), Antonia San Juan (Agrado), Penélope Cruz (Rosa), Candela Peña (Nina), Eloy Azorín (Esteban), Toni Cantó (Lola), Rosa Maria Sardà (Madre de Rosa) 183

Der Regisseur, Preise & Auszeichnungen des Films

Pedro Almodóvar ist wohl der bekannteste zeitgenössische Regisseur Spaniens und seine Filme

zählen für J.L. Fecé Gómez „zu den wichtigsten Zeichen der kulturellen Identität [s]eines

Landes“184. Ein wichtiger zeitgenössischer Hintergrund von Almodóvar ist die im

Postfrankismus185 entstandene Aufbruchs- und Avantgardebewegung, la movida madrileña, der

sich Almodóvar gegen Ende der 1970er Jahre anschloss. „Zentrale Themen sind Liebe, Sex und

Tod, die Ausführung ist provokant, überzeichnet, schrill und humorvoll.“186 1986 gründet Pedro

Almodóvar zusammen mit seinem Bruder die Produktionsfirma El Deseo. Als 1999 Todo sobre mi

madre entstand, war Almodóvar sowohl in Spanien als auch international bereits bekannt und

etabliert.

Todo sobre mi madre hat beeindruckend viele Preise und Auszeichnungen erhalten, unter

anderem den Oscar und Golden Globe für den Besten nicht-englischsprachigen Film 1999, den

Preis für die Beste Regie auf dem Filmfestival von Cannes 1999 und zahlreiche Goyas, den

wichtigsten spanischen Filmpreis: für Besten Film, Besten Regisseur, Beste Hauptdarstellerin,

Beste Filmmusik, Beste Inszenierung und Bester Sound.187

183

Weitere Darsteller_innen: Fernando Fernán Gómez, Carlos Lozano, Fernando Guillén, Manuel Morón, José Luis Torrijo, Juan José Otegui, Carmen Balagué, Malena Gutiérrez, Yael Barnatán, Carmen Fortuny, Patxi Freytez, Juan Márquez, Michel Ruben, Daniel Lanchas, Rosa Manaut, Carlos García Cambero, Agustín Almodóvar, Paz Sufrategui, Lola García, Esther García, Inmaculada Subira, Cayetana Guillén Cuervo, Lluís Pasqual, Dolores Pozzan, Fito Páez (IMDb, Todo sobre mi madre, full cast and crew) 184

Fecé Gómez, 2003, S. 102 185

Der spanische Diktator Franco verstarb 1975, damit verschwand die Zensur im Kino. 186

Amann, 1999/2005, S. 196 187

Vgl. Almodóvar, 1999/2005, S. 204-205, Liste vieler weiterer Auszeichnungen.

Abbildung 1: Cover der DVD

Page 51: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

45

7.2. Einordnung des Films in Queer Cinema

Wie lässt sich dieser Film in das Queer Cinema einordnen, obwohl er auf den ersten Blick nicht

notwendigerweise queer scheint? Die Hauptdarstellerin ist zunächst nicht Teil einer lesbisch-

schwulen Subkultur, sie lebt mit ihrem Sohn in Madrid ein Leben, das den bürgerlichen Normen

entspricht. In Barcelona jedoch pflegt sie Freundschaften mit Agrado, Huma und Rosa, die einer

queeren Subkultur zugeordnet werden können. Auch stellt sich ihre Vergangenheit letztlich als

nicht so straight heraus, wie es zunächst scheint.

Gesellschaftliche Minderheiten oder Randgruppen werden in Todo sobre mi madre nicht als

solche inszeniert, sondern gehören ganz selbstverständlich zur filmischen Normalität: das

Drogen- und Prostituiertenmilieu wird ebenso selbstverständlich inszeniert wie die schwangere

Nonne Rosa oder die lesbische Schauspielerin Huma. Auch Transsexualität wird mit Agrado und

Lola ausführlich thematisiert.

Zentral für das Queer Cinema sind seit den 1980ern die Thematisierung von HIV und das Trotzen

gegenüber dem Tod. HIV wird in Todo sobre mi madre auf sehr unterschiedliche und

zwiespältige Art und Weise dargestellt. D_ HIV infizierte Lola wird als Epidemie und Monster

bezeichnet, über die Beziehung mit Manuela wird sie_er am Ende positiv in die Handlung

einbezogen. Auf der anderen Seite hat Esteban III das HIV in seinem Körper besiegt und

erscheint somit als Hoffnung einer ganzen Generation. Der Tod wird nicht nur in Bezug auf die

Krankheit AIDS thematisiert; auch die Organspende steht einerseits für den Tod des einen und

andererseits für das Leben des anderen.

Der Film greift nicht auf eindeutige filmische Konventionen zurück, sondern mischt und

verändert sie. So könnte Todo sobre mi madre dem Genre des Melodramas zugeordnet werden,

der Film hat aber auch komische Elemente und Wortwitz, sodass eine eindeutige Zuordnung des

Filmes nicht möglich ist.

Neben diesen Elementen, die Todo sobre mi madre innerhalb des New Queer Cinema verorten,

kann derFilm als queer im Sinne der Begriffsverwendung der Queer Theory verortet werden.

Diesen Punkten wird in folgenden Kapiteln nachgegangen, und ihr Potential perFormativen

Widerspruchs geprüft.

Über intermediale Verschränkungen werden Grenzen zwischen Performanz und PerFormativität

brüchig. Filmische Realität und Schauspiel gehen ineinander über: Zwischen Wahrheit und Lüge,

Schauspiel und Spiel, Künstlichkeit und Authentizität kann keine eindeutige Grenze gezogen

Page 52: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

46

werden, und zwar nicht nur in Bezug auf die Film-Figuren wie beispielsweise bei Agrado und

Huma, sondern auch in Bezug auf Subjektpositionen: z.B. was es heißt, Mutter zu sein.

Der Film stellt die heteronormative Matrix in Frage, indem einige Institutionen, die diese

stabilisieren, hinterfragt werden. Die Familie wird zunächst als heterosexuelle Kleinfamilie

konstruiert, um sie dann mit queeren Gestalten zu besiedeln. Durch dieses perFormative

Widersprechen wird die eindeutige Zuordnung zu Heterosexualität in Frage gestellt. Des

Weiteren wird die Familie als selbst wählbar konstruiert und in ihrer modernen Kleinfamilien-

Konstellation deinstitutionalisiert.

Identität wird nicht als eine stabile Entität gesehen, viel eher wird die Krisenhaftigkeit

unterschiedlicher Identitätsentwürfe hervorgehoben. Identität wird als vorläufig und

veränderbar dargestellt, ebenso wie Körper im Wandel ist und dem Ideal, dem Traum vom

Selbst, angepasst wird. Es gibt kein eindeutiges Subjekt: das Ideal, das es zu erreichen gilt, ist für

alle ein unterschiedliches und wird als erstrebenswertes Ziel, jedoch nicht als Original, deutlich

gemacht. Es ist nicht vordergründig an ein Geschlechtssubjekt gebunden.

Page 53: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

47

7.3. Narrationsstruktur:

Die Handlung des Filmes scheint geradlinig zu sein:

„Nach dem Unfalltod ihres 17jährigen Sohnes Esteban macht sich die Krankenschwester Manuela auf die Suche nach seinem Vater. In Barcelona, der Stadt, in der alles anfing, überstürzen sich die Ereignisse… “

188

Allerdings ist dies nur ein Teil des Films, in dem viele Verweise, Anspielungen sowie

verschiedene Handlungsstränge und Figurenkonstellationen zur Aufführung kommen, die

parallel zueinander dargeboten werden und über einzelne Handlungsträger_innen ineinander

übergehen.

Wie in Sequenzgrafik 1 schematisch dargestellt, kann der Film in drei große Etappen eingeteilt

werden, die durch Manuelas Reisen voneinander getrennt sind. In entsprechenden Einstellungen

wird die rasante Zugfahrt durch einen langen Tunnel gezeigt189. Die erste Etappe spielt in

Madrid, die zweite in Barcelona, die dritte zwei Jahre später wieder in Barcelona. Diese drei

Etappen, vor allem aber die Zeit in Barcelona, können nochmal in Handlungsstränge unterteilt

werden, die einerseits an das Leben der (möglichen) Hauptdarstellerin Manuela gebunden sind

und andererseits voneinander fast unabhängige Handlungs- und Themeneinheiten darstellen. In

der Sequenzgrafik 1 gibt die rechte Spalte einen Überblick über die einzelnen Filmszenen,190 die

in der linken Spalte thematisch Manuelas Leben zugeordnet werden, über welche alle

Erzählungen miteinander verbunden sind. Die mittlere Spalte ordnet den einzelnen Szenen

Charaktere und Themeneinheiten zu, über welche im Anschluss der Filmplot nacherzählt wird.

188

Almodóvar, 1999/2005, Klappentext 189

Abb. 3 und 8 190

Eine ausführliche Handlungsbeschreibung der einzelnen Szenen kann im Szeneprotokoll 1 im Anhang nachgelesen werden.

Page 54: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

48

Sequenzgrafik 1

Page 55: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

49

MADRID

Tod und Leben in Bezug auf Organspende

Der Vorspann des Films beginnt mit der Detailaufnahme einer Infusion; die EEG191-Grafik zeigt

keine Gehirntätigkeit mehr an. Manuela, die als Koordinatorin im Organspende-Büro arbeitet,

gibt die Daten des hirntoten Patienten durch. Zu Hause wünscht sich Manuelas Sohn Esteban als

Geburtstagsgeschenk, bei der Simulation eines Patient_innengesprächs dabei sein zu dürfen, in

dem seine Mutter als Laienschauspielerin mitwirkt. Für eine Ärzt_innenfortbildung wird ein

Gespräch auf Video aufgezeichnet und anschließend analysiert, in dem einer Frau mitgeteilt

wird, dass ihr Mann gestorben sei, und sie gebeten wird, die Organe ihres Mannes zur Rettung

anderer Leben freizugeben. Am darauffolgenden Tag wird Esteban von einem Auto angefahren

und stirbt. Über den Anruf einer anderen Transplantations-Koordinatorin erfahren wir vom Tod

Estebans. Als die beiden Ärzte – die auch bei der Simulation des Organspende-Gesprächs dabei

waren – auf sie zukommen, weiß Manuela ohne viele Worte worum es geht und bricht in lautes

Weinen aus. Geistesabwesend gibt sie die Unterschrift, Estebans Herz für eine

Organtransplantation freizugeben. Die Maschinerie der Transplantation wird von einem OP-Saal

in den anderen begleitet. Manuela findet heraus, wer das Herz bekommen soll und reist nach La

Coruña, wo sie unerkannt beobachtet, wie der Empfänger der Transplantation mit seinem neuen

Herz das Krankenhaus verlässt. Als das rauskommt, ist ihre Arbeitskollegin und Freundin Mamen

alles andere als erfreut: „Das ist nicht nur Amtsmissbrauch, sondern der beste Weg, verrückt zu

werden“. Manuela nimmt sich daraufhin Auszeit von der Arbeit und fährt nach Barcelona.

Am Ende des Films wird das Motiv der trauernden Mutter wiederholt: Diesmal verkörpert Huma

Rojo auf der Bühne eine Mutter, die um ihren toten Sohn klagt.

191

Enzephalogramm

Page 56: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

50

Abbildung 2: Esteban und sein Notizbuch

Esteban & seine Notizen: Todo sobre…

Die Werbung endet, und Esteban ruft seine Mutter,

um gemeinsam mit ihr den Film All about Eve192

anzuschauen. Esteban beklagt sich, dass der Titel

des Filmes mit Eva al desnudo falsch übersetzt sei. „Todo sobre Eva suena raro“ wendet

Manuela ein, trotzdem übernimmt ihr Sohn diesen Titel in sein Notizbuch, in dem er eine

Erzählung über seine Mutter begonnen hat: ´Todo sobre …´ – ´Alles über …´. Um mehr über sie

zu erfahren, wünscht sich Esteban als Geburtstagsgeschenk, Manuela bei der Arbeit zu

begleiten. Nach einem gemeinsamen Theaterbesuch am nächsten Tag erzählt ihm seine Mutter,

dass sie vor zwanzig Jahren gemeinsam mit seinem Vater in Un tranvía llamado deseo193

(Endstation Sehnsucht) gespielt hatte; Manuela spielte Stella und der Vater Kovalski. Auf den

Wunsch Estebans hin verspricht Manuela, ihm alles über seinen Vater zu erzählen, den er nie

kennengelernt hatte. Dazu kommt es aber nicht mehr, Esteban wird bei einem Autounfall

getötet, während er versucht, ein Autogramm vom Theaterstar Huma Rojo zu bekommen.

Manuela bleiben nur noch Estebans Notizen, mit denen sie nach Barcelona reist, um sich auf die

Suche nach Lola – Estebans Vater – zu machen.

BARCELONA

In Barcelona trifft Manuela Agrado wieder, die sie vor zwanzig Jahren, ohne sich zu

verabschieden, zurückgelassen hatte. Gemeinsam machen sich die beiden auf Arbeitssuche.

Dabei lernt Manuela die Nonne Rosa kennen, die ihre Mutter zu überzeugen versucht, Manuela

im Haushalt anzustellen. Doch diese will keine vermeintliche Prostituierte im Haus haben.

192

All about Eve (USA, 1950) R: Joseph L. Mankiewicz 193

Tennessee Williams (1947) A Streetcar Named Desire

Abbildung 4: Barcelona

Abbildung 3: Zugfahrt

Page 57: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

51

Huma und Endstation Sehnsucht

Huma Rojo spielt mit ihrer Gruppe Un tranvía llamado deseo inzwischen in Barcelona. Manuela

schaut sich in Gedenken an Esteban eine Vorstellung an und sucht im Anschluss daran Huma

Rojo hinter der Bühne auf. Diese ist außer sich, da ihre Kollegin und Geliebte Nina auf der Suche

nach Drogen in die Nacht verschwunden ist und bittet Manuela um Hilfe bei der Suche.

Daraufhin stellt sie Manuela als ihre persönliche Assistentin an. Während ihrer Arbeit hört

Manuela in der Garderobe immer wieder den Text vom Endstation Sehnsucht. Zwei Wochen

später ist Nina so high, dass sie nicht

spielen kann. Um die Vorstellung nicht

absagen zu müssen, bietet Manuela an,

Nina zu ersetzen und selbst Stella zu

spielen. Die Vorstellung verläuft

erfolgreich194, allerdings ist Nina am

nächsten Tag außer sich und bezeichnet Manuela als ´Eva Harrington´, als eine, die sich

eingeschlichen hat, um ihr die Rolle abspenstig zu machen. „Mit Endstation Sehnsucht hat mein

ganzes Leben zu tun,“ beginnt Manuela daraufhin ihre Erklärung. Vor 20 Jahren hat sie als Laien-

Schauspielerin in diesem Stück ihren Mann kennengelernt, vor zwei Monaten ist ihr Sohn nach

der Vorstellung dieses Stückes in Madrid bei einem Unfall getötet worden. Betroffen von der

Geschichte besucht Huma am nächsten Tag Manuela und bittet sie, zurückzukehren. Doch

Manuela möchte sich um Rosa kümmern und schlägt Agrado als Ersatz für die Stelle als

persönliche Assistentin vor.

Auch inhaltlich weist das Stück Parallelen zu der Beziehungsproblematik zwischen Lola und

Manuela auf: In den ersten beiden eingespielten Szenen von Endstation Sehnsucht droht Stella –

mit dem Baby auf dem Arm – das Haus zu verlassen und nie mehr wieder zurückzukommen.

Manuela hatte es mit ihrem Mann nicht einfach, sodass sie ihn vor 18 Jahren schwanger

verlassen hatte und nach Madrid floh.

194

Siehe Abb. 5

Abbildung 5: Manuela als Stella in Un tranvía llamado deseo

Page 58: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

52

Agrado: Veränderungen

Nach ´der kleine Abreibung´ eines Freiers geht Agrado in ´Rente´. Zusammen mit Manuela macht

sie_er sich auf Arbeitssuche. Der Strich sei nämlich nicht mehr das, was er einmal war. Es gäbe

zu viel Konkurrenz von Seiten der Drags und Nutten.

Später löst Agrado Manuela bei Huma Rojo als

persönliche Assistentin ab. La Agrado war

früher Lastwagenfahrer und arbeitet seit

ihr_seiner Operation der Brüste als

Prostituierte. Dies ist die Antwort, als Huma

fragt, ob Agrado Autofahren könne.

In der Garderobe hält sie_er für Nina einen Monolog über die Schädlichkeit von Heroin,

daraufhin fragt diese, ob Agrado nie daran gedacht hätte, den Schwanz wegzumachen. Dann

hätte sie_er keine Arbeit mehr auf dem Strich, ist die Begründung Agrados. Zwei Szenen später

fragt Mario Agrado ob sie ihm einen Blasen würde, da er nervös sei. Agrado wehrt sich dagegen,

in die Rolle der Prostituierten gedrängt zu werden. Sie_er dreht die Frage um und fragt, ob denn

die Leute ihn zum Blasen auffordern würden, nur weil er einen Schwanz habe. In diesem

Moment kommt ein Anruf, dass Huma und Nina im Krankenhaus sind, weil sie einen heftigen

Streit hatten. Agrado sagt die Vorstellung ab, bietet aber allen, die noch bleiben wollten an,

sein_ihre Lebensgeschichte zu erzählen bzw. die Geschichte ihr_seines von

schönheitschirurgischen Eingriffen veränderten Körpers.

Rosa: Schwangerschaft & HIV

Auf dem Heimweg von ihrer Mutter erbricht Rosa. Manuela nimmt sie mit in ihre Wohnung, bis

es ihr besser geht. Dort spricht Rosa sie auf das Bild von Esteban an. Am nächsten Morgen weckt

Rosa Manuela mit der Nachricht, von Lola schwanger zu sein. Da sie nicht mehr im Orden leben

könne und es weniger skandalös wäre, bittet Rosa, bei Manuela wohnen zu dürfen. Diese lehnt

ab, verspricht aber, Rosa zum Arzt zu begleiten. Nachdem Rosa nicht versteht, warum Manuela

so abweisend auf Lola reagiert, erzählt Manuela im Wartesaal die Geschichte von Lola und einer

´Freundin´: Die Freundin habe geheiratet und sei ihrem Mann nach Europa gefolgt. Dieser hätte

sich verändert und zwei Brüste machen lassen. Er_sie habe eifersüchtig sein_ihre Frau bewacht,

während er_sie mit allen rummachte, die sie_er kriegen konnte. Da wird Rosa ins

Untersuchungszimmer gebeten. Der Arzt versichert ihr, dass mit dem Baby alles in Ordnung sei,

allerdings müsse Rosa sich schonen, da die Gefahr einer Fehlgeburt bestünde. Manuela drängt

Rosa, alles ihrer Mutter zu erzählen. Als Rosa zögert, betont Manuela, dass sie sich nicht um sie

Abbildung 6: Agrado und Manuela

Page 59: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

53

kümmern könne, da sie inzwischen einen Job habe. Zwei Wochen später liegt das Ergebnis der

Blutuntersuchung vor: Rosa ist HIV positiv. Manuela ist wütend, sie fragt, wie Rosa nur mit Lola

hatte vögeln können und ob sie nicht wisse, dass Lola seit 15 Jahren an der Nadel hänge.

Dennoch nimmt sie Rosa bei sich auf und pflegt sie. Monate später kommt Rosas Mutter zu

Besuch. Das Treffen zeigt die Entfremdung der beiden; der demente Vater wird überhaupt nicht

informiert, da er ohnehin außerstande sei, Zusammenhänge zu begreifen. Da Rosas Mutter mit

der Situation überfordert wäre, ist sie froh, dass Manuela Rosa aufgenommen hatte. Diese

braucht zunehmend mehr Pflege und bringt schließlich im Krankenhaus durch einen

Kaiserschnitt das Kind zur Welt. Auf dem Weg dorthin fährt Rosa am Platz vorbei, auf dem sie in

ihrer Kindheit oft gespielt hatte und verabschiedet sich dort von ihrem Hund Sapic und ihrem

Vater, der sie nicht erkennt. Am Krankenbett vertraut sie Manuela ihren Sohn an, der als ´dritter´

Esteban nach Lola (Esteban I) und Manuelas Sohn (Esteban II) jetzt endgültig Manuela gehören

sollte. Sie nimmt ihr auch das Versprechen ab, Esteban nichts zu verheimlichen, wenn sie

sterben würde.

Lola: Tod/Leben und HIV

Auf Rosas Beerdigung erscheint Lola auf dem

Friedhof. Manuela findet den Ort passend,

da Lola kein Mensch, sondern eine Epidemie

sei. „Exzessiv, das war ich immer, aber jetzt

bin ich müde.“ entgegnet Lola und kündigt

sein_ihren Tod an. Zuvor möchte er_sie noch Abschied nehmen und würde gern ihr_seinen

Sohn, Rosas Kind, sehen. Manuela klärt ihn_sie über die Existenz ihres gemeinsamen Sohnes und

dessen Tod auf, dem sie den ursprünglichen Namen seines Vaters gegeben hatte: Esteban. Einen

Monat später trifft sich Manuela mit Lola, um ihn mit Esteban III bekanntzumachen. Lola ist

gerührt und entschuldigt sich für das schwere Erbe, das er_sie dem Kind mitgegeben habe: das

HIV. Manuela schenkt ih_ ein Foto von Esteban II. Die ganze Szene im Kaffee scheint wie eine

Aussöhnung zwischen Manuela und Lola.

Abbildung 7: Lola auf dem Friedhof

Page 60: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

54

Abbildung 9: Wiedersehen

Esteban III

Manuela und Esteban III wohnen im Haus von Rosas Eltern. Rosas Vater ist eifersüchtig und

glaubt, das Kind sei von seiner Frau. Die Großmutter ist besorgt, dass jemand etwas über die

´Antikörper´ erfahren könnte, sowohl in Bezug auf ihre Tochter Rosa, als auch auf Esteban III. Als

sie Esteban III in den Armen von Lola sieht, regt sie sich darüber auf, mit welchen Menschen ihr

Enkelkind in Berührung komme. Mehr noch entsetzt sie aber die Tatsache, dass diese Frau der

Vater von Esteban III sein solle: „Dieses Monster hat also meine Tochter umgebracht!“ Da das

Leben im Haus der Großeltern unerträglich geworden sei und die Großmutter Angst habe, sich

an Esteban anzustecken – wie sie Agrado und Huma in einem Abschiedsbrief mitteilt –

beschließt Manuela, das Kind an einen Ort zu bringen, wo es nicht von so viel Feindseligkeit

umgeben sei.

REISE & RÜCKKEHR

Zwei Jahre später kehrt Manuela nach Barcelona zurück, wo sie mit Esteban auf einen AIDS-

Kongress195 eingeladen ist. Dort soll das noch unerklärliche Verschwinden des HI-Virus aus

Estebans Blut bei einem medizinischen Kongress untersucht werden. Inzwischen ist das Leben in

Barcelona weitergegangen. Lola ist gestorben, Nina hat geheiratet und ein Kind bekommen, die

Großmutter von Esteban hat sich verändert, sodass Manuela und Esteban bei ihr wohnen

können. Bevor Lola starb, hatte er_sie das Foto von Esteban II Huma übergeben, welche es für

Manuela aufbewahrt hatte. Manuela überlässt das Foto ihres Sohnes der Schauspielerin, die

gerade auf der Bühne eine trauernde Mutter verkörpert.

195

Congreso de SIDA organizado por Can Ruti (Krankenhaus in Barcelona)

Abbildung 8: Zugfahrt

Page 61: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

55

7.4. Protagonist_innen

Die Erzählung des Filmes ist zum Großteil an Manuela gebunden und hat eine auf ihre Person

zugeschnittene Erzählperspektive. Manuela ist in fast allen Szenen anwesend196, was dazu führt,

dass die Zuschauenden fast ausschließlich das sehen, was sich in ihrer Gegenwart zuträgt197.

Manuela tritt nicht als externe Erzählerin auf, erzählt jedoch in Dialogen mit Rosa und Huma von

ihrer Vergangenheit mit Lola und Esteban II. Im Zug berichtet sie in Form von inneren

Monologen (Stimme aus dem OFF) über die Motive ihrer Zugfahrten und bettet damit die

Geschichte in einen größeren lebensgeschichtlichen Zusammenhang. Über die zahlreichen

Dialogszenen tritt Manuela mit allen anderen Filmfiguren in Verbindung.

Manuela arbeitet als Krankenschwester in einem Krankenhaus in Madrid und ist

alleinerziehende Mutter, deren 17jähriger Sohn bei einem Autounfall ums Leben kommt. In

Trauer macht sie sich auf die Suche nach seinem Vater und damit ihrer verleugneten

Vergangenheit. Sie kehrt nach Barcelona zurück, das sie vor fast 18 Jahren verlassen hatte. Dort

unterstützt Manuela ihre Freundinnen, wenn diese ihre Hilfe am Nötigsten brauchen: Agrado

rettet sie vor der Attacke eines Freiers, Huma Rojo begleitet sie als persönliche Assistentin, für

Rosa ist sie Schwester und Mutter während deren Schwangerschaft. Schließlich trifft sie auch

Lola und erfüllt ih_ den letzten Wunsch, sein_ihren Sohn zu sehen.

Huma Rojo ist eine erfolgreiche Schauspielerin, wie ihr Idol Bette Davis, wegen der sie zu

rauchen begonnen hatte. Der Rauch (Humo) wurde zu ihrem Markenzeichen, weshalb sie sich

Huma nennt. Außer Rauch habe sie eigenen Angaben zufolge nicht viel vom Leben, denn Erfolg

habe weder Geschmack noch Geruch.

La Agrado ist eine liebenswerte Person, die es als ihre Lebensaufgabe sieht, anderen Menschen

das Leben angenehm (agradable) zu machen, woher auch der Name „La Agrado“ kommt. Sie_er

ist sehr aufgeschlossen, schlagfertig und verbreitet in ihr_seiner direkten Art und

Ausdrucksweise gute Stimmung. Die Ehrlichkeit und die Art, die Dinge beim Namen zu nennen

und dabei Tabus zu brechen, erheitern nicht nur den Zuschauer_innensaal im Theater.

Gleichzeitig ist sie diskret und kann Geheimnisse für sich behalten.

Rosa kümmert sich als Ordensschwester um Prostituierte, Transvestiten, Arbeitslose. Sie wollte

trotz des Bürgerkrieges nach San Salvador, um dort Unterstützung zu sein. Daraus wurde

allerdings nichts, da sie, während sie Lola beim Entzug half, von ih_ schwanger und mit HIV

196

Manuela ist in 50 von 59 Filmszenen anwesend, Vgl. Szeneprotokoll Anhang II 197

Mit Ausnahme der Szenen mit Agrado im Backstage und auf der Bühne.

Page 62: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

56

infiziert wurde. Trotz aller Schwierigkeiten ist es für sie klar, dass sie das Kind bekommen wird.

Rosa wird einerseits wie ein Kind („Es como una niña“) dargestellt, andererseits weiß sie in

Bezug auf San Salvador und ihr Kind genau, was sie will. Für ihre Mutter ist sie wie eine

Außerirdische.

Esteban ist der Sohn von Manuela. Er stirbt bereits in der ersten Sequenz des Filmes, weshalb

wir nur wenig über ihn erfahren. Sein Foto und seine Notizen begleiten aber den Film bis zum

Ende, sodass er dennoch immer gegenwärtig bleibt. Esteban beschreibt sich selbst als Sohn einer

alleinerziehenden Mutter und als Schriftsteller, was tran auch an seinem Äußeren erkennen

könne.

Über Lola erfahren wir durch Erzählungen von anderen; er_sie selbst taucht erst in der letzten

Sequenz nach dem Tod Rosas auf. Manuela erzählt von Lolas ausschweifendem (Sexual-)Leben;

Agrado berichtet, dass Lola sie ausgeraubt habe; Rosa erzählt vom Drogen-Entzug. Lola selbst ist

müde und nimmt Abschied vom Leben, wünscht sich aber einmal ihr_seinen Sohn zu sehen.

LOLA. ¡Siempre fui excesiva! Estoy muy cansada, Manuela… Me estoy muriendo.198

198

LOLA. Exzessiv war ich immer, aber jetzt bin ich müde, Manuela… Ich werde sterben. (Tsmm, 1999, 1:20)

Page 63: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

57

7.5. Filmstruktur

Die Filmhandlung wird vorwiegend über Dialoge aufgebaut, wobei die Kamera in der Regel eine

normale Position einnimmt, d.h. auf Augenhöhe der Gefilmten ist. Die Dialoge werden über

Establishing Shots situiert, um dann in halbnahen Einstellungen bis Großaufnahmen eine

unaufdringliche Nähe zu den sprechenden Personen aufzubauen, die durch längere

Einstellungen noch unterstrichen wird.

Von dieser Grundstruktur unterscheidet sich die Szene der Organspende: Die Kameraführung ist

sehr bewegt, die halbnahen Einstellungen zeigen Ausschnitte, die abgeschnitten wirken und mal

von oben, mal von unten gefilmt werden. Insgesamt wirkt die ganze Szene dadurch hektisch.

Die zweite Szene, die sich von den anderen unterscheidet ist die Ankunft Manuelas in Barcelona;

über eine Panoramaaufnahme199 wird die Stadt eingeführt und durch das Wahrzeichen

Barcelonas, die Kathedrale La Sagrada Familia, eindeutig identifiziert.

In beiden Szenen ist die Musik im Vordergrund und unterstreicht die Handlungen. Vor allem

während der Fahrt nach Barcelona wird über die Musik ein Stimmungswechsel von einer tristen

Trauerstimmung zu einer angenehmen, heiteren Stimmung vollzogen..

Die Erzählzeit ist nicht deckungsgleich mit der erzählten Zeit: durch diskrete Schriftzüge werden

größere zeitliche Raffungen ausgewiesen.

7.6. Orte des Films

Der Film spielt in Madrid und Barcelona, zwei Großstädten in Spanien. Die Filmhandlung findet

vorwiegend in den Lebensräumen der Protagonist_innen statt: in den Wohnungen von Manuela,

Agrado und Rosas Mutter sowie in der Garderobe von Huma. Die Theaterbühne und das

Krankenhaus sind weitere Orte der Filmhandlung. Einzelne Szenen finden schließlich im Freien

statt, und zwar jene, welche Gefahren oder unangenehme Situationen bergen: Estebans Unfall

auf der Straße, Agrados Arbeitsplatz, an dem sie überfallen wurde, die Suche nach Nina, welche

beim Drogenkauf betrogen wurde und schließlich die Szene der Beerdigung auf dem Friedhof.

199

Abb. 4

Page 64: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

58

8. PerFormative Verschiebungen sozialer Konventionen am

Beispiel der heterosexuellen Matrix

MANUELA. ¡Esa mujer es su padre!200

Da jede Sinngebung auf Wiederholung beruht, greifen Filminhalte auf soziale Konventionen

zurück, um verstanden zu werden201. Wo etwas aufgeführt wird, wird auch immer

PerFormativität bedeutsam, d.h. in jeder Aufführung von Diskursen ist gleichzeitig auch deren

Verschiebung eingeschrieben. Die in meiner Untersuchung relevanten Filme des Queer Cinema

können – wie oben ausgeführt – als Produkt künstlerischer und zugleich bewegungspolitischer

Wissensproduktion gelten. In ihnen werden in Gegendiskursen queere Perspektiven artikuliert

und Macht- und Herrschaftskritik geübt. Bestätigung von Normen und ihre Subversion gehen

dabei ein komplexes Verhältnis ein; Filme müssen mit Bedingungen umgehen, die nicht völlig in

ihrer Macht stehen. Queer Cinema kann so als Schnittstelle verschiedener Diskurse202 dienen, in

denen sich – zumindest potentiell – Kämpfe um Definitionsmacht verdichten, und in denen

hegemonialen Diskursen performativ widersprochen wird. Dies wird am Beispiel von Todo sobre

mi madre in Bezug auf Verschiebungen der heterosexuellen Matrix untersucht.

200

Diese Frau ist sein Vater! (Tsmm, 1999, 1:27) 201

Auch fiktionale Texte müssen gesellschaftliche Verhältnisse aufgreifen, um Sinn zu erzeugen. Vgl. dazu Hoffarth, 2009 202

Für Chantal Mouffe ist Widerstreit Demokratisches Prinzip: In der Politik besteht Zwang zur Entscheidung um handeln zu können; der Konsens darf aber nur als vorläufiger (hegemonialer) gedacht werden, radikaldomokratisch muss Dissenz bevorzugt werden.

Page 65: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

59

8.1. Performativität (medialer) Geschlechtssubjekte

A todas las actrices que han hecho de actrices. A todas las mujeres que actúan.

A los hombres que actúan y se convierten en mujeres.203

Die PerFormativität des Geschlechts ist mit Butler als ein sich ständig wiederholender Akt zu

verstehen, in dem auf geschlechtliche Konventionen verwiesen wird, diese Verweise aber

zugleich verschleiert werden. Auch das In-Szene-setzen von Geschlechtlichkeit im Film ist

gebunden an performative Herstellung von Geschlechtssubjekten. Sowohl medial inszenierte

Geschlechter-Identitäten als auch die Geschlechter-Identitäten der Zuschauenden werden vom

Konzept der PerFormativität bestimmt. Unter dieser Perspektive ist die Abgrenzung zwischen

medialen und außermedialen Geschlechterentwürfen brüchig geworden.204

Der Film ist über ein Insert am Ende des

Films all jenen gewidmet, die

schauSpielen; ´actuar´205 heißt im

Spanischen sowohl Handeln, Agieren als

auch Schauspielen, es kann also nicht

eindeutig übersetzt werden, sondern

bleibt in eben dieser Doppeldeutigkeit zwischen Schauspiel und perFormativem Handeln. Die

Figuren in Todo sobre mi madre bewegen sich einerseits auf der (Theater)Bühne und

schauspielen, machen also eine Performanz. Andererseits handeln sie perFormativ und spielen

auf einer anderen Bühne, der des Lebens, des Film-Alltags.

Wenn ich von perFormativem Handeln spreche, geht es um den alltäglichen Umgang mit

Situationen, mit Konflikten, mit anderen Handelnden. Dabei ist die handelnde Person eine, die

ihr Selbst-Verständnis in ihrem Umfeld bildet und verändert und nicht auf einer festen oder

ursprünglichen Identität beruht.

Mit Performanz ist das Schauspiel auf der Bühne gemeint. Dabei wird nicht die Identität einer

Figur inszeniert; die Performanz ist hier ein bewusstes In-Szene-Setzen, dem keine Wahrheit

oder Realität in Bezug auf das spielende Subjekt abverlangt wird.

203

An alle Schauspielerinnen, die Schauspielerinnen gespielt haben. An alle Frauen, die (schau)spielen. An Männer die (schau)spielen und sich in Frauen verwandeln. (Tsmm, 1999, 1:32) 204

Vgl. Seier, 2004, S. 48 205

Ähnlich wie das Englische ´to act´

Abbildung 10: Insert Widmung

Page 66: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

60

Schauspiel wird im Film mit Lüge und Improvisation verknüpft206, mit Betrug und Fälschung207. In

Bezug auf das Subjekt erscheint die Performanz als eine Falsch-Inszenierung des ´tatsächlichen

Subjektes´, welches von der gespielten Rolle abweicht. Dies würde aber voraussetzen, dass es

ein tatsächliches Subjekt hinter dem spielenden gibt. Ich gehe aber mit Butler davon aus, dass

auch dieses immer schon ´spielt´, immer schon eine Rolle einnimmt, ein Ideal zu erreichen

versucht. Diese Grenze ist also eine fließende, und jedes Handeln, auch das auf der Bühne,

befindet sich immer schon auf perFormativem Grund. Die Unterscheidung zwischen Schauspiel

und alltäglichem Handeln wird im Film immer wieder durchbrochen und umgestaltet, und zwar

in beide Richtungen, sodass einerseits das Schauspiel als ´echt´ in der Filmrealität erscheint und

andererseits perFormative Alltagshandlungen als inszeniert dekonstruiert werden. Die Trennung

bzw. Zusammenführung von Performanz und PerFormativität kann als dominantes

Inszenierungsmerkmal des Films Todo sobre mi madre angesehen werden, wie ich im Folgenden

mit Fokus auf die Herstellung und Verschiebung der heterosexuellen Matrix nachskizzieren

werde.

206

„Ich kann gut lügen und bin gewohnt zu improvisieren“ ist die Antwort Manuelas auf die Frage, ob sie Schauspielen kann. 207

Über den Verweis auf All about Eve.

Page 67: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

61

8.2. Wandelbarkeit von (Geschlechts)Körper

Körperlichkeit wird in Todo sobre mi madre auf mehreren Ebenen inszeniert und verhandelt.

Das, was als Körper-Wirklichkeit relevant gemacht wird, wird als ein spezifischer, kontextueller,

sozial gebundener Körper gezeigt und unterscheidet sich, je nachdem, ob es sich um den Kontext

einer Organspende handelt, um eine Bühnen-Aufführung oder um den Strich. Durch die

Parallelsetzung unterschiedlicher Körperwirklichkeiten wird Körper als soziales Konstrukt

aufgedeckt und kann mit Butler als materialisierter Diskurs gelesen werden.

Geschlecht, Alter, Blutgruppe und Gewicht sind die Körpermerkmale, die das Krankenhaus

erfasst208, um Organe aus einem Körper einem anderen zuzuordnen, die also die

Patient_innenidentität von Organspender_innen ausmachen.

Haare, Nägel, Mund sind die Körpermerkmale, die nach Agrado eine Frau definieren, zudem

seien feste Brüste und ein guter Schwanz das, was für den Strich notwendig ist.

AGRADO. A los clientes les gustan […] un par de tetas duras como ruedas recién infladas y además un buen rabo…

209

Wenn diese Merkmale in andere Kontexte übertragen werden, wirken sie lächerlich und werden

entnaturalisiert: So ist die Frage nach Alter und Größe absurd, wenn sie der von Alzheimer

geplagte Vater von Rosa all jenen stellt, die er nicht (mehr) kennt, während die Frage im

Krankenhaus legitim ist. Was auf dem Transvestiten-Strich erwünscht ist – die gleichzeitig

gegebenen körperlichen Geschlechtsmerkmale Brüste und Penis – irritiert in einem anderen

Kontext.

MARIO. Será la primera vez que le como la polla a una mujer210

Die Körper-Wirklichkeit in Todo sobre mi madre ist eine veränderbare, sowohl in Bezug auf den

medizinischen Diskurs als auch in Bezug auf den Geschlechtskörper. Organe sind austauschbar

und verändern nicht wirklich was. Das Herz von Esteban schlägt in einem andern Körper und

208

Abb. 11 und 12 209

AGRADO. Die Klienten mögen […] ein Paar Titten hart wie frisch aufgepumpte Reifen und zudem einen guten Schwanz… (Tsmm, 1999, 1:06) 210

MARIO. Es wäre das erste Mal, dass ich einer Frau den Schwanz lecke. (Tsmm, 1999, 1:09)

Abbildung 11: Ordner möglicher Organempfänger_innen

Abbildung 12: Liste der Hepatitis-Patient_innen

Page 68: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

62

geht damit über den Körper von Esteban hinaus. Der Empfänger merkt allerdings keine

Veränderung:

HOMBRE. Lo único que noto es que respiro igual211

Auch Lola lässt sich Brüste machen, ändert sich aber nicht wirklich.

MANUELA. Exceptuando las tetas nuevas, su marido no había cambiado tanto. […] ¡Cómo se puede ser tan machista con semejante par de tetas!

212

Agrado hingegen lässt sein Leben als Lastwagenfahrer hinter sich und wird mit den neuen

Brüsten Prostituierte; mit den Veränderungen am Körper verändert sich auch ihr_sein Leben.

Agrado parodiert ihr_seinen Körper und schafft ein komisches Moment durch die Gleichstellung

von Natürlichkeit und augenscheinlicher Künstlichkeit.

AGRADO. ¡Miren que cuerpo! ¡Todo hecho a medida! […] Tetas, dos, porque no soy ningún Mostro, setenta cada una, pero estas las tengo ya superamortizadas. Silicona en labio, frente pómulo, cadera y culo. El litro cuesta cien mil, así que echad la cuenta porque yo ya la he perdido. Limadura de mandíbula, setenta y cinco mil. Depilación definitiva con laser, porque la mujer también viene del mono, tanto o más que el hombre, sesenta mil por sesión. Depende de lo barbuda que seas, lo normal es de dos a cuatro sesiones, pero si eres folclórica necesitas mas, claro.

213

In der Inszenierung sein_ihres künstlichen Körpers macht Agrado nicht die Transsexualität

explizit, wohl aber das Ideal eines perfekten Frauenkörpers. Agrado habe sich zwei (!214) Brüste

machen lassen, sie_er sei ja kein Monster, und habe Silikon an den verschiedensten Stellen

sein_ihres Körpers, die sie_er einzeln ausführt. Gleichzeitig führt sie_er das Paradox weiblicher

Körperbehaarung vor: „Auch die Frau stammt vom Affen ab“ und umso ursprünglicher sie_er sei,

umso mehr Haare habe sie_er, gleichzeitig gilt das Ideal eines unbehaarten Frauenkörpers215,

das durch Laserdepilation erreicht werden kann.

211

PATIENT. Das einzige, was ich merke, ist, dass ich gleich atme. (Tsmm, 1999, 0:18) 212

Außer den neuen Titten hat sich ihr Mann nicht viel geändert. […] Wie kann man so ein Macho sein mit solchen Titten! (Tsmm, 1999, 0:46-0:47) 213

AGRADO. Schaut welch ein Körper! Alles maßgeschneidert! […] Titten, zwei, ich bin ja kein Monster, 60.000 das Stück, aber die haben sich schon amortisiert, Silikon in Lippen, Stirn, Backenknochen in Hüften und Po. Der Liter 100.000 etwa, macht selbst die Rechnung, ich habe den Überblick schon verloren. Zurechtfeilen der Kinnpartie 75.000, dauerhafte Laserdepilation, denn auch Frauen stammen vom Affen ab, genauso oder noch mehr als der Mann, 60.000 die Sitzung, je nach Bartwuchs sind zwei bis vier Sitzungen normal, aber wenn tran folklorisch/ursprünglich ist, sind´s dann natürlich mehr. (Tsmm, 1999, 1:14) 214

Die Betonung liegt auf zwei, nicht nur eine! 215

Unbehaart bezogen auf die Körperbehaarung; Kopfbehaarung, Wimpern und Augenbrauen hingegen symbolisieren Weiblichkeit.

Page 69: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

63

Agrado grenzt sich im Gespräch mit Rosa von den Drags216 ab, die Travestie mit Zirkus oder

Schauspiel verwechseln würden, die das andere Geschlecht nur aufführten, aber nicht ´echt´

seien in dieser Inszenierung. Das, was eine echte Frau (bezogen auf den Strich) ausmachen

würde, sind ihre Haare, Nägel und ein hübscher Mund zum Blasen und Lästern. In der Betonung

der Glatze der ´Unechten´ stellt Agrado nochmal die Haare als Attraktivitäts-Symbol in den

Vordergrund.

AGRADO. ¡No puedo con las drags! Han confundido circo con travestismo, que digo circo ¡mimo! Una mujer es un pelo, una uña, una buena bemba, pa mamarla o criticar. Pero vamo´ ¿Dónde se habrá visto una mujer calva?

217

Transsexualität wird im Film als eine Norm inszeniert, als eine von vielen möglichen

Lebensweisen: Manuela akzeptierte die körperlichen Veränderungen ihres Mannes vor 20

Jahren, und mit Agrado ist Transsexualität Teil ihres engsten Freundeskreises. Weder Rosa noch

Huma sind erstaunt oder irritiert über Agrados oder Lolas transsexuellen Körper.

Diese (Film)Norm wird unterstrichen, indem zur

Abgrenzung Rosas Mutter als ´Andere´ figuriert

wird, die konservative und bürgerliche Normen

verkörpert und sowohl Prostituierte als auch

Transsexuelle ablehnt:

MADRE ROSA. ¿Como te atreves a traer una puta a casa?218

216

DRAG bedeutet ´Dressed As a Girl´. Eine Drag-Queen (od. später auch Drag-King/Dressed as a Guy) trägt Kleider des anderen Geschlechts oftmals zur künstlerischen Parodie der Geschlechtsrollen. 217

AGRADO. Ich kann nicht mit den drags! Die haben Zirkus mit Travestie verwechselt, was sage ich Zirkus, mit Mimentheater! Eine Frau sind ihr Haar, ihre Nägel, ein schöner Mund zum Blasen und Lästern. Aber wo hat man je eine Frau mit Glatze gesehen? (Tsmm, 1999, 0:31) 218

MUTTER ROSA. Wie kannst du es wagen, eine Hure ins Haus zu bringen? (Tsmm, 1999, 0:33)

Abbildung 13: Rosas Mutter sieht Lola das Kind küssen

Page 70: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

64

8.3. (Geschlechts)Identität

In Todo sobre mit madre geht es nicht nur um die Krisenhaftigkeit geschlechtlicher Identität,

Identität wird grundsätzlich in Frage gestellt. Der Film macht sich über ein Konzept von Identität

lustig, das eine stabile, eindeutige, individuelle Identität vorsieht und dekonstruiert ihre

Funktionalität.

Ich werde hier drei Ebenen nachzeichnen, auf denen diese Dekonstruktion von identitären

Entwürfen stattfindet. Identitäten werden als vorläufig und veränderbar inszeniert und offen als

Idealvorstellungen perFormt. In Bezug auf Geschlechtsnormen wird eine Verschiebung

aufgezeigt zwischen dem, was die Norm sagen will und denen, die danach handeln. Über das

Lächerlich machen von Eigennamen wird individuelle Identität ad absurdum geführt.

Vorläufige und veränderbare Identitätsentwürfe

Identität wird als vorläufig und veränderbar vorgestellt: Manuelas Leben gerät durch den

Unfalltod ihres Sohnes aus der Bahn, sie lässt alles Bisherige in Madrid zurück und fährt nach

Barcelona, um sich dort eine neue Identität, eine neue Lebensperspektive aufzubauen. Fast zwei

Jahrzehnte vorher hatte sie Barcelona verlassen und sich in Madrid ein völlig neues Leben

aufgebaut, das nichts mit dem vorherigen zu tun hatte. Das Leben, das sie jeweils vorher hatte,

lässt sie zurück. Nur ein paar zerrissene Fotos weisen auf ein Leben vor Madrid hin. Später gibt

es nur ein Foto von Esteban II und sein Notizbuch, das auf ein Leben in Madrid hinweist. Es

scheint, dass Manuela (mindestens) drei verschiedene Leben und damit verbunden drei

verschiedene Identitätsentwürfe gelebt hat.

Ähnlich entwirft auch Agrado verschiedene Identitäten im Laufe ihr_seines Lebens. Agrado

verkörpert die Vorläufigkeit und Veränderbarkeit der Geschlechtsidentität. In der Jugend war er

Lastwagenfahrer, später ließ sie_er sich Brüste machen und wurde ´Nutte´. Jederzeit ist er_sie

bereit, sich ein anderes Leben aufzubauen: Agrado überlegt, sich mit Rosa auf den Weg nach El

Salvador zu machen, um dort als Model groß rauszukommen. Als sie_er erfährt, dass es dort

Guerilla gäbe, findet Agrado die Idee nicht mehr so gut. Schließlich wird er_sie persönliche

Assistentin von Huma und lässt das Leben als Prostituierte hinter sich. Sie_er versteht nicht,

warum sich Nina und vor allem Mario doch noch darauf beziehen.

Page 71: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

65

Identität als erstrebenswertes Ideal

Die Szene, die meines Erachtens die Schlüsselszene der Inszenierung von Identität darstellt,

findet interessanterweise auf der Bühne statt:

Agrado betritt die Bühne und wird vom Licht der Scheinwerfer geblendet. Sie_Er entschuldigt die

zwei Schauspielerinnen Huma und Nina und sagt die Vorstellung ab. Für alle, die aber nun schon

mal da sind und nichts Besseres zu tun hätten, würde sie_er die Geschichte ihres_seines Lebens

erzählen.

AGRADO. Me llaman La Agrado porque toda mi vida solo he pretendido hacerles la vida agradable a los demás. Además de agradable soy muy autentica. ¡Miren que cuerpo! ¡Todo hecho a medida! Rasgado de ojos, ochenta mil. Nariz, doscientas, tiradas a la basura porque un ano después me la pusieron así de otro palizón. Ya sé que me da mucha personalidad, pero si llego a saberlo no me la toco. […] Bueno, lo que les estaba diciendo, es que ¡cuesta mucho ser autentica, señoras! y en estas cosas no hay que ser rácana, porque una es más auténtica cuanto más se parece a lo que ha soñado de sí misma."

219

Agrado fängt mit ihr_seinem Namen an, der selbstgewählt und Zeichen von Identität ist: La

Agrado, die, die allen das Leben angenehm (agradable) machen will. Des Weiteren beschreibt

sie_er ihr_seine zahlreichen schönheitschirurgischen Eingriffe, denn Authentisch-Werden hat

seinen Preis, aber da dürfe tran nicht geizig sein, denn tran ist umso authentischer, je mehr tran

dem Traum ähnelt, die sie_er von sich hat. Authentizität wird hier nicht mit Original

gleichgesetzt, sondern mit einem Ideal, das es asymptotisch zu erreichen gilt, d.h. dem tran so

nahe wie möglich kommen muss, um echt zu sein. Agrado benutzt den Raum der Bühne, zu dem

sie_er eigentlich keinen Zugang hat, um sich selbst öffentlich zu machen. Gleichzeitig gestaltet

sie_er ihn in nicht konventioneller Weise um und beansprucht in dem, was sie_er inszeniert –

nämlich sich selbst – Authentizität. Diese Szene widerspricht den Erwartungen, die mit der

Bühne (in diesem Moment) verbunden sind: Anstatt die im Stück Un tranvía llamado deseo220

verkörperten bipolaren Geschlechtszuordnung von Stanley und Blanche, verkörpert Agrado

geradezu ein Kontinuum zwischen den Geschlechtern. Anstatt der brutalen Realität, die im

Theaterstück noch über die Phantasie siegte, klagt Agrado über die asymptotische Annäherung

an ihr_sein Ideal ´Echtheit´ für sich und ihr_seine Träume ein.

219

AGRADO. Man nennt mich die Agrado [el agrado ist die Freundlichkeit], weil ich mein ganzes Leben immer nur versucht habe, den anderen das Leben angenehm zu machen. Außer freundlich bin ich sehr authentisch. Schaut doch welcher Körper, alles maßgeschneidert. Allein die Katzenaugen, 80.000. Nase, 200.000, direkt in den Müll, weil ein Jahr später, nach ´ner Prügelei sieht sie wieder so aus, das gibt mir Persönlichkeit, ich weiß, aber hätte ich das gewusst, hätte ich sie niemals angerührt. […] Was will ich eigentlich damit sagen? Es ist ziemlich teuer, authentisch zu sein, oh ja, und in diesen Dingen dürfen wir nicht knausern, weil wir umso authentischer sind, je mehr wir dem Traum ähneln, den wir von uns selbst haben. (Tsmm, 1999, 1:14-1:15) 220

Das Publikum mit in der Erwartung im Theater, das Stück von William Tennesee zu sehen, das abgesagt werden musste. Das Theaterstück und dessen Bedeutung im Film wird weiter unten behandelt.

Page 72: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

66

Dekonstruktion von Namen als Zeichen individueller Identität

Ein (Eigen)Name ist als „Bezeichnung für eine einzelne, als Individuum oder individuelles

Kollektiv gedachte Person oder Sache zum Zweck der eindeutigen Identifizierung und

Benennung“ definiert221. Namen haben also die Funktion, Namenstragende entweder tatsächlich

zu charakterisieren oder auf eine Eigenschaft und Haltung zu verpflichten und sie gleichzeitig

von anderen unterscheidbar zu machen. Die Eigennamen in Todo sobre mi madre können in zwei

Gruppen eingeteilt werden, in die `richtigen` Namen und die ´Künstler_innennamen`:

HUMA. ¿Y Agrado es su nombre real? ROSA. No, es su nombre artístico, como Huma.

222

Wenn wir nun die ´realen´ Eigennamen anschauen, so wird die Funktion der Unterscheidbarkeit

und eindeutigen Identifizierung in einer Aneinanderreihung von gleichen Namen aufgehoben:

Der Name Esteban bezeichnet alle männlichen Figuren, die mit Manuela in Beziehung stehen.

Manuelas Sohn heißt Esteban, auch Rosa gibt ihrem Kind in Gedenken an Esteban II den gleichen

Namen. Am Ende erfahren wir, dass auch Lolas ´realer´ Name Esteban ist, sodass Esteban als

Ursprung der beiden anderen Estebans perFormt wird. Rosa expliziert diesen Zusammenhang

mit dem Wunsch, der dritte Esteban sollte Manuela erhalten bleiben.

ROSA. Espero que el tercer Esteban sea para ti el definitivo. MANUELA. ¿El tercer Esteban? ROSA. Lola fue el primero. Y tu hijo el segundo.

223

Auch Rosas Mutter trägt denselben Namen wie ihre Tochter. In dieser Aneinanderreihung von

gleichen Namen zwischen den Generationen haben Namen eher die Funktion ein Kontinuum zu

bezeichnen als Individualität.

Der Sohn Esteban entwirft für sich eine Identität als Schriftsteller und als Kind einer

alleinerziehenden Mutter, zwei Merkmale, die sich in seinem ernsten reifen Aussehen äußern

würden.

ESTEBAN. Mañana cumplo diecisiete años, pero parezco mayor. A los chicos que vivimos solos con nuestra madre se nos pone una cara especial, mas seria de lo normal, como de intelectual o escritor. En mi caso es normal, porque además yo soy escritor.

224

221

Brockhaus, 2006 Bd 19 222

HUMA. Und Agrado ist ihr richtiger Name? ROSA. Nein, ihr Künstlername, wie Huma. 1:00 223

ROSA. Ich hoffe, der dritte Esteban ist endgültig für dich. MANUELA. Der dritte Esteban? ROSA. Lola war der erste. Und dein Sohn der zweite. 1:18 224

ESTEBAN. Morgen werde ich siebzehn Jahre alt, aber ich wirke älter. Wir Kinder, die mit unseren Müttern allein leben, sehen anders aus, ernster als normal, wie Intellektuelle oder Schriftsteller. In meinem Fall ist es normal, weil ich außerdem Schriftsteller bin. 0:14

Page 73: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

67

Auf der Suche nach Klarheit über sich selbst, versucht er alles über seine Eltern herauszufinden:

er schreibt eine Erzählung über seine Mutter und wünscht sich zum Geburtstag, alles über

seinen vermeintlich gestorbenen Vater zu erfahren. Jedoch stirbt er, bevor er etwas

herausfinden konnte, woran er sich orientieren könnte; so endet seine Suche nach dem Original

(symbolisiert im Namen Esteban) im Nichts.

Dem gegenüber werden individuelle Künstler_innennamen gesetzt, die selbstgewählt sind und

Identität ausdrücken sollen. Als Alleinstellungsmerkmal verweisen sie auf Eigenschaften, die die

Namenstragenden als herausragendes Merkmal ausweisen sollen. Solche Namen haben sich

Huma Rojo, La Agrado und Lola gewählt.

Der Name ´Huma Rojo´225 verweist auf das Rauchen und die roten Haare als Markenzeichen von

Huma.

HUMA. Humo es lo único que ha habido en mi vida. MANUELA. También ha tenido éxito. HUMA. El éxito no tiene sabor ni olor, y cuando te acostumbras es como si no existiera.

226

Die selbstgewählten Namen reduzieren die Charaktere auf einen Teil ihrer Identität und führen

damit die (zeitweilige) Totalisierung durch die Identitätskategorien vor Augen. Diese

Totalisierung umfasst aber nur einen Teil von dem, was tran ist, alles, was dem Namen nicht

entspricht, wird ausgeschlossen. Manuela interveniert, als Huma sagt, der Rauch wäre das

einzige, das sie in ihrem Leben hatte, doch Huma besteht darauf. Das Rauchen ist allerdings kein

Alleinstellungsmerkmal von Huma, sondern vor allem der Verweis auf ihr Ideal Bette Davis, die in

ihren Filmen vor allem rauchende Frauen verkörperte. Damit verbindet auch Huma wie Agrado

ihre Identität mit einem Traum, einem Ideal, das sie zu erreichen sucht. Dieses Ideal ist nicht

ursprünglich und in ihr selbst zu finden, sondern gesellschaftlich produziert.

Die roten Haare von Huma als weiteres Identitätsmerkmal werden für die Bühne immer wieder

verändert und sind damit Möglichkeiten, in andere Rollen zu schlüpfen. Gleichzeitig sind Haare

das ästhetische Mittel, um darzustellen, wie die Zeit vergeht: Als Manuela nach zwei Jahren

wieder nach Barcelona zurückkommt, hat sie die Haare viel länger und wird von Huma darauf

angesprochen. Damit sind Haare ein Zeichen von Veränderbarkeit und künstlerischer

Gestaltbarkeit, wodurch auch Identität als gestaltbar entworfen wird.

225

´Humo´ ist das spanische Wort für Rauch, Rojo ist die Farbe Rot. 226

HUMA. Rauch ist das Einzig, das ich in meinem Leben hatte. MANUELA. Sie hatten auch Erfolg. HUMA. Der Erfolg hat weder Geschmack noch Geruch, und wenn du dich daran gewohnt hast, ist es, als ob er nicht existieren würde. 0:40

Page 74: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

68

Entwürfe von Weiblichkeit

Das Geschehen im Film dreht sich fast ausschließlich um Frauen. Allerdings umfasst dieses

Subjekt ´Frau´ ein ganzes Spektrum verschiedener Entwürfe von Weiblichkeit, die immer auch

Widersprüche in sich vereinen. Die inszenierte Heterogenität (siehe Abbildung 14) reicht von der

Nonne zur femme fatale, von Mutterschaft zu Vaterschaft, d_ Prostituierte, Schauspieler_in und

Drogensüchtige, von konservativ zu hedonistisch, von Hetero- zu Homosexuellen und allen

dazwischen. Neue Repräsentationen brechen dabei mit traditionellen Bildern, die als Klischees

im Film aufgerufen werden und verursachen Bildstörungen. Die Konstruktion neuer

Frauenfiguren kann nur unter Bezugnahme auf gesellschaftlich präsente Bilder erfolgen, die

perFormt und verschoben werden. In Todo sobre mi madre entstehen Verschiebungen durch ein

offenes Brechen zwischen dem, was die inszenierten konservativen gesellschaftlichen Normen

verlangen und denen, die diese ausführen. Dadurch rückt die Konstruiertheit von Geschlecht in

den Blickpunkt.

Die Mutter

Zentral in Todo sobre mi madre ist die Figur der Mutter, die primär von Manuela und der Mutter

von Rosa verkörpert wird, aber später auch von anderen Charakteren übernommen wird. Die

Mutter gilt als Symbol des Lebens und der Fürsorge. Die Fürsorgefunktion der Mutter wird

zunächst von Manuela angedeutet: Sie habe schon fast alles für ihren Sohn gemacht. Später

spricht auch der Arzt diese Funktion einer Mutter an:

MEDICO. Dígale a su madre que le vigile la tensión. Tiene que hacer dieta sin sal y reposar.227

Die Fürsorge für Rosa übernimmt aber Manuela; Rosas Mutter weiß zwar von den Erwartungen,

die an sie gestellt werden, übernimmt sie aber nicht. Auch Agrado übernimmt Fürsorge als

persönliche Assistent_in bei Huma.

Mutterschaft ist üblicherweise mit heterosexueller Begehrensstruktur verbunden. Im Film wird

diese Struktur gebrochen Lola könnte als Vater und als Mutter bezeichnet werden, eine

eindeutige Zuordnung ist nicht möglich ist.

Auch Huma spielt am Ende des Films eine Mutter, die um ihren toten Sohn trauert und bekommt

von Manuela das Foto Estebans (Sohn von Manuela) geschenkt. Damit übergibt Manuela ihren

Anteil an der Mutterschaft.

227

ARZT. Sagen Sie Ihrer Mutter, sie soll den Blutdruck überwachen. Sie müssen eine salzlose Diät machen und sich ausruhen. (Tsmm, 1999, 0:48)

Page 75: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

69

Abbildung 14: Weiblichkeitsbilder

Die Prostituierte

Agrado verdient sich sein_ihren Lebensunterhalt als Prostituierte. Dabei geht es ih_ vor allem

darum, den anderen das Leben angenehm zu machen. Als idealen Körper für den Strich brauche

es nach Agrado einen prallen Busen und einen guten Schwanz. Agrado vereint damit in

einem Körper weibliche und männliche Prostitution.

Die femme fatale

Das Bild einer femme fatale ist das

einer attraktiven, verführerischen

Frau, die Männer erotisch an sich

bindet, sie aber gleichzeitig

manipuliert, ihre Moral untergräbt und

ins (tödliche) Unglück stürzt. Mit dem Namen

Lola228 wird die Figur der femme fatale verbunden,

die Lola Erzählungen zufolge ist. Indem sie_er mit

Rosa schläft, infiziert er_sie mit dem HI-Virus, das

für Rosa tödlich endet. Als Lola zum ersten Mal im Film

auftaucht, wird ein ganz anderes Bild von ih_

gezeigt: Lola erscheint am Friedhof, gebrechlich

und nicht mehr jung, auch nichts am Verhalten

deutet auf die femme fatale hin.

Auch Blanche in Un tranvía llamado deseo hat den Ruf einer femme fatale.

Dieses Bild stimmt jedoch nicht im Geringsten mit dem überein, das von ihr gezeigt wird: das

Bild einer verwirrten Frau, die in die Klinik eingewiesen wird.

Die Heilige

Das Gegenbild zur weiblichen Sündhaftigkeit bildet die Figur der Nonne: Selbstlosigkeit,

asexuelle Liebe, Keuschheit und allem Weltlichen entsagend. Die vermeintlich asexuelle

Klosterfrau Rosa kümmert sich um die Leute vom Strich und will unterstützend nach El Salvador

gehen, als dort zwei Nonnen umgebracht werden. Allerdings lebt sie nicht asexuell: ihr gefallen

Schwänze, und sie ist schwanger. Außerdem findet sie das international bekannte Luxus

Modeunternehmen Prada ideal für Nonnen.

228

Der Name Lola ist die spanische Kurzform von Dolores, das von Dolor, Schmerzen abgeleitet ist. Lola ist unter anderem über den Film Der blaue Engel von Sternberg (1929/1930) mit femme fatal verbunden, in dem spielt Marlene Dietrich als Lola Lola die femme fatal spielt, die den Professor Unrat ins Elend stürzt.

Abbildung 15: Lola

Page 76: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

70

Die Schauspielerin

Huma und Nina sind Schauspielerinnen; allerdings erweisen sich bis zum Schluss alle Frauen als

Schauspieler_innen, wie in Kapitel 8.2. ausführlich dargestellt wird. Rosa spielt ihrer Mutter vor,

sie würde nach El Salvador gehen, Manuela spielt die Mutter von Rosa, Agrado führt sein_ihren

Körper auf der Bühne vor. Schauspiel wird nicht nur als Beruf entworfen; alle Frauen seien

Schauspieler_innen, sagt Almodóvar in einem Interview229. Schauspiel wird im Film als Kunst des

Improvisierens und Lügens inszeniert.

Die Konservative

Rosas Mutter verkörpert die in kleinbürgerlichen Normen erstarrte Frau. Gleichzeitig entspricht

sie diesen selbst aber keineswegs: sie sorgt nicht wie erwartet für ihre Tochter, finanziert den

Familienunterhalt selbst, und zwar auf sehr unkonventionelle Weise, indem sie Fälschungen von

Chagall und Picasso malt und verkauft.

229

Vgl. Bonusmaterial auf der DVD

Page 77: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

71

8.4. Institutionalisierte Beziehungen: Familie

MANUELA. ¡Esa mujer es su padre!230

Um die Institution der heterosexuellen Kleinfamilie in Frage zu stellen, wird im Film Todo sobre

mi madre ihre Heterosexualität betont, um sie dann in einer perFormativen Besiedelung durch

queere Gestalten zu dekonstruieren und ihre Natürlichkeit in Frage zu stellen.

Die Norm der heterosexuellen Kleinfamilie

Die Norm einer heterosexuellen Kleinfamilie wird immer wieder diskursiv hergestellt.

Gleich am Anfang wird Manuela und ihr Sohn als Familie inszeniert: Das gemeinsame

Abendessen vorm Fernseher kann in Spanien am Ende der 1990er Jahre, in denen die

Filmhandlung stattfindet, als Ritual gelesen werden, mit dem Familie hergestellt wird. Bald

darauf schreibt Esteban in sein Notizbuch, dass ihm in eben dieser Familienstruktur ein Stück

fehlt. Der durch seine Abwesenheit glänzende Vater verkörpert für Esteban das, was ihm in

seinem Leben fehle und über den er alles erfahren möchte. Die heteronormative Kleinfamilie,

Vater und Mutter, werden als Ideal konstruiert, das durch seine Notizen während des Films

wieder aktualisiert231 wird:

ESTEBAN. Anoche mamá me enseñó una foto… le faltaba la mitad. No quise decírselo, pero a mi vida le falta ese mismo trozo… […] Esta mañana he revuelto en sus cajones y he descubierto un fajo de fotos… a todas les falta un trozo, mi padre supongo. Quiero conocerle.

232

Auch im simulierten Patient_innengespräch wird die heterosexuelle Kleinfamilie als Norm

inszeniert: einer Frau (Manuela) wird mitgeteilt, dass ihr Mann gestorben sei, sie fragt sich, wie

sie dies ihrem Kind sagen soll.

MEDICO. Su marido ha muerto. […] ¿Quiere que avisemos a algún familiar? MANUELA. No tengo familia. Sólo a mi hijo. ¡Dios mío! ¡Cómo voy a decírselo…!

233

In Bezug auf Rosas Schwangerschaft wird nochmal auf die Norm der Kleinfamilie angespielt,

indem Manuela die Verantwortung vom Vater einklagen will, und Rosas Mutter sie fragt, ob sie

jetzt zu heiraten gedenke.

230

MANUELA. Diese Frau ist sein Vater! (Tsmm, 1999, 1:27) 231

In den Szenen 9 und 12, also kurz nach seinem Tod und gegen Ende des Films in der Szene 43, wenn Manuela Lola das Foto von Esteban II gibt wird die zitierte Stelle gelesen. 232

ESTEBAN. Gestern Abend zeigte meine Mutter mir ein Foto, eine Hälfte fehlte. Ich wollte nichts sagen, aber in meinem Leben fehlt genau diese Hälfte. […] Heute morgen habe ich in ihren Schubladen gewühlt und dabei ein paar Fotos gefunden, überall fehlte ein Stück, mein Vater, nehme ich an. Ich will ihn kennenlernen. (Tsmm, 1999, 1:26) 233

ARZT. Ihr Mann ist gestorben […] Möchten Sie, dass ich ihre Familie benachrichtige. MANUELA. Ich habe keine Familie, nur meinen Sohn. Mein Gott, wie soll ich ihm das sagen? (Tsmm, 1999, 0:07)

Page 78: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

72

Abbildung 15

PerFormative Verschiebungen

Im Laufe der Erzählung wird dieses Ideal der heterosexuellen Kleinfamilie mit unterschiedlichen

Mitteln entnaturalisiert und dekonstruiert:

Schrittweise erfahren wir einiges über Estebans Vater, da sich Manuela nach dem Tod ihres

Sohnes auf die Suche nach ihm macht. Lola, der ´Vater´ von Esteban II, – und wie sich

herausstellt auch der von Esteban III – wird als queer entworfen. Wir erfahren dass Lola sich die

Brüste operieren hat lassen, er_sie wird als weder weiblich noch männlich figuriert: Lola vereint

für Manuela die übelsten Seiten eines Mannes mit den übelsten Seiten einer Frau234, trotzdem

blieb sie zunächst bei ihm_r, um nicht allein zu sein und weil Frauen ein bisschen lesbisch

seien235. Damit lässt sich die Beziehung zwischen Manuela und Lola nicht mehr eindeutig als

heterosexuell bestimmen.

Auch Rosa ist von Lola schwanger. Als

ihre Mutter Esteban III in den Armen

von Lola sieht, regt sie sich über die

fremde Frau auf, Manuelas Erklärung,

dass die ´Frau´ Estebans ´Vater´ sei,

schockiert sie zutiefst. Mit der

paradoxen Aussage von Manuela:

`Diese Frau ist sein Vater! ` irritiert sie nochmals die bipolare Geschlechts-Zuordnung und führt

eine sprachliche Unmöglichkeit des Dazwischen vor.

In Abbildung 15 wird auch ikonografisch das Bild einer normalen Kleinfamilie verschoben, in dem

der männliche Vater durch einen queeren Vater ersetzt wird, der nicht eindeutig einem

Geschlecht zuordenbar ist. Dadurch kann nicht mehr gesagt werden, ob Lola der Vater ist, oder

möglicherweise doch auch als Mutter bezeichnet werden könnte.

Die Familie von Rosa scheint dem klassischen Kleinfamilienbild zu entsprechen: Vater, Mutter

und Kind. Auf den zweiten Blick wird auch dieses klassische Familienbild gestört. Rosa verträgt

sich nicht mit ihrer Mutter, und für diese ist Rosa wie eine Außerirdische.

ROSA MADRE. Nos é qué hice mal con Rosa… Desde que nació fue como una extraterrestre.236

234

MANUELA. Lola tiene lo peor de una mujer y lo peor de un hombre. (Tsmm, 1999, 0:46) 235

MANUELA. Somos gilipollas, y un poco bolleras. (Tsmm, 1999, 0:47) 236

ROSA MUTTER. Ich weiß nicht, was ich mit Rosa falsch gemacht habe, seit der Geburt ist sie wie eine Außerirdische (Tsmm, 1999, 1:12)

Page 79: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

73

Der Vater von Rosa ist durch Alzheimer entmündigt und versteht seine Umgebung nicht mehr.

Die Mutter sorgt für den Familienunterhalt, indem sie Fälschungen von Chagall und Picasso malt

und zusammen mit einer Haushälterin für den Vater sorgt, die Fürsorge ihrer Tochter gegenüber

jedoch zurückweist.

Freundschaft als selbstwählbare Familie

MANUELA. A los padres no se elige. ¡Son los que son!237

Manuela betont immer wieder, dass Rosas Mutter die Mutter ist, und tran sich die Eltern nicht

aussuchen kann. Sie verweist damit auf das Institutionalisierte und Naturalisierte von

Elternschaft. Zugleich negiert sie diskursiv die Verhandelbarkeit von Elternschaft und Familie.

Auf der Ebene der Handlungen brechen Manuela und andere mit dieser Norm:

Agrado bezeichnet Lola als Schwester, Manuela gibt sich vor dem Arzt und vor Huma als

Schwester von Rosa aus. Auch sind Agrado und Huma Vertraute Manuelas und zugleich ihre

Familie in Barcelona. Indem sie sich um Rosas kümmert, als diese Pflege braucht, schlüpft sie in

Rosas Mutterrolle. Schließlich verlässt sie als selbst gewählte Mutter von Esteban III Barcelona.

Lola übergibt vor seinem Tod das Foto von Esteban II an Huma. Als diese es Manuela

zurückgeben will, schenkt Manuela es Huma und bezieht sie damit in die Familienstruktur ein.

Am Ende des Films verlässt Manuela mit Esteban III Barcelona und die Großeltern. Dabei scheint

sich die Familienkonstellation zu wiederholen, die am Anfang schon da war: die alleinerziehende

Mutter und das Kind. Allerdings ist – wie in Kapitel 8.2. ausgeführt wird – diese Beziehung

inzwischen eine Wahlverwandtschaft und keine biologische Bindung.

All diese Familienbeziehungen werden vor allem perFormativ im Handeln hergestellt und

brechen mit der Norm der institutionalisierten Verwandtschafts-Familie zugunsten einer

selbstgewählten.

Das Motiv einer selbstgewählten Familie auf Basis von Freundschaftsbeziehungen findet sich in

vielen anderen Filmen des Queer Cinema wieder, von denen hier zwei kurz angeführt werden:

Im Roadmovie Drôle de Félix238 macht sich Félix auf die Suche nach seinem Vater, den er nie

kennengelernt hatte. Dabei trifft er eine Reihe von Menschen, die durch Inserte als seine Familie

ausgewiesen werden: ein junger homosexueller Kunststudent ist der kleine Bruder, eine ältere

237

MANUELA. Die Eltern sucht man sich nicht aus, sie sind, wer sie sind! (Tsmm, 1999, 0:49) 238

Drôle de Félix (FRA 2000) R: Olivier Ducastel, Jaques Martineau

Page 80: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

74

Frau, der er hilft die Taschen nach Hause zu tragen, die Großmutter, eine Frau mit Autopanne

wird als seine Schwester ausgewiesen und ein älterer Fischer als sein Vater.

Auch in Le fate ignoranti239 von Ferzan Özpetek wird Freundschaft als Familie thematisiert.

Antonia verliert ihren Mann bei einem Autounfall. Als sie dessen persönliche Sachen aus seinem

Büro abholt, findet sie auf der Rückseite des Gemäldes „Le fate Ignoranti“ eine an ihren Mann

gerichtete Liebesbotschaft. Dieser hatte seit sieben Jahren einen Geliebten und eine zweite

Familie in der kunterbunten WG von Michele. Langsam wird auch Antonia Teil dieser großen

Familie.

239

Le fate ignoranti (ITA 2001) R: Ferzan Özpetek

Page 81: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

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Titel: XXY

Regie, Drehbuch: Lucía Puenzo

Nach einer Erzählung von Sergio Pizzo

Land/Jahr: Argentinien, 2007

Filmlänge: 78 Min.

Produktion: Luis Puenzo, José María Morales

Besetzung: Inés Efron (Alex), Ricardo Darín

(Kraken, Vater), Valeria Bertuccelli (Suli,

Mutter), Martín Piroyansky (Álvaro), Carolina

Peleritti (Erika, Mutter von Álvaro), Germán

Palacios (Ramiro, Vater von Álvaro), Luciano

Nobile (Vando), Guillermo Angelelli (Juan),

César Troncoso (Washington), Jean Pierre

Reguerraz (Esteban), Ailín Salas (Roberta),

Lucas Escariz (Saúl)

8.5. Exkurs: GeschlechtsKörper und –Identität zwischen den

Geschlechtern in XXY

In Todo sobre mi madre werden Körper zwischen den Geschlechtern innerhalb der Filmrealität

nicht als das ´Andere´ markiert und entgehen so einer Sichtbarkeit im Sinne einer homophoben,

sexistischen Markierung.240 Lucía Puenzo thematisiert im Spielfilm XXY241 über den

Hauptcharakter Alex einen Intersexuellen Körper, der nicht einem Geschlecht zuordenbar ist. In

der abgeschiedenen Welt ihr_seines Elternhauses kann Alex so sein, wie er_sie ist. Allerdings

werden auch persönliche Konflikte und gesellschaftliche Sanktionen thematisiert, die mit der

Zwischengeschlechtlichkeit einhergehen.

Filmplot

Alex lebt mit ihr_seinen Eltern in einem kleinen Küstenort in Uruguay auf einem abgelegenen

Grundstück. Alex hat von Geburt an einen Penis bei weiblichen Chromosomen, hat also nach

dem gegenwärtigen medizinischen Diskurs körperliche Merkmale beider Geschlechter. Die

Eltern haben ihrem Kind bislang jegliche operativen Eingriffe ersparen wollen, die ihnen bereits

kurz nach der Geburt von den Ärzten nahegelegt wurden. Als Alex die Hormone absetzt, die eine

Vermännlichung sein_ihres Körpers verhindern sollen, sucht ihr_seine Mutter den Rat des

befreundeten argentinischen Chirurgen Ramiro. Alex vertraut indessen das Geheimnis ihr_

seines Körpers ihr_seinem besten Freund

Vando an und verprügelt ihn, weil er

anscheinend nicht damit umgehen

konnte. Mit Alvaro, dem gleichaltrigen

Sohn Ramiros, macht Alex erste sexuelle

Erfahrungen. Kraken, der Vater von Alex,

beobachtet die beiden dabei und zweifelt

kurz, ob die Entscheidung, Alex nicht zu

operieren, die richtige gewesen war. Er

sucht eine von Intersexualität betroffene

Person auf: Scherer wurde als Kind

operiert, ´Normalisierung´ nannten die

Ärzte die OPs, ´Kastrierung` nennt sie

Scherer. Bis er_sie 16 war, lebte Scherer als

240

Peggy Phelan spricht in diesem Zusammenhang von ´passing´, einer Fähigkeit, der Sichtbarkeit im Sinne einer rassistischen und homophoben Markierung zu entgehen und in diesem Sinne unsichtbar zu werden. Vgl. Seier, 2006. 241

XXY (ARG, 2007), R: Lucía Puenzo

Page 82: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

76

Frau, dann nahm sie_er Testosteron und ließ sich umoperieren, um als Mann weiterzuleben.

Jetzt betreibt er mit seiner Frau und einem Kind eine kleine Tankstelle. Alex wird von

neugierigen Dorfjungen, denen gegenüber Vando sie_ihn verraten hatte, überfallen und

bloßgestellt. Als ihr_sein Vater davon erfährt, ist er außer sich. Er fährt schnurstracks zu den

Übeltätern und schärft ihnen ein, seinen Sohn/Kind242 in Ruhe zu lassen. Er will eine Anzeige bei

der Polizei erstatten, beschließt aber, Alex die Entscheidung zu überlassen, da dann das ganze

Dorf über sein_ihre Besonderheit Bescheid wissen würde. Alex hat genug von Medikamenten,

Umzügen und neuen Schulen, vor allem aber will sie_er nicht mehr sein_ihre Besonderheit

verheimlichen. Alex will sich auch nicht zwischen Mann oder Frau, zwischen homo- oder

heterosexuell entscheiden müssen. Alles sollte einfach so bleiben, wie es war.

Körper und Identität zwischen den Geschlechtern

Alex, Hauptcharakter des Spielfilms XXY, wird mit einem Körper geboren, der nicht in die

bipolare Definition von Geschlecht passt und medizinisch als an einer Hormonerkrankung

leidend definiert wird.243 Da dies nach gesellschaftlichen Normen ´normalisiert´ werden muss,

wird den Eltern sofort nach der Geburt eine Operation angeboten, durch die Alex ein

eindeutiges Geschlecht zugewiesen werden sollte. Die Eltern entscheiden sich gegen eine OP

und ziehen mit Alex auf ein abgelegenes Grundstück. Sie leben bewusst isoliert und möglichst

unabhängig von der Meinung anderer, sodass gesellschaftliche Sanktionen weniger greifen

können.

KRAKEN. Nos fuimos de Buenos Aires para estar lejos de cierta clase de gente244 SULI. Por eso nos fuimos para evitar que todos los Idiotas se pusieran a opinar245

Alex kann im geschützten familiären Kreis ein Leben im Dazwischen führen, lebte aber

´öffentlich´ bisher als Mädchen, was durch hormonelle Medikamente möglich war. Dennoch

kommt es zu Konflikten, als bekannt wird, dass Alex beides ist, Mann und Frau. Alex wird von

ihr_seinem besten Freund, dem sie_er sich anvertraute, verraten und Opfer eines

Gewaltübergriffs von einigen neugierigen Jugendlichen des Dorfes. Die Besucher_innen im Haus

von Alex’ Familie drängen auf eine OP. Der Vater verspricht Alex zu beschützen, bis er_sie sich

entscheiden kann. Doch Alex will sich nicht für ein Geschlecht, Mann oder Frau, entscheiden:

242

Hijo heißt Kind, kann aber auch als Sohn übersetzt werden, in diesem Moment spricht Kraken nicht von ´Tochter´,

wie am Anfang des Films in einer ähnlichen Situation. 243

In Lucia Puenzos Spielfilm XXY wird unausgesprochen das Adrenogenitale Syndrom (AGS) porträtiert, „eine angeborene Hormonerkrankung der Nebenniere, die bei Alex zu viel vermännlichendes Hormon produziert. Schon im Mutterleib bildet sich bei Mädchen das äußere Genitale in männliche Richtung um.“ (Vgl. die deutsche Filmhomepage von XXY. Online unter: http://xxy-film.de ) 244

Wir gingen von Buenos Aires, um fern von einer bestimmten Klasse von Menschen zu sein. 00:36 245

Wir kamen hier her, um nicht mehr die Meinungen der Idioten hören zu müssen.“ 01:06

Page 83: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

77

ALEX. No quiero más, no quiero ni pastillas, ni operaciones ni cambio de colegio. ¡Quiero que todo sigua igual!

246 […] ¿Y si no hay nada que elegir?

247

Als es darum geht, Anzeige wegen des Übergriffs zu erstatten, ist dies auch eine Entscheidung

Alex’ Intersexualität öffentlich zu machen.

KRAKEN. Se va a enterar todo el mundo. ALEX. ¡Que se enteren!248

Inwiefern kann Alex’ Entscheidung im Film als perFormatives Widersprechen gelten? Alex

beansprucht für sich das Recht, zwischen den Geschlechtern zu leben und keine Entscheidung

der Zuordnung zu Mann oder Frau treffen zu müssen. Über eine Anzeige des Überfalls wird die

Zwischengeschlechtlichkeit öffentlich werden, dies wird im Film allerdings nur angedeutet, aber

(noch) nicht ausgeführt.

Der Vater von Alex ist Biologe und schützt seltene Meeresschildkröten. Er hat ein Buch über

hermaphroditische (Fisch)Arten geschrieben ´Orígenes del Sexo´, in dem er unter anderem über

Clown-Fische schreibt, die ihr Geschlecht im Laufe ihres Lebens ändern. Im Film werden Biologie

und Medizin – verkörpert im Vater von Alex und Vater von Álvaro – gegenübergestellt. Während

Néstor Kraken für den Erhalt seltener Arten kämpft, gilt das Interesse Ramiros der Angleichung

von Missbildungen ans Normale.

ÁLVARO. ¡No rebana cuerpos, los arregla! Mi papá hace tetas y narices por plata, pero a él in realidad le interesan otras cosas […] deformidades, como esos tipos que nacen con once dedos. Bueno, mi papá les saca uno.

249

Existenzweisen zwischen den Geschlechtern gefährden nach Butler die hegemoniale

Geschlechterordnung. Deshalb werden sie abgelehnt und soweit es geht an die Normen gepasst.

So wird auch angedeutet, dass Álvaros Vater eine mögliche Homosexualität seines Sohnes nicht

akzeptieren würde.

246

Ich will nicht mehr, ich will keine Pillen mehr, keine Operationen und keine Schulwechsel. Alles solle so bleiben,

wie es war. (XXY, 1:07) 247

„Und wenn es nichts zu entscheiden gibt?“(XXY, 1:16) 248

KRAKEN. Die ganze Welt wird es erfahren. ALEX. Sie mögen es erfahren.(XXY, 1:18) 249

ALVARO. Er zerschnipselt die Körper nicht, er repariert sie! Mein Vater korrigiert Brüste und Nasen für Geld, aber in Wirklichkeit faszinieren ihn andere Sachen […] Deformationen, wie Leute, die mit 11 Fingern auf die Welt kommen. Mein Vater entfernt einen davon. (XXY, 0:20)

Page 84: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

78

9. PerFormative Verschiebungen von Inszenierungs- und

Darstellungsformen am Beispiel intertextueller Bezüge

Das spezifisch Filmische des Films resultiert darin, „dass er ´Wirklichkeit´ in einer bestimmten

Weise abbilden kann und dadurch erst (seine) ´Wirklichkeit´ konstituiert.“250 Film ist eine

„zeitlich organisierte Kombination von akustischen und visuellen Zeichen, die über […] Bild und

Schrift sowie Geräusche, Musik und Sprache spezifisch filmische Bedeutungseinheiten

ausbildet“251. Eine Analyse versucht die für den Film typischen Inszenierungs- und

Darstellungsformen zu rekonstruieren und mögliche Bedeutungspotentiale zu entschlüsseln.

Für Todo sobre mi madre scheinen vor allem die zahlreichen intertextuellen Bezüge

bedeutungstragend zu sein. Die Wichtigsten sind wohl der Film von Joseph L. Mankiewicz All

about Eve252, der dem Film den Namen gibt und das Theater von Tennessee Williams A Streetcar

Named Desire253, das im Film unter dem Namen Un tranvía llamado deseo mit Starbesetzung

Huma Rojo als Blanche interpretiert wird. Ein weiterer literarischer Verweis ist das Buch, das

Manuela Esteban zum Geburtstag schenkt: Truman Capotes Music for Cameleons254. Gegen Ende

des Filmes spielt Huma eine Szene aus Haciendo Lorca255 von Lluís Pasqual, das Szenen aus

Bodas de Sangre und Yerma von Federico García Lorca miteinander verbindet. Im Folgenden

werde ich vor allem die ersten beiden genannten Bezüge in Hinblick auf ihre Sinnstiftung für den

Film untersuchen. Die Bezüge sind an ein kollektives Gedächtnis westlich orientierter Welt

gerichtet: All about Eve ist ein sehr bekannter Film von 1950, der zahlreiche Auszeichnungen und

Oscars gewonnen hat. Wenn auch nur ein kleiner Ausschnitt gezeigt wird, kann davon

ausgegangen werden, dass die Filmhandlung zumindest in groben Zügen bekannt ist als eine, in

der Vertrauen ausgenutzt wird, um das zu erreichen, was am meisten begehrt wird. Auch A

streetcar named desire wurde 1951 von Elia Kazan in Hollywood verfilmt und gewann 4 Oscars.

Die Hommage an Federico García Lorca situiert den Film in der spanischen Tradition: Lorca zählt

zu den bedeutendsten spanischen Autor_innen des 20. Jahrhunderts und ist vor allem für seine

Theaterstücke Bodas de Sangre und La Casa de Bernarda Alba bekannt.

Mit Intertextualität ist die Beziehung eines Filmtextes zu anderen Texten gemeint. Dies können

andere Film- und Fernsehtexte sein, Genre- und Gattungskonventionen oder andere Filme d_

250

Krah, 2002, S. 100 251

Ebd. 102 252

All about Eve (USA 1950) R: Joseph L. Mankiewicz 253

Tennesee, 1947 254

Capote, Truman (1980/1994) Music for Cameleons 255

Pasqual, Liuís (1996) Haciendo Lorca

Page 85: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

79

selben Autor_in oder derselben Darstellenden, aber auch andere mediale Texte wie Theater,

Literatur oder Gemälde.256 Jeder Film tritt in ein Feld ein, das alle bisherigen Filme und

Fernsehtexte umfasst und positioniert sich im Verhältnis zu eben diesen. Dadurch entsteht ein

Intertext, ein Raum zwischen den Texten, der für die Bedeutungsproduktion wichtig ist.

Bedeutungen werden aufgegriffen und verschoben, dadurch werden zusätzliche

Sinnzusammenhänge gestiftet und die Wahrnehmung des Textes verändert.257 Intertextualität

umfasst intertextuell gelenktes Textverstehen, es muss aber auch als ein in der Aneignung

verorteter Prozess gesehen werden. Entsprechend dem Wissen und der Erfahrungen der

Zuschauenden mit anderen Texten und den damit verbundenen Erwartungen werden

unterschiedliche Bedeutungen aktiviert. Wenn in Todo sobre mi madre sehr bekannte, an

Auszeichnungen reiche Texte aufgegriffen werden, kann davon ausgegangen werden, dass sie

von einem westlich orientierten Kino-Publikum258 in bestimmter Weise verstanden werden.

Intermedialität ist eine Art von Intertextualität, die die Reproduktion eines Textes aus einem

Medium in ein anderes Medium meint. Eine Analyse der Intermedialität kann die Auswirkung

von spezifischen ästhetischen Konventionen des jeweiligen Mediums auf die Erzählung und die

Repräsentation offenlegen.259

Da es sich bei Intertextuellen Bezügen um Zitate und Konventionen handelt, die aufgegriffen und

verhandelt werden, eignet sich eine Analyse besonders gut, um mediales perFormatives

Widersprechen zu untersuchen. Aus diesem Grund werde ich im Folgenden drei Ebenen der

Intertextualität in Todo sobre mi madre und ihre möglichen Bedeutungsbildungen in Bezug auf

sex-gender-desire nachskizzieren: das Hybrid Genre ´Screwball Drama´, Para- und Hypotextuelle

Verweise auf den Film All about Eve und intermediale Bezüge zum Theaterstück Un tranvía

llamado deseo.

256

Vgl. Mikos, 2008, S. 60 257

Vgl. ebd. S. 272-273 258

Die meisten Bezüge sind aus dem nordamerikanischen Raum, die zwei Hauptbezüge (All about Eve, A streetcar named desire) sind in Hollywood verfilmt worden, Federico García Lorca ist einer der wichtigsten spanischen Autor_innen. 259

Vgl. Mikos, 2008, S. 61

Page 86: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

80

9.1. Genre

Der Begriff ´Genre´ kommt aus dem französischen und bedeutet so viel wie Gattung oder Art.

„Ein Genre ist ein spezifisches Erzählmuster mit stofflich-motivischen, dramaturgischen, formal-

strategischen, stilistischen, ideologischen Konventionen und einem festgelegten

Figureninventar.“260 Genres haben nach Rick Altman261 drei Funktionen: erstens stellen Genre-

Konventionen Muster für die Produktion bereit, zweitens dienen sie zur Produktdifferenzierung

und somit dem Verleih und drittens beschreibt das Genre Erwartungen der Zuschauenden.

Damit sind Genres Ordnungsmuster oder kulturelle Stereotype, die „nicht nur für einzelne

Individuen, sondern für Kollektive gestaltungs-, wahrnehmungs-, erwartungs- und

interpretationsrelevante Bedeutung haben (können).“262

Genres sind immer dann entstanden, wenn es Filme gab, die besonders erfolgreich waren und

nicht bereits einem Genre zugeordnet werden konnten. Im Versuch, diesen Erfolg zu

wiederholen, entstanden Filme mit ähnlichen Mustern und Darstellungen. Dadurch konnten sich

bestimmte Standardisierungen durchsetzen, die mal mehr und mal weniger variiert wurden.263

Das Genre steht in einem zirkulären Prozess mit den Filmen, die es bezeichnet.

Zuordnungskriterien, die genommen werden, um Filme in einem Genre zu verorten, werden aus

den Filmen selbst genommen. Zugleich beeinflussen Filme das, was unter einem Genre

verstanden wird. Je nachdem auf welcher Abstraktionsebene die Merkmale des Genres

angesiedelt sind, werden thematische, kulturelle, zeitliche und topografische Momente,

Figurenkonstellationen, die Rolle der Musik oder dramaturgisch-psychologische Effekte in den

Vordergrund gestellt.264 Es gibt keine einheitliche Kategorisierung oder Definition von Genres.

Als dominante Arten des Spielfilms, die sich in der Filmgeschichte behauptet haben, können

nach Faulstich265 zehn Genres beschrieben werden: Western, Kriminalfilm, Melodrama,

Sciencefiction-Film, Abenteuerfilm, Horrorfilm, Thriller, Komödie, Musikfilm und Erotikfilm.

Diese lassen sich wiederum in Subgenres einteilen oder werden miteinander kombiniert. Vor

allem viele neue Filme charakterisieren sich durch einen Genre Mix, in dem entweder ganze

Genres vermischt werden oder nur Elemente aus einem Genre in ein anderes übertragen

werden.

260

Faulstich, 2002/2008, S. 29 261

Vgl. Altman, 1998, S. 253-254 262

Faulstich, 2002/2008, S. 30 263

Vgl. Mikos, 2008, S. 262-272 Altman, 1998 264

Vgl. Schweinitz, 2007, S. 283 265

Vgl. Faulstich, 2002/2008 26-63

Page 87: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

81

Todo sobre mi madre als Genre Mix

Wo ist nun Pedro Almodóvars Film Todo sobre mi madre anzusiedeln? Pedro Almodóvar

bezeichnet den Film als Tragödie und als ´Screwball Drama´, in Reclams Filmführer wird der Film

als Tragikomödie bezeichnet, im Film-Verleih läuft er unter Drama.266

Todo sobre mi madre kann dem Filmplot nach als Melodrama bezeichnet werden, in dem viele

tragische Themen angerissen werden. „Las tragedias se suceden una a otra sin dar respiro a los

espectadores: muertes, enfermedades, adicciones, demencia, violencia urbana...“267.

Melodramen beschäftigen sich mit menschlichen Schicksalen in Ausnahmesituationen. Sie zielen

auf emotionale Rührung der Zuschauer_innen ab, indem sie Themen wie unerfüllte Liebe,

zerstrittene Familienbande, unheilbare Krankheiten oder tragische Unfälle aufgreifen. All diese

Themen lassen sich in Todo sobre mi madre finden. Im traditionellen Melodrama dominiert nach

Faulstich ideologisch eine kleinbürgerliche Weltsicht, Normen und Werte sowie patriarchalisches

Recht.268 Alles was ´anders´ ist, wird abgelehnt. Hier verschiebt Almodóvar die Konventionen des

Genres. Die kleinbürgerliche Weltsicht wird mit Rosas Mutter als das `Andere` definiert,

während das Schauspiel, Transsexualität, das Prostituiertenmilieu zur innerfilmischen Normalität

wird. Im Mittelpunkt steht nicht eine passive, leidende weibliche Heldin wie im klassischen

Melodrama, sondern Held_innen, die auch leiden, aber dennoch durch aktives Handeln ihr

Leben gestalten. Der Innenraum bleibt als beliebter Schauplatz der Handlung bestehen,

beansprucht allerdings über die Bühne zusätzlich öffentlichen Raum. Das Denken in Stereotypen

und ein blinder Glaube an Autoritäten, die Faulstich als weitere Merkmale des Melodramas

beschreibt, werden vor allem durch Agrado parodiert und verschoben. So definiert Agrado

explizit, was eine Frau ist: „Eine Frau sind ihre Haare, ihre Nägel und ein Mund zum Blasen und

Meckern.“ Und nimmt Ninas ironischer Anmerkung ernst, sie solle für alle Fälle die Rollen im

backstage mitlernen.

Wie diese beiden Beispiele andeuten, kann Todo sobre mi madre auch als Komödie bezeichnet

werden. ´Screwball- Drama´269 ist eine Anspielung auf die Screwball - Comedy der 30er und 40er

Jahre im amerikanischen Film. Ein ´Screwball´ ist im Baseball ein aus dem Feld geschlagener Ball

und wurde im US-amerikanischen Slang später auch für eine verrückte, völlig irrational

agierende Person verwendet.

266

Vgl. Almodóvar in Urrero Peña, 2007; Matlok, 1999; Krusche, 2008 267

„Eine Tragödie folgt der anderen, ohne den Zuschauenden Zeit zum Atmen zu gegeben: Tote, Krankheiten, Süchte, Demenz, menschliche Gewalt…“ Quinteros 268

Faulstich, 2002/2008, S. 38 269

Vgl. Matlok, 1999

Page 88: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

82

„Das Vergnügen des Zuschauers [!] an einer Screwball Comedy entsteht nicht durch die Spannung auf ein überraschendes Ende, sondern durch Dialogwitz, Situationskomik und die Perfektion des Komischen Spiels der Stars.“

270

Das grenzt die Genre-Definition soweit ein, dass sich wenigstens ein paar der Protagonisten

eines Filmes exzentrisch verhalten müssen, damit dieser Film als Screwball bezeichnet werden

darf. Fast alle Charaktere in Todo sobre mi madre sind mehr oder weniger exzentrisch: Huma

Rojo in ihrer Imitation von Bette Davis und der Selbstbezeichnung als eklektisch, die Nonne

Rosa, die auf Prada und auf Schwänze steht. Aber auch die bürgerliche Mutter von Rosa, die

Fälschungen von Chagall malt, aber keine Prostituierten im Haus haben will. Den paradox-

ironischen Höhepunkt bietet wohl La Agrado, d_ über die Künstlichkeit ihr_seines Körpers

ihr_seine Authentizität begründet.

270

Vgl. Marschall, Screwball Comedy, 2007

Page 89: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

83

9.2. Film im Film

Der Ausdruck Film im Film bezeichnet Filme, die auf andere Filme Bezug nehmen: Was anfangs

vor allem parodistisch ausgerichtet war, wurde später zu einer Kunstform des Films, in der eine

(Auto)Reflexion des Mediums Film stattfindet. Die Reflexionsebenen umfassen dabei das

Verhältnis von Zuschauenden und Film, Selbstporträtierungen der illusionsmächtigen Wirkung

von Film als ´Traumfabrik´; aber auch das Filmemachen selbst wurde zum Thema.271 Diese

Ebenen können auf sehr unterschiedliche Weise selbstreflexiv sein. Borstnar et. al.

differenzieren fünf mögliche Aspekte:272 ästhetische, wahrnehmungsbezogene, produktions- und

vertriebsbezogene, gesellschaftliche und historische Aspekte des Films.

Am ´Ende der Geschichte des Kinos´ und der Transformation des Films in Audiovision bietet die

Filmgeschichte ein riesiges Reservoir für Anspielungen und Zitate. Die selbstreflexiven

Tendenzen des Film-im-Film Prinzips haben nach Jürgen Felix im postmodernen ´anything goes´

seinen bislang

„avanciertesten Status erreicht: in Form des ironischen Spiels mit Filmzitaten und in Formen der Dekonstruktion, die die Mechanismen filmischer Realitätsproduktion bis an die Schmerzgrenze vorantreibt.“

273

Diese filmische Selbstreflexion mache heute, wenn dies überhaupt geschieht, das Erschrecken

der Zuschauenden aus.

In diesem Kapitel werde ich nachzeichnen, wie Mankiewicz´s Film All about Eve in Todo sobre mi

madre als titelgebend eingeführt wird und dadurch nicht nur einen intertextuellen Bezug

herstellt, sondern auch als Paratext die Grundstruktur des Filmes gestaltet und über das

Filmzitat Mutterschaft als performativen Akt offenlegt.

271

Vgl. Felix, 2007 272

Vgl. Borstnar, Pabst, & Wulff, 2002, S. 81 273

Felix, 2007, S. 210

Page 90: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

84

Originaltitel: All about Eve

Span. Titel: Eva al desnudo

Regie, Drehbuch: Joseph L. Mankiewicz

Land/Jahr: USA, 1950

Filmlänge: 138 Min.

Produktion: Hollywood

Besetzung: Bette Davis (Margo Channing), Anne

Baxter (Eve Harrington), George Sanders (Addison

DeWitt), Celeste Holm (Karen Richards), Gary

Merrill (Bill Sampson), Hugh Marlowe (Lloyd

Richards)

Inhalt: Eva Harrington kommt als glühende und ausdauernde Verehrerin des Theater-Stars Margo Channing in deren Garderobe und erzählt eine rührenden Geschichte um den Tod ihres Ehemanns. Margo nimmt Eva daraufhin als ihre Vertraute und persönliche Assistentin auf, und diese macht sich bald unentbehrlich. Hinter den Kulissen treibt Eva ihre eigene Schauspiel-Karriere voran, indem sie ein Netz von Beziehungen knüpft und Intrigen einfädelt. Eines Tages übernimmt sie schließlich Margos Rolle als Zweitbesetzung und überzeugt sowohl den Autor als auch den Direktor des Stücks von ihrem Talent. Durch eine Intrige versucht Eve die Rolle in dem neuen Stück von Lloyd Richards, die eigentlich für Margo vorgesehen war. Diese verzichtet aber freiwillig zugunsten ihres Privatlebens mit Bill Sampson auf die Rolle, die Eva übernimmt und die sie zum Star der Theaterwelt macht.

Der Titel des Films: Intertextualität im Paratext

A todas las personas que quieren ser madres. A mi madre.

274

In einer der ersten Szenen schauen sich Manuela und Esteban einen Film an: Eva al desnudo. Der

Film wird metadiegetisch, d.h. als Film im Film gezeigt. Durch die schlechte Ton-Qualität und das

verpixelte Schwarz-Weiß Bild des Films wird eine zeitliche Distanz zwischen den beiden Filmen

eingeführt, All about Eve wurde 1950 produziert, Todo sobre mi madre etwa 50 Jahre später.

Esteban reflektiert über die schlechte Angewohnheit, Titel von Filmen (falsch) zu übersetzen:

ESTEBAN. ¡Que manía de cambiar el titulo! ¡All about Eve significa ´Todo sobre Eva´!

275

„Alles über Eva klingt komisch,“ findet

Manuela. Trotzdem übernimmt ihr Sohn

diesen Titel leicht abgeändert in sein

Notizbuch, in dem er eine Erzählung

über seine Mutter begonnen hat, die er

bei einem Wettbewerb einreichen

möchte. ´Todo sobre…´ Was genau

Esteban weiter schreibt, bleibt der

Phantasie der Zuschauenden überlassen,

denn sein Stift hinterlässt keine Spur,

stattdessen wird der Titel des Filmes

eingeblendet: Todo sobre mi madre. Was

kann es also bedeuten, wenn All about

Eve als namensgebend276 für den Film

eingeführt wird? Eva al desnudo277

verweist auf eine Enthüllungsgeschichte,

in der Eva bloßgestellt und nackt gezeigt

wird. Gleichzeitig ist die Übersetzung des

Titels sexuell konnotiert. Auch der

Verweis auf Truman Capote, der ein

274

Für alle Personen, die Mutter sein wollen. Für meine Mutter. (1:32) 275

Dass die immer die Titel der Filme ändern müssen! All about Eve heißt alles über Eva! (0:03) 276

Der Titel wird gleichzeitig als der „Name“ eines Textes oder in diesem Fall eines Films bezeichnet. Brockhaus, 2006 Zur Funktion von Namen vgl. auch Kapitel 7.3. dieser Arbeit. 277

desnudo bedeutet hüllenlos, nackt

Page 91: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

85

Lieblingsautor von Esteban ist, und dessen Werk Music for Cameleons er zum Geburtstag von

seiner Mutter bekommt, deutet auf eine Enthüllungsgeschichte hin: Capote schrieb unter

anderem Answered Prayers, das bei der Veröffentlichung des ersten Kapitels einen Skandal

auslöste, da es persönlichste Geheimnisse der High Society enthüllte278. Kein Wunder, dass es

Manuela nicht gefällt, dass Esteban über sie schreibt, versteckt sie doch selbst ihre

Vergangenheit vor ihrem Sohn. Esteban kann die Erzählung über seine Mutter allerdings nicht

mehr schreiben, da er vorher bei einem Unfall ums Leben kommt.279

Das Erzählen der Geschichte übernimmt der Film, der die Geschichte aus Manuelas Perspektive

zeigt. Es ist wider Erwarten keine Enthüllungsgeschichte über Manuela, sondern eine über die

Mutterschaft.

Schauen wir uns den Inhalt von All about Eve an: In dem Kultfilm wird ein (Schau)spiel von Eva

aus den Erinnerungen von drei Menschen nachgezeichnet und aufgedeckt, und dabei die Figur

Eve Harrington als Fälscherin charakterisiert. Die Geschichte der Hauptperson, wie der Titel

suggeriert, kommt erst im Laufe der Erzählung ans Licht. Auch die Geschichte von Manuela wird

im Laufe des Films von ihr selbst in Erinnerungen erzählt. Allerdings heißt der Film weder

´Manuela al desnudo´ noch ´Alles über Manuela´ sondern ´Alles über meine Mutter´. Im

Folgenden möchte ich aufzeigen, dass es im Film von Almodóvar nicht um Manuela als

Hauptperson geht, sondern, wie der Titel sagt, um die Mutter. Mutterschaft wird als

(Schau)spiel, oder mit Butler gesagt, als perFormativer Akt dekonstruiert. Diese These wird

durch die Widmung am Ende des Filmes gestützt, die in einem Atemzug den Film allen widmet,

die (schau)spielen und allen, die Mütter sein wollen.

278

Vgl. Wunderlich Capote gilt als Begründer des Tatsachenromans, in dem Sachlichkeit und literarische Kunst ineinander übergehen. 279

Auch Capote starb, bevor er das Werk Answered Prayers fertigstellen konnte. Im Vorwort zu Music for Cameleons, aus dem Manuela Esteban einige Zeilen vorliest, wird auf den späteren Tod von Esteban hingewiesen: Dem, den Gott eine Gabe gegeben hat, gibt er auch eine Geißel.

Page 92: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

86

Abbildung 3

Dekonstruktion von Mutterschaft als Schauspiel über intertextuellen Bezug zu All

about Eve

ESTEBAN. Si fueras actriz yo escribiría papeles pasa ti.280

Die Figur Manuela lebt in Madrid als Krankenschwester und Mutter. Im Scherz sagt sie zu

Esteban, er müsse mehr essen, um notfalls für sie auf den Strich gehen zu können. Esteban steigt

nicht auf das Spiel ein und bleibt ernst. Auf die Gegenfrage von Esteban, ob denn sie bereit wäre

für ihn auf den Strich zu gehen, antwortet sie wage, sie habe schon fast alles für ihren Sohn

gemacht. Wenn sie Schauspielerin wäre, würde Esteban, ihr Sohn, Rollen für sie schreiben. Aber

auch so schreibt er eine Erzählung über sie und beobachtet und studiert seine Mutter, sodass

gleich zu Beginn der Eindruck entsteht, Manuela führe etwas vor. In Abbildung 16 beobachtet

Esteban, wie Manuela von Stella berührt ist. Als er sie darauf anspricht, erzählt sie, dass sie

selbst vor Jahren Stella spielte und dabei

seinen Vater kennengelernt hatte, der

Kowalski verkörperte. Auch Eve

Harrington beobachtet und studiert

Margo die ganze Zeit „Wie ein

Theaterstück, ein Buch, ein

Manuskript“281

Nicht als Schriftsteller doch als ihr Sohn hat Esteban eine Rolle für seine Mutter ´geschrieben´,

die begann, als sie vor etwa 18 Jahren mit Esteban im Bauch Barcelona verlassen hatte und die

mit seinem Tod plötzlich zu enden scheint. In seiner Erzählung will Esteban aber mehr von

Manuela wissen als nur ihre Mutterrolle, deshalb besucht er sie bei der Arbeit und nimmt ihr das

Versprechen ab, alles über seinen Vater und damit über Manuelas Leben vor dem Mutter-Sein

zu erfahren. Doch zu dieser Enthüllung kommt es nicht mehr.

Was wäre, wenn das Leben Manuelas tatsächlich aus der Sicht Estebans weitererzählt worden

wäre, wie dies in den ersten 10 Minuten des Films angedeutet wird? Von Eve Harrington werden

pikante Details aufgedeckt, die diese selber wohl nie freiwillig erzählt hätte. Was hätte Esteban

über Manuela aufgedeckt? Wahrscheinlich andere Begebenheiten als nur die Andeutungen von

Manuela, die sowohl für Esteban als auch für die Rezipient_innen einen großen

Interpretationsspielraum lassen.

280

ESTEBAN. Wenn du Schauspielerin wärst, würde ich Rollen für dich schreiben. (0:05) 281

Zitat aus All about Eve

Page 93: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

87

Für Manuela bleiben in Bezug auf Esteban noch drei Aufgaben, die sie in Barcelona erfüllen wird:

Etwas über ihr Leben vor Esteban zu erzählen, ein Autogramm von Huma zu bekommen und

Esteban seinem Vater vorzustellen. Mit dem Tod Estebans geht Manuela dorthin zurück, wo ihre

Rolle, ihr Spiel als Mutter begonnen hat – nach Barcelona. In All about Eve ist dieses

Zurückgehen ein Zurück in die Vergangenheit. In Todo sobre mi madre bleibt es in der

Gegenwart. Nur eine kleine Erinnerungsgeschichte, die Manuela Rosa erzählt, und ein Foto

verweisen auf das Leben Manuelas vor 20 Jahren. Dennoch scheint sich die Vergangenheit am

Ende der Erzählung in dem Moment zu wiederholen, in dem Manuela allein mit einem Kind

Barcelona verlässt, um in Madrid ein neues Leben zu beginnen.

Mit dem Ortswechsel von Madrid nach Barcelona gibt es die Rolle als Mutter nicht mehr, so wie

es in All about Eve die Rolle als gefeierte Schauspielerin für Eve nicht mehr gibt. Manuela ist

nicht mehr die bewunderte Mutter, sondern mit Eve vergleichbar in der Situation, bevor sie

ihren großen Wunsch erreichen, die eine, eine gefeierte Schauspielerin zu sein, die andere die

Mutterschaft. In beiden Erzählungen wird nachgezeichnet, wie die Frauen ihren jeweiligen

Wunsch erreichen: beide betonen immer wieder, dass sie die Rolle nicht haben wollen, und dass

sie ihnen nicht zusteht.

MANUELA. ¡Rosa! ¡Me estás pidiendo que sea tu madre y no tienes ningún derecho! ¡Tú ya tienes madre, aunque no te guste!

282

Beide äußern den Wunsch jedoch in einem schwachen Moment.

MANUELA. Ojalá estuviéramos solas en el mundo, sin ningún compromiso… ¡Tú y tu niño, para mí sola!

283

Wie Eve übernimmt Manuela zunächst die Rolle als Zweitbesetzung: Einmal im Theater als Stella,

aber das ist nicht ihr Ziel. Vielmehr ist es die ´Zweitbesetzung´ als (Rosas) Mutter, die sie

diskursiv immer von sich gewiesen hat, dann aber doch übernimmt, indem sie Rosa bei sich

aufnimmt und pflegt, als diese ihre Hilfe braucht. Es geht dabei nicht nur um das Für-sie-da-sein,

sondern um das Für-sie-jemand-sein, eine Mutter sein. Dies wird deutlich, als sie Huma

vorschlägt, Nina in eine Klinik einzuweisen, und Rosa die Unterhaltung unterbricht, indem sie

quer durchs Bild läuft und Manuela ansieht. Manuela könnte Rosa nicht in eine Klinik einweisen,

da sie mehr verbindet als die Pflege. Rosas Mutter versucht in diese Bindung einzugreifen, indem

sie Manuela Geld für die Pflege anbietet. Würde Manuela das Geld annehmen, wäre sie nicht

282

MANUELA. Rosa! Du willst, dass ich deine Mutter sein soll und dazu hast du kein Recht. Du hast eine Mutter, auch wenn sie dir nicht gefällt. (0:49) 283

MANUELA. Wären wir nur allein auf der Welt, ohne irgendwelche Verpflichtungen, du und dein Sohn für mich allein. (1:08)

Page 94: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

88

mehr in der Mutterrolle, sondern die Pflegerin, die Angestellte, als die sie Rosas Mutter

anspricht.

Die Anordnung der ´Mutterschaft´ bricht mit der Norm: Rosa steht selbst kurz davor Mutter zu

werden und ist kein Kind mehr (auch wenn Manuela sie vor Huma als Kind bezeichnet). Die

Familiensituation ist frei gewählt, Manuela muss Rosa keine Welt kreieren, wie sie dies bei

Esteban gemacht hat. Zudem verspricht sie Rosa vor deren Tod, auch für Esteban nicht eine Welt

zu inszenieren:

ROSA. Prométeme que no le ocultarás nada al niño. […] MANUELA. Bueno, te lo prometo.

284

Rosa übergibt Manuela die Mutterschaft von ihrem Sohn Esteban III, die sie nicht selbst

übernehmen kann, weil sie bei der Geburt oder kurz danach285 stirbt. Manuela trifft sich mit Lola

um ihr_m Esteban III vorzustellen und das Versprechen einzulösen, das sie Rosa gegeben hatte.

Bald darauf sitzt sie mit Esteban III wieder im gleichen Zug wie vor fast 20 Jahren, und die

Geschichte scheint sich zu wiederholen. Manuela erscheint wie am Anfang als alleinerziehende

Mutter von einem Esteban. Aber was hat sich durch die Geschichte an der Situation geändert?

Die Mutterschaft ist jetzt eine selbst gewählte, Manuela ist durch das Versprechen an Rosa

daran gebunden, die Vergangenheit nicht zu verstecken oder sich ausschließlich als Mutter zu

entwerfen. Mutter ist nicht mehr etwas, was jemand ist oder nicht, sondern eine Entscheidung.

Am Ende wird dies noch unterstrichen durch die Hommage an Lorca, deren gezeigte Szene eine

Hommage an die (Verlorene) Mutterschaft ist, in der die Mutter von Huma verkörpert wird.

Welche Funktion hat nun die Parallelsetzung von Manuela mit Eve? Indem sie die Rolle von

Stella zurückweist wird Manuela in diesem Moment von Almodóvar explizit als ´Anti-Eve

Harrington´ inszeniert286. Manuela will die Rolle der Stella, der leiblichen Mutter, die flüchtet

nicht mehr. Sie kann/will auch nicht von ihren verlorenen Sohn sprechen. Allerdings übernimmt

sie eine Mutterbeziehung (gegenüber Esteban III) für die sie von Rosa ausgewählt wurde. Im

Verweis auf Eve Harrington erscheint Mutterschaft nicht mehr selbstlos, ihr Handeln bekommt

die Konnotation von Egoismus und Eigennützigkeit. Umgekehrt entpuppt sich Eves Irreführung in

der Parallel Setzung mit Manuela als alltägliche Handlung und Notwendigkeit; Lüge ist nicht

mehr negativ besetzt, wodurch ihr Status als ´Bösewicht´ im Nachhinein durch den

284

ROSA. Versprich mir, dass du dem Kind nichts verheimlichst […] MANUELA. Gut, ich versprech´s dir (1:18-1:19) 285

Wann genau Rosa stirbt, bleibt offen: Die Szene im Krankenbett vor dem Kaiserschnitt wird direkt überblendet mit der Szene auf dem Friedhof, auf dem die Beerdigung von Rosa stattfindet. 286

Almodóvar, 1999/2005, S. 121

Page 95: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

89

intertextuellen Bezug relativiert wird. Ihre Rolle als Mutter kann im Verweis auf Eve Harrington

die Bedeutung der beiden Filme so in zwei Richtungen verschieben.

Intertextuelle Bezüge zum Film All about Eve

Der Filmausschnitt in Todo sobre mi madre zeigt Eve Harrington bei ihrer Kontaktaufnahme mit

der von ihr Verehrten Theaterdiva Margo Channing. Der gezeigte Ausschnitt beginnt damit, dass

Margo sich herablassend über Autogrammjäger äußert, die Nacht für Nacht vorm Theater

warten, sogar im Regen. Sie wären nichts weiter als nichtsnutzige Minderjährige, die weder ein

Stück gesehen, noch Interesse an ihrer Person hätten. Ihre Freundin Karen Richards verteidigt

und die Autogrammjäger als Bewunderer Margos und stellt ihr gleich anschließend Eve

Harrington vor, die vor der Tür wartete und jede der Vorstellungen von Margo gesehen habe.

Die Szene wiederholt sich in abgewandelter Form in der filmischen Realität von Todo sobre mi

madre: Diesmal wartet Esteban vorm Theater auf Huma Rojo, dem Star des Theaterstücks Un

tranvía llamado deseo, um ein Autogramm von ihr zu erbeten. Als diese aus dem Theater

kommt, ist sie in einen Streit mit Nina verwickelt, steigt in ein Taxi und achtet nicht auf ihren

Fan. Der Film inszeniert in dieser Szene über den innerfilmischen Verweis die Welt der großen

abgehobenen Theaterdiva, die für die Fans fast unerreichbar ist.

Huma Rojo persifliert diese Welt der Stars, indem sie ein einzelnes Element herausgreift und zu

ihrer Identität macht: Wegen Bette Davis287 hat sie zu Rauchen begonnen und gab sich selbst

den Namen Huma.

HUMA. Empecé a fumar por culpa de Bette Davis. Por imitarla. A los dieciocho años ya fumaba como un carretero. Por eso me puse Huma […] Humo es lo único que ha habido en mi vida. […] El éxito no tiene sabor ni olor, y cuando te acostumbras es como si no existiera.

288

Durch den Verweis auf Bette Davis wird ein Bezug zwischen Filmebene und außerfilmischer

Realität hergestellt, wodurch der Film die Grenze zwischen filmischer und außerfilmischer

Realität überschreitet. Über die Doppelung vom Film im Film und hier einer Schauspielerin die

eine Schauspielerin spielt bekommt Todo sobre mi madre eine Spiegelungs-Funktion, die die

Wechselbeziehung zwischen Film und Mediengesellschaft thematisiert.

287

In den Anmerkungen zu Todo sobre mi madre wird die amerikanische Filmschauspielerin Bette Davis (1908-89) als ´First Lady of the Screen´ bezeichnet, die sich in einer männerdominierten Welt durchsetzte und zu den bestbezahlten Frauen Amerikas zählte. Zigaretten und Sprüche zählten zu ihren Markenzeichen: ´If you want a thing well done, get a couple of old broads to do it´. (Vgl. Almodovar, 1999/2005, S. 185) 288

Ich begann wegen Bette Davis zu rauchen. Um sie nachzuahmen. Mit 18 rauchte ich wie ein Schlot. Deshalb nannte ich mich Huma. […] Rauch ist das einzige, das ich in meinem Leben hatte. Der Erfolg hat keinen Geschmack und keinen Geruch, und wenn du dich daran gewöhnst, ist es, als existierte er nicht. (Tsmm, 1999, 0:40)

Page 96: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

90

Abbildung 5:Huma Rojo Abbildung 4: Foto von Bette Davis

Die Glimmerwelt der Stars reicht nicht ins Privatleben: Sowohl die von Bette Davis verkörperte

Margo Channing als auch Huma streiten sich häufig mit ihrem Partner (Bill) bzw. ihrer Partnerin

(Nina) und geraten in Panik beim Gedanken, von diesen verlassen zu werden.

HUMA: Sin Nina no puedo. Ella está enganchada al caballo, pero yo estoy enganchada a ella…289

Eine strukturell ähnliche Begehrensstruktur wird im Hypertext verschoben wiederholt. Margo

hat eine heterosexuelle Beziehung zu Bill und hat Angst, ihn an eine jüngere Schauspielerin zu

verlieren. Schließlich gibt sie das Leben als Schauspielerin zugunsten einer Heirat mit Bill auf und

fügt sich so in das Bild eines glücklichen bürgerlichen Lebens einer Frau der 50er Jahre. Huma

hat eine homosexuelle Beziehung mit Nina, die sie an die Drogen-Welt verlieren könnte. Auch

das Ende der Beziehungsgeschichte unterscheidet sich: Huma bleibt 50 Jahre später als Margo

dem Schauspiel erhalten und kommt gut allein zurecht, ähnlich wie Bette Davis bis zu ihrem Tod

als Schauspielerin tätig war.

Eve wird im Anschluss an die beschriebene Szene in den Kreis der Vertrauten Margos

aufgenommen, entpuppt sich später jedoch als hinterhältige, skrupellose Jungschauspielerin. Für

Esteban endet die Szene tödlich: Als er an die Fensterscheibe klopft und dem Taxi hinterher

läuft, wird er von einem Auto angefahren. Als Manuela vier Wochen später Huma in ihrer

Garderobe besucht, wird sie von dieser – analog zum Hypotext – ins Vertrauen genommen. Wie

Eve Harrington arbeitet Manuela als persönliche Assistentin und Vertraute der bekannten

Schauspielerin. In der Garderobe spricht sie den Text von Stella mit und vertritt schließlich zwei

Wochen später Nina auf der Bühne, als diese wegen eines Drogenexzesses nicht spielen kann.

Die durch den filmischen Bezug geleitete Erwartung der Zuschauenden und die explizite

Anspielung Ninas stellt Manuela in den direkten Vergleich mit Eve Harrington, ein Name, der für

Intrige und Falschheit steht:

289

HUMA. Ohne Nina kann ich nicht. Sie ist süchtig nach Heroin, aber ich bin süchtig nach ihr. (Tsmm, 1999, 0:59)

Page 97: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

91

NINA. ¡Eres igualita que Eva Harrington! ¡Te aprendiste el texto de memoria a propósito! Es imposible aprendérselo sólo oyéndolo por los altavoces, ¡coño! ¿Por quien me tomas, por gilipollas?

290

Allerdings bricht Almodóvar mit der Vorlage und inszeniert Manuela in diesem Moment als

´Anti-Eve Harrington´291. Manuela hat kein Interesse daran, die Rolle von Nina zu erschleichen,

obwohl sie sie am Abend vorher mit Erfolg gespielt hatte. In All about Eve erzählt Eve Margo eine

rührende Geschichte – die sich am Ende als ziemlich erfunden herausstellt – und gewinnt damit

deren Vertrauen. Auch Manuela erzählt eine ´rührende Geschichte´ als Rechtfertigung, warum

sie Huma am ersten Abend in der Garderobe aufsuchte: Manuela hatte in ihrer Jugend als Stella

in einem Leihen-Theater Un tranvía llamado deseo mitgewirkt und dabei ihren Mann

kennengelernt; durch Estebans Tod wurde ihr Leben erneut mit dem Theater verbunden. Die

Erinnerungen von Huma an Esteban, der bei Regen an das Fenster des Taxis klopft, räumen

mögliche Zweifel der Schauspielerin an der Wahrheit der Erzählung aus dem Weg, die durch den

Bezug zu Eve Harrington berechtigt erschienen.

Kurz darauf wiederholen sich die Szenen erneut: Diesmal ist es Agrado, die in der Garderobe die

Rolle von Blanche studiert und sie schließlich auf ihr_seine Art auf die Bühne zum Ausdruck

bringt.

290

NINA. Du bist genauso wie Eve Harrington und bestimmt hast du den Text mit Absicht gelernt. Es ist doch nicht möglich, dass man so was nur durchs Hören über die Lautsprecher lernt. Meinst du ich bin blöd, oder was?! (Tsmm, 1999, 0:55) 291

Vgl. Almodóvar, 1999/2005, S. 121

Page 98: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

92

9.3. Theater im Film

Todo sobre mi madre und All about Eve haben gemeinsam, dass sie die Theaterwelt

thematisieren und damit zu den sog. Theaterfilmen gezählt werden können. Film und Theater

stehen historisch schon immer in einem engen Zusammenhang; so sind beispielsweise die ersten

öffentlichen Filmvorführungen in Programmen von Theatern und Jahrmarksvergnügen integriert

worden.292 Wie das Theater im Film thematisiert wird, lässt sich nach Susanne Marschall293 in

vier grob umrissene Formen fassen, zwischen denen viele Stufen des Übergangs existieren:

„1) [D]ie dokumentarische Theateraufzeichnung zu wissenschaftlichen Zwecken; 2) die Adaption eines Theaterstückes für Film und Fernsehen, die das Bühnenereignis durch Kameraführung und Schnitt filmisch transformiert; 3) die Verfilmung eines Theaterstücks, die den dramatischen Text und nicht das Bühnenereignis zum Ausgangspunkt nimmt und somit die größte Eigenständigkeit im filmischen Medium gewinnen kann; 4) die Thematisierung der Theaterwelt als Sujet des Films.“

294

Wenn der Theaterbegriff im Anschluss an aktuelle Theorien des Theaters als „Prozess definiert

[wird] der innerhalb und außerhalb des Theaters stattfinden kann und der sich überall dort

entfaltet, wo Darstellende und Zuschauer [!] zusammen treffen“295, wird nicht nur die Welt des

institutionalisierten Theaters relevant, sondern es bleibt der Perspektive der Zuschauenden

überlassen, ob eine Situation als theatral und inszeniert oder als nicht-theatral gesehen wird.

Dass dabei Spielformen der Bühne und des Lebens nicht mehr leicht zu unterscheiden sind, lässt

sich in der Analyse von Todo sobre mi madre zeigen. Mit Volker Roloff können so Theaterfilme

als

„Werkstätten einer intermedialen Reflexion [begriffen werden], die die Prozesse der Medialisierung der Öffentlichkeit, der Inszenierbarkeit privater und öffentlicher Schauspiele zugleich darstellen und analysieren“

296.

Schauspiel, Simulation, Inszenierung und Schaulust werden als Elemente unserer gegenwärtigen

Mediengesellschaft durchschaubar gemacht.

Theaterfilme vermischen Bilder der Lebenswelt und der Bühne und schaffen dabei nach Deleuze

eine neue kinematografische Theatralität oder Meta-Theatralität:297 Sie können Spielformen von

sichtbarer und unsichtbarer Theatralität der Gesellschaft jenseits der gewohnten Konventionen

des Theaters aufzeigen. In der Hybridisierung von Theater und Film, von (filmischer) Realität und

292

Vgl. Borstnar, Pabst, & Wulff, 2002, S. 79 293

Vgl. Marschall, Theater und Film, 2007, S. 702 294

Ebd. 702 295

Roloff, 2004, S. 9 296

Roloff, 2004 297

Vgl. Deleuze zitiert in Roloff, 2004, S. 10

Page 99: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

93

Virtualität entsteht ein Zwischenraum. Dabei wird wie in den frühen Avantgarden auf

Theatertraditionen und -figuren zurückgegriffen, die eine Konfusion von Leben und Traum, ein

Wechselspiel von Täuschung und Desillusion thematisieren.298 Neuere Theaterfilme299 stellen die

gegenwärtige Gesellschaft weitgehend als Spielformen der Inszenierung, des Schauspiels, des

Scheins dar und schaffen Grenzsituationen und Umkehrungen, die die gewohnte Opposition

zwischen Realität und Fiktion, zwischen Sein und Schein, zwischen Illusion und Wahrheit in Frage

stellen und auflösen.300

A streetcar named desire

Un tranvía llamado deseo durchzieht fast den ganzen Film. Die Theaterszenen werden mit

Musik eingeleitet, die Bühne ist in blaues Licht getaucht. Immer wieder wird auch das Publikum

eingeblendet oder die Übertragung über die Lautsprecher in die Garderobe, sodass die Szenen

unterbrochen und als Theater inszeniert werden. Auch die Werbung, die vor dem eingespielten

Schwarz-Weiß-Film im Fernsehen läuft, erscheint in blauem Licht, und Manuela und Esteban

werden als Zuschauende eingeblendet, sodass Film und Theater in Todo sobre mi madre auf eine

Ebene gesetzt werden.

Eine Theaterszene, die sich von den anderen unterscheidet, ist die, in der Manuela Stella

verkörpert. Sie wird als einzige Szene im Theater nicht mit Musik eingeleitet, und die

Zuschauenden werden erst gezeigt, als Manuela die Bühne schon längst wieder verlassen hatte.

Die ganze Szene wird in halbnaher Einstellung gezeigt, sodass die Bühne als solche nicht sichtbar

wird. Dadurch bekommt die Szene im Film Realitätseffekt, der noch verstärkt wird, dass Manuela

Un tranvía llamado deseo als wesentlichen Bestandteil ihres Lebens bezeichnet, und sie sich

offensichtlich mit Stella identifiziert. Das Theater erscheint somit als reale Lebensgeschichte von

Manuela.

MANUELA. Un Tranvía llamado deseo ha marcado mi vida. […] Hace veinte años hice de Stella. Allí conocí a mi marido, él hacía de Kowalski.

301

298

Roloff, 2004, S. 12 299

Rodolff nennt unter anderen Almodóvar (1999) Todo sobre mi Madre, Rivette (2001) Va Savoir, Chereau (2001) Intimacy, Begnini (1997) La vita é bella. 300

Vgl. Roloff, 2004, S. 12 301

MANUELA. Mit Endstation Sehnsucht hat mein ganzes Leben zu tun. […] Vor 20 Jahren spielte ich Stella. Dort lernte ich meinen Mann kennen. Der spielte Kowalski. (Tsmm, 1999, 0:56)

Page 100: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

94

Originaltitel: A Streetcar Named Desire

Span. Titel: Un tranvía llamado deseo

Autor: Tennessee Williams

Land/Jahr: USA, 1947

Charaktere: Blanche DuBois, Stella Kowalski,

Stanley Kowalski, Harold Mitchell, Eunice Hubbel

Inhalt: Das Stück erzählt die Geschichte der Blanche DuBois, welche die Auflösung ihrer Familie und die Versteigerung des einstmals stolzen Familienbesitzes Belle Rêve erlebt. Als sie auch noch ihre Arbeit als Lehrerin verliert, besucht sie ihre jüngere Schwester Stella in New Orleans, die ihre aristokratische Familie verlassen hatte, um mit Stanley Kowalski in New Orleans zu leben. Stanley liebt und begehrt Stella, geht aber gleichzeitig gewaltvoll mit ihr um. Blanches kultiviertes, aber in dieser Umgebung gekünsteltes Verhalten und die Betonung ihrer vornehmen Herkunft wirken wie ein rotes Tuch auf Kowalski. In den beengenden Wohnverhältnissen kommt es schnell zu Spannungen zwischen den beiden, die zu einer offenen Verachtung führen. Blanche verliebt sich in einen der Pokerfreunde Stanleys, doch die Wahrheit über Blanches trennt die beiden: Blanche ist nicht die arme unschuldige Witwe, die sie vorgibt zu sein, sondern wird in ihrer Heimat als Nymphomanin bezeichnet. Ein ausschweifendes Sexualleben sollte sie über ihre Einsamkeit hinwegtrösten. Die Phantasiewelt, in die sie sich flüchtet, führt dazu, dass ihr niemand mehr glaubt, sodass am Ende keine weiß, ob die Anklage Blanches, Stanley habe sie vergewaltigt, stimmt oder nicht. Schließlich wird sie in die Psychiatrie gebracht.

Vor etwa 20 Jahren spielte Manuela in einem Leihen-Theater die Rolle der Stella. Dort lernte sie

ihren Mann kennen, der Kowalski spielte. Manuela erzählt Rosa ihre Geschichte302 mit ihrem

Mann, dem sie – wie Stella – in ein fernes Land, von Argentinien nach Europa, gefolgt ist. Mehr

als dass er sich hatte Brüste machen lassen und es

mit allen trieb, die er_sie erreichen konnte,

sich Manuela gegenüber aber sehr eifersüchtig

verhielt, erfahren wir nicht. Alles andere bleibt

bis zum Schluss der Phantasie überlassen.

Durch die spärliche Information und den

Verweis auf die Identifikation Manuelas mit

Stella wird ihr Mann über Kowalski

charakterisiert. Auch der spürbare Hass von

Manuela auf Lola und ihr Schweigen

gegenüber Esteban tragen zu dieser

Einschätzung bei, ebenso wie die Tatsache,

dass sie aus Barcelona geflohen ist, als sie

schwanger war. Im Theater wird immer wieder

die Szene im gezeigt, in der Stella Kowalski mit

dem Baby auf dem Arm verlässt. Kowalski

wird sowohl Stella als auch Blanche gegenüber

als derber und grober Ehemann gezeigt. In der

Szene, in der Manuela in der Rolle der Stella

auftritt, wird eine der schlimmsten

Beleidigungen Kowalskis Blanche gegenüber

gezeigt. Er schenkt ihr zu ihrem Geburtstag ein

Ticket, mit dem er sie aus der Wohnung

rausschmeißt und ihr damit jede

302

Manuela erzählt Rosa ihre Geschichte mit Lola als eine Geschichte einer Freundin aus Argentinien: Sie hatten sehr jung geheiratet, dann ging ihr Mann nach Paris und sie wollte nachkommen, wenn er Arbeit gefunden hat. Es vergingen zwei Jahre. Der Mann hatte Geld gespart und öffnete eine Bar in Barcelona, wo sie sich mit ihm wiedertraf. Zwei Jahre sind keine lange Zeit, aber der Mann hatte sich verändert. Nicht dass er sie nicht mehr liebte, die Veränderung war mehr physisch. Der Mann hatte sich die größeren Brüste gemacht als sie hatte. Da er sich sonst kaum verändert hatte und sie allein in einem fremden Land war, akzeptierte sie ihn. Die Frauen sind Dummköpfe und ein bisschen lesbisch! Er verbrachte den ganzen Tag in einem mikroskopischen Bikini und trieb es mit allem, was er erreichen konnte. Aber wehe, wenn sie einen Bikini oder Minirock trug, da machte er ihr ein Riesentheater. Wie kann man nur so Macho sein mit solchen Titten! (Tsmm, 1999, 0:46-0:47)

Page 101: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

95

Lebensgrundlage nimmt. Zugleich erinnert er Stella, dass er sie aus den Säulen errettet hatte

und dass sie glücklich miteinander waren. Dabei wird eine andere Seite von Stanley Kowalski

sichtbar: einer, der sich um Stella sorgt, sie liebt und sie ins Krankenhaus zur Entbindung bringt.

Durch das laute Weinen Stellas als die Wehen einsetzen, das an das Klagen Manuelas am

Unfallort Estebans erinnert, wird ein direkter Zusammenhang zwischen der Geburt von Stellas

Kind und dem Sohn Manuelas hergestellt. Die Grenzen zwischen Theaterwelt und Filmrealität

werden in den Schreien von Manuela/Stella aufgelöst, sodass Theater und Filmrealität

ineinander übergehen und ein Hybrid bilden.

Durch die fehlenden Informationen schafft sich Manuelas Sohn Esteban sein eigenes Bild von

seinem Vater, der für ihn alles verkörpert, was in seinem Leben fehlt. Durch die fehlenden

Informationen schaffen sich auch die Zuschauenden ein Bild von Lola, das durch den

intermedialen Vergleich dem Bild Kowalskis sehr ähnlich sein wird. Hier dient der Intertextuelle

Verweis zur Charakterisierung einer in der Filmrealität abwesenden Person. Dadurch erlangt die

Fiktion/das Theater im Film Realitätsstatus.

Als Lola schließlich auf dem Friedhof zum ersten Mal im Film gezeigt wird, ist keine äußerliche

Ähnlichkeit zu einem rohen, brutalen Kowalski zu erkennen, auch nicht zu einem Vater, der der

Norm einer heterosexuellen Kleinfamilie entsprechen würde. Lola ist keinem Geschlecht

eindeutig zuordenbar und bricht damit mit den Vorstellungen von Männlichkeit, die über

Esteban II und Kowalski hergestellt wurden.

Zwischen Performanz und Performativität

BLANCHE DUBOIS. I don't want realism. I want magic! Yes, yes, magic. I try to give that to people. I do misrepresent things. I don't tell truths. I tell what ought to be truth.

303

Das Hauptmotiv von Un tranvía llamado deseo, das in den im Film wiederholten Szenen

allerdings nur angedeutet wird, ist das Aufeinandertreffen von Phantasie und Traum –

verkörpert von Blanche DuBois – mit einer brutalen Realität, die von Stanley Kowalski

dargestellt wird. In Un tranvía llamado deseo endet diese Konfrontation für Blanche in der

Psychiatrie. In der Wiederholung dieses Motivs in Todo sobre mi madre wird die Grenze

aufgehoben, sodass Traum und das, was als Filmrealität gilt, ineinander übergehen: die Grenze

zwischen Theater und der Realität, zwischen Erzählung und Lebens-Geschichte verschwimmen.

Performanz wird Teil der Film-Realität.

303

In: A streetcar named desire

Page 102: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

96

Blanche DuBois ist eine ´alternde Schönheit´, die vorgaukelt, eine jüngere zu sein. Die kultivierte,

aber dem Alkohol verfallene Dame um die 30 konnte den Verlust des Familienbesitzes Belle Rêve

(Schöner Traum) nicht verhindern und flüchtet sich in eine Phantasiewelt: I don't want realism. I

want magic! Sie leiht sich schöne Kleider aus, die sie sich eigentlich nicht leisten kann und in

denen sie in ihrer Umgebung fehl am Platz wirkt. Am Ende des Stücks wartet sie in ihrer

Realitätsferne auf einen alten Verehrer, von dem sie glaubt, er sei auf dem Weg, um sie zu einer

Kreuzfahrt abzuholen. Stattdessen holt sie ein fremder Doktor ab, der sie in die Psychiatrie

bringen wird. Das anfängliche Entsetzen darüber weicht in eine neuerliche Hoffnung auf eine

Besserung ihrer Situation: „Whoever you are, I have always depended on the kindness of

strangers.”

Huma Rojo wiederholt den Satz von Blanche DuBois Manuela gegenüber, als diese sich mit ihr

auf den Weg macht, um Nina zu suchen und eignet sich Blanches Zerbrechlichkeit und

Dankbarkeit an.

HUMA. Gracias. Quienquiera seas, siempre he confiado en la bondad de los desconocidos.304

Indem sie Elemente des Theaters in die Film-Realität überträgt, bricht sie mit der Grenzziehung

zwischen den beiden. Auch Huma Rojo sieht man an, dass sie nicht mehr die jüngste ist,

Probleme mit Alkohol werden nur im Ansatz angedeutet. Humas Welt ist die Theaterwelt, eine

Welt, in der im Gegensatz zu A streetcar named desire Platz ist für Verkleidung und Phantasie.

Eine Parallele zu Blanche wird visuell auch zu Margo Channing gezogen: Blanche im

Theaterstück Un tranvía llamado deseo in Abbildung 19 hat große Ähnlichkeit mit Margo, die in

der Filmszene All about Eve305 eingeblendet wird.

Auch Margo teilt das Motiv einer alternden Schönheit, die ihr Alter im Verborgenen hält. Auch

sie hat Probleme mit dem Alkohol und erscheint wirklichkeitsfern. Ihr Leben ist durch und durch

Schauspiel, worauf sie mehrfach angesprochen wird, von ihrem Liebhaber Bill und ihrer Freundin

304

HUMA. Danke. Wer auch immer Sie sind, immer schon habe ich auf die Güte von Fremden vertraut. (Tsmm, 1999, 0:39) 305

Abbildung 20

Abbildung 6: Huma als Blanche Abbildung 7: Bette Davis als Margo Channing

Page 103: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

97

Karen. Am Ende des Film kehrt sie in die ´Realität´zurück, indem sie verspricht, Bill zu heiraten

und dem Theater den Rücken zu kehren.

Wenn schließlich Agrado sich mit Blanche identifiziert: „¿Yo haciendo de Stella? Pues me veo

más de Blanche…”306 und in der Garderobe den Text auswendig lernt, wird ein weiterer Bezug

hergestellt, der allerdings klar mit der Vorlage bricht. Agrado verkleidet sich bewusst und

inszeniert dies auch: sie_er trägt Chanel, um sich Respekt zu verschaffen, allerdings kein echtes,

weil tran bei dem Hunger in der Welt doch nicht eine halbe Million dafür ausgeben könne. Als

Huma und Nina nicht zur Vorstellung kommen können, ersetzt sie_er sie auf der Bühne. Sie

interpretiert das Thema des Theaterstücks – das Aufeinandertreffen von Traum und Realität –

jedoch vollkommen neu über ihr eigenes Leben: Der Traum habe sich im Körper materialisiert,

dadurch habe Agrado Authentizität erreicht.

Organspende im Theater

Manuela arbeitet in der Koordinationsstelle für Organtransplantation. Als ihr Sohn stirbt,

unterschreibt sie, sein Herz für eine Organspende freizugeben, wie dies vorher in simulierten

Patient_innengespräch erprobt und von ihr erwartet wurde. Das Herz gilt als Symbol des Lebens,

der Schöpferkraft und der Liebe, aber auch als Symbol des Menschen als Ganzes.307 Nach der

Unterschrift folgt Manuela nicht mehr den Regeln des Krankenhauses und macht sich auf die

Suche nach dem Herz. Als die Psychologin und Freundin Manuelas das erfährt, meint sie, es wäre

die beste Art, verrückt zu werden. Als Blanche in einer Szene ihr Herz sucht (und dabei ihr

herzförmiges Schmuckkästchen meint), ist dies die Vorführung ihrer Verwirrung und passiert

kurz vor ihrer Einweisung in die Klinik. Am Ende des Films wird Huma auf der Bühne als

trauernde Mutter gezeigt, die erzählt, sie habe beim Anblick ihres toten Sohnes ihre Hände in

seinem Blut getränkt und sie mit der Zunge abgeleckt, weil es ihr Blut war. In eine

Kristallmonstranz wollte sie die von seinem Blut getränkte Erde geben.

HUMA MADRE. Hay gente que piensa que los hijos son cosa de un día. Pero se tarda mucho. Mucho. Por eso es tan terrible ver la sangre de un hijo derramada por el suelo... Una fuente que corre durante un minuto y a nosotras nos ha costado años. Cuando yo descubrí a mi hijo, estaba tumbado en mitad de la calle. Me mojé las manos de sangre y me las lamí con la lengua. Porque era mía. Los animales los lamen, ¿verdad? A mí no me da asco de mi hijo. Tú no sabes lo que es eso. En una custodia de cristal y topacios pondría yo la tierra empapada por su sangre.

308

306

AGRADO. Ich als Stella? Ich muss sagen als Blanche sehe ich mich eher. (1:01) 307

Vgl. Renger, 2008 308

HUMA MUTTER. Manche denken, Kinder sind das Werk eines Tages, aber es dauert so lang, so lang. Darum ist es so grauenvoll, das Blut seines Kindes vergossen zu sehen. Eine Quelle die fließt eine Minute und kostete uns doch Jahre. Ich habe ihn gefunden, meinen Sohn, ich habe ihn liegen sehen, mitten auf der Straße. Ich tauchte meine Hände in sein Blut und leckte es ab mit der Zunge, denn es war meines. Das machen die Tiere ebenso, nicht wahr? Ich ekle mich nicht vor meinen Sohn. Du kannst nicht wissen, wie

Page 104: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

98

Am Ende des Filmes wird nochmal das Motiv der Trauer um den toten Sohn aufgegriffen und so

zum Anfang des Filmes zurückgeführt. Inhaltlich bietet das Theaterstück gleichzeitig eine

Rückführung und einen Kontrast zum Tod Estebans. Manuela gibt das Herz ihres Sohnes weg und

damit auch symbolhaft ihren Sohn als Ganzen, während die Mutter in der Hommage an Lorca

das Blut ihres Sohnes aufisst. In religiöser Verehrung will sie das Blut in einen Kristallbehälter

geben, Estebans Herz wird hingegen in eine blaue Kühlbox aus Plastik gegeben. In der

Kontrastierung erscheint die Organspende als Parodie des Stückes von Lorca.

das ist, in eine Monstranz von Kristall und Topasen wollte ich legen die vom Blut meines Sohnes getränkte Erde. (1:27-1:29)

Page 105: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

99

10. Resümee

Ausgangspunkt dieser Arbeit waren Beobachtungen zur ReProduktion von hegemonialen

Geschlechterstrukturen in medialen Kontexten. Das zentrale Interesse dieser Arbeit galt aber

nicht diesen ReProduktionen; vielmehr ging es darum, Möglichkeiten der Verschiebung und

Umgestaltung hegemonialer Geschlechterordnung auszuloten. Dazu sollten Filme des Queer

Cinema herangezogen werden, die Geschlecht und Begehren jenseits der hegemonialen

Ordnung thematisieren. Zumal Film und Fernsehen in unserer Gesellschaft einen wichtigen

Stellenwert einnehmen, ist die Pädagogik herausgefordert, sich mit diesen reflexiv auseinander

zu setzen.

Mit der Theorie der Subjektivierung und der weiterentwickelten Theorie der Performativität hat

Judith Butler Handlungsmöglichkeit thematisiert, die ein Eingeschlossen-Sein in ein

gesellschaftliches System aufgreift und innerhalb dieses Systems Möglichkeiten zur

Umgestaltung eröffnet. Diese Möglichkeit zu handeln besteht in der veränderten und

verändernden Wiederholung gesellschaftlicher Normen in Form von perFormativem

Widersprechen. Dabei werden nach Butler Forderungen gestellt, indem mit der Ausübung dieser

Forderung begonnen und hinterher ihre Legitimation gefordert wird. Gleichzeitig werden Lücken

sichtbar gemacht zwischen dem, was soziale Normen verlangen und denen die damit umgehen.

Diese Lücken mobilisieren, indem sie öffentlich gemacht werden.

Die heterosexuelle Matrix dient als Analysewerkzeug, mit dem Geschlecht als Zusammenspiel

von Körper, Identität und Begehren gesehen wird, die durch diskursive und nichtdiskursive

Mechanismen konstruiert und innerhalb dieser Mechanismen verändert werden können. Mit

diesem Werkzeug können Filme hinsichtlich einer Kontinuität von gesellschaftlich

geschlechtlichen Normen untersucht werden, in Bezug auf queere Filme konnten Mechanismen

der Herstellung von Geschlecht sichtbar gemacht und perFormative Verschiebungen benannt

werden. In der Analyse von Todo sobre mi madre konnte herausgearbeitet werden, dass

traditionelle Bilder von Familie, Frau und Mutterschaft aktualisiert wurden, um sie dann

perFormativ zu verschieben und umzudeuten. Die ´neuen´ Bilder sind unkonventionell,

individualistisch und veränderbar, sowohl in Bezug auf Körperlichkeit als auch auf

Identitätskonzepte. Verwandtschaftsbeziehungen wurden zu Wahlverwandtschaften

umgestaltet und bauen vor allem auf Freundschaftskonzepte auf, wie sich auch in anderen

Filmen des Queer Cinema beobachten lässt. Mit Silverman können Bilder als politische

Möglichkeit gesehen werden; über Mechanismen der Identifikation kann auch marginalisierten

Page 106: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

100

Subjekten Idealität gewährt werden. Dadurch lässt sich eine Veränderung des Bildrepertoires

einer Gesellschaft herbeiführen.

Um die spezifische Medialität von Film zu fassen, die in Butlers Konzept von PerFormativität

nicht expliziert gemacht wird, habe ich zunächst nach Stuard Hall ´Film´ als kommunikativen Akt

definiert, der in machtvolle Systeme eingeschlossen ist. Als kommunikativer Akt kann Film als

perFormative Handlung gefasst werden, auf deren spezielle Medialität Andrea Seier verweist.

Ich habe die von Seier entwickelte analytische Unterscheidung zwischen der Geschlechter-

Performativität und der medialen Ebene der Performativität aufgegriffen, die darauf

aufmerksam macht, dass im Film neben gesellschaftlichen auch filmisch-ästhetische

Konventionen aufgegriffen werden (müssen). Film umfasst nicht nur Sprache und Körper,

sondern arbeitet auch v.a. mit gesellschaftlichen Bildern und Musik und greift auf literarische

und filmische Konventionen zurück. In der Analyse von Todo sobre mi madre habe ich

insbesondere intertextuelle Bezüge fokussiert. Im Film werden Werke aus den 1950ern

aufgegriffen, und – wie herausgearbeitet werden konnte – ihre Bedeutungen in Bezug auf

Beziehungsstrukturen und Weiblichkeitsentwürfen verschoben, ebenso wie das Verhältnis von

Phantasie und Realität, von Performanz und perFormativem Handeln, neu verhandelt wird. In

der innerfilmischen Welt konnte ein Verwischen der Grenzen zwischen Realität und Fiktion

nachgezeichnet werden. Über die Doppelung der medialen Gesellschaft im Film (durch Film im

Film) und über Bezüge zur außerfilmischen Realität (Reale Plätze und Namen, historische

Ereignisse309) verwischen auch die Grenzen zwischen filmischer und außerfilmischer Realität.

Wenn Widerständiges, Verschiebungen als Bildungspotential analysiert werden sollen, müssen

nach Mecheril auch Ermöglichungsbedingungen reflektiert werden, unter welchen sich dieses

Potential aktualisieren kann. In Todo sobre mi madre finden die Verschiebungen in einer kleinen

Welt statt, in der hegemoniale gesellschaftliche Normen nur bedingt greifen: der Welt des

Theaters und der Großstadt Barcelona. Die Anonymität der Großstadt ist in vielen der neueren

queeren Filmen Ort der Handlung.

XXY spielt großteils in der abgeschiedenen familiären Umgebung, in der bewusst die

Entscheidung getroffen wurde, fern von der Meinung anderer zu leben. Der Vater ist in einem

unabhängigen Arbeitsverhältnis, in dem er zudem als Biologe die Möglichkeit hat, sich

intellektuell mit Abweichungen von der Norm auseinanderzusetzen.

309

Videla, argentinische Militär und Diktator wurde 1998 verhaftet, Manuela berichtet Rosa davon am Krankenbett.

Page 107: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

101

In anderen Filmen sind die Bedingungen für perFormatives Widersprechen nicht so günstig und

gelingen nur bedingt oder gar nicht. Als Beispiel dafür kann Ma vie en rose310 genannt werden.

Dort kleidet sich Ludo gern in Prinzessinnenkostümen, spielt mit Barbiepuppen und mag lange

Haare. Das Problem ist nur, dass Ludos „X für ein Mädchen in den Müllkübel gefallen ist“ und das

Kind „ein Y an dessen Stelle bekommen hat“311. Menschen mit XY-Chromosomen würden nach

dem in den Alltag eingegangenen medizinischen Diskurs als Jungen bezeichnet, und Jungen

sollten nicht im Prinzessinnenkostüm herumlaufen und andere Jungen heiraten wollen. Das

Problem spitzt sich zu, als Begehren thematisiert wird. Die Situation um Ludo dramatisiert sich,

als er_sie verkündet, sein_ihren Freund Jerome heiraten zu wollen und sich im Schultheater als

Schneewittchen vom Prinzen Jerome wachküssen lässt. Die Dissonanz zwischen dem, was sich

Ludo wünscht und dem, was von Ludo erwartet wird, führt im Film zu sozialer Ausgrenzung und

Ausschluss aus der Gesellschaft, in der die Familie bisher lebte. Ludos Normbruch wird

sanktioniert, indem der Familie die Existenzgrundlage entzogen wird: Ludo wird verprügelt und

von der Schule verwiesen, der Vater, der in einem abhängigen Arbeitsverhältnis zum Vater von

Jerome steht, verliert die Arbeit. Auch zu gesellschaftlichen Treffen des gutbürgerlichen Vororts,

den Geburtstagsfeiern, wird die Familie nicht mehr eingeladen. Als auch noch Schimpfwörter an

ihre Hauswand gesprüht werden, und Ludo einen Selbstmordversuch macht, zieht die Familie

aus dem Ort weg und beginnt anderswo ein neues Leben aufzubauen. Dabei wird angedeutet,

dass es dort möglicherweise gelingen kann, nicht den herkömmlichen Geschlechterrollen zu

entsprechen, indem d_ Nachbar_in Chris auftaucht, d_ scheinbar als Tomboy in der

Gemeinschaft akzeptiert ist. Der Film endet mit der Aussage des Vaters, Ludovic solle so sein

wie er sein möchte, Hauptsache er sei glücklich.

Mit Ma vie en rose können Bedingungen reflektiert werden, unter denen es nur schwer möglich

ist, perFormativ zu widersprechen und gesellschaftliche Sanktionen stark greifen. Die

gesellschaftliche Ordnung wird mit Gewalt wieder neu hergestellt auf Kosten der Ausgrenzung

einer ganzen Familie.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Queer Cinema Potential hat, der hegemonialen

Geschlechterordnung perFormativ zu widersprechen, wie vor allem am Beispiel Todo sobre mi

madre nachgezeichnet wurde. Indem bestimmte Rechte beansprucht werden, bestimmte

310

Ma vie en rose Mein Leben in Rosarot (FRA 1997) R: Alain Berliner, D: Alain Berliner & Chris Vander Stappen 311 „Um ein Baby zu bekommen, spielen die Eltern Poker, wenn einer gewinnt schickt Gott ein „X“ oder ein „Y“: XX für ein Mädchen und XY für einen Jungen, Mein X für ein Mädchen ist in den Mülleimer gefallen und ich bekam ein Y an seiner Stelle. Ein Fehler.“ So erklärt Ludo warum er_sie ein ´Jungenmädchen´ ist (MA VIE EN ROSE, 00:43 – 00:44)

Page 108: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

102

Lebensweisen und Familienstrukturen bevorzugt und wandelbare Identitäten und Körper

selbstverständlich gelebt werden, inszeniert der Film veränderte geschlechtliche Normen, die

über das Stück Un tranvía llamado deseo in Abgrenzung zu Vergangenem gestellt werden und

über ein Verwischen von Grenzen in Bezug zur (außerfilmischen) Realität hergestellt werden.

Auch XXY öffnet eine mögliche Zukunft, in der nicht zwischen zwei Geschlechtern gewählt

werden muss und stellt offen die Forderung, mehr als zwei Geschlechter und damit verbundene

Lebensweisen anzuerkennen. Wie diese gelingen kann, wird vor allem im familiären Kontext

nachskizziert, in der `Öffentlichkeit` bleibt es nur als Wunsch und Forderung angedeutet.

Für die Bedeutung Queeren Kinos gilt es nicht nur zu reflektieren, wie wiederholt und

widersprochen wird und dadurch verändert wird, sondern auch unter welchen Umständen

perFormatives Widersprechen in der innerfilmischen Realität gelingen kann, und welche Folgen

für die Beteiligten inszeniert werden.

Page 109: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

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11. Quellenverzeichnis

11.1. Literaturverzeichnis

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11.2. Filmverzeichnis

[Ohne Titel] (USA, 1895) Einminüter von W.K.L. Dickson

All about Eve (USA, 1950) R: Joseph L. Mankiewicz

A Streetcar Named Desire (USA, 1951) R: Elia Kazan, D: Oscar Saul & Tennessee Williams

Basic Instinct (USA/FRA, 1992) R: Paul Verhoeven

Boys don’t cry (USA, 1999) R: Kimberly Peirce

Edward II (GB, 1991) R: Derek Jarman

Fabulous! The Story of Queer Cinema (USA, 2006) R: Lisa Ades & Lesli Klainberg

Intimacy (GB, 2001), Patrice Chereau

Kurzfilme von Sadie Benning

La vita é bella (ITA, 1997) Roberto Begnini

Ma vie en rose (FRA/BAR/GB, 1997) R: Alain Berliner

Marokko (USA, 1930) R: Josef von Sternberg

R.S.V.P. (USA, 1991) R : Laurie Lynd

The celluloid closed (USA, 1995) R: Rob Epstein & Jeffrey Friedman

The Hours and Times (USA, 1991) R: Christopher Münch

The Living End (USA, 1992) R: Gregg Araki

Todo sobre mi madre (ESP/FRA 1999) R: Pedro Almodóvar

Swoon (USA, 1992) R: Tom Kalin

Page 115: PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema

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Va Savoir (FRA, 2001), Jacques Rivette

XXY (ARG/ESP/FRA 2007) R: Lucia Puenzo

11.3. Abbildungsverzeichnis

Abb. 01: Coverbild der DVD

Abb. 14: Filmplakat, online unter: http://www.soundonsight.org/all-about-my-mother/

(abgerufen im Februar 2012) bearbeitet von Martina Reiterer

Sequenzgrafik 1: erstellt von Martina Reiterer

Alle weiteren Abbildungen sind Screenshots aus dem Film Todo sobre mi madre ESP/FRA 1999,

R: Pedro Almodovar

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12. Anhang