I DIPLOMARBEIT zur Erlangung des akademischen Grades der Magistra der Philosophie PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema Wiederholung und Verschiebung hegemonialer Geschlechterkonstruktionen im Film Martina Reiterer eingereicht bei: Ao. Univ.-Prof. Dr. Ralser Michaela Leopold-Franzens-Universität Innsbruck Fakultät für Bildungswissenschaften März 2012
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I
DIPLOMARBEIT
zur Erlangung des akademischen Grades der Magistra der Philosophie
PerFormatives Widersprechen in Queer Cinema
Wiederholung und Verschiebung hegemonialer
Geschlechterkonstruktionen im Film
Martina Reiterer
eingereicht bei:
Ao. Univ.-Prof. Dr. Ralser Michaela
Leopold-Franzens-Universität Innsbruck
Fakultät für Bildungswissenschaften
März 2012
II
III
in gedænken
an meine mutter
IV
Vor_wort
Zur besseren Lesbarkeit des Ungewohnten an dieser Stelle eine kleine Einführung.
„Um die Illusion zweier sauber geschiedener Geschlechter aufrecht zu erhalten, kennt unsere Sprache nur
die zwei Artikel ´sie´ und ´er´ sowie die zwei darauf bezogenen Wortendungen, zumeist das weibliche
´...in´ und das männliche ´...er´. Alles, was außerhalb dieser Ordnung liegt, wird fortwährend verleugnet,
denn der Vorstellungshorizont unserer Sprache ist auf eine binäre Struktur eingegrenzt.“1
In meiner Arbeit, in der es um Leben, Begehren und Körper geht, die nicht den zwei
Geschlechtern zugeordnet werden wollen, möchte ich eine Möglichkeit finden, im System der
Sprache eine Veränderung zu perFormen. Dazu werde ich in Anlehnung an Steffen Kitty
Herrmann mit dem Unterstrich im Wort (Leser_in2) eine bipolare Geschlechtsmarkierung durch
eine kontinuierliche Vorstellung von Geschlecht in der Sprache anstreben. Der _ ist dabei eine
„Verräumlichung des Unmöglichen, des Unsichtbaren, ein Platz für alles, was sich zwischen den
rigiden Grenzen der Zweigeschlechtlichkeit tummelt“3. Hinsichtlich Artikel und Pronomen werde
ich ein ´d_´ und ein eher hilfloses ´sie_er´ verwenden, sowie in Anlehnung an Antke Engel4 die
Universalform ´man´ durch ´tran´ ersetzen, um dessen maskuline Konnotation aufzugeben. Die
Großschreibung im Wortinneren beispielsweise bei ´ReProduktion´ oder ´PerFormance´ soll eine
Untrennbarkeit und Gleichzeitigkeit mehrerer Dimensionen des Wortes zum Ausdruck bringen:
so ist jedes Reproduzieren zugleich ein Produzieren und umgekehrt, ebenso wie jedes
perFormen eine Wiederholung von Gegebenen und zugleich ein Formen ist und umgekehrt.5
1 Herrmann, 2003
2 Vgl. Lann Hornscheidt & Nduka-Agwu, 2010, S. 36-37
3 Herrmann, 2003
4 Vgl. Engel, 2009, S. 13
5 Vgl. Lann Hornscheidt & Nduka-Agwu, 2010, S. 27-28
V
Inhalt
1. EINLEITUNG 1
2. PÄDAGOGIK - SUBJEKT - MEDIEN 5
3. QUEER CINEMA 9
3.1. DER BEGRIFF QUEER 9
3.2. NEW QUEER CINEMA_ QUEER ALS COMMUNITY-BEGRIFF 11
3.3. QUEER CINEMA _ QUEER ALS THEORIE-BEGRIFF 13
4. DER SUBJEKTBEGRIFF 16
4.1. GESCHLECHTLICHE SUBJEKTIVIERUNG 18
4.2. DAS KONZEPT DER PERFORMATIVITÄT 25
5. HANDLUNGSMÖGLICHKEITEN & FILM 30
5.1. PERFORMATIVES WIDERSPRECHEN 31
5.2. ZUR SOZIALEN PRODUKTIVITÄT VON FILM 33
5.3. MEDIALE PERFORMATIVITÄT DES FILMS 35
6. FILMANALYSE 38
6.1. ANALYTISCHES VERFAHREN 39
6.2. BEGRIFFE DER FILMANALYSE 40
7. ANALYTISCHER TEIL: UNTERSUCHUNG DES FILMS TODO SOBRE MI MADRE 43
7.1. FILMDATEN 44
7.2. EINORDNUNG DES FILMS IN QUEER CINEMA 45
7.3. NARRATIONSSTRUKTUR: 47
7.4. PROTAGONIST_INNEN 55
7.5. FILMSTRUKTUR 57
7.6. ORTE DES FILMS 57
VI
8. PERFORMATIVE VERSCHIEBUNGEN SOZIALER KONVENTIONEN AM BEISPIEL DER
8.5. EXKURS: GESCHLECHTSKÖRPER UND –IDENTITÄT ZWISCHEN DEN GESCHLECHTERN IN XXY 75
9. PERFORMATIVE VERSCHIEBUNGEN VON INSZENIERUNGS- UND DARSTELLUNGSFORMEN
AM BEISPIEL INTERTEXTUELLER BEZÜGE 78
9.1. GENRE 80
9.2. FILM IM FILM 83
9.3. THEATER IM FILM 92
10. RESÜMEE 99
11. QUELLENVERZEICHNIS 103
11.1. LITERATURVERZEICHNIS 103
11.2. FILMVERZEICHNIS 108
11.3. ABBILDUNGSVERZEICHNIS 109
12. ANHANG 110
1
1. Einleitung
ALVARO: ¡Alex! ... Alex. Explícame. ¿Vos no sois...? ALEX. Soy las dos cosas.
ALVARO. Pero eso no puede ser.
ALEX. ¿Vos me vas a decir a mí qué es lo que puedo o no ser?6
„Ich bin beides.“ Alex, Hauptcharakter in Lucía Puenzos XXY7 ist Mann und Frau; mit dem
Einwand „Aber, das kann nicht sein“ drückt Álvaro das aus, was festgelegt und natürlich scheint:
Es gäbe zwei Geschlechter und jeder Mensch sei diesen zuordenbar. Das nicht zuordenbare
Dazwischen hat in diesen Normen keinen Platz, es ist begrifflich nicht wirklich fassbar und
´existiert´ dem Anschein nach nicht.
Das Interesse dieser Untersuchung liegt in der Herstellung, aber insbesondere in der
Verschiebung von geschlechtlichen Differenzverhältnissen im medialen Kontext Film.
Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass in Filmen, Fernsehserien oder Musikvideos Geschlecht
immer wieder als zentrale Kategorie auftaucht und dabei vorwiegend eine heterosexuelle
Geschlechterordnung und eindeutige Geschlechterrollen inszeniert werden. Es gibt aber auch
Filme, die sich dem entgegenstellen und hegemoniale geschlechtliche Normen in Frage stellen
und umformulieren. Alternative Formen von (Geschlechts)Identitäten, Subjekt,
Begehrensstrukturen werden thematisiert, Formen des Zusammenlebens und körperliche
UnEindeutigkeiten werden neu verhandelt und damit einer hegemonialen Geschlechterordnung
Alternativen entgegengestellt.
Wie und ob es mit diesen Filmen des Queer Cinema gelingen kann, hegemoniale
Geschlechterkonzepte aufzubrechen, dieser Frage soll in der vorliegenden Arbeit am Beispiel des
Spielfilms Todo sobre mi madre8 von Pedro Almodóvar nachgegangen werden.
Eine kritische Sozial- und Kulturwissenschaft ist daran interessiert, gesellschaftlich-soziale
Ungleichheiten aufzuzeigen und Handlungsmöglichkeiten und Gegendiskurse zu initiieren, die an
deren Abbau interessiert sind. Einen Blick auf Filme zu werfen, ist für eine auch in pädagogische
Diskurs- und Handlungszusammenhänge intervenieren wollende Forschung unter anderem
deshalb interessant, weil Filme Ausschnitte sozialer Wirklichkeit inszenieren und damit
6 ALVARO. Alex! ... Alex. Erkläre es mir. Du bist nicht…? ALEX. Ich bin beides. ALVARO. Aber, das ist
unmöglich. ALEX. Willst du mir erzählen, was sein und was nicht sein kann? (XXY, 2007, 00:57) 7 XXY, ARG 2007, R: Lucía Puenzo
8 Todo sobre mi madre – Alles über meine Mutter (ESP/FRA 1999) R: Pedro Almodóvar
2
verfügbar machen. Sie stellen sozialisierende Räume dar, in denen Selbst- und Fremd-
erfahrungen gemacht und agency-Möglichkeiten ausgelotet werden können.
Die (selbstgestellte) Aufgabe feministischer Wissenschaft ist es, den konzeptuellen Raum für das
Denken der Möglichkeit von effektivem sozialem Handeln, von Umdeutung und subversiver
Entfaltung zu schaffen9, um Veränderungen in der Gesellschaft herbeizuführen. Dieses
Wissenschaftsmodell will nicht nur beschreiben und analysieren, um ein Verständnis von der
Welt zu erlangen, in der wir uns befinden, sondern auch konstruktiv verändernd in
gesellschaftliche Verhältnisse eingreifen. Theoretische Einsichten sollen Werkzeug für
Möglichkeiten der Umgestaltung von gesellschaftlichen Verhältnissen bereitstellen. Ein
(post)feministischer Ansatz, der mir nützlich erscheint, einerseits Verstrickungen von Individuum
und Gesellschaft zu theoretisieren, und dabei gleichzeitig erlaubt, Überlegungen zu
Handlungsmöglichkeiten in Bezug auf Medien anzustellen, ist der diskurstheoretisch,
poststrukturalistische Ansatz von Judith Butler, der die theoretische Grundlage dieser Arbeit
darstellen wird.
Judith Butler fragt zunächst nach Prozessen der (geschlechtlichen) Subjektivierung, die den
vorherrschenden gesellschaftlichen Diskurs und die geschichtliche Positionierung ebenso wie
individuelle Erfahrungen und innerpsychische Prozesse einbeziehen. Kein Individuum ist von
Geburt an ein bestimmtes Subjekt oder hat irgendwann eine festgelegte, abgeschlossene
Identität; diese müssen in einem Prozess performativer Wiederholung und asymptotischer
Annäherung an ein Ideal andauernd neu hergestellt werden. Subjektpositionen sind in einen
gesellschaftlichen Diskurs eingebettet, in dem nur bestimmte Subjekte als solche anerkannt
werden, andere tummeln sich an den Rändern gesellschaftlicher Zugehörigkeit.
Die Möglichkeit etwas zu verändern, liegt für Butler jenseits der Alternative Determinismus-
Voluntarismus im Moment der veränderten Aufführung gesellschaftlicher Normen. In jeder
Wiederholung liegt zugleich die Möglichkeit perFormativen Widersprechens in Form von
Verschieben und Umgestalten dessen, was wiederholt wird.
Wie kann nun mit diesem theoretischen Werkzeug die Rolle der Medien erklärt werden, und
welche Aufgabe übernimmt Queer Cinema in diesem Zusammenhang? Um diese Frage zu
beantworten, werde ich das Konzept der PerFormativität auf Film beziehen und unter
Berücksichtigung der speziellen Medialität von Film die Unterscheidung von Andrea Seier
aufgreifen, die eine analytische Trennung zwischen Geschlechter-PerFormativität und medialer
9 Vgl. Benhabib, 1993
3
PerFormativität vorschlägt. Mit dieser Unterscheidung lässt sich eine agency-Funktion von Film
denken, die nicht ausschließlich auf die Intention von Individuen zurückzuführen ist.
Film und Fernsehen nehmen in unserer Gesellschaft einen immer wichtigeren Stellenwert ein.
Filme bieten Identifikationsmomente, adressieren bestimmte Subjektpositionen, wiederholen
und perFormen gesellschaftliche Normen und gestalten auf diese Weise mit, was
(gesellschaftlich) möglich ist und was nicht. Indem sie aber Normen wiederholen, gehe ich mit
dem Konzept der PerFormativität davon aus, dass sie auch potentiell eine gewisse Macht haben,
diese Normen zu reflektieren, verändert zu wiederholen und damit umzugestalten. Sie können
Identifikationsangebote machen, die auch ´Identitäten´ beinhalten, die gesellschaftlich
unsichtbar bleiben oder abgelehnt werden. Schließlich können Zuschauende potentiell als
Subjekte adressiert werden, die sich von den der Norm entsprechenden Anrufungen
unterscheiden.
Allerdings können Filme nicht alles einfach so ´verkehrt herum´ thematisieren, da sie, um für die
Rezipient_innen verständlich und interessant zu sein, wiederum auf Gekanntes zurückgreifen
müssen, d.h. auf Normen, Kontexte, die identifizierbar sind und die nicht zu weit entfernt von
der Lebenswelt der Adressat_innen sind. Filme greifen dabei auf inhaltliche, ästhetische und
formale Konvention zurück. Durch die impliziten oder expliziten Zensuren10 haben Filme einen
Rahmen, der Momente des Widerständigen mehr oder weniger ermöglicht oder verhindert.
Mein Fokus in der Analyse der Filme liegt auf geschlechtliche Normen und Subjektivierungen, da
ich davon ausgehe – und dies gleichzeitig problematisiere – dass Geschlecht eine wichtige und
primäre Subjektivierungsweise ist, die ein Individuum immer11 schon geschlechtlich in eine
binäre Ordnung einweist. Aktuell wie historisch wird ein enger Zusammenhang thematisiert
zwischen Geschlechtsidentität und medialer Inszenierung sowie zwischen medialer Produktion
von geschlechtlichen Differenzen und deren Aneignung durch die Zuschauenden.12 Trotz
gegenteiliger Erkenntnisse sowohl in geistes- als auch naturwissenschaftlicher Forschung wird
Geschlecht immer noch (oder wieder?13) naturalisiert; gleichzeitig wird damit ein
gesellschaftliches hierarchisches Ordnungssystem legitimiert, das Existenzweisen verhindert und
ausgegrenzt, die nicht in die hegemoniale Matrix passen.
10
Dazu zählen Reglementierungen, welche Inhalte gezeigt werden dürfen, Produktionsbedingungen und Ressourcen, aber auch gesellschaftliche Tabus, Sendezeiten,…. 11
von Geburt an und teilweise schon vor der Geburt 12
Vgl. Seier, Von >Frauen und Film< zu >Gender und Medium<?- Überlegungen zu Butlers Filmanalyse von Paris is burning, 2006, S. 81 13
Vgl. dazu beispielsweise den populärwissenschaftliche Ratgeber Warum Männer nicht zuhören und Frauen schlecht einparken von Allan und Barbara Pease
4
Um den Geschlechtsstereotypen nicht in Form von Beschreibungen noch mehr Raum zu geben,
werde ich in meiner Arbeit Filme des Queer Cinema untersuchen, die sich – zumindest potentiell
– gegen Festschreibungen von Geschlechternormen stellen und diese konstruktiv in Frage
stellen. In einer Analyse des Films Todo sobre mi madre14 von Pedro Almodóvar werde ich
herausarbeiten, welche gesellschaftliche Normen, die die Geschlechterordnung betreffen, wie in
Frage gestellt und verschoben werden.
Bezogen auf dieses Erkenntnisinteresse geht es einerseits darum, welche Film-Realität in Bezug
auf das von Butler entworfene Analyseraster der heterosexuellen Matrix entworfen wird; also
Normen, die sowohl Körperlichkeit, Indentitäts-Entwürfe als auch Beziehungsstrukturen
betreffen. Andererseits werde ich Verschiebungen im Film thematisieren, die in der medialen
PerFormativität des Films liegen. In Todo sobre mi madre werden dies vor allem intertextuelle
Bezüge auf Theater und Film sein.
14
Todo sobre mi Madre, ES/FRA 1999, R: Pedro Almodóvar
5
2. Pädagogik - Subjekt - Medien
Die Erziehungswissenschaft ist keine einheitliche Disziplin oder Denkrichtung, sondern zeichnet
sich durch vielfältige Subdisziplinen, Denkströmungen und sie anleitende politische Haltungen
aus. Pädagogische Konzepte sind immer in Bezug auf ihre Entstehungskontexte zu denken und
bleiben letztlich bezogen auf das Selbstverständnis, das eine Gesellschaft von sich hat. Dabei
antworten sie auf drei zum Teil widersprüchliche Anforderungen: auf die Forderung der
Gesellschaft nach Anpassung und Integration, den Wunsch nach ´verbessernder´ Veränderung
und den Anspruch der Individuen nach Anerkennung und zugleich nach Freiheit und
Selbstbestimmung.15
Mein Zugang zu den Erziehungswissenschaften ist durch den Studienschwerpunkt ´kritische
Geschlechter- und Sozialforschung´16 in einem Feld situiert, in dem Differenzverhältnisse im
Allgemeinen und Geschlechterverhältnisse im Besonderen in gesellschaftlichen
Zusammenhängen thematisiert werden. Geschlecht und Sexualität werden nicht einzig
hinsichtlich Subjektivität, Körper und intimer Beziehungen gedacht, sondern in Bezug gesetzt zu
geschichtlichen Regimen normativer Heterosexualität, zu rigider Zweigeschlechtlichkeit, zu
politischen und ökonomischen Machtverhältnissen. Kritische Pädagogik begreift Bildung über
deren personenbezogene Dimension hinaus immer auch als gesellschaftspolitisches Moment. Ihr
Ziel von Bildung ist, individuelle und gesellschaftliche Möglichkeiten der Emanzipation aus
ungerechten Verhältnissen zu erweitern.
Das in dieser Arbeit nachskizzierte Konzept der Subjektivierung ist eine mögliche Zugangsweise,
die eine Denkweise der Verstrickung von Individuum und Gesellschaft in dem Sinne ermöglicht,
dass vorherrschende gesellschaftliche Diskurse und die geschichtliche Positionierung ebenso wie
individuelle Erfahrungen und psychische Prozesse in die Subjektkonstituierung einbezogen
werden. Agency in Bezug auf ungerechte Verhältnisse kann dabei mit Judith Butler als
PerFormativität gedacht werden, die es erlaubt, Handlungsmächtigkeit und Täterschaft jenseits
der Alternative Determinismus-Voluntarismus zu denken.
Was bedeutet dies nun für pädagogische Zugänge? Das Konzept der Subjektivierung lässt keine
Gegenüberstellung von Pädagogik und gesellschaftlicher Machtverhältnisse mehr zu, sondern
begreift sie als aktiv beteiligt an der Produktion von Bedeutungen und deren Hinterfragen
ebenso wie an der Festschreibung hierarchischer Subjektpositionen oder deren Verschiebung.
15
vgl. Rendtorff, 2003, S. 183 16
Studium Erziehungswissenschaften mit Vertiefung im Studienzweig „kritische Geschlechter- und Sozialforschung“
6
Dem entsprechend kann die Aufgabe einer kritischen Pädagogik, die sich auf das Konzept der
Performativität beruft, mit Jutta Hartmann folgendermaßen formuliert werden: Sie ist
herausgefordert,
„in historischer und gegenwartsbezogener Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Selbstverständlichkeiten […] diskursive und nichtdiskursive Konstruktionsmechanismen von […] Identität sowie deren gesellschaftliche Funktionalität zu bearbeiten […]
- […]zu fragen, wie über individuelle und diskursive Konstruktionen hinaus Politik und Ökonomie Teil der Prozesse sind, die die Konstitution von […] Subjekten orchestrieren;
- eine Kunst des Lebens anzuregen, […] sich selbst über das Analysieren und Reflektieren normativer Grundlagen und eigener Grenzen sowie über deren experimentelles Wiederholen und spielerisches Überschreiten ´auszuarbeiten´ […]. “
17
Unter dieser Perspektive ist es Aufgabe der Pädagogik, Verstrickungen in gesellschaftlichen
Machtverhältnissen zu verstehen und zu reflektieren und eine „inhaltlich zurückgenommene[18]
Haltung von ´Kritik´“19 zu entwickeln. Dies geschieht auf mindestens zwei Ebenen: in der Selbst-
Reflexion der Disziplin ebenso wie in Bezug auf die Adressat_innen pädagogischer Kontexte.
Werden Erziehungs- und Bildungswirklichkeiten als inszeniert und symbolisch über die Situation
hinausweisend konzipiert, gilt ein perFormativitätstheoretischer Blick besonders symbolischen
Praxen dieser Wirklichkeiten. Darunter sind all jene Praxen zu verstehen, die die Funktion haben,
Zugehörigkeiten herzustellen, sie erfahrbar und benennbar zu machen; Inszenierungen, die den
Charakter von Gruppen, wie beispielsweise Familie oder Schulklassen konstituieren.20 Zugleich
markieren diese Praxen Nicht-Zugehörigkeiten und tragen so zur Herstellung von Verhältnissen
der Differenz bei. Für eine differenzkritische Pädagogik bietet sich vor allem ein Blick auf Spiele,
Rituale, sowie Praxen des Kind- und Jugendlich-Seins an. Das In-der-Welt-Sein wird als
Inszenierung verstanden.21 Aber auch Medien rücken in diesem Zusammenhang ins Blickfeld, da
sie – wie schon weiter oben angedeutet – sozialisierende Räume zur Verfügung stellen und mit
speziellen Mitteln Ausschnitte sozialer Wirklichkeit besonders hervorheben und inszenieren.
In Bezug auf die Adressat_innen pädagogischer Kontexte geht es darum Reflexionswerkzeug für
die Auseinandersetzung mit subjektiver, aber auch sozial-gesellschaftlicher Realität zur
Verfügung zu stellen, indem beispielsweise Konstruktionsmechanismen von Geschlecht und
Ethnie zum Gegenstand pädagogischer Auseinandersetzung gemacht werden, und Normen,
17
Hartmann, 2001, S. 79 18
Eine inhaltlich zurückgenommene Kritik formuliert ihre exakten Kriterien nicht positiv, um nicht in einer normativen Festlegung erneut Ausschlüsse zu produzieren. 19
Mecheril & Witsch, 2006, S. 12 20
Vgl. Hoffarth, 2009, S. 26 21
Vgl. dazu ebd. ; Wulf & Zirfas, 2007
7
Normalitätsvorstellungen, ebenso wie Identitätsannahmen produktiv irritiert werden. Wenn
Grenzen – seien es geschlechtliche, sexuelle, ethische, Grenzen sozialer Herkunft oder
körperlicher- und geistiger Unversehrtheit22 – als bewegliche anerkannt werden, öffnen sich
neue Gestaltungsmöglichkeiten von Subjektivitäten.23
Wie sind nun (audiovisuelle) Medien in diesem Prozess der Verstrickung von Individuen und
gesellschaftlichen Machtverhältnissen zu verorten? Medial vermittelte Lernprozesse sind
zunehmend Teil der Grundsozialisation des Menschen:
„Weil jeder Mensch von Geburt an in eine Informations- und Mediengesellschaft hineinwächst, wo sich die Sphären des Medialen und des Nicht-Medialen immer stärker gegenseitig durchdringen, sind Erziehungs- und Sozialisationsprozesse immer weniger ohne Bezug auf medial vermitteltes Verhalten zu denken.“
24
Bei der Analyse von Filmen geht es darum, Verstrickungen von Subjekten in machtvolle Diskurse
zu verstehen. Zudem kann einer medialen Welterschließung prinzipiell kreatives, reflexives und
widerständiges Potential zugeschrieben werden. In meiner Analyse werde ich einen besonderen
Fokus auf eben dieses Widerständige legen, das mit Mecheril et al. „als Bildungsmöglichkeit
[verstanden und] als Bildungsprozess untersucht“25 werden kann, wobei gleichzeitig reflektiert
werden muss, „aufgrund welcher Ermöglichungsbedingungen sich dieses Potential aktualisieren
kann.“26 Die Perspektive Performativität kann von der Medienpädagogik „für eine
erziehungswissenschaftliche Reflexion zunutze [ge]macht“ 27 werden, indem „pädagogische
Situationen, Handlungen und Konzepte, aber auch außerpädagogische […], so sie pädagogisch
relevant sind“28 reKonstruiert werden und dabei „diskursive Technologien der Inszenierung,
Praxen der Wiederholung bzw. Verschiebung von Machtverhältnissen“29 berücksichtigt werden.
Die vorliegende Untersuchung ist unter anderem für einen an Medien und
Differenzverhältnissen interessierten Zugang von Pädagogik von Bedeutung, als dass sie einen
22
Welche Differenzen wann aktiviert und relevant gemacht werden ist kontextabhängig. Das Überschneiden und Zusammenwirken von gesellschaftlichen Differenzstrukturen werden unter dem Stichwort Intersektionalität verhandelt. Dabei geht es um die Überkreuzung und Interpendenz verschiedener Ungleichheitskategorien wie insbesondere race, class, gender, desire, age, (dis)ability. In meiner Untersuchung geht es darum, allgemein ´Differenz´ als konstruiert und eingebunden in Machtstrukturen zu thematisieren und dabei Film als agency-Möglichkeit zu Untersuchen. In der Filmanalyse werden sex, gender und desire als Ungleichheits-kategorien in Bezug auf Geschlecht fokussiert. 23
vgl.Hartmann, 2001, S. 81 24
Moser, 2006, S. 32 25
Mecheril & Witsch, 2006, S. 14 26
Ebd. S.14 27
Ebd. S.13 28
Ebd. S.13 29
Hoffarth, 2009, S. 229
8
Film aufgreift, der sehr bekannt ist und für Filmische Bildung als relevant eingestuft wurde. Todo
sobre mi madre ist Teil eines Filmkanons von 35 Filmen, der auf Einladung der Bundeszentrale
für politische Bildung zusammengestellt wurde, um
„bedeutenden Werken der Filmgeschichte auch im Schulunterricht mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen und so der filmschulischen Bildung […] neuen Auftrieb zu geben.“
30
In der Analyse von Todo sobre mi madre wird es darum gehen, wie in Filmen
Konstruktionsmechanismen sichtbar gemacht und Normalität irritiert werden können, und
welchen Stellenwert Film potentiell in reflexiver Auseinandersetzung mit sozialer Wirklichkeit
haben kann. Der Film wird hinsichtlich der Inszenierung gesellschaftlicher Diskurse und Normen
untersucht; gleichzeitig werden mögliche Verschiebungen in Bezug auf die heterosexuelle Matrix
“There, suddenly, was a flock of films that were doing something new, renegotiating subjectivities, annexing whole genres, revising histories in their image […] They´re here, they´re queer, get hip to
them.”31
Was ist Queer Cinema? Wo sind die Filme einzuordnen, die vielversprechend neue
Geschlechtsentwürfe thematisieren? Den Begriff Queer Cinema (QC) zu bestimmen, ist nicht so
einfach, wie es auf den ersten Blick scheint. In meiner Recherche bin ich zunächst fast
ausschließlich auf „New Queer Cinema“ gestoßen32, einer zeitlich begrenzten Bewegung, eines
Momentes in der Filmgeschichte Anfang der neunziger Jahre. Aber wenn es ein Neues QC gibt,
muss es doch auch ein ´altes´ oder allgemeineres QC geben.
Um QC zu beschreiben, werde ich zunächst kurz die Entwicklung und Aneignung des Begriffes
queer darstellen, und zwar in seiner zweifachen Bedeutung: Als umbrella term für die queer
community und als theoretischen Begriff in der Queer Theory. Aus diesen unterschiedlichen
Bedeutungen von queer ergeben sich potentiell auch verschiedene Definitionen für QC. Zunächst
entstand der (engere) Begriff des ´New Queer Cinema´ etwa zeitgleich mit der Aneignung des
queer-Begriffs durch die community und eng eingebettet in dessen Kontext, sodass eine
Transformation in den Diskussionen der queer community in der Darstellungsform der Filme
nachvollziehbar ist. Fasst man den Begriff queer in eine durch die queer Theory mögliche
offenere Leseweise, können jenseits dieses historischen Momentes eine Vielzahl von Filmen zu
QC gezählt werden, nämlich all jene, die Brüche in der heteronormativen Begehrensstruktur
aufweisen.
3.1. Der Begriff Queer
Was der Begriff queer meint, hat sich in den letzten Jahrzehnten gewandelt. Ursprünglich kommt
er aus dem englischsprachigen Raum und bedeutet „eigenartig, komisch, seltsam, sonderbar,
suspekt, verdächtig, verrückt, verschroben, wunderlich, zweifelhaft.“33 Queer wurde lange als
Schimpfwort für schwule ´Männer´ benutzt und hatte in den 1950er, 60er Jahren bis hinein in
die 1980er eine pejorative Bedeutung. Im Rahmen der schwul-lesbisch politischen Bewegung in
31
Rich, 1992/2004, S. 15-16 32
Rich, New Queer Cinema, 1992/2004; Rich, Queer and the present danger, 2000; Aaron, New Queer Cinema, 2004; Brunner, 2008; Pick, 2004; Richardson, 2009 33
LEO Online Wörterbuch
10
den USA während der 1980er-90er Jahre wurde der Begriff als positive Selbstbezeichnung
angeeignet und galt nunmehr als Kürzel für die eigene „andere“ Identität, auf die man stolz
war.34 Queer steht hier für eine kämpferische politische Einstellung, für neue Allianz über
bisherige Gruppengrenzen hinweg, sodass queer ein umbrella term für nicht-heterosexuelle
Gruppen wurde und neben schwulen und lesbischen auch bisexuelle, transgender und
intersexuelle Personen integrierte. Queer versprach Minoritäten aufzunehmen und Hierarchien
und Abgrenzungen innerhalb der schwul-lesbischen Bewegung entlang von race und class
aufzuheben.
Innerhalb der Queer Theory hat der Begriff queer noch eine weitere komplexe Bedeutung, die
sich nicht mit der eben beschriebenen deckt35. Queer Theorie ist – folgt man Butler als einer
ihrer prominenten Vertreterin – eine politisch motivierte, theoretische Denkfigur, die jegliche
Identität problematisiert und diese Kritik politisch situiert. In diesem Zusammenhang ist queer
eine Strategie des Offenhaltens und der permanenten Auseinandersetzung um den Inhalt einer
Identität oder eines politischen Begriffs und somit auf Dauer gesetzte Uneindeutigkeit.36 In
Bezug auf das Konzept der Heteronormativität, das alle gesellschaftlichen Strukturen umfasst, ist
queer ein weit gefasster Begriff, mit dem alles bezeichnet werden kann, was nicht der Idee der
einen ´normalen´ Sexualität entspricht: Queer Theory sucht auf vielfältige Weise nach Brüchen in
der naturalisierten und heteronormativ organisierten Verbindung von sex, gender und desire.37
Im Unterschied zu queer als Community-Begriff, dem es um eine Eingliederung dessen geht, was
aus bestehenden Begriffen ausgeschlossen ist, geht es in der queer Theory darum „eine
Vorstellung von Differenz und Zukünftigkeit […] einzubringen, die eine unbekannte Zukunft
entwirft, eine die jenen Angst macht, die deren konventionelle Grenzen verteidigen wollen.“38
34
Butler diskutiert diese Bedeutungsverschiebung des Begriffs queer in Körper von Gewicht (S. 307-331) als eine politische Taktik der Resignifikation, einen subversiven Akt, im Zuge dessen aus einer Beleidigung, einem Schimpfwort, einer entwürdigenden Anrede (hate speech) eine positive Selbstbezeichnung gemacht wird. Ausführlicher dazu in Kapitel 4.3. 35
Zu der unterschiedlichen Verwendung von queer als Begriff der queer community und als Begriff der Queer Theory schreibt Skadi Loist (2006) in Queer Cinema - Der Versuch einer umfassenden Begriffsbestimmung. 36
Butler, Körper von Gewicht, 1997, S. 310ff 37
Vgl. Kapitel 3.3 dieser Arbeit 38
Butler, Hass spricht, 1998, S. 227
11
3.2. New Queer Cinema_ queer als Community-Begriff
Der Ausdruck “New Queer Cinema“ (NQC) wurde von der Filmjournalistin Ruby Rich im
gleichnamigen Artikel39 geprägt, in dem sie eine Häufung von queeren Filmen auf renommierten
Filmfestivals40 in der Saison 1991-1992 beschreibt. Einige dieser Filme sind Paul Verhoeven´s
Basic Instinct (1992), Derek Jarman´s Edward II (1991), Christopher Münch´s The Hours and
Times (1991), Tom Kalin´s Swoon (1992), Gregg Araki´s The Living End (1992) und Laurie Lynd´s
R.S.V.P. (1991). Dieser Kanon an Filmen macht sichtbar, dass NQC in einem kulturellen Moment
entstanden ist, in dem der Begriff queer salonfähig wurde: queer wurde als ´tolerierte´
Minderheitenposition abgelehnt, AIDS konnte nicht mehr ignoriert werden, und die
heterozentristische Empfindsamkeit von queerer Sichtbarkeit wurde herausgefordert. In diesem
Sinne war NQC nicht nur politisch, sondern sehr oft auch didaktisch.41 Die Filme benutzen kein
einheitliches ästhetisches Vokabular und keine gemeinsame Strategie42, sie kommen aus
unterschiedlichen Kino-Traditionen und wurden in unterschiedlichen Kulturen innerhalb der
westlichen Welt gemacht43. Trotzdem sind sie durch einen gemeinsamen Stil verbunden, den
Rich ´Homo Pomo´ nennt (homosexual postmodernism): In all diesen Filmen sind Spuren von
Aneignung, Pastiche und Ironie ebenso wie Spuren von historischen Revisionen zu finden. Sie
arbeiten mit eindeutig sozial-konstruktivistischem Ansatz und brechen mit alten Filmen der
schwul/lesbischen Identitätspolitik. Die Arbeiten seien “respektlos, energetisch, abwechselnd
minimalistisch und exzessiv“.44
Etwa ein Jahrzehnt später definiert Michele Aaron NQC als eine Gruppe von Filmen, die am
besten durch den Begriff defiance beschrieben werden können, was so viel heißt wie
Auflehnung, Missachtung, Trotz.45 Defiance sei nicht etwas, was die Filme charakterisiert, aber
es sei das, was sie queer macht. Diese Haltung operiert auf verschiedenen Ebenen:
NQC trotzt (a) den Rollen von akzeptierten Subjekten, die von der westlichen populären Kultur
vorgegeben sind und lässt (b) Marginalisierte auf eine Weise zu Wort kommen, die auf ein
positives Image verzichtet. Die Geschichte wird (c) nicht als unantastbar wertgeschätzt und
umgeschrieben, (d) Filmische Konventionen von Form, Inhalt und Genre werden missachtet.
39
Rich, New Queer Cinema, 1992/2004 40
Toronto´s Festival of Festivals, Gay and Lesbian Film Festival in Amsterdam, Sundance Film Festival in Park City 41
Richardson, 2009, S. 48 42
vgl. Rich, New Queer Cinema, 1992/2004, S. 16 43
vgl. Richardson, 2009, S. 49 44
Rich, New Queer Cinema, 1992/2004, S. 16 45
Aaron, New Queer Cinema: An Introduction, 2004
12
Schließlich trotzt (e) das NQC auf viele verschiedene Arten dem Tod, insbesondere in Bezug auf
AIDS.46
Aaron verweist darauf, dass NQC nur im Kontext von queer und seiner Entstehung als sozialer
Begriff verstanden werden kann. In diesem Sinne berücksichtigt seine Definition von NQC eine
Entwicklung in den Filmen, die die Diskussionen innerhalb der queer community vor allem in
folgenden Punkten mit einbezieht:
Die Filme des NQC lassen Marginalisierte zu Wort kommen. Dies geschieht nicht nur, indem
lesbisch-schwule Subkultur47 fokussiert wird, auch Untergruppen dieser community bekommen
eine Stimme. Hier spiegelt sich der Anspruch von queer wieder, dass ´Lesben´, ´People of Color´,
transgender Personen, ´Trans-´ und ´Intersexuelle´ repräsentierter Bestandteil der queer
community werden sollen. 48
Im NQC ändert sich die Herangehensweise von Repräsentationsformen: Es trotzt dem positive
imagery, das sich auf die Repräsentationspolitik der 70er-80er Jahre bezieht, wonach Figuren
möglichst positiv als `der nette Typ von nebenan` dargestellt werden sollten, um den negativen
Stereotypen des Classical Hollywood entgegenzuwirken. NQC erzählt gegen diese stereotypen
Einschränkungen der Darstellung seiner Charaktere auch Fehler und Verbrechen, wie
beispielsweise die Geschichte queerer Mörder in Swoon, 1992.49
Die Geschichte wird nicht als unantastbar wertgeschätzt, im Gegenteil, im Sinne von „rewriting
history“50 werden geschichtliche Ereignisse umgedeutet und umgeschrieben. „Man könnte […]
sagen, dass die Vergangenheit, die nicht mehr ist, aber gewesen ist gerade aus dem Grunde ihrer
Abwesenheit das Sagen der Erzählung fordert.“51 Im Geschichten neu und anders erzählen,
werden Erzählungen flexibilisiert und konkurrierende Lesearten eingebracht. Filme, die
(historische) Erzählungen umdeuten sind beispielsweise Edward II, in dem über König Edwards
homosexuelle Beziehung mit Gaveston erzählt wird, oder Boys don´t cry (1999), in dem eine
andere Geschichte über Teena Brandton erzählt wird als zum Zeitpunkt ihres Mordes in den
Medien verhandelt wurde.
46
Aaron, New Queer Cinema: An Introduction, 2004, S. 3-5 47
Anat Pick (2004) arbeitet heraus und kritisiert, dass - während queer idealerweise einen emanzipierten und potentiell grenzenlosen Bereich von sexuellen und sozialen Beziehungen signalisiert- die meisten Produkte, die Anfang der 90er Jahre als `neu´ & `queer´ identifiziert wurde, überwältigend männlich, weiß und mittelständisch sind und fordert nicht nur ein sichtbarmachen von Unsichtbarem (weibliche Sexualität) sondern mit Teresa de Lauretis ein Nachdenken über Blickregime. 48
Loist, Queer Cinema.Der Versuch einer umfassenden Begriffsbestimmung, 2006, S. 19 49
Vgl. Ebd.; Aaron, New Queer Cinema: An Introduction, 2004 50
Rich, New Queer Cinema, 1992/2004 51
Ricoeur, zitiert in Jörissen & Marotzki, 2009, S. 53
13
Filmische Konventionen von Form, Inhalt und Genre werden missachtet. Viele Filme des NQC
deuten Genres um oder mischen sie, was Rich als Aneignung von Genres bezeichnet. Auch
werden Gattungsgrenzen aufgehoben und beispielsweise Spielfilm und Dokumentation
gemischt. Als Beispiel für das Missachten von Filmischen Konventionen können die von Pick52
beschriebenen Kurzfilme von Sadie Benning genannt werden, die in der Tradition der Riot Grrrls
stehen.
Die Filme trotzen dem Tod vor allem in Bezug auf AIDS. NQC war stark beeinflusst von der
Strategie von ACTUP, welche das Verständnis von AIDS in der Öffentlichkeit verändern wollte,
weg von einer Stigmatisierung von infizierten Personen zu einem Bewusstsein von AIDS als
Pandemie. 53 Für die Darstellung im Film bedeutet dies, dass zwar die Krankheit symbolisch
dargestellt wurde, aber nicht mehr in Form von Körpern, die von AIDS zerstört sind.
3.3. Queer Cinema _ queer als Theorie-Begriff
Wenn ich nun New Queer Cinema als Ausgangspunkt nehme und mit dem von J. Butler
thematisierten queer Begriff der Queer Theory54 erweitere, eröffnet sich eine Definition, die QC
weiter fasst als das eben umrissene New Queer Cinema.
Queer als theoretischer Begriff richtet sich gegen Identität und identity politic zugunsten eines
offenen hybriden Identitätsbegriffs. Butler55 problematisiert Identity Politic als eine Variante von
Repräsentationspolitik, der ein totalisiertes Kollektiv-Subjekt vorgängig ist. Allerdings wird dieses
Subjekt erst durch die Repräsentation geschaffen.56 Als eine Antwort darauf werden im NQC den
Rollen von akzeptierten Subjekten getrotzt; es ist Teil von NQC, Marginalisierte zu Wort kommen
zu lassen.57 In der Queer Theory wird Ein- und Ausschluss konsequenter gedacht. Jede der
Identitätspolitik zu Grunde gelegte Kategorie muss potentielle Subjekte aus
Repräsentationsgründen ausschließen, was nicht einfach durch eine höhere Aufmerksamkeit
gegenüber den Achsen der Differenz gelöst werden kann: Nicht nur Differenzen zwischen den
52
Pick, 2004, S. 110-111 53
Richardson, 2009, S. 76-78 54
Ich verwende den Begriff Queer Theory in Bezug auf Butler als einer ihrer prominentesten Vertreterinnen, allerdings gibt es auch andere Zugänge zu Queer Theory 55
Vgl. die Abhandlung von Butler in Unbehagen der Geschlechter (1991) über identity politics der Frauenbewegung 56
Ausführlicher zu Butlers Kritik an Identitätspolitiken in Kapitel 4.1 57
Vgl. Aaron, New Queer Cinema: An Introduction, 2004, Loist, Queer Cinema.Der Versuch einer umfassenden Begriffsbestimmung, 2006, Richardson, 2009
14
Subjekten machen Identitätspolitik problematisch, sondern auch unlösbare Differenzen
innerhalb jedes Subjektes.
Diese Dilemma lässt sich auch nicht lösen, indem sich NQC gegen stereotype
Repräsentationsformen im positive imagery stellt, oder, wie Richardson beschreibt, durch
Gleichgültigkeit gegenüber political correctness. Wenn Repräsentation mit dem Konzept der
PerFormativität gedacht wird, werden ´Repräsentationen´ im Film zu Zitaten, die an
Bedeutungsproduktion und Wirklichkeitskonstruktion beteiligt sind. Welche Möglichkeiten
verändernd einzugreifen sich dadurch für QC ergeben, wird im Laufe der Untersuchung
thematisiert.
Filme des NQC nehmen Geschichte nicht als unantastbar und gegeben hin, sondern schreiben
vor allem homophobe Vergangenheit im Sinne einer ´rewriting history´ um.58 Durch das
Neuerzählen von (historischen) Erzählungen treten subversive Deutungsmuster in Widerstreit
mit hegemonialen Deutungen. Dadurch wird der Wahrheitsanspruch verhandelbar.
Ein weiteres Merkmal von NQC ist das Missachten filmischer Konventionen von Form, Genre und
Inhalt. Dies kann als kritisches Potential gedacht werden das darin besteht, Fixierungen zu
durchkreuzen. Wenn das Konzept der PerFormativität auf Film als Medium übertragen wird,
können diese Momente des Verschiebens von Konventionen als agency-Funktion gedacht
werden.
Im Anschluss an Foucault thematisiert Butler Geschlecht als regulierendes, Heterosexualität
privilegierendes Konstrukt. Die heterosexuelle Matrix, die gegenwärtig die Intelligibilität in den
meisten Gesellschaften bestimmt, stellt eine normierende Beziehung zwischen anatomischem
Geschlecht, sozialem Geschlecht und Begehren her. Queer Theory sucht nach Brüchen in diesen
normalisierten und naturalisierten Verbindungen. Zu Queer Cinema können alle Filme gezählt
werden, die in ihren Entstehungs- und Rezeptionskontexten mit Normen brechen, welche sich
auf die heterosexuelle Matrix beziehen: auf die Verbindung von sex, gender und desire. Nach
dieser Definition gibt es Queer Cinema seit es Film gibt. Als Beispiel führen Benshoff und Griffin
einen Kurzfilm von 1895 an, in dem W.K.L. Dickson in einem Einminüter zwei tanzende Männer
gefilmt hat. In diesem kleinen Film lassen sich Brüche in erwarteten Repräsentationsmustern
einer normativen Heterosexualität nachzeichnen und damit queere Filmkultur bereits in die
Geburtsstunde des Films ansiedeln.
58
Zur Geschichtlichkeit in NQC vgl. Aaron, New Queer Cinema: An Introduction, 2004, Rich, New Queer Cinema, 1992/2004
15
Exkurs: Eine kleine Geschichte des Queer Cinema59
Geschlechtertausch und Crossdressing waren beliebte Themen des queeren Kinos zu Beginn des
20. Jahrhunderts; in den 1920-30er Jahren spielten viele großen Diven zumindest temporär
einen Mann in den sog. Hosenrollenfilmen60. Als Beispiel kann Marokko61 genannt werden, in
dem Marlene Dietrich im Hosenanzug eine Frau küsst. Auch der aktivistische Film, der aufklären
will und sich gegen die Verfolgung von Homosexuellen einsetzt, ebenso wie der lesbische Film
geht zurück in die Zeit diese Zeit, wie Skadi Loist im Artikel ´Queer Cinema. Eine Kinogeschichte
zwischen den Kategorien´ herausarbeitet.
Allerdings wurde ab den 1930er Jahren in Hollywood eine Selbstzensur der Filmwirtschaft
eingeführt, der sog. Hays Code, der die moralischen Standards der Gesellschaft besonders
hinsichtlich Kriminalität und Sexualität sicherstellen sollte. Zunächst auf freiwilliger Basis wurden
ab 1934 bis 1967 Produktionsfirmen dazu verpflichtet, jegliche Darstellung von Intimität und
Sexualität zu tabuisieren, wie z. B. auch eine offene und positive Darstellung von Homosexuellen
oder »gemischtrassigen« Paaren.62 Eine offene Darstellung war also nicht mehr möglich; in
Nebenrollen wie in der Figur des effeminierten Mannes, der Sissys, des Mannweibs, der
Tomboys und der gefährlichen Buch-Lesbe, tauchten dennoch queere Gestalten auf. Diese
wurden oft als kranke Perverse dargestellt, die kuriert oder eliminiert werden mussten, sodass
am Ende der gewaltsame Tod oder Selbstmord stand.63
Vor allem in Untergrund- und Avantgarde-Filmen wurde seit Ende des Zweiten Weltkrieges mit
Hollywoodkonventionen und (sexuellen) Tabus gebrochen, bis schließlich Ende der 1960er Jahre
Feminismus, Bürgerrechtsbewegung, die freie Liebe der Hippies und die aufkeimende Schwulen-
und Lesbenbewegung Folgen zeigten und sowohl der Hays Code als auch verschiedene Gesetze,
die Homosexualität verboten, gelockert, bzw. aufgehoben wurden, und vermehrt Filme mit
queeren Inhalten sowohl in Europa als auch den USA hergestellt wurden. In den 1980er Jahren
entstanden im Rahmen der AIDS-Krise Bewegungen wie ACT UP, die Aktivismus und Politik um
den Begriff ´queer´ etablierten und einen stolzen Umgang mit Andersartigkeit propagierten, in
dem es nicht um Anpassung, sondern um Anerkennung von Ungleichheit und radikalem Bruch
mit Normen ging.64 Die daraus entstandenen Filme wurden 1992 von Ruby Rich als `New Queer
Cinema` bezeichnet.
59
Zum geschichtlichen Abriss vgl. Loist, Queer Cinema. Eine KInogeschichte zwischen den Kategorien, 2011 und die Filmdokumentationen The celluloid closed (USA, 1995) R: Rob Epstein & Jeffrey Friedman und Fabulous! The Story of Queer Cinema (USA, 2006) R: Lisa Ades & Lesli Klainberg. Letztere zwei beziehen sich allerdings ausschließlich auf US-amerikanische Filme. 60
Vgl. Loist, 2011, S. 29 61
Marokko (USA 1930) R: Josef von Sternberg 62
Vgl. Loist, 2011, S. 30 63
Vgl. ebd. S.30 64
Loist, 2006, S. 33
16
4. Der Subjektbegriff
„Bueno, lo que estaba diciendo, que cuesta mucho ser autentica, señoras. Y en estas cosas no hay que ser tacaña, porque
uno es más autentico, cuanto más se aparece a algo soñado de si mismo.” 65
In diesem Kapitel werde ich zunächst der Frage nachgehen, wie sich der Subjektbegriff seit dem
19. Jh. In Europa verschoben hat. Das ´Subjekt´ als Schlüsselkonzept der Kultur- und
Sozialwissenschaften des 20. und 21. Jahrhunderts versteht sich nicht mehr als Endpunkt einer
selbstgenügsamen Theorie, sondern will Werkzeug und Sensibilisierungsinstrument für
materiale Analysen sein.66 Eine Vertreterin dieser neuen Subjekttheorie ist Judith Butler. Wie
auch Foucault, gilt Butlers Interesse gilt den Mechanismen der Produktion einer bestimmten
Idee des Subjekts: einer Genealogie67, in der das Subjekt „die sprachliche Bedingung [der]
Existenz und Handlungsfähigkeit [des Individuums ist]“68. Dabei fokussiert sie geschlechtliche
Subjektivierung, was sie für meine Untersuchung besonders relevant macht. Butler geht von
einer Kritik an der Frauenbewegung aus, die ein vorgängiges Kollektiv-Subjekt Frau voraussetzt,
dieses in ihrer identity politic erst schafft. Butler arbeitet heraus, wie Geschlecht als
regulierendes, Heterosexualität privilegierendes Konstrukt funktioniert und thematisiert den
Zusammenhang von queeren Subjektpositionen und der Dekonstruktion normativer
Geschlechtermodelle, was für die Analyse von queeren Filmen in Bezug auf geschlechtliche
Differenzverhältnisse gewinnbringend sein wird.
Historischer Wandel des Subjektbegriffes
Andreas Reckwitz beschreibt in seiner Einführung in das Feld der Subjektanalyse einen
sogenannten theoretischen ´Tod´ dieses klassischen Subjektes und skizziert den Übergang vom
klassischen Subjektbegriff, bei dem das Subjekt im Zentrum steht, zu einer Subjekttheorie, in der
das Subjekt dezentriert wurde.69
65
AGRADO. Nun, wie gesagt, es kostet 'ne ganze Menge, authentisch zu sein. Und in diesen Sachen darf man nicht knausrig sein, denn jemand ist umso authentischer, je mehr er_sie dem Bild ähnelt, das er_sie von sich erträumt.“ (Todo sobre mi madre, 1:18-1:19, Übersetzung MR) 66
Vgl. Reckwitz, 2008, S. 10-11 67
Die Genealogiebe hauptet, dass Dinge „ohne Wesen sind oder ihr Wesen ein Stückwerk aus ihnen fremden Bedeutungen“ sei. (Foucault, zitiert in Villa, 2003, S. 43 das heißt auch Subjekte sind in dieser Denkweise nicht ontologische oder essentialistische Gegebenheiten, sondern immer schon Interpretation. 68
Butler, Psyche der Macht, 2001, S. 15 69
Vgl. Reckwitz, 2008, S. 5-22
17
Die klassische Subjektphilosophie geht auf Descartes „Ich denke also bin ich“ zurück. Mit
unterschiedlichen Variationen70 geht sie von der Grundannahme einer Autonomie des Subjektes
aus. Dieses erscheint als Ursprung des Denkprozesses, als Träger des Denkens, Fühlens,
Vorstellens und Erkennens. Es erkennt sich selbst als Ich, als transparente, selbstbestimmte
Instanz des Erkennens und Handelns. Ihm werden universale, allgemeingültige Eigenschaften
zugeschrieben, die in der Natur oder in der Vernunft begründet sind. Da in diesem Konzept
Subjekt-Sein mit Mensch-Sein einhergeht, kann der Subjektstatus auch bei abweichendem
Verhalten nicht entzogen werden.
Dieser Subjektbegriff gerät seit dem 19. Jahrhundert bei einer Reihe von Theoretiker_innen71 in
Kritik und wird in unterschiedlichen Konzepten dezentriert. Das Subjekt erweist sich in seiner
Form als abhängig von gesellschaftlich-kulturellen Strukturen und verliert dabei seinen
´transzendentalen´ Status72, seine universale Struktur: Es ist nicht ausgestattet mit
Eigenschaften, die ihm a priori zukommen. Das Interesse der ´neuen´ Subjektanalyse gilt den
historisch spezifischen gesellschaftlichen Ordnungen, kulturellen Praxen und Diskursen der
Subjektivierung.73 Diese werden unter dem Gesichtspunkt betrachtet, welche Formen des
Subjekts, des Körpers und der Psyche sie produzieren. Der Blick verschiebt sich: Statt ein
reflexives Subjekt vorauszusetzen, wird es als Produkt hochspezifischer kultureller
Subjektivierungsweisen sichtbar. Wenn das Subjekt nicht mehr mit Mensch-Sein gleichgesetzt
ist, und das Individuum sich den Subjektstatus ´erarbeiten´ muss, ist es auch immer dem Risiko
ausgesetzt, diesen seinen Subjektstatus zu verlieren. Die zentrale Forschungsfrage dieses neuen
Subjektkonzeptes lautet dann: „Welche Codes, Körperroutinen und Wunschstrukturen muss sich
der Einzelne einverleiben, um zum zurechenbaren, vor sich selber und anderen anerkannten
„Subjekt“ zu werden?“74
70
Reckwitz skizziert drei Zweige der klassischen Subjektphilosophie der frühen Moderne von 1600 bis 1800: Das Ich als unzweifelbaren reflexiven „cogito“ bei Descartes bis zum deutschen Idealismus (Kant, Fischte, Schelling); der vertragstheoretische Individualismus (Hobbes, Locke), der Gesellschaft als Produkt eigeninteressierter Individuen sieht und ein dritter Strang, der Subjekt primär als ein Selbst, als einen expressiven Kern der Selbstverwirklichung sieht (vgl. Reckwitz, 2008, S. 11-12). 71
Den es Foucault zufolge im post-kantianischen Disurs der Humanwissenschaften hatte Foucault, zitiert in Reckwitz, 2008, S. 13 73
Reckwitz, 2008 74
Ebd. S. 14
18
4.1. Geschlechtliche Subjektivierung
„Nichts im Menschen – noch nicht einmal sein Körper – ist ausreichend stabil, um als Basis der Selbsterkenntnis
und für das Verständnis anderer Menschen zu dienen.“75
Butlers Interesse gilt den Mechanismen, die Menschen als geschlechtliche Subjekte adressieren.
Sie geht nicht davon aus, dass es ein Subjekt ´an sich´ gibt, sondern dass dieses erst produziert
wird, beispielsweise in Theorie und Praxis von Bewegungspolitik. Ausgehend von einer
Problematisierung der Subjektherstellung im Rahmen von identity politic beschreibt sie zwei
Ebenen von Praxen der Subjektivierung, die sich wechselseitig bedingen: eine individuell-
subjektive und eine politisch-soziale Ebene. Sowohl Differenzen zwischen den Subjekten als auch
unlösbare Differenzen innerhalb eines jeden Subjektes machen Identitätspolitik problematisch.
Kritik an der identity politic
„Das feministische Subjekt erweist sich als genau durch dasjenige politische System diskursiv
konstituiert, das seine Emanzipation ermöglichen soll.“76 Mit dem politischen System ist die
identity politic gemeint, jene Strategie, die im Namen strukturell benachteiligter sozialer
Gruppen Politik macht: Politik von oder für ´Schwule´, ´Behinderte´, ´Frauen´, ´Alte´, ´Arbeiter´.
Denjenigen, in deren Namen man Politik betreibt, wird eine gemeinsame und naturalisierte77
Identität unterstellt.
Eine soziale Bewegung, die sich auf Frauen bezieht (Frauenbewegung, Feminismus), geht von
einem Kollektiv-Subjekt „Frau“ aus, das von der Bewegung repräsentiert wird. Die feministische
identity politics ist also eine Variante der Repräsentationspolitik: Die Bewegung repräsentiert ein
der Politik vorgängiges Subjekt. Das Subjekt dieser Politik sind nicht die konkreten Individuen
sondern ein imaginiertes Kollektivsubjekt, das erst durch die Bewegung selbst hergestellt wird
und sich dann als Rechtssubjekt materialisiert. Das wird dann zum Problem, wenn sich
75
Michel Foucault, Nietzsche, Geneology, and History, S.87, zitiert in Riki, 2006, S. 11 76
Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, 1991, S. 17 77
In diesem Zusammenhang ist eine Parallele zwischen der Geschichte der ´Frauen´-Bewegung und der ´Homosexuellen´-Bewegung aufschlussreich: Historisch gesehen ist Homosexualität erst seit dem 19. Jh. als solche benannt und strafbar (§175 im StGB), was nicht heißt, dass es homosexuelle Handlungen vorher nicht gab oder diese nicht auch als ´perverse Handlungen´ abgelehnt wurden. Um die Jahrhundertwende zum 20. Jh. wurden im Kampf gegen diesen Paragrafen Argumente aus dem Anomaliediskurs der damals entstandenen Sexualpathologie übernommen. Homosexualität wurde als natürlich stark gemacht, als angeboren und damit unpolitisch ausgewiesen um ´Homosexuelle´ zu entkriminalisieren. Auch in den 50er Jahren gab es zahlreiche Organisationen, die für die Entkriminalisierung von Homosexualität mit dem Argument einsetzten, diese sei biologisch angelegt und damit nicht selbst verschuldet, darf also nicht verfolgt und verurteilt werden. Sowohl die ´Frauen´-Bewegung als auch die ´Homosexuellen´-Bewegung ließen sich auf Diskurse von Wissenschaft und Politik ein, in denen sie mit Argumenten zur Natur von ´Homosexuellen´ und ´Frauen´ identifiziert wurden oder sich selbst damit identifizierten. (vgl. Degle, 2008, S. 45-46
19
herausstellt, dass das geschlechtliche Subjekt entlang von Herrschaftsmechanismen
hervorgebracht wird und sich durch Ausschlüsse herstellt, die jedoch, sobald es in Rechtsstruktur
und Politik etabliert ist, nicht mehr sichtbar und nachvollziehbar sind.78
Ein weiteres Problem liegt darin, dass Geschlechtsidentitäten in verschiedenen geschichtlichen
Kontexten nicht übereinstimmen und dass rassistische, ethnische, sexuelle, regionale und
klassenspezifische Modalitäten nicht einfach additiv zur Identität ´Frau´ dazugezählt werden
können, sondern sich diskursiv überschneiden. Die Geschlechtsidentität lässt sich nicht aus den
politischen und kulturellen Vernetzungen herauslösen, die Identität Frau ist immer eine je
spezifische, je nach politischen und räumlichen Kontexten, historischen Konstellationen,
individuellen biografischen Situationen. Diese Spezifität wurde von Frauen eingefordert, die sich
in der heterosexuellen, weißen, Mittelschichtsfrau der Frauenbewegung nicht wiedergefunden
haben. Nach Butler ist die reale Spezifität der jeweiligen Identität ´Frau´ womöglich so groß, dass
sie die angenommene Gemeinsamkeit der Frauen untergräbt und damit feministische Politik ad
absurdum führen könnte.79
Butler räumt dennoch ein, dass der Feminismus ´die Frauen´ braucht, um als politische Praxis zu
funktionieren, „aber er muss nicht wissen, ´wer´ sie sind“80.
Subjektivation
In folgendem Abschnitt soll der Frage nachgegangen werden, wie diese Produktion des Subjektes
funktioniert.
„Über Subjekt wird oft gesprochen, als sei es austauschbar mit ´Person´ oder ´Individuum´. […] Das Subjekt [ist] nicht mit dem Individuum gleichzusetzen, [sondern ist] die sprachliche Gelegenheit des Individuums, Verständlichkeit zu gewinnen und zu reproduzieren, also die sprachlichen Bedingungen seiner Existenz und Handlungsfähigkeit.“
81
Im Anschluss an Michel Foucault spricht Butler von ´Subjektivation´, ein Begriff, der „den Prozess
des Unterworfen-werdens durch Macht (…) und zugleich den Prozess der Subjektwerdung“82
bezeichnet. Dies beinhaltet ein Werden durch kontinuierliche perFormative Selbstarbeit und
Selbstpräsentation, mit der eine Unterwerfung unter Normen und Diskurse einhergeht.
78
Vgl. Butler, Körper von Gewicht, 1997, S. 21-22 79
vgl. Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, 1991, S. 18 80
Butler, zitiert in Villa, 2003, S. 41 81
Butler, Psyche der Macht, 2001, S. 15 82
Ebd. S. 8
20
Zugleich sind alle normativ als Ideal konstruierten Subjektvorstellungen realiter immer
Verfehlungen ausgesetzt, da sie als institutionalisierte Wunschvorstellung niemals ganz
erreichbar sind und sich in reellen Erfahrungen und nicht-diskursiven Praxen als brüchig,
inkohärent, widersprüchlich, prozesshaft und folglich als veränderbar erweisen.83 In diesem
Werden ´materialisieren´ sich Diskurse und werden real gelebt. Real sind wir also nicht ein
abstraktes Subjekt, d.h. eine ´Frau´, ein ´Schwuler´, eine ´Unternehmerin´ sondern ein konkretes
Jemand, zu dem wir durch Anrufungen in Form von Bezeichnungen oder Identitätskategorien
gemacht werden. Diese sind vor uns da und überdauern uns und führen gewissermaßen ein
Eigenleben.
Wie kommt es aber dazu? Wie funktioniert diese Formierung des Subjekts? Butler beschreibt
Praxen der Subjektivierung auf zwei Ebenen, welche aber nur analytisch trennbar sind und sich
wechselseitig bedingen: eine individuell-subjektive Ebene und eine politisch-soziale Ebene.
Anrufung-Umwendung
Zentral im Prozess der Subjektivierung ist die „Anrufung“, ein von Louis Althusser eingeführtes
Konzept: „die Anrede ruft das Subjekt ins Leben.“84 Durch das Angesprochen werden, wird d_
Angesprochene erst zu dem, als der er_sie angesprochen wird. Althusser beschreibt zur
Illustration eine gesellschaftliche Szene85, in der ein Passant durch das Gesetz (in Form eines
Polizisten) angerufen wird: „He, Sie da!“, sich umwendet und dadurch die Begriffe akzeptiert,
mit denen er angerufen wurde. Indem ein Mensch eine Anrufung auf sich bezieht, gliedert er
sich als Subjekt in die diskursive Ordnung ein. Der Mensch erkennt sich selbst über die Annahme
eines Titels, der ihm von einem anderen verliehen wird: „der Akt der Anerkennung wird zu
einem Akt der Konstitution“86 Die Subjektivierung erfolgt durch eine Objektivierung, durch die
Wahrnehmung von sich selbst in der dritten Person. Anrufungen operieren mittels
83
vgl. Villa, 2003, S. 63/Bröckling, Das Unternehmerische Selbst 84
Butler, Hass spricht, 1998, S. 34 85
„Man kann sich diese Anrufung nach dem Muster der einfachen und alltäglichen Anrufung durch einen Polizeibeamten vorstellen: "He, Sie da!". Angenommen die vorgestellte Szene spiele sich auf der Straße ab und das angerufene Individuum wendet sich um. Es wird durch diese einfache Wendung um 180 Grad zum Subjekt. Warum? Weil es damit anerkannt hat, daß der Anruf "sehr wohl" ihm galt und "niemand anders als es angerufen wurde". Wie durch Erfahrungen belegt, verfehlen diese praktischen Telekommunikationen der Anrufung praktisch niemals ihren Mann; sei es durch mündlichen Zuruf oder durch Pfeifen, der so angerufene weiß immer, daß er es ist, der gemeint war. Dies ist auf alle Fälle ein merkwürdiges Phänomen, das nicht allein durch ein "Schuldgefühl" erklärt werden kann, trotz der Vielzahl der Leute, die "sich etwas vorzuwerfen haben. (…) In Wirklichkeit spielt sich dies alles nicht in einer zeitlichen Aufeinanderfolge ab. Die Existenz der Ideologie und die Anrufung der Individuen als Subjekte ist ein und dasselbe.“ Althusser, 1970 86
Butler, Hass spricht, 1998, S. 34
21
Identitätskategorien: Personen werden in der Anrufung aufgefordert, eine spezifische Identität
anzunehmen. Dabei geht es nicht um eine Bestätigung einer gegebenen Identität, diese wird
durch die Anrufung erst hergestellt.
Der Prozess der Identitätskonstitution erfordert neben dem Akt der Anrufung auch die
Annahme, also die Aneignung des Namens durch das Individuum. Eine Person muss also auch
etwas tun, sie muss die Anrufung auf sich beziehen. Dieses Tun wird von Butler ´Umwendung´
genannt und ist selbst Teil der Subjektivation. Erst in der Annahme wird eine Identität
produziert. Durch die Umwendung erkennt der betreffende Mensch das Gesetz und dessen
Gültigkeit an; es ist ein Akt der Unterwerfung unter Normen. Dadurch wird er einerseits zu
einem Subjekt, das vom Gesetz zum Objekt gemacht werden kann, andererseits ist er auch
Subjekt des Gesetzes, auf das er pochen kann, wenn seine Rechte verletzt werden. Subjekt des
Gesetzes zu sein, bedeutet die Macht des Gesetzes über die eigene Person anzuerkennen. Die
Wendung zum Gesetz wird zwar nicht durch den Ruf erzwungen; dennoch übt sie mit dem
Versprechen auf Identität indirekt Zwang aus. Die Annahme der Normen ist die einzige Form,
sich selbst als Subjekt wahrzunehmen, beinhaltet aber immer auch Verwerfung des `Anderen`,
den Verlust möglicher anderer Existenzen. Sie verstrickt das Subjekt mit einer Macht, die es von
anderen Identitäten von vornherein abschneidet. Demnach ist das Subjekt nicht frei, d_ zu sein,
welche_r es sein möchte. Butler spricht aus diesem Grund von Umwendung als einen
ambivalenten Vorgang: einerseits ist es die einzige Möglichkeit des Ichs, der Selbst-
Wahrnehmung, gleichzeitig ist es ein Vorgang der Selbstunterjochung und
´Selbstverknechtung´.87
Das Problematische an der Funktionsweise der Identitätskategorien ist nach Butler ihre
zeitweilige Totalisierung: „Identitätskategorien haben niemals nur einen deskriptiven, sondern
immer auch einen normativen und damit ausschließenden Charakter.“88 Zumindest zeitweilig ist
ein Name alles, was man ist, und damit ist man immer etwas anderes nicht. Damit wird das Ich
zumindest vorläufig totalisiert. „Je spezifischer Identitäten werden, desto mehr wird eine
Identität eben durch diese Besonderheit totalisiert“.89 Subjektformierung ist damit ein Prozess
der Unsichtbarmachung. Unsichtbar gemacht wird, was man nicht ist und als das ´Andere´
verworfen wird; was aber gleichzeitig konstitutiv zu dem gehört, was man als Subjekt ist. So ist
eine ´Frau´ gleichzeitig ´Nicht-Mann´, wer sich als homosexuell outet, definiert sich zugleich als
nicht-heterosexuell, d_ ´Ausländer_in´ ist ´Nicht-Inländer_in´.
87
vgl. Butler, Psyche der Macht, 2001, S. 157-158 88
vgl. Butler, Kontingente Grundlagen: Der Feminismus und die Frage der "Postmoderne", 1993a, S. 49 89
Butler, Psyche der Macht, 2001, S. 96
22
Die Macht unterwirft Menschen und verwandelt sie gleichzeitig in Subjekte; um Subjekt sein zu
können, muss der Mensch folglich die Bedingungen seiner Unterwerfung annehmen, auch wenn
sie schmerzhaft für ihn sein sollten. Wenn der Subjektstatus dem Menschen zugesprochen wird,
wenn er sich in vorgeschriebener Weise gewissen Normen unterwirft, so kann er nach Butler
immer wieder dann entzogen werden, wenn ein Subjekt seine Handlungsmacht dazu benutzt,
die Normen in grundlegender Weise in Frage zu stellen. Gegenwärtig gibt es in der westlichen
Gesellschaft nur den anerkannten Subjektstatus90 als ´Mann´ oder ´Frau´. Jenseits dessen ist
kein Subjektstatus möglich, was zu schmerzhaften Anpassungen des Körpers durch medizinische
Normierung geführt hat und führt: es ist immer noch üblich, den Körper intersexueller
Menschen in dieses duale Körperbild einzupassen, wie dies auch im Film XXY91 thematisiert wird.
Für eine Personenstandsänderung müssen transgender Menschen medizinische Anpassungen an
das gewünschte Geschlecht nachweisen oder ein psychologisches Gutachten einholen.
Auf politisch-sozialer Ebene werden nur bestimmte Subjekte als legitim anerkannt. Wer oder
was als intelligibel, eben als gesellschaftlich integrierbar gilt, ist historisch verschieden und bleibt
im Wandel. In der Schaffung von spezifischen Bedingungen, wer oder wie ein Subjekt sein muss,
um als ein solches anerkannt zu werden, manifestiert sich für Butler die Macht der Diskurse92.
Diese gehen den Subjekten voraus und überdauern diese und materialisieren sich in Form von
Institutionen, Gesetzen, sozialen Codes. Sie sind eine soziale Struktur der Macht, die
mitbestimmend sind, wenn es darum geht, Anrufungen anzunehmen oder abzulehnen. Einem
Baby wird gleich nach der Geburt der Titel ´Mädchen´ oder ´Junge´ und ein Eigenname93
zugewiesen; damit werden Bedingungen der Möglichkeit sein_ihrer sozialen Lebensfähigkeit,
sein_ihres Subjektstatus geschaffen; bevor das Kind sich fragen kann, wer es ist oder sein kann,
ist es schon längst ein Subjekt.
90
Dennoch gibt es anerkannte Subjektstatus zwischen den Geschlechtern: Hijras in Indien (drittes Geschlecht), Fa´afafine in Polynesien (Mann, der als Frau lebt) 91
XXY (ARG/FRA/ESP 2007) R: Lucía Puenzo 92
Butler (1993) benutzt den Diskursbegriff im Foucaultschen Sinne: „dieser Diskursbegriff ist zu unterscheiden von geschriebener und gesprochener >Rede< und von Formen der Darstellung und Bedeutungskonstruktion. Der Diskurs über Subjekte (…) ist für die gelebte und aktuelle Erfahrung eines solchen Subjekts konstitutiv, weil ein solcher Diskurs nicht nur über Subjekte berichtet, sondern die Möglichkeiten artikuliert, in denen Subjekte Intelligibilität erreichen, und das heißt, in denen sie überhaupt zum Vorschein kommen.“(Butler, Für ein sorgfältiges Lesen, 1993b, S. 132) 93
Das deutsche Namens- und Personenstandsrecht verpflichtet Bundesbürger_innen dazu, sich als männlich oder weiblich einzuordnen und eindeutig männliche oder weibliche Vornamen zu tragen.
23
Durch Überschneidungen und die Koexistenz verschiedener diskursiver Anrufungen entstehen
neue Anforderungen, bzw. werden sie in neue Kontexte gestellt, sodass Möglichkeiten des
Wandels, der Subversion und Veränderung den Diskursen selbst immanent ist.94
„Als gesellschaftlich spezifische Organisationsformen der Sprache präsentieren sich Diskurse im Plural, sofern sie im zeitlichen Rahmen koexistieren […] und ungewollte Überschneidungen instituieren, aus denen spezifische Modalitäten diskursiver Möglichkeiten erzeugt werden.“
95
Allerdings müssen sie immer auch als in einem System kultureller Normen lesbar gedacht
werden, und sind deshalb damit nicht beliebig offen. Es geht nicht darum, jede Möglichkeit als
Möglichkeit zu feiern, sondern diejenigen umzugestalten, die bereits existieren, wenn auch in
Randbereichen des Intelligiblen bzw. die als unintelligibel und unmöglich gelten.96
Diskursive Rahmung des Geschlechts(-Körpers)
Was hat der Körper mit Subjektivierung zu tun? Nach Judith Butler ist Körper nicht einfach
etwas, was man hat oder was man ist, sondern ein Repertoire von Möglichkeiten, von denen nur
jene lebensfähig sind, die in ein System von kulturellen Normen integrierbar sind.97 Die
mittlerweile etablierte Unterscheidung von sex als anatomisches Geschlecht und gender als
soziales Geschlecht weist Butler zurück mit dem Argument, der Zugriff auf den Körper an sich ist
nicht möglich, auch sex ist immer schon kulturell im Diskurs vorgeformt. Es gibt keine biologische
Zweigeschlechtlichkeit, die der diskursiven Konstruktion des Geschlechtes vorausgeht:98 Körper
wird in seiner geschlechtlichen Materialität erst durch in der jeweiligen Kultur lesbare Zeichen
interpretierbar, dadurch werden Möglichkeiten geschlechtlicher Identität eröffnet oder
verschlossen. Zugleich entzieht sich das biologische Geschlecht (sex) der Sprache und ist
´unverfügbar´. Geschlecht und Begehren sind zwei jener „Norm[en], die die Materialisierung von
Körpern regier[en].“99 Ein Körper ohne Geschlechtszuordnung ist unmöglich; geschlechtliche
Konstruktionen sind lebenswichtig, da der Mensch darauf angewiesen ist, um überhaupt etwas
zu sein und Identität ausbilden zu können. Die Bildung eines Subjekts verlangt eine
Identifizierung mit dem normativen Phantasma des ´Geschlechts´. Diese Identifizierung kann nur
stattfinden, indem alle ´nicht lebbaren´, ´unbewohnbaren´ Zonen des sozialen Lebens abgelehnt
94
Vgl. dazu den Begriff der Différance bei Derrida 95
Butler, Körper von Gewicht, 1997, S. 212 96
Vgl. Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, 1991, S. 218 97
Vgl. Butler, Körper von Gewicht, 1997, S. 22ff 98
Vgl. Haraway , 1992 und Butler, 1993 99
Butler, Körper von Gewicht, 1997, S. 23
24
werden100. Ein Individuum jenseits dieser als natürlich und alternativlos geltenden Ordnung wird
wie weiter oben beschrieben als veränderungsbedürftig, pathologisch, als nicht intelligibel
zurückgewiesen.
Zur Analyse des diskursiven Rahmens, in dem Intelligibles und Verwerfliches hergestellt wird,
entwickelt Butler das Konzept der heterosexuellen Matrix, die der hegemoniale geschlechtliche
Regulierungsmechanismus in der modernen, westlichen Gesellschaft ist.
Das, was als ´das Geschlecht´ bezeichnet wird, umfasst aber weit mehr als den
Geschlechtskörper. Butler arbeitet eine Verbindung zwischen anatomischem Geschlecht (sex),
sozialem Geschlecht (gender) und heterosexuellem Begehren (desire) heraus; wenn die
Kontinuität zwischen sex-gender-desire aufrechterhalten wird, kann nach Butler von intelligiblen
Geschlechtsidentitäten gesprochen werden.
„Geschlechter-Ontologen [fungieren] in einem etablierten, politischen Kontext stets als normative Anweisungen, die festlegen, was als intelligibles Geschlecht gelten kann, die die Fortpflanzungszwänge der Sexualität aufrufen und festigen und die Vorschriften aufstellen, die die sexuell oder geschlechtlich bestimmten Körper (sexed or gendered bodies) erfüllen müssen, um ihre kulturelle Intelligibilität zu erlangen.“
101
Ein Subjekt ist also intelligibel, wenn er oder sie eindeutig einem Geschlecht zuordenbar ist, also
eindeutig Mann oder Frau ist: Diese Eindeutigkeit beinhaltet, dass eine ´Frau´ einen ´weiblichen
Körper´102 hat, sich nach weiblichen Geschlechts-Normen verhält und einen Mann begehrt, oder
ein ´Mann´, der einen ´männlichen Körper´und eine ´männliche Geschlechtsidentität´ hat und
eine ´Frau´ begehrt. Die einzelnen Ebenen dieser Matrix stabilisieren sich wechselseitig, und
indem alle ´Anderen´ ausgeschlossen werden, die der Norm der Intelligibilität widersprechen.
Das sind alle Existenzweisen, in denen sich sex und gender nicht entsprechen oder deren
Begehrensstruktur nicht heterosexuell ist, also ´Homosexuelle´, ´Intersexuelle´, ´Transvestiten´
und all jene, die sich nicht den etablierten Regeln einer von geschlechtlicher Bipolarität bei
gleichzeitiger Heterosexualität gekennzeichneten Gesellschaft fügen.
100
Vgl. Butler, Körper von Gewicht, 1997, S. 23 101
Ebd. S. 217 102
Einen Körper, der zu dem historischen Zeitpunkt vom wissenschaftlich-medizinischen Diskurs als weiblich definiert wurde. Die Diskussion um Mokgadi Caster Semenya nach dem Sieg bei der Leichtatletik-Weltmeisterschaft in Berlin 2009 zeigt, dass auch das anatomische Geschlecht im öffentlichen Diskurs verhandelt wird. Der Leichtatletikverband ordnete nach ihrem Sieg Tests zur Überprüfung des Geschlechts an und Mokgadi Caster Semenya wurden für ein Jahr für den Wettkampf gesperrt, bis sie im Sommer 2010 die uneingeschränkte Wettkampf-Erlaubnis als Frau bekam.
25
4.2. Das Konzept der PerFormativität
„Wie kann man von einem Diskurs konstituiert sein,
ohne von ihm gänzlich determiniert zu sein?“ 103
So die Frage von Seyla Benhabib an Judith Butler in ´Streit um Differenz´. Wie kann Agency in
diesem Konzept der Subjektivierung gedacht werden, in dem es kein autonomes, intentionales
Subjekt mehr gibt? Und wie kann in diesem Zusammenhang Film gedacht werden? Butler
antwortet auf die Frage Benhabibs auf zwei Ebenen: zum einen entwickelt sie den Begriff des
´postsouveränen Subjekts´, das im Bewusstsein agiert, dass es weder völlig autonom noch völlig
determiniert ist. Zum anderen deutet sie Handlungsmächtigkeit104 (agency) im Konzept der
PerFormativität um: Handlungsmächtigkeit ist nicht willentliche Absicht eines autonomen
Individuums, sondern in der Verstrickung von Subjekt und diskursiven Strukturen in der
perFormativen Wiederholung angesiedelt. Als subjektanalytischer Schlüsselbegriff liefert
PerFormativität eine Erklärung, wie sich Diskurse materialisieren, und wie es möglich ist,
trotzdem politisch tätig zu werden mit dem Ziel, eine Transformation des gesellschaftlichen
Normengefüges herbeizuführen. Das Konzept der PerFormativität entwickelt Judith Butler in
Anlehnung an John L. Austins Sprechakttheorie, ebenso wie Jacques Derridas Konzept der
In Bezug auf die Wirkmächtigkeit von Sprache unterscheidet John L. Austin zwei Formen von
Sprechakten: perlokutionäre Äußerungen und illokutionäre performative Äußerungen. 105
Perlokutionäre Sprechakte oder konstative Äußerungen beschreiben einen bestimmten
Sachverhalt oder behaupten Tatsachen. Sie sind entweder wahr oder falsch, das bedeutet, eine
Aussage kann einen Effekt hervorrufen oder auch nicht. Dies zeigt sich erst nach der Aussage.
Sprache und Handlung stehen in einem Wirkungszusammenhang, dieser ist jedoch nicht durch
ein Gesetz legitimiert.106 Performative Äußerungen hingegen vollziehen die Handlung, die sie
benennen: über den Akt der Äußerung wird ein sozialer Tatbestand erst produziert. So wird mit
dem „Ich taufe Dich auf den Namen …“ der Akt der Namensgebung ausgeführt. Es werden
Handlungen vollzogen, Tatsachen geschaffen und Identitäten gesetzt. In diesem Sinne können
Aussagen nicht wahr oder falsch sein, jedoch gelingen oder fehlschlagen: Sie müssen in Form
103
Benhabib, 1993, S. 109 104
Den Begriff Handlungsmächtigkeit benutzt Villa im Einführungswerk zu Judith Butler Villa, 2003 105
Vgl. Austin in Butler, Hass spricht, 1998, S. 11 106
Vgl. ebd.
26
eines Rituals oder einer Zeremonie auftreten, um wirkungsmächtig zu werden. Gelingende
Aussagen müssen in der Zeit wiederholbar sein und damit ein Wirkungsfeld aufrechterhalten,
das sich nicht auf den Augenblick der Äußerung beschränkt, sondern auf eine Geschichtlichkeit
verweist.
Butler bezieht sich auf die perFormative Dimension eines Sprechaktes, welche argumentiert,
dass Sprechakte das erzeugen, was sie äußern, indem die Äußerung durchgeführt wird: „Die
Bedeutung (meaning) der performativen Handlung liegt […] genau darin, dass Bezeichnung und
Ausführung zusammenfallen“107 Diskurse sind für Butler perFormativ in der Weise, in der sie
realitätserzeugend sind. Allerdings funktionieren nicht alle Diskurse automatisch als
PerFormative. Die Wirkung ist einerseits abhängig vom Kontext, in dem gesprochen wird, zum
anderen spielt der Status d_ Sprechenden eine entscheidende Rolle hinsichtlich der materiellen
Wirkung von Äußerungen. So ist eine Richterin Kraft ihres Amtes berechtigt jemanden für
schuldig zu erklären, ein Gärtner aber nicht.
Iterabilität - Zitat mit Bedeutungsverschiebung
Um zu analysieren, wie Macht durch Diskurse ausgeübt wird, die unmittelbar prägend sind für
das, was unter Realität verstanden wird, also die Macht der perFormativen Äußerung zu
erklären, stützt sich Butler auf Jacques Derridas Ausführung zur Iterabilität108: Eine perFormative
Äußerung könne nur gelingen, wenn sie eine andere dafür geeignete, codierte Äußerung
wiederhole und sich so zu einem Zitat derselben macht. Jedes sprachliche, geschriebene oder
gesprochene Element oder Zeichen müsse reiterierbar, d.h. wiederholbar und zitierbar sein, um
verstanden zu werden. Keine perFormative Äußerung könne gelingen,
“wenn ihre Formulierung nicht eine 'codierte' oder iterierbare Äußerung wiederholte, mit anderen Worten, wenn die Formel, die ich ausspreche, um eine Sitzung zu eröffnen, ein Schiff oder eine Ehe vom Stapel laufen zu lassen, nicht einem iterierbaren Muster konform, wenn sie also nicht in gewisser Weise als 'Zitat' identifizierbar wäre."
109
Mit Hilfe des Zitats koppelt Derrida die Bedeutung einer Aussage nicht an eine Person, sondern
an das Zeichen selbst. Sinn ist nur möglich, weil es ein vorgängiges System, einen ´Text´ gibt, in
dem ein Rückgriff auf Zeichen unabhängig von den Sprechenden möglich ist. Dabei umfasst
107
Butler, Hass spricht, 1998, S. 68 108
Iteration bedeutet einerseits Wiederholung und Verdoppelung eines sprachlichen Ausdrucks (Rhetorik), gleichzeitig wird der Begriff in der Mathematik verwendet, für ein Verfahren der schrittweisen Annäherung an eine exakte Lösung. In dieser doppelten Bedeutung des Wortes ist also das zitieren enthalten, aber gleichzeitig ist jede Wiederholung nur eine Annäherung, nicht aber exakt identisch mit dem Original. 109
Derrida, 1976, S. 150
27
´Text´ alles: „Die Rede ist ein Text, die Geste ist ein Text, die Realität ist ein Text.“110 Die
Wiederholbarkeit des Zeichens erschöpft sich allerdings nicht in der bloßen Reproduktion oder
einfachen Wiederholung desselben. Vielmehr verbindet Derrida Wiederholung mit Andersheit.
In der Wiederholbarkeit wird das Zeichen zum Zeichen, in der konkreten Wiederholung wird es
wieder mit einem neuen Kontext verknüpft und verändert sich dabei. Es ist niemals möglich,
eine Äußerung zweimal in derselben Weise zu wiederholen, weil der Kontext sich nicht fixieren
lässt. Somit sind alle Markierungen und Äußerungen potentiellem Misslingen ausgesetzt, der
Bruch (force de rupture) mit dem Kontext ist bei Derrida notwendiges Strukturmerkmal jeder
Äußerung.111 Indem es bei Derrida keine feste Bedeutung mehr gibt, verdanken die Zeichen ihre
Bedeutung allein der Möglichkeit ihrer Wiederholung und sind deshalb einem stetigen
Resignifikationsprozess unterworfen, welchen Derrida mit différance112 bezeichnet. Aus ihrer
Dekontextualisierung und ihrer Fähigkeit, neue Kontexte an sich zu ziehen, leitet sich für Derrida
die Kraft der performativen Äußerung ab. Während Austin die Konventionen, die notwendig
sind, damit eine performative Äußerung funktioniert, mit ´Ritual´ und ´Zeremonie´ verbindet,
wandelt Derrida sie vollständig in sprachliche ´Iterierbarkeit´.113
Butler durchdenkt Iterabilität als gesellschaftliche Logik; dabei stellt sich das Problem, dass
bestimmte Äußerungen schneller, andere aber nicht so einfach mit früheren Kontexten brechen.
So erzielen beispielsweise Begriffe des hate speech114 ihre verletzende Wirkung durch das
Aufrufen eben dieser Kontexte.115 Derrida hat die Wiederholungsfunktion von Äußerungen nicht
auf gesellschaftliche Begebenheiten bezogen. Daher ist es zum Teil schwierig, das Konzept für
eine Gesellschaftsanalyse heranzuziehen. Dennoch bietet Derridas Formulierung die
Möglichkeit, „Performativität in Verbindung mit Transformation zu denken, mit dem Bruch mit
früheren Kontexten, der Möglichkeit, Kontexte zu inaugurieren, die erst noch wirklich werden
müssen.“116
110
Derrida,1987, zitiert in Plößer, 2005, S. 30 111
Vgl. Butler, Hass spricht, 1998, S. 209, 212 112
Différance: ist eine Wortschöpfung, Wortverschiebung von Derrida: er nimmt den Begriff Différence, der Verschieden, Different heißt und verändert in der Wiederholung einen Buchstaben und schafft damit einen Verweis auf unablässige Verschiebung von Bedeutungen in der Wiederholung. 113
Vgl. Butler, Hass spricht, 1998, S. 212-213 114
Hassrede, z.B. „Kanacke“, „Krüppel“. Butler schreibt zur Selbstaneignung solcher Begriffe des hate speech in Bewegungskontexten (Krüppelbewegung, Kanack attack), in denen doch ein Bruch mit Kontexten funktionieren kann. 115
Butler untersucht dies in „Hass spricht“, 1998 116
Butler, Hass spricht, 1998, S. 214-215
28
Habitus - Zitatenkette auf der Ebene des Körpers
Als einen mehr gesellschaftsanalytischen Zugang zieht Butler das Habitus-Konzept von Pierre
Bourdieu heran, mit dem ReProduktion von (Körper)Wissen erklärt wird und verbindet es mit
der perFormativen Äußerung, womit auch Veränderung und ein Außen der Intelligibilität
gedacht werden können.
Die Habitustheorie von Bourdieu ist eine Theorie des Körperwissens. Der Körper wird als Ort und
Speicher einer sedimentierten Sozial- und Individualgeschichte gesehen, die in die körperliche
Hexis eingelagert und damit nicht so ohne weiteres ablegbar ist und in Ritualen des Alltags wird
immer wieder hergestellt wird. Dabei handelt der Körper
„nicht nur in Übereinstimmung mit bestimmten geregelten und ritualisierten Praktiken […], er ist selbst diese sedimentierte rituelle Aktivität, sein Handeln ist in diesem Sinn eine Form von verkörpertem Gedächtnis.“
117
Die Materialität des Körpers wird als eine Form von praktischer Aktivität gefasst; der Körper
eignet sich die Regelförmigkeit des Habitus an, indem er nach den Regeln eines gegebenen
gesellschaftlichen Feldes spielt. Dies ist nach Bourdieu seine Möglichkeit, an eben diesem
teilzuhaben.
Butler kritisiert, dass nach diesem Konzept kaum Veränderungen stattfinden könnten, das Außen
der Intelligibilität, die Möglichkeit des Überschreitens der Regeln und Normen fehlt. Um diese
Überschreitungen theoretisch zu ermöglichen, verbindet Butler die Habitustheorie mit dem
Konzept der PerFormativität. In dieser Verbindung wird die theoretische Unterscheidung
zwischen Gesellschaftlichem und Sprachlichem aufgelöst: „Das gesellschaftliche Leben des
Körpers stellt sich durch eine Anrufung her, die sprachlich und produktiv zugleich ist.“118 Liest
man den Habitus als eine stillschweigende Form der PerFormativität, als „eine Zitatenkette, die
auf der Ebene des Körpers gelebt und geglaubt wird“119, dann wird der Habitus geformt, er formt
aber auch. Körper ist einerseits Sedimentation von Sprechakten, die ihn konstituiert haben.
Wenn die Konstitution allerdings scheitert, trifft die Anrufung in dem Moment, in dem sie ihre
Forderung erhebt, auf einen Widerstand; dann überschreitet etwas die Anrufung, und dieses
Überschreiten wird als Außen der Intelligibilität120 gelebt. Im Gegensatz zu Bourdieu betont
Butler dieses Außen, die Normalität einer Unberechenbarkeit sozialer Praktiken.
117
Butler, Hass spricht, 1998, S. 218 118
Ebd. 217 119
Ebd., 219 120
Butler nennt als Beispiel für dieses Außen der Intelligibilität Homosexualität, Transsexualität, usw.
29
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass unter PerFormativität nicht ein einzelner Akt zu
verstehen ist, sondern eine sich wiederholende Praxis, die innerhalb eines regulativen Systems
zu denken, ist und in der Subjekt erst ermöglicht und hergestellt wird.
„Eine performative Handlung ist eine solche, die das, was sie benennt, hervorruft oder in Szene setzt und so die konstitutive oder produktive Macht der Rede unterstreicht.“
121
Butler betont den zitathaften Charakter von perFormativen Äußerungen, in denen durch
Zeitlichkeit Verschiebung stattfindet. Dabei sind alle Bereiche des menschlichen Lebens von
Zitaten und Wiederholungen durchzogen, auch Körperpraxen und Medien, wie in Kapitel 5
herausgearbeitet wird. Subjektpositionen und Identitätsangebote werden innerhalb eines
Systems von Zitaten reProduziert, gleichzeitig beinhaltet dieses System immer auch das Risiko
der Fehl- und Umbenennung.
Nach Butler wird Geschlechtlichkeit ständig neu durch perFormative Akte hervorgerufen; damit
wendet sie sich gegen eine dichotome Teilung von Natur und Kultur, von biologischem und
sozialem Geschlecht.
„Geschlechtsidentität [ist] die wiederholte Stilisierung des Körpers, ein Ensemble von Akten, die innerhalb eines äußerst rigiden regulierenden Rahmens wiederholt werden, dann mit der Zeit erstarren und so den Schein der Substanz bzw. eines natürlichen Schicksals des Seienden hervorbringen.“
122
In einem Prozess andauernder Aufführung geschlechtlicher Konventionen wird das Geschlecht
erst hergestellt, aber in eben diesen Wiederholungen steckt auch Potential zur Veränderung.
Butler verweist auf die Unterscheidung zwischen Gender als Performanz und Gender als
Performativität, weil ihre Thesen oft missverstanden wurden.123 Performanz kommt aus dem
Bereich der Theaterwissenschaften und bezeichnet ein „künstlerisches Tun“, das intentional und
eine Einzelhandlung ist (oder einige wenige Aufführungen). Im Gegensatz dazu beruht
PerFormativität, wie oben beschrieben, auf Konventionen und Iterabilität und kann nicht als
intentionale Handlung behandelt werden.
„Performativität ist weder freie Entfaltung noch theatralische Selbstdarstellung, und sie kann auch nicht einfach mit der darstellerischen Realisierung [performance] gleichgesetzt werden.“
124
Es geht in der Geschlechter-PerFormativität also nicht darum, dass man das Geschlecht wie ein
Kleidungsstück an- und ausziehen kann. Die Kraft der PerFormativität liegt in der Möglichkeit,
sich auf etwas Geschichtliches, auf Konventionen zu beziehen, aber gleichzeitig im Zitat
Veränderung herbeizuführen.
121
Butler, Für ein sorgfältiges Lesen, 1993b, S. 123-124 122
Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, 1991, S. 60 123
Butler, Für ein sorgfältiges Lesen, 1993b, S. 123-124 124
Butler, Körper von Gewicht, 1997, S. 139
30
5. Handlungsmöglichkeiten & Film
Agency im Sinne von (politischer) Handlungsmöglichkeit ist in diesem Konzept dort situiert, wo
Diskurse reProduziert werden; in der perFormativen Bewegung, in der bestehende Normen und
Regeln durch Rezitationen affirmiert und bestätigt werden, können sie auch umgedeutet und
neu definiert werden. Mit Butler gehe ich von einem erweiterten Politik-Begriff aus, der
folgende Fragen einschließt:
„Wie kann man die Fundamente aufbrechen, die alternative, kulturelle Konfigurationen der Geschlechteridentität verdecken? Wie kann man die `Prämissen` der Identitätspolitik destabilisieren und ihnen ihre phantasmatische Dimension zurückerstatten?“
125.
Das Politische ist im Anschluss an der Kritik an Identitäts- und Repräsentationspolitik in
Bezeichnungsverfahren verortet, durch die Identität gestiftet, reguliert und dereguliert wird.
„Die kritische Aufgabe [des Feminismus] besteht darin, Strategien der subversiven Wiederholung auszumachen […] und die lokalen Möglichkeiten der Intervention zu bestätigen, die sich durch die Teilhabe an jenen Verfahren der Wiederholung eröffnen, die Identität konstituieren und damit die immanente Möglichkeit bieten, ihnen zu widersprechen.“
126
Die Möglichkeit zu Handeln ist dabei eine ´abhängige Handlungsfähigkeit´.127
„Wer handelt (d.h. gerade nicht das souveräne Subjekt), handelt genau in dem Maße, wie er oder sie als Handelnde innerhalb eines sprachlichen Feldes konstituiert sind, das von Anbeginn an durch Beschränkungen, die zugleich Möglichkeiten eröffnen, eingegrenzt wird.“
128
Das ´postsouveräne Subjekt´ agiert im Spannungsfeld zwischen diskursiver Konstitution und
sprachlicher Wiederholung; es ist nicht autonom und weiß dies auch, es ist aber auch nicht
vollkommen determiniert und ist sich auch dessen bewusst.129 Nach diesem Konzept entgehen
die Subjekte der Polarisierung zwischen Normgeber_in und Normbefolger_in, zwischen Macht
und Ohnmacht, zwischen Voluntarismus und Determinismus. Wenn anerkannt wird, dass sowohl
Subjekte als auch gesellschaftliche Strukturen durch perFormative Praxen hervorgebracht
werden und mit diesen verstrickt sind, kann kritische Handlungsmöglichkeit an eben diesem Ort
der perFormativen Praxen entstehen. Der Handlungsbegriff wird damit neu gefasst: nicht als die
Möglichkeit eines intentionalen Subjektes oder Individuums, sondern als ein postsouveränes,
performativ asymptotisch hervorgebrachtes Subjekt im Bewusstsein des Eingefasst-Seins in
Diskurse. Die Anerkennung der Abhängigkeit des Subjektes vom Diskurs bedeutet nicht
125
Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, 1991, S. 216 126
Ebd. 127
Plößer, 2005, S. 118 128
Butler, Hass spricht, 1998, S. 29 129
vgl. Villa, 2003, S. 57
31
zwangsläufig Resignation, sondern beinhaltet immer auch Anerkennung der Freiheitsgrade
zwischen Diskurs und Subjekt.130
Bei Butler geht es nicht um die Frage, ob wiederholt wird, sondern wie wiederholt wird131. Im
Wie liegt die Möglichkeit zur Umdeutung, zur Verschiebung von Bedeutungen, zum Widerspruch
gegen das, was erzwungen wird. Wann und unter welchen Umständen Verfehlungen und
Umdeutungen als Abweichung gelten und als solche verworfen werden, beispielsweise weil sie
Unsicherheit, Irritation und Abwehr auslösen, und wann es dagegen zu einer Umschreibung,
Veränderung der Normen kommt und damit zu einer Erweiterung des Gesellschaftlichen
Möglichkeitsraumes und zu einer Veränderung von Wahrnehmung und Denken, ist
kontextspezifisch und lässt sich nicht allgemein sagen und festschreiben. Die Zeit des Diskurses
und die des Subjektes sind nicht deckungsgleich, sodass „der Täter […] das ungewisse
Funktionieren der diskursiven Möglichkeiten sein [wird], durch die die Tat funktioniert.“132
5.1. PerFormatives Widersprechen
„[Es ist] keine radikale Politik des Wandels ohne performativen Widerspruch möglich.“133
Voraussetzung für Handeln ist eine Entlarvung von scheinbar Natürlichem als Konstruiertes134
und damit verbunden ein Sichtbarmachen und sich Bewusst werden von Verhältnissen als
sedimentierte Normen. Dies hat Butler mit ihrer Genealogie135 vom vergeschlechtlichtem
Subjekt geleistet. Butler geht aber noch einen Schritt weiter: Sie will nicht nur Naturalisierungen
aufdecken, sondern mit diesem Wissen eine Umdeutung von Begriffen anstreben und
Handlungen ermöglichen, die Verhältnisse variieren, parodieren, unterlaufen und damit
womöglich ändern. Dies kann durch das Konzept der PerFormativität in einer veränderten und
verändernden Wiederholung von Praxen geschehen, in Form von Ironie, Satire, Geschlechter-
Parodie, unautorisiertem Sprechen, Umdeutung von Begriffen und Bildern, usw.
130
Vgl. Villa, 2003, S. 55-56 131
Vgl. Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, 1991, S. 217 132
Butler, Für ein sorgfältiges Lesen, 1993b, S. 125 133
Butler & Spivak, Sprache, Politik, Zugehörigkeit, 2007, S. 46 134
Der konstruktivistische Aspekt in diesem Konzept besteht in der Frage danach, wie ist es zu etwas gekommen ist. Vgl. dazu auch Foucault: Archäologie des Wissens und Genealogie der Macht. Es geht um eine Aufzeichnen von Vergangenem, von Normen, die sich in Gesetzen, in Wahrnehmungen, in Institutionen,… sedimentiert haben. 135
Herleitung, Ableitung, geschichtlichen Werdegang
32
„Sobald wir der Ansicht widersprechen, daß keine politische Position bei einem performativen Widerspruch verharren kann, und es zulassen, daß das Performative wie eine Forderung und ein Akt funktioniert, dessen Wirkungen sich mit der Zeit entfalten, dann können wir auch die entgegengesetzte These in Betracht ziehen, der zufolge keine radikale Politik des Wandels ohne performativen Widerspruch möglich ist.“
136
Wie kann in der perFormativen Herstellung von Geschlecht die heterosexuelle Matrix als
hegemonialer Diskurs angegriffen und verändert werden? Dominante Setzungen bedürfen einer
dekonstruktiven Zersetzung, indem tran sie „wiederholt, subversiv wiederholt und sie
verschiebt, bzw. sie aus dem Kontext herausnimmt, in dem sie als Instrumente der
Unterdrückungsmacht eingesetzt wurden.“137 Unter perFormativem Widersprechen ist gemeint,
etwas zu tun, was nicht vorgesehen ist, und dieses Tun öffentlich zu machen. Es geht hier nicht
um Sprechen im engen Sinn, sondern um perFormative Praxen, die das ganze Leben umfassen.
All jene Praxen, die mit der heterosexuellen Matrix brechen und dabei Normen und Rechte für
sich einfordern, können als perFormative Widersprüche potentiell die Matrix in Frage stellen
und ihrer Legitimation berauben. All jene, die am Rande des Intelligiblen stehen, die aus dem
Universellen ausgeschlossen sind, können über das Einklagen desselben den Rahmen in Frage
stellen, der es begrenzt.
„[Eine] Forderung […] zu stellen bedeutet, bereits mit ihrer Ausübung zu beginnen und hinterher ihre Legitimation zu verlangen, es bedeutet, die Lücke zwischen Ausübung und Verwirklichung zu verkünden und beides auf eine Weise in den öffentlichen Diskurs einzubringen, dass die Lücke sichtbar wird und zu mobilisieren vermag.“
138
Beim perFormativen Widersprechen geht es nicht um die Eingliederung dessen, was aus den
bestehenden Begriffen ausgeschlossen ist. Dies hätte immer wieder weitere Ausschlüsse zur
Folge. Vielmehr geht es nach Butler darum, „eine Vorstellung von Differenz und Zukünftigkeit
[…] einzubringen, die eine unbekannte Zukunft entwirft, eine, die jenen Angst macht, die deren
konventionelle Grenzen verteidigen wollen.“139 Im Folgenden sind Beispiele PerFormativen
Widersprechens angeführt; ausführlicher möchte ich diese im Analyse-Teil herausarbeiten.
Praxen veränderter und verändernder Wiederholung sind beispielsweise die
Begriffsaneignungen. Wie an `queer` skizziert, ist es im Kontext einer Bewegung gelungen, ein
ehemaliges Schimpfwort zu einer positiven Selbstbezeichnung umzudeuten und ihm dadurch
seine verletzende Kraft zu nehmen. Im Rahmen der Queer Theory wurde ´queer´ zu einer
Strategie des Offenhaltens und der permanenten Auseinandersetzung um den Inhalt von
136
Butler & Spivak, 2007, S. 46 137
Butler, 1993a, S. 52 138
Butler & Spivak, Sprache, Politik, Zugehörigkeit, 2007, S. 47 139
Butler, Hass spricht, 1998, S. 227
33
Identität oder eines politischen Begriffs und symbolisiert so auf Dauer gesetzte Uneindeutigkeit,
sowie Anerkennung der Brüchigkeit und Instabilität von Identitäten.
Auch Ironie, Satire, Parodie sind besonders geeignete Fehlaneignungen von Bezeichnungen oder
Anreden. Sie kritisieren etwas und führen es vor, während sie es wiederholen und lenken damit
die Aufmerksamkeit darauf, dass es sich um ein Zitat handelt. Wenn es sich dabei um eine
ästhetische Umsetzung handelt, kann das Wort verwendet und zugleich ausgestellt, vorgezeigt
werden.140 Dabei wird Geschlecht als Konstruktion sichtbar gemacht und entnaturalisiert.
PerFormativer Widerspruch sind Ironie, Satire und Parodie, indem sie gleichzeitig öffentlichen
Raum für sich beanspruchen.
Das Neuerzählen und Umdeuten von (historischen) Erzählungen entwickelt die Fähigkeit, eine
Zukunft zu entwerfen, die im Augenblick nicht vorgesehen ist, wohingegen mit einer Fixierung
der Vergangenheit werden verlorene Ehren und Demütigungen wiederaktiviert141 werden. In
verändertem Wiedererzählen können verschiedene Lesearten miteinander konkurrieren und in
„Streit um die Vergangenheit“142 treten, dabei geht es um Verhandlung von Bedeutungsgebung.
Da Medien und Film gewissermaßen einen öffentlich diskursiven Raum darstellen, in dem
Diskurse perFormativ wiederholt werden, werde ich im Folgenden ausloten, inwiefern Film
“¿Cómo amaríamos si no hubiéramos aprendido en los libros cómo se ama? ¿Cómo sufriríamos? Sin duda sufriríamos menos.”
143
In diesem Abschnitt soll der Frage nachgegangen werden, wie soziale Produktivität von Film
gedacht und wie das Konzept der PerFormativität für eine Analyse filmischer
Geschlechterinszenierungen produktiv gemacht werden kann. Film gerät im Zusammenhang mit
Geschlechter-PerFormativität mindestens zweifach ins Blickfeld. Einerseits als beteiligt an
Bedeutungsproduktion und Wirklichkeitskonstruktion und damit ´Kampffeld´ verschiedener
hegemonialer und subversiver Diskurse und andererseits in seiner spezifisch medialen
140
Vgl. Butler, Hass spricht, 1998, S. 143 141
Vgl. Riceur in Jörissen & Marotzki, 2009, S. 54 142
Jörissen & Marotzki, 2009, S. 54 143
“Wie würden wir lieben, hätten wir nicht in den Büchern gelernt, wie wir lieben? Wie würden wir leiden? Ohne Zweifel litten wir weniger.“ Manuel Vázquez Montalbán (2002), Los Mares del Sur, 190, Übersetzung MR
34
Performativität, in der Diskursives und Bildliches ineinandergreifen. Dabei beansprucht Film
öffentlichen medialen Raum und greift auf Gesellschaftliche Konzepte und Normen zurück.
Wenn ich nach der Relevanz kultureller Praktiken für die Durchsetzung und Anfechtung der
heterosexuellen Matrix im Allgemeinen und im Besonderen nach der Bedeutung von Filmen des
Queer Cinema in diesem Zusammenhang frage, bietet es sich an, an die Cultural Studies und
insbesondere an Stuart Hall anzuknüpfen. Dieser thematisiert Medien als kommunikativen Akt
zwischen kultureller Produktion, Darstellung und Rezeption. Mediale Produkte werden nicht als
Abbilder von Wirklichkeit oder Ausdruck von Bedeutung verstanden, sondern als beteiligt an
Bedeutungsproduktionen. Damit haben Medien politisches Gewicht, sie unterstützen oder
unterminieren Diskurse, machen Themen zugänglich und verhandelbar oder verschweigen sie.
Film ist mit den Cultural Studies materielles Objekt der Repräsentation und Inszenierungspraxis,
und als solches an Subjektivierungspraxen beteiligt.
Stuart Hall, encoding/decoding
Stuart Hall beschreibt Film als einen Prozess von Encoding und Decoding144: Diskurse aus der
Realität werden im Film kodiert, das heißt, in ein Filmformat übersetzt, indem sie selektiert,
aufbereitet und gebündelt werden. Im Dekodieren werden Filme gelesen, d.h. in die Realität der
Zuschauenden übersetzt. Dieser gesamte Prozess ist eingeschlossen in ein System von
Produktionsverhältnissen, in eine technische Infrastruktur, sowie in Wissenssysteme und damit
auf einen Rahmen von Bedeutungen und Ideen bezogen.145 Der Code eines Filmes lässt sich
somit nicht einfach fixieren, sondern entzieht sich der Kontrolle; jeder Text hat potentiell
unzählige Bedeutungen, wobei allerdings die Bedeutungen nicht gleichrangig nebeneinander
gestellt sind, sondern in einer nach Dominanz sortierten Hierarchie angeordnet. Es gibt ein
Muster bevorzugter Lesarten, welches in die gesellschaftliche (institutionelle politische,
ideologische) Ordnung eingeschrieben ist. Dominante Bedeutungen werden durch Strukturen
hegemonialer Diskurse als Wahrheiten inszeniert, indem sie ihren ideologischen Gehalt
verschleiern und Aussagen als natürlich legitimiert darstellen.146
Das Performativitäts-Konzept versucht Bedingungen zu beschreiben, die das Gelingen von
Sprechakten oder von kulturellen Praktiken gewährleisten. Wenn nun der Film mit den Cultural
Studies als kommunikativer Akt gesehen wird, ist der Film ist in dem Moment eine perFormative
Handlung, in dem er von Zuschauenden gesehen wird und damit Öffentlichkeit für sich
beansprucht. In diesem Sinn geht es auch beim Film um die Bedingungen der PerFormativität.
144
Vgl. gleichnamiger Artikel Hall, 1977/2004 145
Ebd. 69 146
Ebd. 70
35
Allerdings hat Film eine spezifische Medialität und eröffnet damit andere
Handlungsmöglichkeiten als beispielsweise Gesprochenes oder über körperliche Praktiken
Aufgeführtes.
5.3. Mediale Performativität des Films
In ihrem Artikel "Across 110th Street"147 kritisiert Andrea Seier, dass im Anschluss an Butlers
Konzeption der PerFormativität die Spezifität medialer PerFormativität zugunsten einer
Kontingenz geschlechtlicher Normen übersprungen und aufgelöst wird und dadurch
Ungenauigkeiten entstehen148. Im Folgenden werde ich im Anschluss an Sibylle Krämer und
Andrea Seier eine speziell medienspezifische Ausformulierung des Konzeptes der Performativität
in Bezug auf Film aufgreifen, um dadurch auf speziell filmische Möglichkeiten der Subversion von
Geschlecht zu blicken.
Über Medialität149 lässt sich Film ähnlich wie der Körper über das Habituskonzept als spezifische
Materialisierung von Diskursen fassen. Die Bedeutungsbildung eines Filmes kann mit Krämer als
´Spur des Mediums´ bezeichnet werden, die die Materialität der Sprachlichkeit in einer
Eigensinnigkeit vollzieht, die sich nicht an das Modell vereinbarter Zeichenbedeutungen hält150:
„Spuren werden nicht gemacht, sondern werden hinterlassen. Das Medium ist zwar nicht die
Botschaft, doch die Botschaft ist die Spur des Mediums.“151 Dies lässt die Vorstellung von Filmen
als intentionales, intersubjektiv kontrollierbares Zeichenhandeln zu kurz greifen. Die mediale
PerFormativität eines Films ist nach Seier in einer Weise an filmischer Bedeutungsproduktion
beteiligt, die von Filmemacher_innen, Darsteller_innen und sonstigen beteiligten Personen nicht
völlig kontrollierbar ist. Filme sind damit nicht einfach Medien oder Instrumente in den Händen
politischer Subjekte, sondern Kräfte, die den Status von Subjekten mit hervorbringen oder
unterlaufen. Dadurch wird Filmen eine gewisse agency-Funktion zugestanden152.
147
Seier, 2004 148
Auch von Butler selbst in der Analyse des Dokumentarfilms Paris is Burning in Körper von Gewicht, 1993. 149 Krämer verwendet einen weiten Medienbegriff: Für sie sind Medien „konstitutiv für die menschliche
Sprachlichkeit, insofern verschiedene Medien immer auch verschiedenartige Sprachpraktiken eröffnen. […] Gesprochene und geschriebene Sprache unterscheiden sich nicht nur in der Erscheinung, vielmehr in der Art von Handlungen, die wir mit ihnen vollziehen können.“ Krämer, 1998, S. 39 150
Vgl. Seier, 2004, S. 49-50 151
Krämer, 1998, S. 39 152
Vgl. Seier, 2004, S. 50
36
So wie der Geschlechtskörper die Rezitation einer Kette von Geschlechterbedeutungen und -
handlungen ist, die zugleich gegenwärtig sind und über sich hinausweisen, ist auch jeder
einzelne Film in ein diskursives Netz von Signifikationspraktiken eingelassen, die schon immer
über ihn hinausweisen.153 Dieses diskursive Netz ermöglicht den Film erst und reglementiert ihn
zugleich. Diskurse werden für den Film selektiert, aufbereitet und im Film gebündelt aufgeführt.
Dieses Selektieren und Aufbereiten ist an Bedingungen der Produktion geknüpft (z.B. technische
Mittel, Ressourcen), aber auch an implizite und explizite Wissenssysteme (z.B. moralische
Richtlinien wie der ´Hays Code´ in Hollywood). So wie jede perFormative Äußerung ist Film
immer schon in ein Feld von Konventionen eingelassen. Dabei sind die Konventionen, auf die ein
Film zurückgreift sowohl gesellschaftliche Diskurse und Ordnungssysteme, als auch speziell
mediale und ästhetische Verweise. Auf der Basis von Reproduktion und Wiederholung erzeugt
der Film eine Illusion der Gegenwärtigkeit und weist dabei zugleich über den aktuellen Moment
hinaus. Hier erweist sich die weiter oben beschriebene Unterscheidung von Performanz und
PerFormativität als brüchig. Sie ist zwar analytisch notwendig, das Konzept der PerFormativität
explizit zu machen, ist aber insofern komplexer, als dass auch der Film als Performanz – das In-
Szene-Setzen im Film – immer auf perFormative Wiederholung, d.h. auf die Wiederholung von
Geschichtlichem angewiesen ist.154
Filme sind auf inhaltliche, ästhetische und mediale Konventionen angewiesen, d.h. sie greifen
auf Machtrelationen, Inszenierungs- und Darstellungsformen, ´Blickregime´, Distributions- und
Rezeptionsformen usw. zurück. Eine Fokussierung ausschließlich auf eine Kontinuität
geschlechtlicher Normen im Film würde zu kurz greifen, um die PerFormative Herstellung und
Verschiebung von Geschlechtlichkeit im Film zu klären.
153
Seier, 2006, S. 49 154
Vgl. Seier, "Across 110th Street". Zur Überlagerung performativer Prozesse in Tarantinos JACKIE BROWN (USA 1997), 2004, S. 50
37
Exkurs Blickregime
Die Art und Weise, wie die Welt wahrgenommen wird, und wie das Subjekt Sichtbarkeit erfährt,
hat Kaja Silverman155 als ´Blickregime´ bezeichnet und eine analytische Unterscheidung von drei
Dimensionen des Sichtfeldes ausgearbeitet: Gaze, Screen und Look. Mit Gaze sind die historisch-
kulturellen Regeln gemeint, die bestimmen, wie etwas dargestellt werden kann, damit es
intelligibel ist. Als ´Blickregime´ kontrolliert und stiftet es die Identität des Subjekts, auch wenn
es die Form, die eine Identität trägt, nicht determiniert.156 Vergleichbar mit dem Diskurs
organisiert es das Feld des Sichtbaren auf bestimmte Weise. Screen umfasst das Bildrepertoire
einer Gesellschaft. Es ist zu verstehen als kulturell generiertes Repertoire von Bildern, das uns in
Relation zu sex, age, race, nationality, class definiert157. Der Look ist der Blick eines konkreten
Individuums, der durch Biografie, soziale Positionierung, psychische Disposition strukturiert ist,
aber gleichzeitig immer auch dem Gaze unterworfen und auf den Screen angewiesen ist. Er
kommt vom Subjekt und ist von Mangel gekennzeichnet.158
„If the Gaze is like an imaginary camera […] then the screen is what decides how the subject will be ´photographed´. Only forms of Identity mandated by the dominant fiction will enter visibility. All the rest – the subjects not ratified by the dominant fiction - will be screened out.”159
Filme sind in der Lage, den dargestellten (auch marginalisierten) Subjekten Idealität zu
gewähren. Das bringt sie nicht notwendigerweise in Knechtschaft von dominanten Erzählungen,
es kann sie auch herauszufordern, indem es sich diesen widersetzt. Dabei geht es nicht um ein
Bereitstellen von positiven Bildern von ´Frauen´, ´Schwarzen´, ´Homosexuellen´ oder anderen
marginalisierten Gruppen – solche Bilder würden Identität reEssentialisieren. Vielmehr schlägt
Silverman vor, über Mechanismen der Identifikation die ästhetischen Ideale und die
gesellschaftliche Intelligibilität von Bildern zu verändern.
„[W]e cannot idealize something without at the same time identifying with it. Identification is therefore a crucial political tool. […] We need aesthetic works which will make it possible, for us to idealize […].”160
Die politische Arena, in der kulturelle Repräsentationen verändert werden können, ist somit der
Screen. Veränderung geschieht zwischen Screen und Look.
155
Silverman, 1996, zitiert in Engel, 2009, S. 206 156
Vgl. Silverman, 1992, zitiert in Chaudhuri, 2006, S. 114 157
Silverman, 1992, zitiert in Chaudhuri, 2006, S. 115 158
Chaudhuri, 2006, S. 114 159
Ebd. S.155 160
Silverman, 1996, S. 2
38
6. Filmanalyse
Unter Film- und Fernsehanalyse werden verschiedene Methoden verstanden, die gemeinsam
haben, dass
“in der konkreten Untersuchung der Strukturen des einzelnen Produkts charakteristische Merkmale von Film und Fernsehen [herausgearbeitet], auch neue Erkenntnisse [gesammelt] und neue Dimensionen der filmischen und televisuellen Ästhetik [erschlossen werden].“
161
Erkenntnisse und Einsichten über medial-ästhetische Strukturen werden sprachlich formuliert,
um auf diese Weise bewusst gemacht zu werden. Eine Versprachlichung bedeutet zwar eine
Reduktion der Gesamtgestalt eines Films, der ein Zusammenspiel aus vielen gerade auch
nichtsprachlichen Elementen ist,162 dennoch können vorhandene, aber verborgene
Bedeutungsinhalte im Film erschlossen, und dadurch der ästhetische Genuss gesteigert werden.
Die Film- und Fernsehanalyse dient der Erkenntnisgewinnung und ist je nach Erkenntnisinteresse
unterschiedlich ausgerichtet, nicht nur in Bezug auf die Perspektive, worunter der Gegenstand
Film betrachtet wird, sondern auch in Bezug auf die Arbeitsschritte und dem hinzugezogenen
Material. Hickethier u.a. plädieren daher für eine Vielfalt der Methoden, um ein umfassendes
Bild von Film und Fernsehen zu erlangen163; die Präzisierung des Standpunktes und der
Perspektive in der konkreten Analyse liegen im eigenen Erkenntnisziel.
Wie in den vorhergehenden Kapiteln ausgearbeitet wurde, können Filme als Quelle verstanden
werden, die Ausschnitte gesellschaftlicher Realität repräsentieren. Dabei greifen Filme auf
gesellschaftliche und medial-ästhetische Konventionen zurück und wiederholen diese. Da diese
Diplomarbeit darin besteht, Möglichkeiten des perFormativen Widersprechens von
heteronormativen Verhältnissen zu untersuchen, ist die Analyse der Filme darauf fokussiert,
welche gesellschaftlichen und medialen Konventionen in Bezug auf Körperlichkeit, Identität und
Beziehungsstrukturen im Film aufgegriffen und verschoben werden. Auch wenn die
Fokussierung auf die Triade sex-gender-desire eine Engführung der aufgegriffenen
gesellschaftlichen Konventionen bedeutet, werde ich aus forschungsökonomischen Gründen
vorwiegend auf eben diese Triade eingehen, weil damit die Komplexität und weitreichende
Wirkmächtigkeit von Konstruktionen deutlich gemacht werden kann. Auch auf speziell filmische
Konventionen wie mediale Ästhetik, Genre oder intermediale Bezüge greift der Film zurück,
wobei auch hier eine Eingrenzung vorgenommen werden muss: da der Film Todo sobre mi
161
Hickethier, 1996, S. 26 162
Vgl. ebd. S.27 163
Vgl. ebd. S.30
39
madre offensichtlich viele verschiedene mediale Bezüge herstellt, wird ein Fokus der Analyse
darin bestehen, Verschiebungen durch eben diese Zitate herauszuarbeiten.
6.1. Analytisches Verfahren
In meiner Filmanalyse gehe ich nach dem von Lothar Mikos (und anderen) beschriebenen
Verfahren vor, worin zwischen Beschreibung, Analyse und Interpretation unterschieden wird.
Die Beschreibung ist eine Operation, in der das auf dem Bildschirm Sichtbare sprachlich
dargestellt wird, also die sprachliche Sicherung der Datenbasis, die der Analyse zugänglich sein
soll. In der Beschreibung muss deutlich werden, welche Sinnangebote der Filmtext gibt, und wie
Bedeutung gebildet wird164. Es ist der Versuch einer Übersetzung von Filmen in Sprache und
orientiert sich am Erkenntnisinteresse der Analyse. Ich werde in der Beschreibung vor allem auf
Inhalt und Figuren eingehen, da es in der Fragestellung explizit um Subjekte,
Beziehungsstrukturen, Körperlichkeit geht. Allerdings können in der Beschreibung nur erste
Sinnangebote und Bedeutungen beschrieben werden, weitere Möglichkeiten werden erst im
Laufe der Analyse sichtbar.
In der Analyse müssen Komponenten herausgearbeitet werden, die zur Bedeutungsbildung
beitragen. Ein Film wird zerlegt, um die Struktur offen zu legen. Da der Film in kleinere Einheiten
gegliedert und relativ detailgenau betrachtet und beschrieben werden kann, nähert sich die
Filmanalyse der literarischen Textanalyse an.165 In der Analyse wird auf das Exemplarische und
das Besondere geachtet, das in Bezug zum Film als Ganzen gesetzt wird.166 Für meine Analyse
des Films Todo sobre mi madre hat es sich als sinnvoll erwiesen zunächst ein Szeneprotokoll zu
erstellen, das für Faulstich und Korte für eine Wissenschaftliche Analyse Grundvoraussetzung
sind.167 Dies enthält Nummer und Dauer der Szene, sowie Angaben zur Handlung168. Die
Handlungssequenzen werden zur Veranschaulichung in einer Sequenzgrafik169 dargestellt. In
weiteren Szeneprotokollen170 werden entsprechend der Fragestellung strukturelle und mediale
Konventionen sowie inhaltliche Verweise auf Körperlichkeit, (Geschlechts)Identität und
Beziehungskonventionen expliziert.
164
Mikos 2008, S. 78 165
Vgl. Blüher, Kessler, & Tröhler, 1999, S. 4 166
Vgl. Mikos, 2008, S. 91 167
Vgl. Ebd. S 97 168
Anhang: 1. Szeneprotokoll 169
Sequenzgrafik Kapitel 7.3. 170
Anhang: 2.-4. Szeneprotokoll
40
In der Auswertung geht es darum, die Teile aus der Analyse wieder zusammenzusetzen und sie
in ihrer Funktion für die Bedeutungsbildung zu untersuchen. Die Strukturelemente müssen in
ihren Beziehungen und Abhängigkeiten zu einem systematischen Ganzen zusammengefügt und
in mediale, historische oder gesellschaftliche Kontexte eingeordnet werden.171 Die Auswertung
erfolgt theoriegeleitet und ist am Erkenntnisinteresse orientiert. Dabei muss eine Balance
zwischen Theorie und Interpretation gefunden werden: „Die besten Beispiele der [A]nalyse sind
[…] oft Gratwanderungen, die jedoch durch die Kraft ihrer theoretischen Reflexion abgesichert
und vor dem Absturz in die Willkür der Interpretation bewahrt werden.“172 Die Interpretation
der Strukturelemente sollte im Hinblick auf die Bedeutungsbildung plausibel und für die
Lesenden der präsentierten Analyseergebnisse nachvollziehbar sein.
6.2. Begriffe der Filmanalyse
Im Folgenden werde ich die Begriffe kurz erklären, die ich in der Filmanalyse verwende. Ich
beziehe mich dabei großteils auf Mikos‘ Lehrbuch der Film- und Fernsehanalyse.
Die Struktur eines Films fügt sich aus Einstellungen, Szenen und Sequenzen zusammen:
Filme bestehen aus vielen Einzelbildern, die in einer Einstellung miteinander verknüpft sind.
Eine Einstellung gilt daher als die kleinste Einheit beim Film. Sie ist definiert durch den
Bildausschnitt und die Entfernung zur Kamera; der Anfang und das Ende einer Einstellung
werden durch Schnitte gesetzt.173 Mehrere Einstellungen, die eine Einheit von Ort und Zeit
bilden, in der sich eine kontinuierliche Handlung vollzieht, ist eine Szene. Nach Mikos174 können
dabei vier Arten von Szenen unterschieden werden: Dialogszenen ohne Aktion, Dialogszenen mit
Aktion, Aktionsszene ohne Dialog und Deskriptive Szene ohne Dialog. Eine Gruppe von
miteinander verbundenen Szenen, „die eine Handlungseinheit bilden ´und sich durch ein
Handlungskontinuum von anderen Handlungseinheiten´ unterscheiden“175 stellen eine Sequenz
dar.176
171
Vgl. Mikos, 2008, S. 99-101 172
Blüher, Kessler, & Tröhler, 1999, S. 6 173
Vgl. ebd. 91 174
Vgl. ebd. 92 175
Hickethier, zitiert von Mikos, 2008, S. 92 176
Oft wird Szene und Sequenz synonym verwendet, z.B. Bordwell/Thompsen
41
Einstellungsgrößen legen die Nähe und Distanz der Kamera zum abgebildeten Geschehen
fest177 und tragen so zur Bedeutungsbildung bei.
Panorama & Totale zeigen eine Landschaft, eine Stadt in ihrer flächigen Ausdehnung und
schaffen so einen Überblick über die Situation bzw. informieren über die Beschaffenheit des
Handlungsortes. Halbtotale & Halbnah: Hier werden die Figuren im Handlungsraum
präsentiert, die Zuschauenden haben den Eindruck, in der direkten Umgebung des Geschehens
zu sein. Nah & Groß: In der Nah- und Großaufnahme werden von den Figuren lediglich der Kopf
und evtl. ein Teil des Oberkörpers gezeigt. Mimik und Gestik sind gut zu erkennen. Aufgrund der
Nähe kann auch von einer intimen Einstellung gesprochen werden. Bei Detailaufnahmen wird
die Bedeutung einzelner Gesichtspartien oder von Gegenständen hervorgehoben, und dadurch
auf nachfolgende oder vorherige Situationen verwiesen.
Über die Montage werden einzelne Einstellungen miteinander verbunden, der Begriff
bezeichnet die zeitliche Anordnung der Einstellungen:178
Mit Establishing Shot ist eine Einstellung zu Beginn einer Sequenz oder Szene gemeint, die
zunächst einen allgemeinen Überblick über den Handlungsraum gibt, in dem die Szene spielt und
Charaktere agieren. Die nächste Einstellung zeigt die Sicht über die Schulter der einen Person auf
die andere. Damit werden die Zuschauenden direkt ins Geschehen einbezogen. Wenn die beiden
Figuren (oder mehrere) einen Dialog führen, werden sie oft im Schuss-Gegenschuss-
Verfahren aneinandergeschnitten: Mal sieht tran die sprechende, mal die zuhörende Person.
Im Point of View-Schnitt wird zunächst eine Person gezeigt, die in Richtung außerhalb des
Bildes schaut, im darauf folgenden Bild ist aus der Perspektive der Person zu sehen, wohin sie
blickt. Auf diese Weise werden die Zuschauenden in die subjektive Sichtweise und in die
mentalen und emotionalen Prozesse d_ blickenden Akteur_in einbezogen.
Ton und Sound179: Grundsätzlich wird in Musik, Geräusch und Stimmen unterschieden, wobei
die Quelle des Tons entweder zum Erzählwert gehört, also diegetisch im Film enthalten ist und
Teil der Erzählung, oder non-diegetisch von außerhalb der Erzählwelt hineinwirkt,
beispielsweise als Stimme einer externen Erzählenden. Weiters wird unterschieden, ob die
Tonquelle im Bild zu sehen ist (ON) oder aus dem OFF kommt.
177
Vgl. Mikos, 2008, S. 194-199 178
Vgl. ebd. S. 222-228 179
Vgl. ebd. S. 235-239
42
Mit Intertextualität180 ist die Beziehung eines (Film-)Textes zu anderen Texten gemeint.
Intermedialität ist eine Art von Intertextualität, die das Zitieren eines Textes aus einem
Medium in einem andern Medium meint. Der Text, der die Grundlage eines neuen Textes bildet,
wird Hypotext genannt, wohingegen mit Hypertext der neu entstandene Text bezeichnet
wird, der ersteren beispielsweise durch Parodie oder Nachahmung überlagert. Ein Paratext
steuert die Rezeption des eigentlichen literarischen Textes als Titel, Klappentext, Widmung oder
Vorwort. Auch das Genre, das so viel wie Gattung oder Art bedeutet, stellt intertextuelle
Zusammenhänge her.
Alice Bienk181 nimmt folgende Kategorisierung von Zitatformen vor, die für eine Analyse von
filmischer Intertextualität unterstützend ist. Dabei können alle Zitate Ironisch-parodistisch oder
ernst gemeint sein und in Kombinationen auftreten.
Das visuelle Zitat zitiert Szenarien, Orte, Bilder. Diese werden in einem ähnlichen oder anderen
Kontext präsentiert als es beim Original der Fall ist. Im dialogischen Zitat wird im Gespräch
von Figuren eines Films explizit auf einen anderen Film, auf Figuren oder Szenarien verwiesen.
Im auditiven Zitat werden Musik, Geräusche oder Gesprochenes des Originalfilms zitiert oder
imitiert. Das Motiv-Zitat greift ein Motiv aus einem anderen Film wird auf. Daneben gibt es
Verweise auf andere Kontexte, die nicht auf einen anderen Film oder andere Medien verweisen,
sondern außerhalb der Filmwelt liegen.
180
Vgl. Mikos, 2008, S. 272-281 181
Vgl. Bienk, 2008, S. 126-127
43
7. Analytischer Teil: Untersuchung des Films Todo sobre mi
madre
HUMA. ¿Pero tú sabes actuar? MANUELA. Sé mentir muy bien, y estoy acostumbrada a improvisar.
182
Seit Anfang der 1990er Jahre wurden vor allem in den USA, aber auch in Europa queere Filme
salonfähig. Ein sehr berühmter Film, der etwa zehn Jahre später in den internationalen Kinos lief,
ist Todo sobre mi madre von Pedro Almodóvar. Der Film erhielt zahlreiche nationale und
internationale Auszeichnungen. Pedro Almodóvar ist wohl der bekannteste zeitgenössische
Regisseur Spaniens. Mit Marisa Paredes, Antonia San Juan, Cecilia Roth und Penélope Cruz
wirken sehr bekannte Schauspielerinnen mit. Aber nicht nur der Bekanntheitsgrad des Filmes
macht ihn für meine Analyse relevant, sondern vor allem der Umgang mit Identitätskonzepten,
die Überschreitung geschlechtlicher Grenzen und die Bezüge auf andere mediale Texte.
Der Film soll nun im Spannungsfeld von Geschlechterkonstruktionen und medialen
Konventionen im Hinblick auf perFormative Verschiebungen hin untersucht werden. Die
Kriterien zur Untersuchung haben sich in erster Linie aus Butlers Theoretisierung der
heterosexuellen Matrix ergeben und zentrieren sich um die Inszenierung von sex-gender-desire.
Dabei wird das Konzept der PerFormativität auf das Aufgreifen sowohl sozialer als auch medialer
Konventionen bezogen, und der Film auf das Potential perFormativen Widersprechens hin
untersucht. Erkenntnisleitende Fragestellungen der Analyse sind: Welche Forderungen werden
im Hinblick auf Körper, Identität und Begehren gestellt? Welche (veränderten) Normen gelten in
der Filmrealität? Welche Lücken zwischen konventionellen, hegemonialen Normen und denen,
die sie perFormativ Wiederholen, werden sichtbar gemacht und vermögen dadurch zu
möglicherweise zu mobilisieren? Welche Vorstellungen von Zukünftigkeit werden eingebracht?
182
HUMA. Kannst du (schau)spielen? MANUELA. Ich kann sehr gut lügen und ich bin es gewohnt zu improvisieren. (Tsmm, 1999, 0:52)
44
7.1. Filmdaten
Originaltitel: Todo sobre mi madre
Deutscher Titel: Alles über meine Mutter
Regie & Drehbuch: Pedro Almodóvar
Land/Jahr: Spanien/Frankreich, 1999
Filmlänge: 97 Min.
Produktion: El Deseo, Renn Productions, France 2 Cinéma
Besetzung: Cecilia Roth (Manuela), Marisa Paredes (Huma Rojo), Antonia San Juan (Agrado), Penélope Cruz (Rosa), Candela Peña (Nina), Eloy Azorín (Esteban), Toni Cantó (Lola), Rosa Maria Sardà (Madre de Rosa) 183
Der Regisseur, Preise & Auszeichnungen des Films
Pedro Almodóvar ist wohl der bekannteste zeitgenössische Regisseur Spaniens und seine Filme
zählen für J.L. Fecé Gómez „zu den wichtigsten Zeichen der kulturellen Identität [s]eines
Landes“184. Ein wichtiger zeitgenössischer Hintergrund von Almodóvar ist die im
Postfrankismus185 entstandene Aufbruchs- und Avantgardebewegung, la movida madrileña, der
sich Almodóvar gegen Ende der 1970er Jahre anschloss. „Zentrale Themen sind Liebe, Sex und
Tod, die Ausführung ist provokant, überzeichnet, schrill und humorvoll.“186 1986 gründet Pedro
Almodóvar zusammen mit seinem Bruder die Produktionsfirma El Deseo. Als 1999 Todo sobre mi
madre entstand, war Almodóvar sowohl in Spanien als auch international bereits bekannt und
etabliert.
Todo sobre mi madre hat beeindruckend viele Preise und Auszeichnungen erhalten, unter
anderem den Oscar und Golden Globe für den Besten nicht-englischsprachigen Film 1999, den
Preis für die Beste Regie auf dem Filmfestival von Cannes 1999 und zahlreiche Goyas, den
wichtigsten spanischen Filmpreis: für Besten Film, Besten Regisseur, Beste Hauptdarstellerin,
Beste Filmmusik, Beste Inszenierung und Bester Sound.187
183
Weitere Darsteller_innen: Fernando Fernán Gómez, Carlos Lozano, Fernando Guillén, Manuel Morón, José Luis Torrijo, Juan José Otegui, Carmen Balagué, Malena Gutiérrez, Yael Barnatán, Carmen Fortuny, Patxi Freytez, Juan Márquez, Michel Ruben, Daniel Lanchas, Rosa Manaut, Carlos García Cambero, Agustín Almodóvar, Paz Sufrategui, Lola García, Esther García, Inmaculada Subira, Cayetana Guillén Cuervo, Lluís Pasqual, Dolores Pozzan, Fito Páez (IMDb, Todo sobre mi madre, full cast and crew) 184
Fecé Gómez, 2003, S. 102 185
Der spanische Diktator Franco verstarb 1975, damit verschwand die Zensur im Kino. 186
Amann, 1999/2005, S. 196 187
Vgl. Almodóvar, 1999/2005, S. 204-205, Liste vieler weiterer Auszeichnungen.
Abbildung 1: Cover der DVD
45
7.2. Einordnung des Films in Queer Cinema
Wie lässt sich dieser Film in das Queer Cinema einordnen, obwohl er auf den ersten Blick nicht
notwendigerweise queer scheint? Die Hauptdarstellerin ist zunächst nicht Teil einer lesbisch-
schwulen Subkultur, sie lebt mit ihrem Sohn in Madrid ein Leben, das den bürgerlichen Normen
entspricht. In Barcelona jedoch pflegt sie Freundschaften mit Agrado, Huma und Rosa, die einer
queeren Subkultur zugeordnet werden können. Auch stellt sich ihre Vergangenheit letztlich als
nicht so straight heraus, wie es zunächst scheint.
Gesellschaftliche Minderheiten oder Randgruppen werden in Todo sobre mi madre nicht als
solche inszeniert, sondern gehören ganz selbstverständlich zur filmischen Normalität: das
Drogen- und Prostituiertenmilieu wird ebenso selbstverständlich inszeniert wie die schwangere
Nonne Rosa oder die lesbische Schauspielerin Huma. Auch Transsexualität wird mit Agrado und
Lola ausführlich thematisiert.
Zentral für das Queer Cinema sind seit den 1980ern die Thematisierung von HIV und das Trotzen
gegenüber dem Tod. HIV wird in Todo sobre mi madre auf sehr unterschiedliche und
zwiespältige Art und Weise dargestellt. D_ HIV infizierte Lola wird als Epidemie und Monster
bezeichnet, über die Beziehung mit Manuela wird sie_er am Ende positiv in die Handlung
einbezogen. Auf der anderen Seite hat Esteban III das HIV in seinem Körper besiegt und
erscheint somit als Hoffnung einer ganzen Generation. Der Tod wird nicht nur in Bezug auf die
Krankheit AIDS thematisiert; auch die Organspende steht einerseits für den Tod des einen und
andererseits für das Leben des anderen.
Der Film greift nicht auf eindeutige filmische Konventionen zurück, sondern mischt und
verändert sie. So könnte Todo sobre mi madre dem Genre des Melodramas zugeordnet werden,
der Film hat aber auch komische Elemente und Wortwitz, sodass eine eindeutige Zuordnung des
Filmes nicht möglich ist.
Neben diesen Elementen, die Todo sobre mi madre innerhalb des New Queer Cinema verorten,
kann derFilm als queer im Sinne der Begriffsverwendung der Queer Theory verortet werden.
Diesen Punkten wird in folgenden Kapiteln nachgegangen, und ihr Potential perFormativen
Widerspruchs geprüft.
Über intermediale Verschränkungen werden Grenzen zwischen Performanz und PerFormativität
brüchig. Filmische Realität und Schauspiel gehen ineinander über: Zwischen Wahrheit und Lüge,
Schauspiel und Spiel, Künstlichkeit und Authentizität kann keine eindeutige Grenze gezogen
46
werden, und zwar nicht nur in Bezug auf die Film-Figuren wie beispielsweise bei Agrado und
Huma, sondern auch in Bezug auf Subjektpositionen: z.B. was es heißt, Mutter zu sein.
Der Film stellt die heteronormative Matrix in Frage, indem einige Institutionen, die diese
stabilisieren, hinterfragt werden. Die Familie wird zunächst als heterosexuelle Kleinfamilie
konstruiert, um sie dann mit queeren Gestalten zu besiedeln. Durch dieses perFormative
Widersprechen wird die eindeutige Zuordnung zu Heterosexualität in Frage gestellt. Des
Weiteren wird die Familie als selbst wählbar konstruiert und in ihrer modernen Kleinfamilien-
Konstellation deinstitutionalisiert.
Identität wird nicht als eine stabile Entität gesehen, viel eher wird die Krisenhaftigkeit
unterschiedlicher Identitätsentwürfe hervorgehoben. Identität wird als vorläufig und
veränderbar dargestellt, ebenso wie Körper im Wandel ist und dem Ideal, dem Traum vom
Selbst, angepasst wird. Es gibt kein eindeutiges Subjekt: das Ideal, das es zu erreichen gilt, ist für
alle ein unterschiedliches und wird als erstrebenswertes Ziel, jedoch nicht als Original, deutlich
gemacht. Es ist nicht vordergründig an ein Geschlechtssubjekt gebunden.
47
7.3. Narrationsstruktur:
Die Handlung des Filmes scheint geradlinig zu sein:
„Nach dem Unfalltod ihres 17jährigen Sohnes Esteban macht sich die Krankenschwester Manuela auf die Suche nach seinem Vater. In Barcelona, der Stadt, in der alles anfing, überstürzen sich die Ereignisse… “
188
Allerdings ist dies nur ein Teil des Films, in dem viele Verweise, Anspielungen sowie
verschiedene Handlungsstränge und Figurenkonstellationen zur Aufführung kommen, die
parallel zueinander dargeboten werden und über einzelne Handlungsträger_innen ineinander
übergehen.
Wie in Sequenzgrafik 1 schematisch dargestellt, kann der Film in drei große Etappen eingeteilt
werden, die durch Manuelas Reisen voneinander getrennt sind. In entsprechenden Einstellungen
wird die rasante Zugfahrt durch einen langen Tunnel gezeigt189. Die erste Etappe spielt in
Madrid, die zweite in Barcelona, die dritte zwei Jahre später wieder in Barcelona. Diese drei
Etappen, vor allem aber die Zeit in Barcelona, können nochmal in Handlungsstränge unterteilt
werden, die einerseits an das Leben der (möglichen) Hauptdarstellerin Manuela gebunden sind
und andererseits voneinander fast unabhängige Handlungs- und Themeneinheiten darstellen. In
der Sequenzgrafik 1 gibt die rechte Spalte einen Überblick über die einzelnen Filmszenen,190 die
in der linken Spalte thematisch Manuelas Leben zugeordnet werden, über welche alle
Erzählungen miteinander verbunden sind. Die mittlere Spalte ordnet den einzelnen Szenen
Charaktere und Themeneinheiten zu, über welche im Anschluss der Filmplot nacherzählt wird.
188
Almodóvar, 1999/2005, Klappentext 189
Abb. 3 und 8 190
Eine ausführliche Handlungsbeschreibung der einzelnen Szenen kann im Szeneprotokoll 1 im Anhang nachgelesen werden.
48
Sequenzgrafik 1
49
MADRID
Tod und Leben in Bezug auf Organspende
Der Vorspann des Films beginnt mit der Detailaufnahme einer Infusion; die EEG191-Grafik zeigt
keine Gehirntätigkeit mehr an. Manuela, die als Koordinatorin im Organspende-Büro arbeitet,
gibt die Daten des hirntoten Patienten durch. Zu Hause wünscht sich Manuelas Sohn Esteban als
Geburtstagsgeschenk, bei der Simulation eines Patient_innengesprächs dabei sein zu dürfen, in
dem seine Mutter als Laienschauspielerin mitwirkt. Für eine Ärzt_innenfortbildung wird ein
Gespräch auf Video aufgezeichnet und anschließend analysiert, in dem einer Frau mitgeteilt
wird, dass ihr Mann gestorben sei, und sie gebeten wird, die Organe ihres Mannes zur Rettung
anderer Leben freizugeben. Am darauffolgenden Tag wird Esteban von einem Auto angefahren
und stirbt. Über den Anruf einer anderen Transplantations-Koordinatorin erfahren wir vom Tod
Estebans. Als die beiden Ärzte – die auch bei der Simulation des Organspende-Gesprächs dabei
waren – auf sie zukommen, weiß Manuela ohne viele Worte worum es geht und bricht in lautes
Weinen aus. Geistesabwesend gibt sie die Unterschrift, Estebans Herz für eine
Organtransplantation freizugeben. Die Maschinerie der Transplantation wird von einem OP-Saal
in den anderen begleitet. Manuela findet heraus, wer das Herz bekommen soll und reist nach La
Coruña, wo sie unerkannt beobachtet, wie der Empfänger der Transplantation mit seinem neuen
Herz das Krankenhaus verlässt. Als das rauskommt, ist ihre Arbeitskollegin und Freundin Mamen
alles andere als erfreut: „Das ist nicht nur Amtsmissbrauch, sondern der beste Weg, verrückt zu
werden“. Manuela nimmt sich daraufhin Auszeit von der Arbeit und fährt nach Barcelona.
Am Ende des Films wird das Motiv der trauernden Mutter wiederholt: Diesmal verkörpert Huma
Rojo auf der Bühne eine Mutter, die um ihren toten Sohn klagt.
191
Enzephalogramm
50
Abbildung 2: Esteban und sein Notizbuch
Esteban & seine Notizen: Todo sobre…
Die Werbung endet, und Esteban ruft seine Mutter,
um gemeinsam mit ihr den Film All about Eve192
anzuschauen. Esteban beklagt sich, dass der Titel
des Filmes mit Eva al desnudo falsch übersetzt sei. „Todo sobre Eva suena raro“ wendet
Manuela ein, trotzdem übernimmt ihr Sohn diesen Titel in sein Notizbuch, in dem er eine
Erzählung über seine Mutter begonnen hat: ´Todo sobre …´ – ´Alles über …´. Um mehr über sie
zu erfahren, wünscht sich Esteban als Geburtstagsgeschenk, Manuela bei der Arbeit zu
begleiten. Nach einem gemeinsamen Theaterbesuch am nächsten Tag erzählt ihm seine Mutter,
dass sie vor zwanzig Jahren gemeinsam mit seinem Vater in Un tranvía llamado deseo193
(Endstation Sehnsucht) gespielt hatte; Manuela spielte Stella und der Vater Kovalski. Auf den
Wunsch Estebans hin verspricht Manuela, ihm alles über seinen Vater zu erzählen, den er nie
kennengelernt hatte. Dazu kommt es aber nicht mehr, Esteban wird bei einem Autounfall
getötet, während er versucht, ein Autogramm vom Theaterstar Huma Rojo zu bekommen.
Manuela bleiben nur noch Estebans Notizen, mit denen sie nach Barcelona reist, um sich auf die
Suche nach Lola – Estebans Vater – zu machen.
BARCELONA
In Barcelona trifft Manuela Agrado wieder, die sie vor zwanzig Jahren, ohne sich zu
verabschieden, zurückgelassen hatte. Gemeinsam machen sich die beiden auf Arbeitssuche.
Dabei lernt Manuela die Nonne Rosa kennen, die ihre Mutter zu überzeugen versucht, Manuela
im Haushalt anzustellen. Doch diese will keine vermeintliche Prostituierte im Haus haben.
192
All about Eve (USA, 1950) R: Joseph L. Mankiewicz 193
Tennessee Williams (1947) A Streetcar Named Desire
Abbildung 4: Barcelona
Abbildung 3: Zugfahrt
51
Huma und Endstation Sehnsucht
Huma Rojo spielt mit ihrer Gruppe Un tranvía llamado deseo inzwischen in Barcelona. Manuela
schaut sich in Gedenken an Esteban eine Vorstellung an und sucht im Anschluss daran Huma
Rojo hinter der Bühne auf. Diese ist außer sich, da ihre Kollegin und Geliebte Nina auf der Suche
nach Drogen in die Nacht verschwunden ist und bittet Manuela um Hilfe bei der Suche.
Daraufhin stellt sie Manuela als ihre persönliche Assistentin an. Während ihrer Arbeit hört
Manuela in der Garderobe immer wieder den Text vom Endstation Sehnsucht. Zwei Wochen
später ist Nina so high, dass sie nicht
spielen kann. Um die Vorstellung nicht
absagen zu müssen, bietet Manuela an,
Nina zu ersetzen und selbst Stella zu
spielen. Die Vorstellung verläuft
erfolgreich194, allerdings ist Nina am
nächsten Tag außer sich und bezeichnet Manuela als ´Eva Harrington´, als eine, die sich
eingeschlichen hat, um ihr die Rolle abspenstig zu machen. „Mit Endstation Sehnsucht hat mein
ganzes Leben zu tun,“ beginnt Manuela daraufhin ihre Erklärung. Vor 20 Jahren hat sie als Laien-
Schauspielerin in diesem Stück ihren Mann kennengelernt, vor zwei Monaten ist ihr Sohn nach
der Vorstellung dieses Stückes in Madrid bei einem Unfall getötet worden. Betroffen von der
Geschichte besucht Huma am nächsten Tag Manuela und bittet sie, zurückzukehren. Doch
Manuela möchte sich um Rosa kümmern und schlägt Agrado als Ersatz für die Stelle als
persönliche Assistentin vor.
Auch inhaltlich weist das Stück Parallelen zu der Beziehungsproblematik zwischen Lola und
Manuela auf: In den ersten beiden eingespielten Szenen von Endstation Sehnsucht droht Stella –
mit dem Baby auf dem Arm – das Haus zu verlassen und nie mehr wieder zurückzukommen.
Manuela hatte es mit ihrem Mann nicht einfach, sodass sie ihn vor 18 Jahren schwanger
verlassen hatte und nach Madrid floh.
194
Siehe Abb. 5
Abbildung 5: Manuela als Stella in Un tranvía llamado deseo
52
Agrado: Veränderungen
Nach ´der kleine Abreibung´ eines Freiers geht Agrado in ´Rente´. Zusammen mit Manuela macht
sie_er sich auf Arbeitssuche. Der Strich sei nämlich nicht mehr das, was er einmal war. Es gäbe
zu viel Konkurrenz von Seiten der Drags und Nutten.
Später löst Agrado Manuela bei Huma Rojo als
persönliche Assistentin ab. La Agrado war
früher Lastwagenfahrer und arbeitet seit
ihr_seiner Operation der Brüste als
Prostituierte. Dies ist die Antwort, als Huma
fragt, ob Agrado Autofahren könne.
In der Garderobe hält sie_er für Nina einen Monolog über die Schädlichkeit von Heroin,
daraufhin fragt diese, ob Agrado nie daran gedacht hätte, den Schwanz wegzumachen. Dann
hätte sie_er keine Arbeit mehr auf dem Strich, ist die Begründung Agrados. Zwei Szenen später
fragt Mario Agrado ob sie ihm einen Blasen würde, da er nervös sei. Agrado wehrt sich dagegen,
in die Rolle der Prostituierten gedrängt zu werden. Sie_er dreht die Frage um und fragt, ob denn
die Leute ihn zum Blasen auffordern würden, nur weil er einen Schwanz habe. In diesem
Moment kommt ein Anruf, dass Huma und Nina im Krankenhaus sind, weil sie einen heftigen
Streit hatten. Agrado sagt die Vorstellung ab, bietet aber allen, die noch bleiben wollten an,
sein_ihre Lebensgeschichte zu erzählen bzw. die Geschichte ihr_seines von
Auf dem Heimweg von ihrer Mutter erbricht Rosa. Manuela nimmt sie mit in ihre Wohnung, bis
es ihr besser geht. Dort spricht Rosa sie auf das Bild von Esteban an. Am nächsten Morgen weckt
Rosa Manuela mit der Nachricht, von Lola schwanger zu sein. Da sie nicht mehr im Orden leben
könne und es weniger skandalös wäre, bittet Rosa, bei Manuela wohnen zu dürfen. Diese lehnt
ab, verspricht aber, Rosa zum Arzt zu begleiten. Nachdem Rosa nicht versteht, warum Manuela
so abweisend auf Lola reagiert, erzählt Manuela im Wartesaal die Geschichte von Lola und einer
´Freundin´: Die Freundin habe geheiratet und sei ihrem Mann nach Europa gefolgt. Dieser hätte
sich verändert und zwei Brüste machen lassen. Er_sie habe eifersüchtig sein_ihre Frau bewacht,
während er_sie mit allen rummachte, die sie_er kriegen konnte. Da wird Rosa ins
Untersuchungszimmer gebeten. Der Arzt versichert ihr, dass mit dem Baby alles in Ordnung sei,
allerdings müsse Rosa sich schonen, da die Gefahr einer Fehlgeburt bestünde. Manuela drängt
Rosa, alles ihrer Mutter zu erzählen. Als Rosa zögert, betont Manuela, dass sie sich nicht um sie
Abbildung 6: Agrado und Manuela
53
kümmern könne, da sie inzwischen einen Job habe. Zwei Wochen später liegt das Ergebnis der
Blutuntersuchung vor: Rosa ist HIV positiv. Manuela ist wütend, sie fragt, wie Rosa nur mit Lola
hatte vögeln können und ob sie nicht wisse, dass Lola seit 15 Jahren an der Nadel hänge.
Dennoch nimmt sie Rosa bei sich auf und pflegt sie. Monate später kommt Rosas Mutter zu
Besuch. Das Treffen zeigt die Entfremdung der beiden; der demente Vater wird überhaupt nicht
informiert, da er ohnehin außerstande sei, Zusammenhänge zu begreifen. Da Rosas Mutter mit
der Situation überfordert wäre, ist sie froh, dass Manuela Rosa aufgenommen hatte. Diese
braucht zunehmend mehr Pflege und bringt schließlich im Krankenhaus durch einen
Kaiserschnitt das Kind zur Welt. Auf dem Weg dorthin fährt Rosa am Platz vorbei, auf dem sie in
ihrer Kindheit oft gespielt hatte und verabschiedet sich dort von ihrem Hund Sapic und ihrem
Vater, der sie nicht erkennt. Am Krankenbett vertraut sie Manuela ihren Sohn an, der als ´dritter´
Esteban nach Lola (Esteban I) und Manuelas Sohn (Esteban II) jetzt endgültig Manuela gehören
sollte. Sie nimmt ihr auch das Versprechen ab, Esteban nichts zu verheimlichen, wenn sie
sterben würde.
Lola: Tod/Leben und HIV
Auf Rosas Beerdigung erscheint Lola auf dem
Friedhof. Manuela findet den Ort passend,
da Lola kein Mensch, sondern eine Epidemie
sei. „Exzessiv, das war ich immer, aber jetzt
bin ich müde.“ entgegnet Lola und kündigt
sein_ihren Tod an. Zuvor möchte er_sie noch Abschied nehmen und würde gern ihr_seinen
Sohn, Rosas Kind, sehen. Manuela klärt ihn_sie über die Existenz ihres gemeinsamen Sohnes und
dessen Tod auf, dem sie den ursprünglichen Namen seines Vaters gegeben hatte: Esteban. Einen
Monat später trifft sich Manuela mit Lola, um ihn mit Esteban III bekanntzumachen. Lola ist
gerührt und entschuldigt sich für das schwere Erbe, das er_sie dem Kind mitgegeben habe: das
HIV. Manuela schenkt ih_ ein Foto von Esteban II. Die ganze Szene im Kaffee scheint wie eine
Aussöhnung zwischen Manuela und Lola.
Abbildung 7: Lola auf dem Friedhof
54
Abbildung 9: Wiedersehen
Esteban III
Manuela und Esteban III wohnen im Haus von Rosas Eltern. Rosas Vater ist eifersüchtig und
glaubt, das Kind sei von seiner Frau. Die Großmutter ist besorgt, dass jemand etwas über die
´Antikörper´ erfahren könnte, sowohl in Bezug auf ihre Tochter Rosa, als auch auf Esteban III. Als
sie Esteban III in den Armen von Lola sieht, regt sie sich darüber auf, mit welchen Menschen ihr
Enkelkind in Berührung komme. Mehr noch entsetzt sie aber die Tatsache, dass diese Frau der
Vater von Esteban III sein solle: „Dieses Monster hat also meine Tochter umgebracht!“ Da das
Leben im Haus der Großeltern unerträglich geworden sei und die Großmutter Angst habe, sich
an Esteban anzustecken – wie sie Agrado und Huma in einem Abschiedsbrief mitteilt –
beschließt Manuela, das Kind an einen Ort zu bringen, wo es nicht von so viel Feindseligkeit
umgeben sei.
REISE & RÜCKKEHR
Zwei Jahre später kehrt Manuela nach Barcelona zurück, wo sie mit Esteban auf einen AIDS-
Kongress195 eingeladen ist. Dort soll das noch unerklärliche Verschwinden des HI-Virus aus
Estebans Blut bei einem medizinischen Kongress untersucht werden. Inzwischen ist das Leben in
Barcelona weitergegangen. Lola ist gestorben, Nina hat geheiratet und ein Kind bekommen, die
Großmutter von Esteban hat sich verändert, sodass Manuela und Esteban bei ihr wohnen
können. Bevor Lola starb, hatte er_sie das Foto von Esteban II Huma übergeben, welche es für
Manuela aufbewahrt hatte. Manuela überlässt das Foto ihres Sohnes der Schauspielerin, die
gerade auf der Bühne eine trauernde Mutter verkörpert.
195
Congreso de SIDA organizado por Can Ruti (Krankenhaus in Barcelona)
Abbildung 8: Zugfahrt
55
7.4. Protagonist_innen
Die Erzählung des Filmes ist zum Großteil an Manuela gebunden und hat eine auf ihre Person
zugeschnittene Erzählperspektive. Manuela ist in fast allen Szenen anwesend196, was dazu führt,
dass die Zuschauenden fast ausschließlich das sehen, was sich in ihrer Gegenwart zuträgt197.
Manuela tritt nicht als externe Erzählerin auf, erzählt jedoch in Dialogen mit Rosa und Huma von
ihrer Vergangenheit mit Lola und Esteban II. Im Zug berichtet sie in Form von inneren
Monologen (Stimme aus dem OFF) über die Motive ihrer Zugfahrten und bettet damit die
Geschichte in einen größeren lebensgeschichtlichen Zusammenhang. Über die zahlreichen
Dialogszenen tritt Manuela mit allen anderen Filmfiguren in Verbindung.
Manuela arbeitet als Krankenschwester in einem Krankenhaus in Madrid und ist
alleinerziehende Mutter, deren 17jähriger Sohn bei einem Autounfall ums Leben kommt. In
Trauer macht sie sich auf die Suche nach seinem Vater und damit ihrer verleugneten
Vergangenheit. Sie kehrt nach Barcelona zurück, das sie vor fast 18 Jahren verlassen hatte. Dort
unterstützt Manuela ihre Freundinnen, wenn diese ihre Hilfe am Nötigsten brauchen: Agrado
rettet sie vor der Attacke eines Freiers, Huma Rojo begleitet sie als persönliche Assistentin, für
Rosa ist sie Schwester und Mutter während deren Schwangerschaft. Schließlich trifft sie auch
Lola und erfüllt ih_ den letzten Wunsch, sein_ihren Sohn zu sehen.
Huma Rojo ist eine erfolgreiche Schauspielerin, wie ihr Idol Bette Davis, wegen der sie zu
rauchen begonnen hatte. Der Rauch (Humo) wurde zu ihrem Markenzeichen, weshalb sie sich
Huma nennt. Außer Rauch habe sie eigenen Angaben zufolge nicht viel vom Leben, denn Erfolg
habe weder Geschmack noch Geruch.
La Agrado ist eine liebenswerte Person, die es als ihre Lebensaufgabe sieht, anderen Menschen
das Leben angenehm (agradable) zu machen, woher auch der Name „La Agrado“ kommt. Sie_er
ist sehr aufgeschlossen, schlagfertig und verbreitet in ihr_seiner direkten Art und
Ausdrucksweise gute Stimmung. Die Ehrlichkeit und die Art, die Dinge beim Namen zu nennen
und dabei Tabus zu brechen, erheitern nicht nur den Zuschauer_innensaal im Theater.
Gleichzeitig ist sie diskret und kann Geheimnisse für sich behalten.
Rosa kümmert sich als Ordensschwester um Prostituierte, Transvestiten, Arbeitslose. Sie wollte
trotz des Bürgerkrieges nach San Salvador, um dort Unterstützung zu sein. Daraus wurde
allerdings nichts, da sie, während sie Lola beim Entzug half, von ih_ schwanger und mit HIV
196
Manuela ist in 50 von 59 Filmszenen anwesend, Vgl. Szeneprotokoll Anhang II 197
Mit Ausnahme der Szenen mit Agrado im Backstage und auf der Bühne.
56
infiziert wurde. Trotz aller Schwierigkeiten ist es für sie klar, dass sie das Kind bekommen wird.
Rosa wird einerseits wie ein Kind („Es como una niña“) dargestellt, andererseits weiß sie in
Bezug auf San Salvador und ihr Kind genau, was sie will. Für ihre Mutter ist sie wie eine
Außerirdische.
Esteban ist der Sohn von Manuela. Er stirbt bereits in der ersten Sequenz des Filmes, weshalb
wir nur wenig über ihn erfahren. Sein Foto und seine Notizen begleiten aber den Film bis zum
Ende, sodass er dennoch immer gegenwärtig bleibt. Esteban beschreibt sich selbst als Sohn einer
alleinerziehenden Mutter und als Schriftsteller, was tran auch an seinem Äußeren erkennen
könne.
Über Lola erfahren wir durch Erzählungen von anderen; er_sie selbst taucht erst in der letzten
Sequenz nach dem Tod Rosas auf. Manuela erzählt von Lolas ausschweifendem (Sexual-)Leben;
Agrado berichtet, dass Lola sie ausgeraubt habe; Rosa erzählt vom Drogen-Entzug. Lola selbst ist
müde und nimmt Abschied vom Leben, wünscht sich aber einmal ihr_seinen Sohn zu sehen.
LOLA. ¡Siempre fui excesiva! Estoy muy cansada, Manuela… Me estoy muriendo.198
198
LOLA. Exzessiv war ich immer, aber jetzt bin ich müde, Manuela… Ich werde sterben. (Tsmm, 1999, 1:20)
57
7.5. Filmstruktur
Die Filmhandlung wird vorwiegend über Dialoge aufgebaut, wobei die Kamera in der Regel eine
normale Position einnimmt, d.h. auf Augenhöhe der Gefilmten ist. Die Dialoge werden über
Establishing Shots situiert, um dann in halbnahen Einstellungen bis Großaufnahmen eine
unaufdringliche Nähe zu den sprechenden Personen aufzubauen, die durch längere
Einstellungen noch unterstrichen wird.
Von dieser Grundstruktur unterscheidet sich die Szene der Organspende: Die Kameraführung ist
sehr bewegt, die halbnahen Einstellungen zeigen Ausschnitte, die abgeschnitten wirken und mal
von oben, mal von unten gefilmt werden. Insgesamt wirkt die ganze Szene dadurch hektisch.
Die zweite Szene, die sich von den anderen unterscheidet ist die Ankunft Manuelas in Barcelona;
über eine Panoramaaufnahme199 wird die Stadt eingeführt und durch das Wahrzeichen
Barcelonas, die Kathedrale La Sagrada Familia, eindeutig identifiziert.
In beiden Szenen ist die Musik im Vordergrund und unterstreicht die Handlungen. Vor allem
während der Fahrt nach Barcelona wird über die Musik ein Stimmungswechsel von einer tristen
Trauerstimmung zu einer angenehmen, heiteren Stimmung vollzogen..
Die Erzählzeit ist nicht deckungsgleich mit der erzählten Zeit: durch diskrete Schriftzüge werden
größere zeitliche Raffungen ausgewiesen.
7.6. Orte des Films
Der Film spielt in Madrid und Barcelona, zwei Großstädten in Spanien. Die Filmhandlung findet
vorwiegend in den Lebensräumen der Protagonist_innen statt: in den Wohnungen von Manuela,
Agrado und Rosas Mutter sowie in der Garderobe von Huma. Die Theaterbühne und das
Krankenhaus sind weitere Orte der Filmhandlung. Einzelne Szenen finden schließlich im Freien
statt, und zwar jene, welche Gefahren oder unangenehme Situationen bergen: Estebans Unfall
auf der Straße, Agrados Arbeitsplatz, an dem sie überfallen wurde, die Suche nach Nina, welche
beim Drogenkauf betrogen wurde und schließlich die Szene der Beerdigung auf dem Friedhof.
199
Abb. 4
58
8. PerFormative Verschiebungen sozialer Konventionen am
Beispiel der heterosexuellen Matrix
MANUELA. ¡Esa mujer es su padre!200
Da jede Sinngebung auf Wiederholung beruht, greifen Filminhalte auf soziale Konventionen
zurück, um verstanden zu werden201. Wo etwas aufgeführt wird, wird auch immer
PerFormativität bedeutsam, d.h. in jeder Aufführung von Diskursen ist gleichzeitig auch deren
Verschiebung eingeschrieben. Die in meiner Untersuchung relevanten Filme des Queer Cinema
können – wie oben ausgeführt – als Produkt künstlerischer und zugleich bewegungspolitischer
Wissensproduktion gelten. In ihnen werden in Gegendiskursen queere Perspektiven artikuliert
und Macht- und Herrschaftskritik geübt. Bestätigung von Normen und ihre Subversion gehen
dabei ein komplexes Verhältnis ein; Filme müssen mit Bedingungen umgehen, die nicht völlig in
ihrer Macht stehen. Queer Cinema kann so als Schnittstelle verschiedener Diskurse202 dienen, in
denen sich – zumindest potentiell – Kämpfe um Definitionsmacht verdichten, und in denen
hegemonialen Diskursen performativ widersprochen wird. Dies wird am Beispiel von Todo sobre
mi madre in Bezug auf Verschiebungen der heterosexuellen Matrix untersucht.
200
Diese Frau ist sein Vater! (Tsmm, 1999, 1:27) 201
Auch fiktionale Texte müssen gesellschaftliche Verhältnisse aufgreifen, um Sinn zu erzeugen. Vgl. dazu Hoffarth, 2009 202
Für Chantal Mouffe ist Widerstreit Demokratisches Prinzip: In der Politik besteht Zwang zur Entscheidung um handeln zu können; der Konsens darf aber nur als vorläufiger (hegemonialer) gedacht werden, radikaldomokratisch muss Dissenz bevorzugt werden.
A todas las actrices que han hecho de actrices. A todas las mujeres que actúan.
A los hombres que actúan y se convierten en mujeres.203
Die PerFormativität des Geschlechts ist mit Butler als ein sich ständig wiederholender Akt zu
verstehen, in dem auf geschlechtliche Konventionen verwiesen wird, diese Verweise aber
zugleich verschleiert werden. Auch das In-Szene-setzen von Geschlechtlichkeit im Film ist
gebunden an performative Herstellung von Geschlechtssubjekten. Sowohl medial inszenierte
Geschlechter-Identitäten als auch die Geschlechter-Identitäten der Zuschauenden werden vom
Konzept der PerFormativität bestimmt. Unter dieser Perspektive ist die Abgrenzung zwischen
medialen und außermedialen Geschlechterentwürfen brüchig geworden.204
Der Film ist über ein Insert am Ende des
Films all jenen gewidmet, die
schauSpielen; ´actuar´205 heißt im
Spanischen sowohl Handeln, Agieren als
auch Schauspielen, es kann also nicht
eindeutig übersetzt werden, sondern
bleibt in eben dieser Doppeldeutigkeit zwischen Schauspiel und perFormativem Handeln. Die
Figuren in Todo sobre mi madre bewegen sich einerseits auf der (Theater)Bühne und
schauspielen, machen also eine Performanz. Andererseits handeln sie perFormativ und spielen
auf einer anderen Bühne, der des Lebens, des Film-Alltags.
Wenn ich von perFormativem Handeln spreche, geht es um den alltäglichen Umgang mit
Situationen, mit Konflikten, mit anderen Handelnden. Dabei ist die handelnde Person eine, die
ihr Selbst-Verständnis in ihrem Umfeld bildet und verändert und nicht auf einer festen oder
ursprünglichen Identität beruht.
Mit Performanz ist das Schauspiel auf der Bühne gemeint. Dabei wird nicht die Identität einer
Figur inszeniert; die Performanz ist hier ein bewusstes In-Szene-Setzen, dem keine Wahrheit
oder Realität in Bezug auf das spielende Subjekt abverlangt wird.
203
An alle Schauspielerinnen, die Schauspielerinnen gespielt haben. An alle Frauen, die (schau)spielen. An Männer die (schau)spielen und sich in Frauen verwandeln. (Tsmm, 1999, 1:32) 204
Vgl. Seier, 2004, S. 48 205
Ähnlich wie das Englische ´to act´
Abbildung 10: Insert Widmung
60
Schauspiel wird im Film mit Lüge und Improvisation verknüpft206, mit Betrug und Fälschung207. In
Bezug auf das Subjekt erscheint die Performanz als eine Falsch-Inszenierung des ´tatsächlichen
Subjektes´, welches von der gespielten Rolle abweicht. Dies würde aber voraussetzen, dass es
ein tatsächliches Subjekt hinter dem spielenden gibt. Ich gehe aber mit Butler davon aus, dass
auch dieses immer schon ´spielt´, immer schon eine Rolle einnimmt, ein Ideal zu erreichen
versucht. Diese Grenze ist also eine fließende, und jedes Handeln, auch das auf der Bühne,
befindet sich immer schon auf perFormativem Grund. Die Unterscheidung zwischen Schauspiel
und alltäglichem Handeln wird im Film immer wieder durchbrochen und umgestaltet, und zwar
in beide Richtungen, sodass einerseits das Schauspiel als ´echt´ in der Filmrealität erscheint und
andererseits perFormative Alltagshandlungen als inszeniert dekonstruiert werden. Die Trennung
bzw. Zusammenführung von Performanz und PerFormativität kann als dominantes
Inszenierungsmerkmal des Films Todo sobre mi madre angesehen werden, wie ich im Folgenden
mit Fokus auf die Herstellung und Verschiebung der heterosexuellen Matrix nachskizzieren
werde.
206
„Ich kann gut lügen und bin gewohnt zu improvisieren“ ist die Antwort Manuelas auf die Frage, ob sie Schauspielen kann. 207
Über den Verweis auf All about Eve.
61
8.2. Wandelbarkeit von (Geschlechts)Körper
Körperlichkeit wird in Todo sobre mi madre auf mehreren Ebenen inszeniert und verhandelt.
Das, was als Körper-Wirklichkeit relevant gemacht wird, wird als ein spezifischer, kontextueller,
sozial gebundener Körper gezeigt und unterscheidet sich, je nachdem, ob es sich um den Kontext
einer Organspende handelt, um eine Bühnen-Aufführung oder um den Strich. Durch die
Parallelsetzung unterschiedlicher Körperwirklichkeiten wird Körper als soziales Konstrukt
aufgedeckt und kann mit Butler als materialisierter Diskurs gelesen werden.
Geschlecht, Alter, Blutgruppe und Gewicht sind die Körpermerkmale, die das Krankenhaus
erfasst208, um Organe aus einem Körper einem anderen zuzuordnen, die also die
Patient_innenidentität von Organspender_innen ausmachen.
Haare, Nägel, Mund sind die Körpermerkmale, die nach Agrado eine Frau definieren, zudem
seien feste Brüste und ein guter Schwanz das, was für den Strich notwendig ist.
AGRADO. A los clientes les gustan […] un par de tetas duras como ruedas recién infladas y además un buen rabo…
209
Wenn diese Merkmale in andere Kontexte übertragen werden, wirken sie lächerlich und werden
entnaturalisiert: So ist die Frage nach Alter und Größe absurd, wenn sie der von Alzheimer
geplagte Vater von Rosa all jenen stellt, die er nicht (mehr) kennt, während die Frage im
Krankenhaus legitim ist. Was auf dem Transvestiten-Strich erwünscht ist – die gleichzeitig
gegebenen körperlichen Geschlechtsmerkmale Brüste und Penis – irritiert in einem anderen
Kontext.
MARIO. Será la primera vez que le como la polla a una mujer210
Die Körper-Wirklichkeit in Todo sobre mi madre ist eine veränderbare, sowohl in Bezug auf den
medizinischen Diskurs als auch in Bezug auf den Geschlechtskörper. Organe sind austauschbar
und verändern nicht wirklich was. Das Herz von Esteban schlägt in einem andern Körper und
208
Abb. 11 und 12 209
AGRADO. Die Klienten mögen […] ein Paar Titten hart wie frisch aufgepumpte Reifen und zudem einen guten Schwanz… (Tsmm, 1999, 1:06) 210
MARIO. Es wäre das erste Mal, dass ich einer Frau den Schwanz lecke. (Tsmm, 1999, 1:09)
geht damit über den Körper von Esteban hinaus. Der Empfänger merkt allerdings keine
Veränderung:
HOMBRE. Lo único que noto es que respiro igual211
Auch Lola lässt sich Brüste machen, ändert sich aber nicht wirklich.
MANUELA. Exceptuando las tetas nuevas, su marido no había cambiado tanto. […] ¡Cómo se puede ser tan machista con semejante par de tetas!
212
Agrado hingegen lässt sein Leben als Lastwagenfahrer hinter sich und wird mit den neuen
Brüsten Prostituierte; mit den Veränderungen am Körper verändert sich auch ihr_sein Leben.
Agrado parodiert ihr_seinen Körper und schafft ein komisches Moment durch die Gleichstellung
von Natürlichkeit und augenscheinlicher Künstlichkeit.
AGRADO. ¡Miren que cuerpo! ¡Todo hecho a medida! […] Tetas, dos, porque no soy ningún Mostro, setenta cada una, pero estas las tengo ya superamortizadas. Silicona en labio, frente pómulo, cadera y culo. El litro cuesta cien mil, así que echad la cuenta porque yo ya la he perdido. Limadura de mandíbula, setenta y cinco mil. Depilación definitiva con laser, porque la mujer también viene del mono, tanto o más que el hombre, sesenta mil por sesión. Depende de lo barbuda que seas, lo normal es de dos a cuatro sesiones, pero si eres folclórica necesitas mas, claro.
213
In der Inszenierung sein_ihres künstlichen Körpers macht Agrado nicht die Transsexualität
explizit, wohl aber das Ideal eines perfekten Frauenkörpers. Agrado habe sich zwei (!214) Brüste
machen lassen, sie_er sei ja kein Monster, und habe Silikon an den verschiedensten Stellen
sein_ihres Körpers, die sie_er einzeln ausführt. Gleichzeitig führt sie_er das Paradox weiblicher
Körperbehaarung vor: „Auch die Frau stammt vom Affen ab“ und umso ursprünglicher sie_er sei,
umso mehr Haare habe sie_er, gleichzeitig gilt das Ideal eines unbehaarten Frauenkörpers215,
das durch Laserdepilation erreicht werden kann.
211
PATIENT. Das einzige, was ich merke, ist, dass ich gleich atme. (Tsmm, 1999, 0:18) 212
Außer den neuen Titten hat sich ihr Mann nicht viel geändert. […] Wie kann man so ein Macho sein mit solchen Titten! (Tsmm, 1999, 0:46-0:47) 213
AGRADO. Schaut welch ein Körper! Alles maßgeschneidert! […] Titten, zwei, ich bin ja kein Monster, 60.000 das Stück, aber die haben sich schon amortisiert, Silikon in Lippen, Stirn, Backenknochen in Hüften und Po. Der Liter 100.000 etwa, macht selbst die Rechnung, ich habe den Überblick schon verloren. Zurechtfeilen der Kinnpartie 75.000, dauerhafte Laserdepilation, denn auch Frauen stammen vom Affen ab, genauso oder noch mehr als der Mann, 60.000 die Sitzung, je nach Bartwuchs sind zwei bis vier Sitzungen normal, aber wenn tran folklorisch/ursprünglich ist, sind´s dann natürlich mehr. (Tsmm, 1999, 1:14) 214
Die Betonung liegt auf zwei, nicht nur eine! 215
Unbehaart bezogen auf die Körperbehaarung; Kopfbehaarung, Wimpern und Augenbrauen hingegen symbolisieren Weiblichkeit.
63
Agrado grenzt sich im Gespräch mit Rosa von den Drags216 ab, die Travestie mit Zirkus oder
Schauspiel verwechseln würden, die das andere Geschlecht nur aufführten, aber nicht ´echt´
seien in dieser Inszenierung. Das, was eine echte Frau (bezogen auf den Strich) ausmachen
würde, sind ihre Haare, Nägel und ein hübscher Mund zum Blasen und Lästern. In der Betonung
der Glatze der ´Unechten´ stellt Agrado nochmal die Haare als Attraktivitäts-Symbol in den
Vordergrund.
AGRADO. ¡No puedo con las drags! Han confundido circo con travestismo, que digo circo ¡mimo! Una mujer es un pelo, una uña, una buena bemba, pa mamarla o criticar. Pero vamo´ ¿Dónde se habrá visto una mujer calva?
217
Transsexualität wird im Film als eine Norm inszeniert, als eine von vielen möglichen
Lebensweisen: Manuela akzeptierte die körperlichen Veränderungen ihres Mannes vor 20
Jahren, und mit Agrado ist Transsexualität Teil ihres engsten Freundeskreises. Weder Rosa noch
Huma sind erstaunt oder irritiert über Agrados oder Lolas transsexuellen Körper.
Diese (Film)Norm wird unterstrichen, indem zur
Abgrenzung Rosas Mutter als ´Andere´ figuriert
wird, die konservative und bürgerliche Normen
verkörpert und sowohl Prostituierte als auch
Transsexuelle ablehnt:
MADRE ROSA. ¿Como te atreves a traer una puta a casa?218
216
DRAG bedeutet ´Dressed As a Girl´. Eine Drag-Queen (od. später auch Drag-King/Dressed as a Guy) trägt Kleider des anderen Geschlechts oftmals zur künstlerischen Parodie der Geschlechtsrollen. 217
AGRADO. Ich kann nicht mit den drags! Die haben Zirkus mit Travestie verwechselt, was sage ich Zirkus, mit Mimentheater! Eine Frau sind ihr Haar, ihre Nägel, ein schöner Mund zum Blasen und Lästern. Aber wo hat man je eine Frau mit Glatze gesehen? (Tsmm, 1999, 0:31) 218
MUTTER ROSA. Wie kannst du es wagen, eine Hure ins Haus zu bringen? (Tsmm, 1999, 0:33)
Abbildung 13: Rosas Mutter sieht Lola das Kind küssen
64
8.3. (Geschlechts)Identität
In Todo sobre mit madre geht es nicht nur um die Krisenhaftigkeit geschlechtlicher Identität,
Identität wird grundsätzlich in Frage gestellt. Der Film macht sich über ein Konzept von Identität
lustig, das eine stabile, eindeutige, individuelle Identität vorsieht und dekonstruiert ihre
Funktionalität.
Ich werde hier drei Ebenen nachzeichnen, auf denen diese Dekonstruktion von identitären
Entwürfen stattfindet. Identitäten werden als vorläufig und veränderbar inszeniert und offen als
Idealvorstellungen perFormt. In Bezug auf Geschlechtsnormen wird eine Verschiebung
aufgezeigt zwischen dem, was die Norm sagen will und denen, die danach handeln. Über das
Lächerlich machen von Eigennamen wird individuelle Identität ad absurdum geführt.
Vorläufige und veränderbare Identitätsentwürfe
Identität wird als vorläufig und veränderbar vorgestellt: Manuelas Leben gerät durch den
Unfalltod ihres Sohnes aus der Bahn, sie lässt alles Bisherige in Madrid zurück und fährt nach
Barcelona, um sich dort eine neue Identität, eine neue Lebensperspektive aufzubauen. Fast zwei
Jahrzehnte vorher hatte sie Barcelona verlassen und sich in Madrid ein völlig neues Leben
aufgebaut, das nichts mit dem vorherigen zu tun hatte. Das Leben, das sie jeweils vorher hatte,
lässt sie zurück. Nur ein paar zerrissene Fotos weisen auf ein Leben vor Madrid hin. Später gibt
es nur ein Foto von Esteban II und sein Notizbuch, das auf ein Leben in Madrid hinweist. Es
scheint, dass Manuela (mindestens) drei verschiedene Leben und damit verbunden drei
verschiedene Identitätsentwürfe gelebt hat.
Ähnlich entwirft auch Agrado verschiedene Identitäten im Laufe ihr_seines Lebens. Agrado
verkörpert die Vorläufigkeit und Veränderbarkeit der Geschlechtsidentität. In der Jugend war er
Lastwagenfahrer, später ließ sie_er sich Brüste machen und wurde ´Nutte´. Jederzeit ist er_sie
bereit, sich ein anderes Leben aufzubauen: Agrado überlegt, sich mit Rosa auf den Weg nach El
Salvador zu machen, um dort als Model groß rauszukommen. Als sie_er erfährt, dass es dort
Guerilla gäbe, findet Agrado die Idee nicht mehr so gut. Schließlich wird er_sie persönliche
Assistentin von Huma und lässt das Leben als Prostituierte hinter sich. Sie_er versteht nicht,
warum sich Nina und vor allem Mario doch noch darauf beziehen.
65
Identität als erstrebenswertes Ideal
Die Szene, die meines Erachtens die Schlüsselszene der Inszenierung von Identität darstellt,
findet interessanterweise auf der Bühne statt:
Agrado betritt die Bühne und wird vom Licht der Scheinwerfer geblendet. Sie_Er entschuldigt die
zwei Schauspielerinnen Huma und Nina und sagt die Vorstellung ab. Für alle, die aber nun schon
mal da sind und nichts Besseres zu tun hätten, würde sie_er die Geschichte ihres_seines Lebens
erzählen.
AGRADO. Me llaman La Agrado porque toda mi vida solo he pretendido hacerles la vida agradable a los demás. Además de agradable soy muy autentica. ¡Miren que cuerpo! ¡Todo hecho a medida! Rasgado de ojos, ochenta mil. Nariz, doscientas, tiradas a la basura porque un ano después me la pusieron así de otro palizón. Ya sé que me da mucha personalidad, pero si llego a saberlo no me la toco. […] Bueno, lo que les estaba diciendo, es que ¡cuesta mucho ser autentica, señoras! y en estas cosas no hay que ser rácana, porque una es más auténtica cuanto más se parece a lo que ha soñado de sí misma."
219
Agrado fängt mit ihr_seinem Namen an, der selbstgewählt und Zeichen von Identität ist: La
Agrado, die, die allen das Leben angenehm (agradable) machen will. Des Weiteren beschreibt
sie_er ihr_seine zahlreichen schönheitschirurgischen Eingriffe, denn Authentisch-Werden hat
seinen Preis, aber da dürfe tran nicht geizig sein, denn tran ist umso authentischer, je mehr tran
dem Traum ähnelt, die sie_er von sich hat. Authentizität wird hier nicht mit Original
gleichgesetzt, sondern mit einem Ideal, das es asymptotisch zu erreichen gilt, d.h. dem tran so
nahe wie möglich kommen muss, um echt zu sein. Agrado benutzt den Raum der Bühne, zu dem
sie_er eigentlich keinen Zugang hat, um sich selbst öffentlich zu machen. Gleichzeitig gestaltet
sie_er ihn in nicht konventioneller Weise um und beansprucht in dem, was sie_er inszeniert –
nämlich sich selbst – Authentizität. Diese Szene widerspricht den Erwartungen, die mit der
Bühne (in diesem Moment) verbunden sind: Anstatt die im Stück Un tranvía llamado deseo220
verkörperten bipolaren Geschlechtszuordnung von Stanley und Blanche, verkörpert Agrado
geradezu ein Kontinuum zwischen den Geschlechtern. Anstatt der brutalen Realität, die im
Theaterstück noch über die Phantasie siegte, klagt Agrado über die asymptotische Annäherung
an ihr_sein Ideal ´Echtheit´ für sich und ihr_seine Träume ein.
219
AGRADO. Man nennt mich die Agrado [el agrado ist die Freundlichkeit], weil ich mein ganzes Leben immer nur versucht habe, den anderen das Leben angenehm zu machen. Außer freundlich bin ich sehr authentisch. Schaut doch welcher Körper, alles maßgeschneidert. Allein die Katzenaugen, 80.000. Nase, 200.000, direkt in den Müll, weil ein Jahr später, nach ´ner Prügelei sieht sie wieder so aus, das gibt mir Persönlichkeit, ich weiß, aber hätte ich das gewusst, hätte ich sie niemals angerührt. […] Was will ich eigentlich damit sagen? Es ist ziemlich teuer, authentisch zu sein, oh ja, und in diesen Dingen dürfen wir nicht knausern, weil wir umso authentischer sind, je mehr wir dem Traum ähneln, den wir von uns selbst haben. (Tsmm, 1999, 1:14-1:15) 220
Das Publikum mit in der Erwartung im Theater, das Stück von William Tennesee zu sehen, das abgesagt werden musste. Das Theaterstück und dessen Bedeutung im Film wird weiter unten behandelt.
66
Dekonstruktion von Namen als Zeichen individueller Identität
Ein (Eigen)Name ist als „Bezeichnung für eine einzelne, als Individuum oder individuelles
Kollektiv gedachte Person oder Sache zum Zweck der eindeutigen Identifizierung und
Benennung“ definiert221. Namen haben also die Funktion, Namenstragende entweder tatsächlich
zu charakterisieren oder auf eine Eigenschaft und Haltung zu verpflichten und sie gleichzeitig
von anderen unterscheidbar zu machen. Die Eigennamen in Todo sobre mi madre können in zwei
Gruppen eingeteilt werden, in die `richtigen` Namen und die ´Künstler_innennamen`:
HUMA. ¿Y Agrado es su nombre real? ROSA. No, es su nombre artístico, como Huma.
222
Wenn wir nun die ´realen´ Eigennamen anschauen, so wird die Funktion der Unterscheidbarkeit
und eindeutigen Identifizierung in einer Aneinanderreihung von gleichen Namen aufgehoben:
Der Name Esteban bezeichnet alle männlichen Figuren, die mit Manuela in Beziehung stehen.
Manuelas Sohn heißt Esteban, auch Rosa gibt ihrem Kind in Gedenken an Esteban II den gleichen
Namen. Am Ende erfahren wir, dass auch Lolas ´realer´ Name Esteban ist, sodass Esteban als
Ursprung der beiden anderen Estebans perFormt wird. Rosa expliziert diesen Zusammenhang
mit dem Wunsch, der dritte Esteban sollte Manuela erhalten bleiben.
ROSA. Espero que el tercer Esteban sea para ti el definitivo. MANUELA. ¿El tercer Esteban? ROSA. Lola fue el primero. Y tu hijo el segundo.
223
Auch Rosas Mutter trägt denselben Namen wie ihre Tochter. In dieser Aneinanderreihung von
gleichen Namen zwischen den Generationen haben Namen eher die Funktion ein Kontinuum zu
bezeichnen als Individualität.
Der Sohn Esteban entwirft für sich eine Identität als Schriftsteller und als Kind einer
alleinerziehenden Mutter, zwei Merkmale, die sich in seinem ernsten reifen Aussehen äußern
würden.
ESTEBAN. Mañana cumplo diecisiete años, pero parezco mayor. A los chicos que vivimos solos con nuestra madre se nos pone una cara especial, mas seria de lo normal, como de intelectual o escritor. En mi caso es normal, porque además yo soy escritor.
224
221
Brockhaus, 2006 Bd 19 222
HUMA. Und Agrado ist ihr richtiger Name? ROSA. Nein, ihr Künstlername, wie Huma. 1:00 223
ROSA. Ich hoffe, der dritte Esteban ist endgültig für dich. MANUELA. Der dritte Esteban? ROSA. Lola war der erste. Und dein Sohn der zweite. 1:18 224
ESTEBAN. Morgen werde ich siebzehn Jahre alt, aber ich wirke älter. Wir Kinder, die mit unseren Müttern allein leben, sehen anders aus, ernster als normal, wie Intellektuelle oder Schriftsteller. In meinem Fall ist es normal, weil ich außerdem Schriftsteller bin. 0:14
67
Auf der Suche nach Klarheit über sich selbst, versucht er alles über seine Eltern herauszufinden:
er schreibt eine Erzählung über seine Mutter und wünscht sich zum Geburtstag, alles über
seinen vermeintlich gestorbenen Vater zu erfahren. Jedoch stirbt er, bevor er etwas
herausfinden konnte, woran er sich orientieren könnte; so endet seine Suche nach dem Original
(symbolisiert im Namen Esteban) im Nichts.
Dem gegenüber werden individuelle Künstler_innennamen gesetzt, die selbstgewählt sind und
Identität ausdrücken sollen. Als Alleinstellungsmerkmal verweisen sie auf Eigenschaften, die die
Namenstragenden als herausragendes Merkmal ausweisen sollen. Solche Namen haben sich
Huma Rojo, La Agrado und Lola gewählt.
Der Name ´Huma Rojo´225 verweist auf das Rauchen und die roten Haare als Markenzeichen von
Huma.
HUMA. Humo es lo único que ha habido en mi vida. MANUELA. También ha tenido éxito. HUMA. El éxito no tiene sabor ni olor, y cuando te acostumbras es como si no existiera.
226
Die selbstgewählten Namen reduzieren die Charaktere auf einen Teil ihrer Identität und führen
damit die (zeitweilige) Totalisierung durch die Identitätskategorien vor Augen. Diese
Totalisierung umfasst aber nur einen Teil von dem, was tran ist, alles, was dem Namen nicht
entspricht, wird ausgeschlossen. Manuela interveniert, als Huma sagt, der Rauch wäre das
einzige, das sie in ihrem Leben hatte, doch Huma besteht darauf. Das Rauchen ist allerdings kein
Alleinstellungsmerkmal von Huma, sondern vor allem der Verweis auf ihr Ideal Bette Davis, die in
ihren Filmen vor allem rauchende Frauen verkörperte. Damit verbindet auch Huma wie Agrado
ihre Identität mit einem Traum, einem Ideal, das sie zu erreichen sucht. Dieses Ideal ist nicht
ursprünglich und in ihr selbst zu finden, sondern gesellschaftlich produziert.
Die roten Haare von Huma als weiteres Identitätsmerkmal werden für die Bühne immer wieder
verändert und sind damit Möglichkeiten, in andere Rollen zu schlüpfen. Gleichzeitig sind Haare
das ästhetische Mittel, um darzustellen, wie die Zeit vergeht: Als Manuela nach zwei Jahren
wieder nach Barcelona zurückkommt, hat sie die Haare viel länger und wird von Huma darauf
angesprochen. Damit sind Haare ein Zeichen von Veränderbarkeit und künstlerischer
Gestaltbarkeit, wodurch auch Identität als gestaltbar entworfen wird.
225
´Humo´ ist das spanische Wort für Rauch, Rojo ist die Farbe Rot. 226
HUMA. Rauch ist das Einzig, das ich in meinem Leben hatte. MANUELA. Sie hatten auch Erfolg. HUMA. Der Erfolg hat weder Geschmack noch Geruch, und wenn du dich daran gewohnt hast, ist es, als ob er nicht existieren würde. 0:40
68
Entwürfe von Weiblichkeit
Das Geschehen im Film dreht sich fast ausschließlich um Frauen. Allerdings umfasst dieses
Subjekt ´Frau´ ein ganzes Spektrum verschiedener Entwürfe von Weiblichkeit, die immer auch
Widersprüche in sich vereinen. Die inszenierte Heterogenität (siehe Abbildung 14) reicht von der
Nonne zur femme fatale, von Mutterschaft zu Vaterschaft, d_ Prostituierte, Schauspieler_in und
Drogensüchtige, von konservativ zu hedonistisch, von Hetero- zu Homosexuellen und allen
dazwischen. Neue Repräsentationen brechen dabei mit traditionellen Bildern, die als Klischees
im Film aufgerufen werden und verursachen Bildstörungen. Die Konstruktion neuer
Frauenfiguren kann nur unter Bezugnahme auf gesellschaftlich präsente Bilder erfolgen, die
perFormt und verschoben werden. In Todo sobre mi madre entstehen Verschiebungen durch ein
offenes Brechen zwischen dem, was die inszenierten konservativen gesellschaftlichen Normen
verlangen und denen, die diese ausführen. Dadurch rückt die Konstruiertheit von Geschlecht in
den Blickpunkt.
Die Mutter
Zentral in Todo sobre mi madre ist die Figur der Mutter, die primär von Manuela und der Mutter
von Rosa verkörpert wird, aber später auch von anderen Charakteren übernommen wird. Die
Mutter gilt als Symbol des Lebens und der Fürsorge. Die Fürsorgefunktion der Mutter wird
zunächst von Manuela angedeutet: Sie habe schon fast alles für ihren Sohn gemacht. Später
spricht auch der Arzt diese Funktion einer Mutter an:
MEDICO. Dígale a su madre que le vigile la tensión. Tiene que hacer dieta sin sal y reposar.227
Die Fürsorge für Rosa übernimmt aber Manuela; Rosas Mutter weiß zwar von den Erwartungen,
die an sie gestellt werden, übernimmt sie aber nicht. Auch Agrado übernimmt Fürsorge als
persönliche Assistent_in bei Huma.
Mutterschaft ist üblicherweise mit heterosexueller Begehrensstruktur verbunden. Im Film wird
diese Struktur gebrochen Lola könnte als Vater und als Mutter bezeichnet werden, eine
eindeutige Zuordnung ist nicht möglich ist.
Auch Huma spielt am Ende des Films eine Mutter, die um ihren toten Sohn trauert und bekommt
von Manuela das Foto Estebans (Sohn von Manuela) geschenkt. Damit übergibt Manuela ihren
Anteil an der Mutterschaft.
227
ARZT. Sagen Sie Ihrer Mutter, sie soll den Blutdruck überwachen. Sie müssen eine salzlose Diät machen und sich ausruhen. (Tsmm, 1999, 0:48)
69
Abbildung 14: Weiblichkeitsbilder
Die Prostituierte
Agrado verdient sich sein_ihren Lebensunterhalt als Prostituierte. Dabei geht es ih_ vor allem
darum, den anderen das Leben angenehm zu machen. Als idealen Körper für den Strich brauche
es nach Agrado einen prallen Busen und einen guten Schwanz. Agrado vereint damit in
einem Körper weibliche und männliche Prostitution.
Die femme fatale
Das Bild einer femme fatale ist das
einer attraktiven, verführerischen
Frau, die Männer erotisch an sich
bindet, sie aber gleichzeitig
manipuliert, ihre Moral untergräbt und
ins (tödliche) Unglück stürzt. Mit dem Namen
Lola228 wird die Figur der femme fatale verbunden,
die Lola Erzählungen zufolge ist. Indem sie_er mit
Rosa schläft, infiziert er_sie mit dem HI-Virus, das
für Rosa tödlich endet. Als Lola zum ersten Mal im Film
auftaucht, wird ein ganz anderes Bild von ih_
gezeigt: Lola erscheint am Friedhof, gebrechlich
und nicht mehr jung, auch nichts am Verhalten
deutet auf die femme fatale hin.
Auch Blanche in Un tranvía llamado deseo hat den Ruf einer femme fatale.
Dieses Bild stimmt jedoch nicht im Geringsten mit dem überein, das von ihr gezeigt wird: das
Bild einer verwirrten Frau, die in die Klinik eingewiesen wird.
Die Heilige
Das Gegenbild zur weiblichen Sündhaftigkeit bildet die Figur der Nonne: Selbstlosigkeit,
asexuelle Liebe, Keuschheit und allem Weltlichen entsagend. Die vermeintlich asexuelle
Klosterfrau Rosa kümmert sich um die Leute vom Strich und will unterstützend nach El Salvador
gehen, als dort zwei Nonnen umgebracht werden. Allerdings lebt sie nicht asexuell: ihr gefallen
Schwänze, und sie ist schwanger. Außerdem findet sie das international bekannte Luxus
Modeunternehmen Prada ideal für Nonnen.
228
Der Name Lola ist die spanische Kurzform von Dolores, das von Dolor, Schmerzen abgeleitet ist. Lola ist unter anderem über den Film Der blaue Engel von Sternberg (1929/1930) mit femme fatal verbunden, in dem spielt Marlene Dietrich als Lola Lola die femme fatal spielt, die den Professor Unrat ins Elend stürzt.
Abbildung 15: Lola
70
Die Schauspielerin
Huma und Nina sind Schauspielerinnen; allerdings erweisen sich bis zum Schluss alle Frauen als
Schauspieler_innen, wie in Kapitel 8.2. ausführlich dargestellt wird. Rosa spielt ihrer Mutter vor,
sie würde nach El Salvador gehen, Manuela spielt die Mutter von Rosa, Agrado führt sein_ihren
Körper auf der Bühne vor. Schauspiel wird nicht nur als Beruf entworfen; alle Frauen seien
Schauspieler_innen, sagt Almodóvar in einem Interview229. Schauspiel wird im Film als Kunst des
Improvisierens und Lügens inszeniert.
Die Konservative
Rosas Mutter verkörpert die in kleinbürgerlichen Normen erstarrte Frau. Gleichzeitig entspricht
sie diesen selbst aber keineswegs: sie sorgt nicht wie erwartet für ihre Tochter, finanziert den
Familienunterhalt selbst, und zwar auf sehr unkonventionelle Weise, indem sie Fälschungen von
Chagall und Picasso malt und verkauft.
229
Vgl. Bonusmaterial auf der DVD
71
8.4. Institutionalisierte Beziehungen: Familie
MANUELA. ¡Esa mujer es su padre!230
Um die Institution der heterosexuellen Kleinfamilie in Frage zu stellen, wird im Film Todo sobre
mi madre ihre Heterosexualität betont, um sie dann in einer perFormativen Besiedelung durch
queere Gestalten zu dekonstruieren und ihre Natürlichkeit in Frage zu stellen.
Die Norm der heterosexuellen Kleinfamilie
Die Norm einer heterosexuellen Kleinfamilie wird immer wieder diskursiv hergestellt.
Gleich am Anfang wird Manuela und ihr Sohn als Familie inszeniert: Das gemeinsame
Abendessen vorm Fernseher kann in Spanien am Ende der 1990er Jahre, in denen die
Filmhandlung stattfindet, als Ritual gelesen werden, mit dem Familie hergestellt wird. Bald
darauf schreibt Esteban in sein Notizbuch, dass ihm in eben dieser Familienstruktur ein Stück
fehlt. Der durch seine Abwesenheit glänzende Vater verkörpert für Esteban das, was ihm in
seinem Leben fehle und über den er alles erfahren möchte. Die heteronormative Kleinfamilie,
Vater und Mutter, werden als Ideal konstruiert, das durch seine Notizen während des Films
wieder aktualisiert231 wird:
ESTEBAN. Anoche mamá me enseñó una foto… le faltaba la mitad. No quise decírselo, pero a mi vida le falta ese mismo trozo… […] Esta mañana he revuelto en sus cajones y he descubierto un fajo de fotos… a todas les falta un trozo, mi padre supongo. Quiero conocerle.
232
Auch im simulierten Patient_innengespräch wird die heterosexuelle Kleinfamilie als Norm
inszeniert: einer Frau (Manuela) wird mitgeteilt, dass ihr Mann gestorben sei, sie fragt sich, wie
sie dies ihrem Kind sagen soll.
MEDICO. Su marido ha muerto. […] ¿Quiere que avisemos a algún familiar? MANUELA. No tengo familia. Sólo a mi hijo. ¡Dios mío! ¡Cómo voy a decírselo…!
233
In Bezug auf Rosas Schwangerschaft wird nochmal auf die Norm der Kleinfamilie angespielt,
indem Manuela die Verantwortung vom Vater einklagen will, und Rosas Mutter sie fragt, ob sie
jetzt zu heiraten gedenke.
230
MANUELA. Diese Frau ist sein Vater! (Tsmm, 1999, 1:27) 231
In den Szenen 9 und 12, also kurz nach seinem Tod und gegen Ende des Films in der Szene 43, wenn Manuela Lola das Foto von Esteban II gibt wird die zitierte Stelle gelesen. 232
ESTEBAN. Gestern Abend zeigte meine Mutter mir ein Foto, eine Hälfte fehlte. Ich wollte nichts sagen, aber in meinem Leben fehlt genau diese Hälfte. […] Heute morgen habe ich in ihren Schubladen gewühlt und dabei ein paar Fotos gefunden, überall fehlte ein Stück, mein Vater, nehme ich an. Ich will ihn kennenlernen. (Tsmm, 1999, 1:26) 233
ARZT. Ihr Mann ist gestorben […] Möchten Sie, dass ich ihre Familie benachrichtige. MANUELA. Ich habe keine Familie, nur meinen Sohn. Mein Gott, wie soll ich ihm das sagen? (Tsmm, 1999, 0:07)
72
Abbildung 15
PerFormative Verschiebungen
Im Laufe der Erzählung wird dieses Ideal der heterosexuellen Kleinfamilie mit unterschiedlichen
Mitteln entnaturalisiert und dekonstruiert:
Schrittweise erfahren wir einiges über Estebans Vater, da sich Manuela nach dem Tod ihres
Sohnes auf die Suche nach ihm macht. Lola, der ´Vater´ von Esteban II, – und wie sich
herausstellt auch der von Esteban III – wird als queer entworfen. Wir erfahren dass Lola sich die
Brüste operieren hat lassen, er_sie wird als weder weiblich noch männlich figuriert: Lola vereint
für Manuela die übelsten Seiten eines Mannes mit den übelsten Seiten einer Frau234, trotzdem
blieb sie zunächst bei ihm_r, um nicht allein zu sein und weil Frauen ein bisschen lesbisch
seien235. Damit lässt sich die Beziehung zwischen Manuela und Lola nicht mehr eindeutig als
heterosexuell bestimmen.
Auch Rosa ist von Lola schwanger. Als
ihre Mutter Esteban III in den Armen
von Lola sieht, regt sie sich über die
fremde Frau auf, Manuelas Erklärung,
dass die ´Frau´ Estebans ´Vater´ sei,
schockiert sie zutiefst. Mit der
paradoxen Aussage von Manuela:
`Diese Frau ist sein Vater! ` irritiert sie nochmals die bipolare Geschlechts-Zuordnung und führt
eine sprachliche Unmöglichkeit des Dazwischen vor.
In Abbildung 15 wird auch ikonografisch das Bild einer normalen Kleinfamilie verschoben, in dem
der männliche Vater durch einen queeren Vater ersetzt wird, der nicht eindeutig einem
Geschlecht zuordenbar ist. Dadurch kann nicht mehr gesagt werden, ob Lola der Vater ist, oder
möglicherweise doch auch als Mutter bezeichnet werden könnte.
Die Familie von Rosa scheint dem klassischen Kleinfamilienbild zu entsprechen: Vater, Mutter
und Kind. Auf den zweiten Blick wird auch dieses klassische Familienbild gestört. Rosa verträgt
sich nicht mit ihrer Mutter, und für diese ist Rosa wie eine Außerirdische.
ROSA MADRE. Nos é qué hice mal con Rosa… Desde que nació fue como una extraterrestre.236
234
MANUELA. Lola tiene lo peor de una mujer y lo peor de un hombre. (Tsmm, 1999, 0:46) 235
MANUELA. Somos gilipollas, y un poco bolleras. (Tsmm, 1999, 0:47) 236
ROSA MUTTER. Ich weiß nicht, was ich mit Rosa falsch gemacht habe, seit der Geburt ist sie wie eine Außerirdische (Tsmm, 1999, 1:12)
73
Der Vater von Rosa ist durch Alzheimer entmündigt und versteht seine Umgebung nicht mehr.
Die Mutter sorgt für den Familienunterhalt, indem sie Fälschungen von Chagall und Picasso malt
und zusammen mit einer Haushälterin für den Vater sorgt, die Fürsorge ihrer Tochter gegenüber
jedoch zurückweist.
Freundschaft als selbstwählbare Familie
MANUELA. A los padres no se elige. ¡Son los que son!237
Manuela betont immer wieder, dass Rosas Mutter die Mutter ist, und tran sich die Eltern nicht
aussuchen kann. Sie verweist damit auf das Institutionalisierte und Naturalisierte von
Elternschaft. Zugleich negiert sie diskursiv die Verhandelbarkeit von Elternschaft und Familie.
Auf der Ebene der Handlungen brechen Manuela und andere mit dieser Norm:
Agrado bezeichnet Lola als Schwester, Manuela gibt sich vor dem Arzt und vor Huma als
Schwester von Rosa aus. Auch sind Agrado und Huma Vertraute Manuelas und zugleich ihre
Familie in Barcelona. Indem sie sich um Rosas kümmert, als diese Pflege braucht, schlüpft sie in
Rosas Mutterrolle. Schließlich verlässt sie als selbst gewählte Mutter von Esteban III Barcelona.
Lola übergibt vor seinem Tod das Foto von Esteban II an Huma. Als diese es Manuela
zurückgeben will, schenkt Manuela es Huma und bezieht sie damit in die Familienstruktur ein.
Am Ende des Films verlässt Manuela mit Esteban III Barcelona und die Großeltern. Dabei scheint
sich die Familienkonstellation zu wiederholen, die am Anfang schon da war: die alleinerziehende
Mutter und das Kind. Allerdings ist – wie in Kapitel 8.2. ausgeführt wird – diese Beziehung
inzwischen eine Wahlverwandtschaft und keine biologische Bindung.
All diese Familienbeziehungen werden vor allem perFormativ im Handeln hergestellt und
brechen mit der Norm der institutionalisierten Verwandtschafts-Familie zugunsten einer
selbstgewählten.
Das Motiv einer selbstgewählten Familie auf Basis von Freundschaftsbeziehungen findet sich in
vielen anderen Filmen des Queer Cinema wieder, von denen hier zwei kurz angeführt werden:
Im Roadmovie Drôle de Félix238 macht sich Félix auf die Suche nach seinem Vater, den er nie
kennengelernt hatte. Dabei trifft er eine Reihe von Menschen, die durch Inserte als seine Familie
ausgewiesen werden: ein junger homosexueller Kunststudent ist der kleine Bruder, eine ältere
237
MANUELA. Die Eltern sucht man sich nicht aus, sie sind, wer sie sind! (Tsmm, 1999, 0:49) 238
Drôle de Félix (FRA 2000) R: Olivier Ducastel, Jaques Martineau
74
Frau, der er hilft die Taschen nach Hause zu tragen, die Großmutter, eine Frau mit Autopanne
wird als seine Schwester ausgewiesen und ein älterer Fischer als sein Vater.
Auch in Le fate ignoranti239 von Ferzan Özpetek wird Freundschaft als Familie thematisiert.
Antonia verliert ihren Mann bei einem Autounfall. Als sie dessen persönliche Sachen aus seinem
Büro abholt, findet sie auf der Rückseite des Gemäldes „Le fate Ignoranti“ eine an ihren Mann
gerichtete Liebesbotschaft. Dieser hatte seit sieben Jahren einen Geliebten und eine zweite
Familie in der kunterbunten WG von Michele. Langsam wird auch Antonia Teil dieser großen
Familie.
239
Le fate ignoranti (ITA 2001) R: Ferzan Özpetek
75
Titel: XXY
Regie, Drehbuch: Lucía Puenzo
Nach einer Erzählung von Sergio Pizzo
Land/Jahr: Argentinien, 2007
Filmlänge: 78 Min.
Produktion: Luis Puenzo, José María Morales
Besetzung: Inés Efron (Alex), Ricardo Darín
(Kraken, Vater), Valeria Bertuccelli (Suli,
Mutter), Martín Piroyansky (Álvaro), Carolina
Peleritti (Erika, Mutter von Álvaro), Germán
Palacios (Ramiro, Vater von Álvaro), Luciano
Nobile (Vando), Guillermo Angelelli (Juan),
César Troncoso (Washington), Jean Pierre
Reguerraz (Esteban), Ailín Salas (Roberta),
Lucas Escariz (Saúl)
8.5. Exkurs: GeschlechtsKörper und –Identität zwischen den
Geschlechtern in XXY
In Todo sobre mi madre werden Körper zwischen den Geschlechtern innerhalb der Filmrealität
nicht als das ´Andere´ markiert und entgehen so einer Sichtbarkeit im Sinne einer homophoben,
sexistischen Markierung.240 Lucía Puenzo thematisiert im Spielfilm XXY241 über den
Hauptcharakter Alex einen Intersexuellen Körper, der nicht einem Geschlecht zuordenbar ist. In
der abgeschiedenen Welt ihr_seines Elternhauses kann Alex so sein, wie er_sie ist. Allerdings
werden auch persönliche Konflikte und gesellschaftliche Sanktionen thematisiert, die mit der
Zwischengeschlechtlichkeit einhergehen.
Filmplot
Alex lebt mit ihr_seinen Eltern in einem kleinen Küstenort in Uruguay auf einem abgelegenen
Grundstück. Alex hat von Geburt an einen Penis bei weiblichen Chromosomen, hat also nach
dem gegenwärtigen medizinischen Diskurs körperliche Merkmale beider Geschlechter. Die
Eltern haben ihrem Kind bislang jegliche operativen Eingriffe ersparen wollen, die ihnen bereits
kurz nach der Geburt von den Ärzten nahegelegt wurden. Als Alex die Hormone absetzt, die eine
Vermännlichung sein_ihres Körpers verhindern sollen, sucht ihr_seine Mutter den Rat des
befreundeten argentinischen Chirurgen Ramiro. Alex vertraut indessen das Geheimnis ihr_
seines Körpers ihr_seinem besten Freund
Vando an und verprügelt ihn, weil er
anscheinend nicht damit umgehen
konnte. Mit Alvaro, dem gleichaltrigen
Sohn Ramiros, macht Alex erste sexuelle
Erfahrungen. Kraken, der Vater von Alex,
beobachtet die beiden dabei und zweifelt
kurz, ob die Entscheidung, Alex nicht zu
operieren, die richtige gewesen war. Er
sucht eine von Intersexualität betroffene
Person auf: Scherer wurde als Kind
operiert, ´Normalisierung´ nannten die
Ärzte die OPs, ´Kastrierung` nennt sie
Scherer. Bis er_sie 16 war, lebte Scherer als
240
Peggy Phelan spricht in diesem Zusammenhang von ´passing´, einer Fähigkeit, der Sichtbarkeit im Sinne einer rassistischen und homophoben Markierung zu entgehen und in diesem Sinne unsichtbar zu werden. Vgl. Seier, 2006. 241
XXY (ARG, 2007), R: Lucía Puenzo
76
Frau, dann nahm sie_er Testosteron und ließ sich umoperieren, um als Mann weiterzuleben.
Jetzt betreibt er mit seiner Frau und einem Kind eine kleine Tankstelle. Alex wird von
neugierigen Dorfjungen, denen gegenüber Vando sie_ihn verraten hatte, überfallen und
bloßgestellt. Als ihr_sein Vater davon erfährt, ist er außer sich. Er fährt schnurstracks zu den
Übeltätern und schärft ihnen ein, seinen Sohn/Kind242 in Ruhe zu lassen. Er will eine Anzeige bei
der Polizei erstatten, beschließt aber, Alex die Entscheidung zu überlassen, da dann das ganze
Dorf über sein_ihre Besonderheit Bescheid wissen würde. Alex hat genug von Medikamenten,
Umzügen und neuen Schulen, vor allem aber will sie_er nicht mehr sein_ihre Besonderheit
verheimlichen. Alex will sich auch nicht zwischen Mann oder Frau, zwischen homo- oder
heterosexuell entscheiden müssen. Alles sollte einfach so bleiben, wie es war.
Körper und Identität zwischen den Geschlechtern
Alex, Hauptcharakter des Spielfilms XXY, wird mit einem Körper geboren, der nicht in die
bipolare Definition von Geschlecht passt und medizinisch als an einer Hormonerkrankung
leidend definiert wird.243 Da dies nach gesellschaftlichen Normen ´normalisiert´ werden muss,
wird den Eltern sofort nach der Geburt eine Operation angeboten, durch die Alex ein
eindeutiges Geschlecht zugewiesen werden sollte. Die Eltern entscheiden sich gegen eine OP
und ziehen mit Alex auf ein abgelegenes Grundstück. Sie leben bewusst isoliert und möglichst
unabhängig von der Meinung anderer, sodass gesellschaftliche Sanktionen weniger greifen
können.
KRAKEN. Nos fuimos de Buenos Aires para estar lejos de cierta clase de gente244 SULI. Por eso nos fuimos para evitar que todos los Idiotas se pusieran a opinar245
Alex kann im geschützten familiären Kreis ein Leben im Dazwischen führen, lebte aber
´öffentlich´ bisher als Mädchen, was durch hormonelle Medikamente möglich war. Dennoch
kommt es zu Konflikten, als bekannt wird, dass Alex beides ist, Mann und Frau. Alex wird von
ihr_seinem besten Freund, dem sie_er sich anvertraute, verraten und Opfer eines
Gewaltübergriffs von einigen neugierigen Jugendlichen des Dorfes. Die Besucher_innen im Haus
von Alex’ Familie drängen auf eine OP. Der Vater verspricht Alex zu beschützen, bis er_sie sich
entscheiden kann. Doch Alex will sich nicht für ein Geschlecht, Mann oder Frau, entscheiden:
242
Hijo heißt Kind, kann aber auch als Sohn übersetzt werden, in diesem Moment spricht Kraken nicht von ´Tochter´,
wie am Anfang des Films in einer ähnlichen Situation. 243
In Lucia Puenzos Spielfilm XXY wird unausgesprochen das Adrenogenitale Syndrom (AGS) porträtiert, „eine angeborene Hormonerkrankung der Nebenniere, die bei Alex zu viel vermännlichendes Hormon produziert. Schon im Mutterleib bildet sich bei Mädchen das äußere Genitale in männliche Richtung um.“ (Vgl. die deutsche Filmhomepage von XXY. Online unter: http://xxy-film.de ) 244
Wir gingen von Buenos Aires, um fern von einer bestimmten Klasse von Menschen zu sein. 00:36 245
Wir kamen hier her, um nicht mehr die Meinungen der Idioten hören zu müssen.“ 01:06
ALEX. No quiero más, no quiero ni pastillas, ni operaciones ni cambio de colegio. ¡Quiero que todo sigua igual!
246 […] ¿Y si no hay nada que elegir?
247
Als es darum geht, Anzeige wegen des Übergriffs zu erstatten, ist dies auch eine Entscheidung
Alex’ Intersexualität öffentlich zu machen.
KRAKEN. Se va a enterar todo el mundo. ALEX. ¡Que se enteren!248
Inwiefern kann Alex’ Entscheidung im Film als perFormatives Widersprechen gelten? Alex
beansprucht für sich das Recht, zwischen den Geschlechtern zu leben und keine Entscheidung
der Zuordnung zu Mann oder Frau treffen zu müssen. Über eine Anzeige des Überfalls wird die
Zwischengeschlechtlichkeit öffentlich werden, dies wird im Film allerdings nur angedeutet, aber
(noch) nicht ausgeführt.
Der Vater von Alex ist Biologe und schützt seltene Meeresschildkröten. Er hat ein Buch über
hermaphroditische (Fisch)Arten geschrieben ´Orígenes del Sexo´, in dem er unter anderem über
Clown-Fische schreibt, die ihr Geschlecht im Laufe ihres Lebens ändern. Im Film werden Biologie
und Medizin – verkörpert im Vater von Alex und Vater von Álvaro – gegenübergestellt. Während
Néstor Kraken für den Erhalt seltener Arten kämpft, gilt das Interesse Ramiros der Angleichung
von Missbildungen ans Normale.
ÁLVARO. ¡No rebana cuerpos, los arregla! Mi papá hace tetas y narices por plata, pero a él in realidad le interesan otras cosas […] deformidades, como esos tipos que nacen con once dedos. Bueno, mi papá les saca uno.
249
Existenzweisen zwischen den Geschlechtern gefährden nach Butler die hegemoniale
Geschlechterordnung. Deshalb werden sie abgelehnt und soweit es geht an die Normen gepasst.
So wird auch angedeutet, dass Álvaros Vater eine mögliche Homosexualität seines Sohnes nicht
akzeptieren würde.
246
Ich will nicht mehr, ich will keine Pillen mehr, keine Operationen und keine Schulwechsel. Alles solle so bleiben,
wie es war. (XXY, 1:07) 247
„Und wenn es nichts zu entscheiden gibt?“(XXY, 1:16) 248
KRAKEN. Die ganze Welt wird es erfahren. ALEX. Sie mögen es erfahren.(XXY, 1:18) 249
ALVARO. Er zerschnipselt die Körper nicht, er repariert sie! Mein Vater korrigiert Brüste und Nasen für Geld, aber in Wirklichkeit faszinieren ihn andere Sachen […] Deformationen, wie Leute, die mit 11 Fingern auf die Welt kommen. Mein Vater entfernt einen davon. (XXY, 0:20)
78
9. PerFormative Verschiebungen von Inszenierungs- und
Darstellungsformen am Beispiel intertextueller Bezüge
Das spezifisch Filmische des Films resultiert darin, „dass er ´Wirklichkeit´ in einer bestimmten
Weise abbilden kann und dadurch erst (seine) ´Wirklichkeit´ konstituiert.“250 Film ist eine
„zeitlich organisierte Kombination von akustischen und visuellen Zeichen, die über […] Bild und
Schrift sowie Geräusche, Musik und Sprache spezifisch filmische Bedeutungseinheiten
ausbildet“251. Eine Analyse versucht die für den Film typischen Inszenierungs- und
Darstellungsformen zu rekonstruieren und mögliche Bedeutungspotentiale zu entschlüsseln.
Für Todo sobre mi madre scheinen vor allem die zahlreichen intertextuellen Bezüge
bedeutungstragend zu sein. Die Wichtigsten sind wohl der Film von Joseph L. Mankiewicz All
about Eve252, der dem Film den Namen gibt und das Theater von Tennessee Williams A Streetcar
Named Desire253, das im Film unter dem Namen Un tranvía llamado deseo mit Starbesetzung
Huma Rojo als Blanche interpretiert wird. Ein weiterer literarischer Verweis ist das Buch, das
Manuela Esteban zum Geburtstag schenkt: Truman Capotes Music for Cameleons254. Gegen Ende
des Filmes spielt Huma eine Szene aus Haciendo Lorca255 von Lluís Pasqual, das Szenen aus
Bodas de Sangre und Yerma von Federico García Lorca miteinander verbindet. Im Folgenden
werde ich vor allem die ersten beiden genannten Bezüge in Hinblick auf ihre Sinnstiftung für den
Film untersuchen. Die Bezüge sind an ein kollektives Gedächtnis westlich orientierter Welt
gerichtet: All about Eve ist ein sehr bekannter Film von 1950, der zahlreiche Auszeichnungen und
Oscars gewonnen hat. Wenn auch nur ein kleiner Ausschnitt gezeigt wird, kann davon
ausgegangen werden, dass die Filmhandlung zumindest in groben Zügen bekannt ist als eine, in
der Vertrauen ausgenutzt wird, um das zu erreichen, was am meisten begehrt wird. Auch A
streetcar named desire wurde 1951 von Elia Kazan in Hollywood verfilmt und gewann 4 Oscars.
Die Hommage an Federico García Lorca situiert den Film in der spanischen Tradition: Lorca zählt
zu den bedeutendsten spanischen Autor_innen des 20. Jahrhunderts und ist vor allem für seine
Theaterstücke Bodas de Sangre und La Casa de Bernarda Alba bekannt.
Mit Intertextualität ist die Beziehung eines Filmtextes zu anderen Texten gemeint. Dies können
andere Film- und Fernsehtexte sein, Genre- und Gattungskonventionen oder andere Filme d_
250
Krah, 2002, S. 100 251
Ebd. 102 252
All about Eve (USA 1950) R: Joseph L. Mankiewicz 253
Tennesee, 1947 254
Capote, Truman (1980/1994) Music for Cameleons 255
Pasqual, Liuís (1996) Haciendo Lorca
79
selben Autor_in oder derselben Darstellenden, aber auch andere mediale Texte wie Theater,
Literatur oder Gemälde.256 Jeder Film tritt in ein Feld ein, das alle bisherigen Filme und
Fernsehtexte umfasst und positioniert sich im Verhältnis zu eben diesen. Dadurch entsteht ein
Intertext, ein Raum zwischen den Texten, der für die Bedeutungsproduktion wichtig ist.
Bedeutungen werden aufgegriffen und verschoben, dadurch werden zusätzliche
Sinnzusammenhänge gestiftet und die Wahrnehmung des Textes verändert.257 Intertextualität
umfasst intertextuell gelenktes Textverstehen, es muss aber auch als ein in der Aneignung
verorteter Prozess gesehen werden. Entsprechend dem Wissen und der Erfahrungen der
Zuschauenden mit anderen Texten und den damit verbundenen Erwartungen werden
unterschiedliche Bedeutungen aktiviert. Wenn in Todo sobre mi madre sehr bekannte, an
Auszeichnungen reiche Texte aufgegriffen werden, kann davon ausgegangen werden, dass sie
von einem westlich orientierten Kino-Publikum258 in bestimmter Weise verstanden werden.
Intermedialität ist eine Art von Intertextualität, die die Reproduktion eines Textes aus einem
Medium in ein anderes Medium meint. Eine Analyse der Intermedialität kann die Auswirkung
von spezifischen ästhetischen Konventionen des jeweiligen Mediums auf die Erzählung und die
Repräsentation offenlegen.259
Da es sich bei Intertextuellen Bezügen um Zitate und Konventionen handelt, die aufgegriffen und
verhandelt werden, eignet sich eine Analyse besonders gut, um mediales perFormatives
Widersprechen zu untersuchen. Aus diesem Grund werde ich im Folgenden drei Ebenen der
Intertextualität in Todo sobre mi madre und ihre möglichen Bedeutungsbildungen in Bezug auf
sex-gender-desire nachskizzieren: das Hybrid Genre ´Screwball Drama´, Para- und Hypotextuelle
Verweise auf den Film All about Eve und intermediale Bezüge zum Theaterstück Un tranvía
llamado deseo.
256
Vgl. Mikos, 2008, S. 60 257
Vgl. ebd. S. 272-273 258
Die meisten Bezüge sind aus dem nordamerikanischen Raum, die zwei Hauptbezüge (All about Eve, A streetcar named desire) sind in Hollywood verfilmt worden, Federico García Lorca ist einer der wichtigsten spanischen Autor_innen. 259
Vgl. Mikos, 2008, S. 61
80
9.1. Genre
Der Begriff ´Genre´ kommt aus dem französischen und bedeutet so viel wie Gattung oder Art.
„Ein Genre ist ein spezifisches Erzählmuster mit stofflich-motivischen, dramaturgischen, formal-
strategischen, stilistischen, ideologischen Konventionen und einem festgelegten
Figureninventar.“260 Genres haben nach Rick Altman261 drei Funktionen: erstens stellen Genre-
Konventionen Muster für die Produktion bereit, zweitens dienen sie zur Produktdifferenzierung
und somit dem Verleih und drittens beschreibt das Genre Erwartungen der Zuschauenden.
Damit sind Genres Ordnungsmuster oder kulturelle Stereotype, die „nicht nur für einzelne
Individuen, sondern für Kollektive gestaltungs-, wahrnehmungs-, erwartungs- und
interpretationsrelevante Bedeutung haben (können).“262
Genres sind immer dann entstanden, wenn es Filme gab, die besonders erfolgreich waren und
nicht bereits einem Genre zugeordnet werden konnten. Im Versuch, diesen Erfolg zu
wiederholen, entstanden Filme mit ähnlichen Mustern und Darstellungen. Dadurch konnten sich
bestimmte Standardisierungen durchsetzen, die mal mehr und mal weniger variiert wurden.263
Das Genre steht in einem zirkulären Prozess mit den Filmen, die es bezeichnet.
Zuordnungskriterien, die genommen werden, um Filme in einem Genre zu verorten, werden aus
den Filmen selbst genommen. Zugleich beeinflussen Filme das, was unter einem Genre
verstanden wird. Je nachdem auf welcher Abstraktionsebene die Merkmale des Genres
angesiedelt sind, werden thematische, kulturelle, zeitliche und topografische Momente,
Figurenkonstellationen, die Rolle der Musik oder dramaturgisch-psychologische Effekte in den
Vordergrund gestellt.264 Es gibt keine einheitliche Kategorisierung oder Definition von Genres.
Als dominante Arten des Spielfilms, die sich in der Filmgeschichte behauptet haben, können
nach Faulstich265 zehn Genres beschrieben werden: Western, Kriminalfilm, Melodrama,
Sciencefiction-Film, Abenteuerfilm, Horrorfilm, Thriller, Komödie, Musikfilm und Erotikfilm.
Diese lassen sich wiederum in Subgenres einteilen oder werden miteinander kombiniert. Vor
allem viele neue Filme charakterisieren sich durch einen Genre Mix, in dem entweder ganze
Genres vermischt werden oder nur Elemente aus einem Genre in ein anderes übertragen
werden.
260
Faulstich, 2002/2008, S. 29 261
Vgl. Altman, 1998, S. 253-254 262
Faulstich, 2002/2008, S. 30 263
Vgl. Mikos, 2008, S. 262-272 Altman, 1998 264
Vgl. Schweinitz, 2007, S. 283 265
Vgl. Faulstich, 2002/2008 26-63
81
Todo sobre mi madre als Genre Mix
Wo ist nun Pedro Almodóvars Film Todo sobre mi madre anzusiedeln? Pedro Almodóvar
bezeichnet den Film als Tragödie und als ´Screwball Drama´, in Reclams Filmführer wird der Film
als Tragikomödie bezeichnet, im Film-Verleih läuft er unter Drama.266
Todo sobre mi madre kann dem Filmplot nach als Melodrama bezeichnet werden, in dem viele
tragische Themen angerissen werden. „Las tragedias se suceden una a otra sin dar respiro a los
„Eine Tragödie folgt der anderen, ohne den Zuschauenden Zeit zum Atmen zu gegeben: Tote, Krankheiten, Süchte, Demenz, menschliche Gewalt…“ Quinteros 268
Faulstich, 2002/2008, S. 38 269
Vgl. Matlok, 1999
82
„Das Vergnügen des Zuschauers [!] an einer Screwball Comedy entsteht nicht durch die Spannung auf ein überraschendes Ende, sondern durch Dialogwitz, Situationskomik und die Perfektion des Komischen Spiels der Stars.“
270
Das grenzt die Genre-Definition soweit ein, dass sich wenigstens ein paar der Protagonisten
eines Filmes exzentrisch verhalten müssen, damit dieser Film als Screwball bezeichnet werden
darf. Fast alle Charaktere in Todo sobre mi madre sind mehr oder weniger exzentrisch: Huma
Rojo in ihrer Imitation von Bette Davis und der Selbstbezeichnung als eklektisch, die Nonne
Rosa, die auf Prada und auf Schwänze steht. Aber auch die bürgerliche Mutter von Rosa, die
Fälschungen von Chagall malt, aber keine Prostituierten im Haus haben will. Den paradox-
ironischen Höhepunkt bietet wohl La Agrado, d_ über die Künstlichkeit ihr_seines Körpers
ihr_seine Authentizität begründet.
270
Vgl. Marschall, Screwball Comedy, 2007
83
9.2. Film im Film
Der Ausdruck Film im Film bezeichnet Filme, die auf andere Filme Bezug nehmen: Was anfangs
vor allem parodistisch ausgerichtet war, wurde später zu einer Kunstform des Films, in der eine
(Auto)Reflexion des Mediums Film stattfindet. Die Reflexionsebenen umfassen dabei das
Verhältnis von Zuschauenden und Film, Selbstporträtierungen der illusionsmächtigen Wirkung
von Film als ´Traumfabrik´; aber auch das Filmemachen selbst wurde zum Thema.271 Diese
Ebenen können auf sehr unterschiedliche Weise selbstreflexiv sein. Borstnar et. al.
differenzieren fünf mögliche Aspekte:272 ästhetische, wahrnehmungsbezogene, produktions- und
vertriebsbezogene, gesellschaftliche und historische Aspekte des Films.
Am ´Ende der Geschichte des Kinos´ und der Transformation des Films in Audiovision bietet die
Filmgeschichte ein riesiges Reservoir für Anspielungen und Zitate. Die selbstreflexiven
Tendenzen des Film-im-Film Prinzips haben nach Jürgen Felix im postmodernen ´anything goes´
seinen bislang
„avanciertesten Status erreicht: in Form des ironischen Spiels mit Filmzitaten und in Formen der Dekonstruktion, die die Mechanismen filmischer Realitätsproduktion bis an die Schmerzgrenze vorantreibt.“
273
Diese filmische Selbstreflexion mache heute, wenn dies überhaupt geschieht, das Erschrecken
der Zuschauenden aus.
In diesem Kapitel werde ich nachzeichnen, wie Mankiewicz´s Film All about Eve in Todo sobre mi
madre als titelgebend eingeführt wird und dadurch nicht nur einen intertextuellen Bezug
herstellt, sondern auch als Paratext die Grundstruktur des Filmes gestaltet und über das
Filmzitat Mutterschaft als performativen Akt offenlegt.
271
Vgl. Felix, 2007 272
Vgl. Borstnar, Pabst, & Wulff, 2002, S. 81 273
Felix, 2007, S. 210
84
Originaltitel: All about Eve
Span. Titel: Eva al desnudo
Regie, Drehbuch: Joseph L. Mankiewicz
Land/Jahr: USA, 1950
Filmlänge: 138 Min.
Produktion: Hollywood
Besetzung: Bette Davis (Margo Channing), Anne
Baxter (Eve Harrington), George Sanders (Addison
DeWitt), Celeste Holm (Karen Richards), Gary
Merrill (Bill Sampson), Hugh Marlowe (Lloyd
Richards)
Inhalt: Eva Harrington kommt als glühende und ausdauernde Verehrerin des Theater-Stars Margo Channing in deren Garderobe und erzählt eine rührenden Geschichte um den Tod ihres Ehemanns. Margo nimmt Eva daraufhin als ihre Vertraute und persönliche Assistentin auf, und diese macht sich bald unentbehrlich. Hinter den Kulissen treibt Eva ihre eigene Schauspiel-Karriere voran, indem sie ein Netz von Beziehungen knüpft und Intrigen einfädelt. Eines Tages übernimmt sie schließlich Margos Rolle als Zweitbesetzung und überzeugt sowohl den Autor als auch den Direktor des Stücks von ihrem Talent. Durch eine Intrige versucht Eve die Rolle in dem neuen Stück von Lloyd Richards, die eigentlich für Margo vorgesehen war. Diese verzichtet aber freiwillig zugunsten ihres Privatlebens mit Bill Sampson auf die Rolle, die Eva übernimmt und die sie zum Star der Theaterwelt macht.
Der Titel des Films: Intertextualität im Paratext
A todas las personas que quieren ser madres. A mi madre.
274
In einer der ersten Szenen schauen sich Manuela und Esteban einen Film an: Eva al desnudo. Der
Film wird metadiegetisch, d.h. als Film im Film gezeigt. Durch die schlechte Ton-Qualität und das
verpixelte Schwarz-Weiß Bild des Films wird eine zeitliche Distanz zwischen den beiden Filmen
eingeführt, All about Eve wurde 1950 produziert, Todo sobre mi madre etwa 50 Jahre später.
Esteban reflektiert über die schlechte Angewohnheit, Titel von Filmen (falsch) zu übersetzen:
ESTEBAN. ¡Que manía de cambiar el titulo! ¡All about Eve significa ´Todo sobre Eva´!
275
„Alles über Eva klingt komisch,“ findet
Manuela. Trotzdem übernimmt ihr Sohn
diesen Titel leicht abgeändert in sein
Notizbuch, in dem er eine Erzählung
über seine Mutter begonnen hat, die er
bei einem Wettbewerb einreichen
möchte. ´Todo sobre…´ Was genau
Esteban weiter schreibt, bleibt der
Phantasie der Zuschauenden überlassen,
denn sein Stift hinterlässt keine Spur,
stattdessen wird der Titel des Filmes
eingeblendet: Todo sobre mi madre. Was
kann es also bedeuten, wenn All about
Eve als namensgebend276 für den Film
eingeführt wird? Eva al desnudo277
verweist auf eine Enthüllungsgeschichte,
in der Eva bloßgestellt und nackt gezeigt
wird. Gleichzeitig ist die Übersetzung des
Titels sexuell konnotiert. Auch der
Verweis auf Truman Capote, der ein
274
Für alle Personen, die Mutter sein wollen. Für meine Mutter. (1:32) 275
Dass die immer die Titel der Filme ändern müssen! All about Eve heißt alles über Eva! (0:03) 276
Der Titel wird gleichzeitig als der „Name“ eines Textes oder in diesem Fall eines Films bezeichnet. Brockhaus, 2006 Zur Funktion von Namen vgl. auch Kapitel 7.3. dieser Arbeit. 277
desnudo bedeutet hüllenlos, nackt
85
Lieblingsautor von Esteban ist, und dessen Werk Music for Cameleons er zum Geburtstag von
seiner Mutter bekommt, deutet auf eine Enthüllungsgeschichte hin: Capote schrieb unter
anderem Answered Prayers, das bei der Veröffentlichung des ersten Kapitels einen Skandal
auslöste, da es persönlichste Geheimnisse der High Society enthüllte278. Kein Wunder, dass es
Manuela nicht gefällt, dass Esteban über sie schreibt, versteckt sie doch selbst ihre
Vergangenheit vor ihrem Sohn. Esteban kann die Erzählung über seine Mutter allerdings nicht
mehr schreiben, da er vorher bei einem Unfall ums Leben kommt.279
Das Erzählen der Geschichte übernimmt der Film, der die Geschichte aus Manuelas Perspektive
zeigt. Es ist wider Erwarten keine Enthüllungsgeschichte über Manuela, sondern eine über die
Mutterschaft.
Schauen wir uns den Inhalt von All about Eve an: In dem Kultfilm wird ein (Schau)spiel von Eva
aus den Erinnerungen von drei Menschen nachgezeichnet und aufgedeckt, und dabei die Figur
Eve Harrington als Fälscherin charakterisiert. Die Geschichte der Hauptperson, wie der Titel
suggeriert, kommt erst im Laufe der Erzählung ans Licht. Auch die Geschichte von Manuela wird
im Laufe des Films von ihr selbst in Erinnerungen erzählt. Allerdings heißt der Film weder
´Manuela al desnudo´ noch ´Alles über Manuela´ sondern ´Alles über meine Mutter´. Im
Folgenden möchte ich aufzeigen, dass es im Film von Almodóvar nicht um Manuela als
Hauptperson geht, sondern, wie der Titel sagt, um die Mutter. Mutterschaft wird als
(Schau)spiel, oder mit Butler gesagt, als perFormativer Akt dekonstruiert. Diese These wird
durch die Widmung am Ende des Filmes gestützt, die in einem Atemzug den Film allen widmet,
die (schau)spielen und allen, die Mütter sein wollen.
278
Vgl. Wunderlich Capote gilt als Begründer des Tatsachenromans, in dem Sachlichkeit und literarische Kunst ineinander übergehen. 279
Auch Capote starb, bevor er das Werk Answered Prayers fertigstellen konnte. Im Vorwort zu Music for Cameleons, aus dem Manuela Esteban einige Zeilen vorliest, wird auf den späteren Tod von Esteban hingewiesen: Dem, den Gott eine Gabe gegeben hat, gibt er auch eine Geißel.
86
Abbildung 3
Dekonstruktion von Mutterschaft als Schauspiel über intertextuellen Bezug zu All
about Eve
ESTEBAN. Si fueras actriz yo escribiría papeles pasa ti.280
Die Figur Manuela lebt in Madrid als Krankenschwester und Mutter. Im Scherz sagt sie zu
Esteban, er müsse mehr essen, um notfalls für sie auf den Strich gehen zu können. Esteban steigt
nicht auf das Spiel ein und bleibt ernst. Auf die Gegenfrage von Esteban, ob denn sie bereit wäre
für ihn auf den Strich zu gehen, antwortet sie wage, sie habe schon fast alles für ihren Sohn
gemacht. Wenn sie Schauspielerin wäre, würde Esteban, ihr Sohn, Rollen für sie schreiben. Aber
auch so schreibt er eine Erzählung über sie und beobachtet und studiert seine Mutter, sodass
gleich zu Beginn der Eindruck entsteht, Manuela führe etwas vor. In Abbildung 16 beobachtet
Esteban, wie Manuela von Stella berührt ist. Als er sie darauf anspricht, erzählt sie, dass sie
selbst vor Jahren Stella spielte und dabei
seinen Vater kennengelernt hatte, der
Kowalski verkörperte. Auch Eve
Harrington beobachtet und studiert
Margo die ganze Zeit „Wie ein
Theaterstück, ein Buch, ein
Manuskript“281
Nicht als Schriftsteller doch als ihr Sohn hat Esteban eine Rolle für seine Mutter ´geschrieben´,
die begann, als sie vor etwa 18 Jahren mit Esteban im Bauch Barcelona verlassen hatte und die
mit seinem Tod plötzlich zu enden scheint. In seiner Erzählung will Esteban aber mehr von
Manuela wissen als nur ihre Mutterrolle, deshalb besucht er sie bei der Arbeit und nimmt ihr das
Versprechen ab, alles über seinen Vater und damit über Manuelas Leben vor dem Mutter-Sein
zu erfahren. Doch zu dieser Enthüllung kommt es nicht mehr.
Was wäre, wenn das Leben Manuelas tatsächlich aus der Sicht Estebans weitererzählt worden
wäre, wie dies in den ersten 10 Minuten des Films angedeutet wird? Von Eve Harrington werden
pikante Details aufgedeckt, die diese selber wohl nie freiwillig erzählt hätte. Was hätte Esteban
über Manuela aufgedeckt? Wahrscheinlich andere Begebenheiten als nur die Andeutungen von
Manuela, die sowohl für Esteban als auch für die Rezipient_innen einen großen
Interpretationsspielraum lassen.
280
ESTEBAN. Wenn du Schauspielerin wärst, würde ich Rollen für dich schreiben. (0:05) 281
Zitat aus All about Eve
87
Für Manuela bleiben in Bezug auf Esteban noch drei Aufgaben, die sie in Barcelona erfüllen wird:
Etwas über ihr Leben vor Esteban zu erzählen, ein Autogramm von Huma zu bekommen und
Esteban seinem Vater vorzustellen. Mit dem Tod Estebans geht Manuela dorthin zurück, wo ihre
Rolle, ihr Spiel als Mutter begonnen hat – nach Barcelona. In All about Eve ist dieses
Zurückgehen ein Zurück in die Vergangenheit. In Todo sobre mi madre bleibt es in der
Gegenwart. Nur eine kleine Erinnerungsgeschichte, die Manuela Rosa erzählt, und ein Foto
verweisen auf das Leben Manuelas vor 20 Jahren. Dennoch scheint sich die Vergangenheit am
Ende der Erzählung in dem Moment zu wiederholen, in dem Manuela allein mit einem Kind
Barcelona verlässt, um in Madrid ein neues Leben zu beginnen.
Mit dem Ortswechsel von Madrid nach Barcelona gibt es die Rolle als Mutter nicht mehr, so wie
es in All about Eve die Rolle als gefeierte Schauspielerin für Eve nicht mehr gibt. Manuela ist
nicht mehr die bewunderte Mutter, sondern mit Eve vergleichbar in der Situation, bevor sie
ihren großen Wunsch erreichen, die eine, eine gefeierte Schauspielerin zu sein, die andere die
Mutterschaft. In beiden Erzählungen wird nachgezeichnet, wie die Frauen ihren jeweiligen
Wunsch erreichen: beide betonen immer wieder, dass sie die Rolle nicht haben wollen, und dass
sie ihnen nicht zusteht.
MANUELA. ¡Rosa! ¡Me estás pidiendo que sea tu madre y no tienes ningún derecho! ¡Tú ya tienes madre, aunque no te guste!
282
Beide äußern den Wunsch jedoch in einem schwachen Moment.
MANUELA. Ojalá estuviéramos solas en el mundo, sin ningún compromiso… ¡Tú y tu niño, para mí sola!
283
Wie Eve übernimmt Manuela zunächst die Rolle als Zweitbesetzung: Einmal im Theater als Stella,
aber das ist nicht ihr Ziel. Vielmehr ist es die ´Zweitbesetzung´ als (Rosas) Mutter, die sie
diskursiv immer von sich gewiesen hat, dann aber doch übernimmt, indem sie Rosa bei sich
aufnimmt und pflegt, als diese ihre Hilfe braucht. Es geht dabei nicht nur um das Für-sie-da-sein,
sondern um das Für-sie-jemand-sein, eine Mutter sein. Dies wird deutlich, als sie Huma
vorschlägt, Nina in eine Klinik einzuweisen, und Rosa die Unterhaltung unterbricht, indem sie
quer durchs Bild läuft und Manuela ansieht. Manuela könnte Rosa nicht in eine Klinik einweisen,
da sie mehr verbindet als die Pflege. Rosas Mutter versucht in diese Bindung einzugreifen, indem
sie Manuela Geld für die Pflege anbietet. Würde Manuela das Geld annehmen, wäre sie nicht
282
MANUELA. Rosa! Du willst, dass ich deine Mutter sein soll und dazu hast du kein Recht. Du hast eine Mutter, auch wenn sie dir nicht gefällt. (0:49) 283
MANUELA. Wären wir nur allein auf der Welt, ohne irgendwelche Verpflichtungen, du und dein Sohn für mich allein. (1:08)
88
mehr in der Mutterrolle, sondern die Pflegerin, die Angestellte, als die sie Rosas Mutter
anspricht.
Die Anordnung der ´Mutterschaft´ bricht mit der Norm: Rosa steht selbst kurz davor Mutter zu
werden und ist kein Kind mehr (auch wenn Manuela sie vor Huma als Kind bezeichnet). Die
Familiensituation ist frei gewählt, Manuela muss Rosa keine Welt kreieren, wie sie dies bei
Esteban gemacht hat. Zudem verspricht sie Rosa vor deren Tod, auch für Esteban nicht eine Welt
zu inszenieren:
ROSA. Prométeme que no le ocultarás nada al niño. […] MANUELA. Bueno, te lo prometo.
284
Rosa übergibt Manuela die Mutterschaft von ihrem Sohn Esteban III, die sie nicht selbst
übernehmen kann, weil sie bei der Geburt oder kurz danach285 stirbt. Manuela trifft sich mit Lola
um ihr_m Esteban III vorzustellen und das Versprechen einzulösen, das sie Rosa gegeben hatte.
Bald darauf sitzt sie mit Esteban III wieder im gleichen Zug wie vor fast 20 Jahren, und die
Geschichte scheint sich zu wiederholen. Manuela erscheint wie am Anfang als alleinerziehende
Mutter von einem Esteban. Aber was hat sich durch die Geschichte an der Situation geändert?
Die Mutterschaft ist jetzt eine selbst gewählte, Manuela ist durch das Versprechen an Rosa
daran gebunden, die Vergangenheit nicht zu verstecken oder sich ausschließlich als Mutter zu
entwerfen. Mutter ist nicht mehr etwas, was jemand ist oder nicht, sondern eine Entscheidung.
Am Ende wird dies noch unterstrichen durch die Hommage an Lorca, deren gezeigte Szene eine
Hommage an die (Verlorene) Mutterschaft ist, in der die Mutter von Huma verkörpert wird.
Welche Funktion hat nun die Parallelsetzung von Manuela mit Eve? Indem sie die Rolle von
Stella zurückweist wird Manuela in diesem Moment von Almodóvar explizit als ´Anti-Eve
Harrington´ inszeniert286. Manuela will die Rolle der Stella, der leiblichen Mutter, die flüchtet
nicht mehr. Sie kann/will auch nicht von ihren verlorenen Sohn sprechen. Allerdings übernimmt
sie eine Mutterbeziehung (gegenüber Esteban III) für die sie von Rosa ausgewählt wurde. Im
Verweis auf Eve Harrington erscheint Mutterschaft nicht mehr selbstlos, ihr Handeln bekommt
die Konnotation von Egoismus und Eigennützigkeit. Umgekehrt entpuppt sich Eves Irreführung in
der Parallel Setzung mit Manuela als alltägliche Handlung und Notwendigkeit; Lüge ist nicht
mehr negativ besetzt, wodurch ihr Status als ´Bösewicht´ im Nachhinein durch den
284
ROSA. Versprich mir, dass du dem Kind nichts verheimlichst […] MANUELA. Gut, ich versprech´s dir (1:18-1:19) 285
Wann genau Rosa stirbt, bleibt offen: Die Szene im Krankenbett vor dem Kaiserschnitt wird direkt überblendet mit der Szene auf dem Friedhof, auf dem die Beerdigung von Rosa stattfindet. 286
Almodóvar, 1999/2005, S. 121
89
intertextuellen Bezug relativiert wird. Ihre Rolle als Mutter kann im Verweis auf Eve Harrington
die Bedeutung der beiden Filme so in zwei Richtungen verschieben.
Intertextuelle Bezüge zum Film All about Eve
Der Filmausschnitt in Todo sobre mi madre zeigt Eve Harrington bei ihrer Kontaktaufnahme mit
der von ihr Verehrten Theaterdiva Margo Channing. Der gezeigte Ausschnitt beginnt damit, dass
Margo sich herablassend über Autogrammjäger äußert, die Nacht für Nacht vorm Theater
warten, sogar im Regen. Sie wären nichts weiter als nichtsnutzige Minderjährige, die weder ein
Stück gesehen, noch Interesse an ihrer Person hätten. Ihre Freundin Karen Richards verteidigt
und die Autogrammjäger als Bewunderer Margos und stellt ihr gleich anschließend Eve
Harrington vor, die vor der Tür wartete und jede der Vorstellungen von Margo gesehen habe.
Die Szene wiederholt sich in abgewandelter Form in der filmischen Realität von Todo sobre mi
madre: Diesmal wartet Esteban vorm Theater auf Huma Rojo, dem Star des Theaterstücks Un
tranvía llamado deseo, um ein Autogramm von ihr zu erbeten. Als diese aus dem Theater
kommt, ist sie in einen Streit mit Nina verwickelt, steigt in ein Taxi und achtet nicht auf ihren
Fan. Der Film inszeniert in dieser Szene über den innerfilmischen Verweis die Welt der großen
abgehobenen Theaterdiva, die für die Fans fast unerreichbar ist.
Huma Rojo persifliert diese Welt der Stars, indem sie ein einzelnes Element herausgreift und zu
ihrer Identität macht: Wegen Bette Davis287 hat sie zu Rauchen begonnen und gab sich selbst
den Namen Huma.
HUMA. Empecé a fumar por culpa de Bette Davis. Por imitarla. A los dieciocho años ya fumaba como un carretero. Por eso me puse Huma […] Humo es lo único que ha habido en mi vida. […] El éxito no tiene sabor ni olor, y cuando te acostumbras es como si no existiera.
288
Durch den Verweis auf Bette Davis wird ein Bezug zwischen Filmebene und außerfilmischer
Realität hergestellt, wodurch der Film die Grenze zwischen filmischer und außerfilmischer
Realität überschreitet. Über die Doppelung vom Film im Film und hier einer Schauspielerin die
eine Schauspielerin spielt bekommt Todo sobre mi madre eine Spiegelungs-Funktion, die die
Wechselbeziehung zwischen Film und Mediengesellschaft thematisiert.
287
In den Anmerkungen zu Todo sobre mi madre wird die amerikanische Filmschauspielerin Bette Davis (1908-89) als ´First Lady of the Screen´ bezeichnet, die sich in einer männerdominierten Welt durchsetzte und zu den bestbezahlten Frauen Amerikas zählte. Zigaretten und Sprüche zählten zu ihren Markenzeichen: ´If you want a thing well done, get a couple of old broads to do it´. (Vgl. Almodovar, 1999/2005, S. 185) 288
Ich begann wegen Bette Davis zu rauchen. Um sie nachzuahmen. Mit 18 rauchte ich wie ein Schlot. Deshalb nannte ich mich Huma. […] Rauch ist das einzige, das ich in meinem Leben hatte. Der Erfolg hat keinen Geschmack und keinen Geruch, und wenn du dich daran gewöhnst, ist es, als existierte er nicht. (Tsmm, 1999, 0:40)
90
Abbildung 5:Huma Rojo Abbildung 4: Foto von Bette Davis
Die Glimmerwelt der Stars reicht nicht ins Privatleben: Sowohl die von Bette Davis verkörperte
Margo Channing als auch Huma streiten sich häufig mit ihrem Partner (Bill) bzw. ihrer Partnerin
(Nina) und geraten in Panik beim Gedanken, von diesen verlassen zu werden.
HUMA: Sin Nina no puedo. Ella está enganchada al caballo, pero yo estoy enganchada a ella…289
Eine strukturell ähnliche Begehrensstruktur wird im Hypertext verschoben wiederholt. Margo
hat eine heterosexuelle Beziehung zu Bill und hat Angst, ihn an eine jüngere Schauspielerin zu
verlieren. Schließlich gibt sie das Leben als Schauspielerin zugunsten einer Heirat mit Bill auf und
fügt sich so in das Bild eines glücklichen bürgerlichen Lebens einer Frau der 50er Jahre. Huma
hat eine homosexuelle Beziehung mit Nina, die sie an die Drogen-Welt verlieren könnte. Auch
das Ende der Beziehungsgeschichte unterscheidet sich: Huma bleibt 50 Jahre später als Margo
dem Schauspiel erhalten und kommt gut allein zurecht, ähnlich wie Bette Davis bis zu ihrem Tod
als Schauspielerin tätig war.
Eve wird im Anschluss an die beschriebene Szene in den Kreis der Vertrauten Margos
aufgenommen, entpuppt sich später jedoch als hinterhältige, skrupellose Jungschauspielerin. Für
Esteban endet die Szene tödlich: Als er an die Fensterscheibe klopft und dem Taxi hinterher
läuft, wird er von einem Auto angefahren. Als Manuela vier Wochen später Huma in ihrer
Garderobe besucht, wird sie von dieser – analog zum Hypotext – ins Vertrauen genommen. Wie
Eve Harrington arbeitet Manuela als persönliche Assistentin und Vertraute der bekannten
Schauspielerin. In der Garderobe spricht sie den Text von Stella mit und vertritt schließlich zwei
Wochen später Nina auf der Bühne, als diese wegen eines Drogenexzesses nicht spielen kann.
Die durch den filmischen Bezug geleitete Erwartung der Zuschauenden und die explizite
Anspielung Ninas stellt Manuela in den direkten Vergleich mit Eve Harrington, ein Name, der für
Intrige und Falschheit steht:
289
HUMA. Ohne Nina kann ich nicht. Sie ist süchtig nach Heroin, aber ich bin süchtig nach ihr. (Tsmm, 1999, 0:59)
91
NINA. ¡Eres igualita que Eva Harrington! ¡Te aprendiste el texto de memoria a propósito! Es imposible aprendérselo sólo oyéndolo por los altavoces, ¡coño! ¿Por quien me tomas, por gilipollas?
290
Allerdings bricht Almodóvar mit der Vorlage und inszeniert Manuela in diesem Moment als
´Anti-Eve Harrington´291. Manuela hat kein Interesse daran, die Rolle von Nina zu erschleichen,
obwohl sie sie am Abend vorher mit Erfolg gespielt hatte. In All about Eve erzählt Eve Margo eine
rührende Geschichte – die sich am Ende als ziemlich erfunden herausstellt – und gewinnt damit
deren Vertrauen. Auch Manuela erzählt eine ´rührende Geschichte´ als Rechtfertigung, warum
sie Huma am ersten Abend in der Garderobe aufsuchte: Manuela hatte in ihrer Jugend als Stella
in einem Leihen-Theater Un tranvía llamado deseo mitgewirkt und dabei ihren Mann
kennengelernt; durch Estebans Tod wurde ihr Leben erneut mit dem Theater verbunden. Die
Erinnerungen von Huma an Esteban, der bei Regen an das Fenster des Taxis klopft, räumen
mögliche Zweifel der Schauspielerin an der Wahrheit der Erzählung aus dem Weg, die durch den
Bezug zu Eve Harrington berechtigt erschienen.
Kurz darauf wiederholen sich die Szenen erneut: Diesmal ist es Agrado, die in der Garderobe die
Rolle von Blanche studiert und sie schließlich auf ihr_seine Art auf die Bühne zum Ausdruck
bringt.
290
NINA. Du bist genauso wie Eve Harrington und bestimmt hast du den Text mit Absicht gelernt. Es ist doch nicht möglich, dass man so was nur durchs Hören über die Lautsprecher lernt. Meinst du ich bin blöd, oder was?! (Tsmm, 1999, 0:55) 291
Vgl. Almodóvar, 1999/2005, S. 121
92
9.3. Theater im Film
Todo sobre mi madre und All about Eve haben gemeinsam, dass sie die Theaterwelt
thematisieren und damit zu den sog. Theaterfilmen gezählt werden können. Film und Theater
stehen historisch schon immer in einem engen Zusammenhang; so sind beispielsweise die ersten
öffentlichen Filmvorführungen in Programmen von Theatern und Jahrmarksvergnügen integriert
worden.292 Wie das Theater im Film thematisiert wird, lässt sich nach Susanne Marschall293 in
vier grob umrissene Formen fassen, zwischen denen viele Stufen des Übergangs existieren:
„1) [D]ie dokumentarische Theateraufzeichnung zu wissenschaftlichen Zwecken; 2) die Adaption eines Theaterstückes für Film und Fernsehen, die das Bühnenereignis durch Kameraführung und Schnitt filmisch transformiert; 3) die Verfilmung eines Theaterstücks, die den dramatischen Text und nicht das Bühnenereignis zum Ausgangspunkt nimmt und somit die größte Eigenständigkeit im filmischen Medium gewinnen kann; 4) die Thematisierung der Theaterwelt als Sujet des Films.“
294
Wenn der Theaterbegriff im Anschluss an aktuelle Theorien des Theaters als „Prozess definiert
[wird] der innerhalb und außerhalb des Theaters stattfinden kann und der sich überall dort
entfaltet, wo Darstellende und Zuschauer [!] zusammen treffen“295, wird nicht nur die Welt des
institutionalisierten Theaters relevant, sondern es bleibt der Perspektive der Zuschauenden
überlassen, ob eine Situation als theatral und inszeniert oder als nicht-theatral gesehen wird.
Dass dabei Spielformen der Bühne und des Lebens nicht mehr leicht zu unterscheiden sind, lässt
sich in der Analyse von Todo sobre mi madre zeigen. Mit Volker Roloff können so Theaterfilme
als
„Werkstätten einer intermedialen Reflexion [begriffen werden], die die Prozesse der Medialisierung der Öffentlichkeit, der Inszenierbarkeit privater und öffentlicher Schauspiele zugleich darstellen und analysieren“
296.
Schauspiel, Simulation, Inszenierung und Schaulust werden als Elemente unserer gegenwärtigen
Mediengesellschaft durchschaubar gemacht.
Theaterfilme vermischen Bilder der Lebenswelt und der Bühne und schaffen dabei nach Deleuze
eine neue kinematografische Theatralität oder Meta-Theatralität:297 Sie können Spielformen von
sichtbarer und unsichtbarer Theatralität der Gesellschaft jenseits der gewohnten Konventionen
des Theaters aufzeigen. In der Hybridisierung von Theater und Film, von (filmischer) Realität und
292
Vgl. Borstnar, Pabst, & Wulff, 2002, S. 79 293
Vgl. Marschall, Theater und Film, 2007, S. 702 294
Ebd. 702 295
Roloff, 2004, S. 9 296
Roloff, 2004 297
Vgl. Deleuze zitiert in Roloff, 2004, S. 10
93
Virtualität entsteht ein Zwischenraum. Dabei wird wie in den frühen Avantgarden auf
Theatertraditionen und -figuren zurückgegriffen, die eine Konfusion von Leben und Traum, ein
Wechselspiel von Täuschung und Desillusion thematisieren.298 Neuere Theaterfilme299 stellen die
gegenwärtige Gesellschaft weitgehend als Spielformen der Inszenierung, des Schauspiels, des
Scheins dar und schaffen Grenzsituationen und Umkehrungen, die die gewohnte Opposition
zwischen Realität und Fiktion, zwischen Sein und Schein, zwischen Illusion und Wahrheit in Frage
stellen und auflösen.300
A streetcar named desire
Un tranvía llamado deseo durchzieht fast den ganzen Film. Die Theaterszenen werden mit
Musik eingeleitet, die Bühne ist in blaues Licht getaucht. Immer wieder wird auch das Publikum
eingeblendet oder die Übertragung über die Lautsprecher in die Garderobe, sodass die Szenen
unterbrochen und als Theater inszeniert werden. Auch die Werbung, die vor dem eingespielten
Schwarz-Weiß-Film im Fernsehen läuft, erscheint in blauem Licht, und Manuela und Esteban
werden als Zuschauende eingeblendet, sodass Film und Theater in Todo sobre mi madre auf eine
Ebene gesetzt werden.
Eine Theaterszene, die sich von den anderen unterscheidet, ist die, in der Manuela Stella
verkörpert. Sie wird als einzige Szene im Theater nicht mit Musik eingeleitet, und die
Zuschauenden werden erst gezeigt, als Manuela die Bühne schon längst wieder verlassen hatte.
Die ganze Szene wird in halbnaher Einstellung gezeigt, sodass die Bühne als solche nicht sichtbar
wird. Dadurch bekommt die Szene im Film Realitätseffekt, der noch verstärkt wird, dass Manuela
Un tranvía llamado deseo als wesentlichen Bestandteil ihres Lebens bezeichnet, und sie sich
offensichtlich mit Stella identifiziert. Das Theater erscheint somit als reale Lebensgeschichte von
Manuela.
MANUELA. Un Tranvía llamado deseo ha marcado mi vida. […] Hace veinte años hice de Stella. Allí conocí a mi marido, él hacía de Kowalski.
301
298
Roloff, 2004, S. 12 299
Rodolff nennt unter anderen Almodóvar (1999) Todo sobre mi Madre, Rivette (2001) Va Savoir, Chereau (2001) Intimacy, Begnini (1997) La vita é bella. 300
Vgl. Roloff, 2004, S. 12 301
MANUELA. Mit Endstation Sehnsucht hat mein ganzes Leben zu tun. […] Vor 20 Jahren spielte ich Stella. Dort lernte ich meinen Mann kennen. Der spielte Kowalski. (Tsmm, 1999, 0:56)
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Originaltitel: A Streetcar Named Desire
Span. Titel: Un tranvía llamado deseo
Autor: Tennessee Williams
Land/Jahr: USA, 1947
Charaktere: Blanche DuBois, Stella Kowalski,
Stanley Kowalski, Harold Mitchell, Eunice Hubbel
Inhalt: Das Stück erzählt die Geschichte der Blanche DuBois, welche die Auflösung ihrer Familie und die Versteigerung des einstmals stolzen Familienbesitzes Belle Rêve erlebt. Als sie auch noch ihre Arbeit als Lehrerin verliert, besucht sie ihre jüngere Schwester Stella in New Orleans, die ihre aristokratische Familie verlassen hatte, um mit Stanley Kowalski in New Orleans zu leben. Stanley liebt und begehrt Stella, geht aber gleichzeitig gewaltvoll mit ihr um. Blanches kultiviertes, aber in dieser Umgebung gekünsteltes Verhalten und die Betonung ihrer vornehmen Herkunft wirken wie ein rotes Tuch auf Kowalski. In den beengenden Wohnverhältnissen kommt es schnell zu Spannungen zwischen den beiden, die zu einer offenen Verachtung führen. Blanche verliebt sich in einen der Pokerfreunde Stanleys, doch die Wahrheit über Blanches trennt die beiden: Blanche ist nicht die arme unschuldige Witwe, die sie vorgibt zu sein, sondern wird in ihrer Heimat als Nymphomanin bezeichnet. Ein ausschweifendes Sexualleben sollte sie über ihre Einsamkeit hinwegtrösten. Die Phantasiewelt, in die sie sich flüchtet, führt dazu, dass ihr niemand mehr glaubt, sodass am Ende keine weiß, ob die Anklage Blanches, Stanley habe sie vergewaltigt, stimmt oder nicht. Schließlich wird sie in die Psychiatrie gebracht.
Vor etwa 20 Jahren spielte Manuela in einem Leihen-Theater die Rolle der Stella. Dort lernte sie
ihren Mann kennen, der Kowalski spielte. Manuela erzählt Rosa ihre Geschichte302 mit ihrem
Mann, dem sie – wie Stella – in ein fernes Land, von Argentinien nach Europa, gefolgt ist. Mehr
als dass er sich hatte Brüste machen lassen und es
mit allen trieb, die er_sie erreichen konnte,
sich Manuela gegenüber aber sehr eifersüchtig
verhielt, erfahren wir nicht. Alles andere bleibt
bis zum Schluss der Phantasie überlassen.
Durch die spärliche Information und den
Verweis auf die Identifikation Manuelas mit
Stella wird ihr Mann über Kowalski
charakterisiert. Auch der spürbare Hass von
Manuela auf Lola und ihr Schweigen
gegenüber Esteban tragen zu dieser
Einschätzung bei, ebenso wie die Tatsache,
dass sie aus Barcelona geflohen ist, als sie
schwanger war. Im Theater wird immer wieder
die Szene im gezeigt, in der Stella Kowalski mit
dem Baby auf dem Arm verlässt. Kowalski
wird sowohl Stella als auch Blanche gegenüber
als derber und grober Ehemann gezeigt. In der
Szene, in der Manuela in der Rolle der Stella
auftritt, wird eine der schlimmsten
Beleidigungen Kowalskis Blanche gegenüber
gezeigt. Er schenkt ihr zu ihrem Geburtstag ein
Ticket, mit dem er sie aus der Wohnung
rausschmeißt und ihr damit jede
302
Manuela erzählt Rosa ihre Geschichte mit Lola als eine Geschichte einer Freundin aus Argentinien: Sie hatten sehr jung geheiratet, dann ging ihr Mann nach Paris und sie wollte nachkommen, wenn er Arbeit gefunden hat. Es vergingen zwei Jahre. Der Mann hatte Geld gespart und öffnete eine Bar in Barcelona, wo sie sich mit ihm wiedertraf. Zwei Jahre sind keine lange Zeit, aber der Mann hatte sich verändert. Nicht dass er sie nicht mehr liebte, die Veränderung war mehr physisch. Der Mann hatte sich die größeren Brüste gemacht als sie hatte. Da er sich sonst kaum verändert hatte und sie allein in einem fremden Land war, akzeptierte sie ihn. Die Frauen sind Dummköpfe und ein bisschen lesbisch! Er verbrachte den ganzen Tag in einem mikroskopischen Bikini und trieb es mit allem, was er erreichen konnte. Aber wehe, wenn sie einen Bikini oder Minirock trug, da machte er ihr ein Riesentheater. Wie kann man nur so Macho sein mit solchen Titten! (Tsmm, 1999, 0:46-0:47)
95
Lebensgrundlage nimmt. Zugleich erinnert er Stella, dass er sie aus den Säulen errettet hatte
und dass sie glücklich miteinander waren. Dabei wird eine andere Seite von Stanley Kowalski
sichtbar: einer, der sich um Stella sorgt, sie liebt und sie ins Krankenhaus zur Entbindung bringt.
Durch das laute Weinen Stellas als die Wehen einsetzen, das an das Klagen Manuelas am
Unfallort Estebans erinnert, wird ein direkter Zusammenhang zwischen der Geburt von Stellas
Kind und dem Sohn Manuelas hergestellt. Die Grenzen zwischen Theaterwelt und Filmrealität
werden in den Schreien von Manuela/Stella aufgelöst, sodass Theater und Filmrealität
ineinander übergehen und ein Hybrid bilden.
Durch die fehlenden Informationen schafft sich Manuelas Sohn Esteban sein eigenes Bild von
seinem Vater, der für ihn alles verkörpert, was in seinem Leben fehlt. Durch die fehlenden
Informationen schaffen sich auch die Zuschauenden ein Bild von Lola, das durch den
intermedialen Vergleich dem Bild Kowalskis sehr ähnlich sein wird. Hier dient der Intertextuelle
Verweis zur Charakterisierung einer in der Filmrealität abwesenden Person. Dadurch erlangt die
Fiktion/das Theater im Film Realitätsstatus.
Als Lola schließlich auf dem Friedhof zum ersten Mal im Film gezeigt wird, ist keine äußerliche
Ähnlichkeit zu einem rohen, brutalen Kowalski zu erkennen, auch nicht zu einem Vater, der der
Norm einer heterosexuellen Kleinfamilie entsprechen würde. Lola ist keinem Geschlecht
eindeutig zuordenbar und bricht damit mit den Vorstellungen von Männlichkeit, die über
Esteban II und Kowalski hergestellt wurden.
Zwischen Performanz und Performativität
BLANCHE DUBOIS. I don't want realism. I want magic! Yes, yes, magic. I try to give that to people. I do misrepresent things. I don't tell truths. I tell what ought to be truth.
303
Das Hauptmotiv von Un tranvía llamado deseo, das in den im Film wiederholten Szenen
allerdings nur angedeutet wird, ist das Aufeinandertreffen von Phantasie und Traum –
verkörpert von Blanche DuBois – mit einer brutalen Realität, die von Stanley Kowalski
dargestellt wird. In Un tranvía llamado deseo endet diese Konfrontation für Blanche in der
Psychiatrie. In der Wiederholung dieses Motivs in Todo sobre mi madre wird die Grenze
aufgehoben, sodass Traum und das, was als Filmrealität gilt, ineinander übergehen: die Grenze
zwischen Theater und der Realität, zwischen Erzählung und Lebens-Geschichte verschwimmen.
Performanz wird Teil der Film-Realität.
303
In: A streetcar named desire
96
Blanche DuBois ist eine ´alternde Schönheit´, die vorgaukelt, eine jüngere zu sein. Die kultivierte,
aber dem Alkohol verfallene Dame um die 30 konnte den Verlust des Familienbesitzes Belle Rêve
(Schöner Traum) nicht verhindern und flüchtet sich in eine Phantasiewelt: I don't want realism. I
want magic! Sie leiht sich schöne Kleider aus, die sie sich eigentlich nicht leisten kann und in
denen sie in ihrer Umgebung fehl am Platz wirkt. Am Ende des Stücks wartet sie in ihrer
Realitätsferne auf einen alten Verehrer, von dem sie glaubt, er sei auf dem Weg, um sie zu einer
Kreuzfahrt abzuholen. Stattdessen holt sie ein fremder Doktor ab, der sie in die Psychiatrie
bringen wird. Das anfängliche Entsetzen darüber weicht in eine neuerliche Hoffnung auf eine
Besserung ihrer Situation: „Whoever you are, I have always depended on the kindness of
strangers.”
Huma Rojo wiederholt den Satz von Blanche DuBois Manuela gegenüber, als diese sich mit ihr
auf den Weg macht, um Nina zu suchen und eignet sich Blanches Zerbrechlichkeit und
Dankbarkeit an.
HUMA. Gracias. Quienquiera seas, siempre he confiado en la bondad de los desconocidos.304
Indem sie Elemente des Theaters in die Film-Realität überträgt, bricht sie mit der Grenzziehung
zwischen den beiden. Auch Huma Rojo sieht man an, dass sie nicht mehr die jüngste ist,
Probleme mit Alkohol werden nur im Ansatz angedeutet. Humas Welt ist die Theaterwelt, eine
Welt, in der im Gegensatz zu A streetcar named desire Platz ist für Verkleidung und Phantasie.
Eine Parallele zu Blanche wird visuell auch zu Margo Channing gezogen: Blanche im
Theaterstück Un tranvía llamado deseo in Abbildung 19 hat große Ähnlichkeit mit Margo, die in
der Filmszene All about Eve305 eingeblendet wird.
Auch Margo teilt das Motiv einer alternden Schönheit, die ihr Alter im Verborgenen hält. Auch
sie hat Probleme mit dem Alkohol und erscheint wirklichkeitsfern. Ihr Leben ist durch und durch
Schauspiel, worauf sie mehrfach angesprochen wird, von ihrem Liebhaber Bill und ihrer Freundin
304
HUMA. Danke. Wer auch immer Sie sind, immer schon habe ich auf die Güte von Fremden vertraut. (Tsmm, 1999, 0:39) 305
Abbildung 20
Abbildung 6: Huma als Blanche Abbildung 7: Bette Davis als Margo Channing
97
Karen. Am Ende des Film kehrt sie in die ´Realität´zurück, indem sie verspricht, Bill zu heiraten
und dem Theater den Rücken zu kehren.
Wenn schließlich Agrado sich mit Blanche identifiziert: „¿Yo haciendo de Stella? Pues me veo
más de Blanche…”306 und in der Garderobe den Text auswendig lernt, wird ein weiterer Bezug
hergestellt, der allerdings klar mit der Vorlage bricht. Agrado verkleidet sich bewusst und
inszeniert dies auch: sie_er trägt Chanel, um sich Respekt zu verschaffen, allerdings kein echtes,
weil tran bei dem Hunger in der Welt doch nicht eine halbe Million dafür ausgeben könne. Als
Huma und Nina nicht zur Vorstellung kommen können, ersetzt sie_er sie auf der Bühne. Sie
interpretiert das Thema des Theaterstücks – das Aufeinandertreffen von Traum und Realität –
jedoch vollkommen neu über ihr eigenes Leben: Der Traum habe sich im Körper materialisiert,
dadurch habe Agrado Authentizität erreicht.
Organspende im Theater
Manuela arbeitet in der Koordinationsstelle für Organtransplantation. Als ihr Sohn stirbt,
unterschreibt sie, sein Herz für eine Organspende freizugeben, wie dies vorher in simulierten
Patient_innengespräch erprobt und von ihr erwartet wurde. Das Herz gilt als Symbol des Lebens,
der Schöpferkraft und der Liebe, aber auch als Symbol des Menschen als Ganzes.307 Nach der
Unterschrift folgt Manuela nicht mehr den Regeln des Krankenhauses und macht sich auf die
Suche nach dem Herz. Als die Psychologin und Freundin Manuelas das erfährt, meint sie, es wäre
die beste Art, verrückt zu werden. Als Blanche in einer Szene ihr Herz sucht (und dabei ihr
herzförmiges Schmuckkästchen meint), ist dies die Vorführung ihrer Verwirrung und passiert
kurz vor ihrer Einweisung in die Klinik. Am Ende des Films wird Huma auf der Bühne als
trauernde Mutter gezeigt, die erzählt, sie habe beim Anblick ihres toten Sohnes ihre Hände in
seinem Blut getränkt und sie mit der Zunge abgeleckt, weil es ihr Blut war. In eine
Kristallmonstranz wollte sie die von seinem Blut getränkte Erde geben.
HUMA MADRE. Hay gente que piensa que los hijos son cosa de un día. Pero se tarda mucho. Mucho. Por eso es tan terrible ver la sangre de un hijo derramada por el suelo... Una fuente que corre durante un minuto y a nosotras nos ha costado años. Cuando yo descubrí a mi hijo, estaba tumbado en mitad de la calle. Me mojé las manos de sangre y me las lamí con la lengua. Porque era mía. Los animales los lamen, ¿verdad? A mí no me da asco de mi hijo. Tú no sabes lo que es eso. En una custodia de cristal y topacios pondría yo la tierra empapada por su sangre.
308
306
AGRADO. Ich als Stella? Ich muss sagen als Blanche sehe ich mich eher. (1:01) 307
Vgl. Renger, 2008 308
HUMA MUTTER. Manche denken, Kinder sind das Werk eines Tages, aber es dauert so lang, so lang. Darum ist es so grauenvoll, das Blut seines Kindes vergossen zu sehen. Eine Quelle die fließt eine Minute und kostete uns doch Jahre. Ich habe ihn gefunden, meinen Sohn, ich habe ihn liegen sehen, mitten auf der Straße. Ich tauchte meine Hände in sein Blut und leckte es ab mit der Zunge, denn es war meines. Das machen die Tiere ebenso, nicht wahr? Ich ekle mich nicht vor meinen Sohn. Du kannst nicht wissen, wie
98
Am Ende des Filmes wird nochmal das Motiv der Trauer um den toten Sohn aufgegriffen und so
zum Anfang des Filmes zurückgeführt. Inhaltlich bietet das Theaterstück gleichzeitig eine
Rückführung und einen Kontrast zum Tod Estebans. Manuela gibt das Herz ihres Sohnes weg und
damit auch symbolhaft ihren Sohn als Ganzen, während die Mutter in der Hommage an Lorca
das Blut ihres Sohnes aufisst. In religiöser Verehrung will sie das Blut in einen Kristallbehälter
geben, Estebans Herz wird hingegen in eine blaue Kühlbox aus Plastik gegeben. In der
Kontrastierung erscheint die Organspende als Parodie des Stückes von Lorca.
das ist, in eine Monstranz von Kristall und Topasen wollte ich legen die vom Blut meines Sohnes getränkte Erde. (1:27-1:29)
99
10. Resümee
Ausgangspunkt dieser Arbeit waren Beobachtungen zur ReProduktion von hegemonialen
Geschlechterstrukturen in medialen Kontexten. Das zentrale Interesse dieser Arbeit galt aber
nicht diesen ReProduktionen; vielmehr ging es darum, Möglichkeiten der Verschiebung und
Umgestaltung hegemonialer Geschlechterordnung auszuloten. Dazu sollten Filme des Queer
Cinema herangezogen werden, die Geschlecht und Begehren jenseits der hegemonialen
Ordnung thematisieren. Zumal Film und Fernsehen in unserer Gesellschaft einen wichtigen
Stellenwert einnehmen, ist die Pädagogik herausgefordert, sich mit diesen reflexiv auseinander
zu setzen.
Mit der Theorie der Subjektivierung und der weiterentwickelten Theorie der Performativität hat
Judith Butler Handlungsmöglichkeit thematisiert, die ein Eingeschlossen-Sein in ein
gesellschaftliches System aufgreift und innerhalb dieses Systems Möglichkeiten zur
Umgestaltung eröffnet. Diese Möglichkeit zu handeln besteht in der veränderten und
verändernden Wiederholung gesellschaftlicher Normen in Form von perFormativem
Widersprechen. Dabei werden nach Butler Forderungen gestellt, indem mit der Ausübung dieser
Forderung begonnen und hinterher ihre Legitimation gefordert wird. Gleichzeitig werden Lücken
sichtbar gemacht zwischen dem, was soziale Normen verlangen und denen die damit umgehen.
Diese Lücken mobilisieren, indem sie öffentlich gemacht werden.
Die heterosexuelle Matrix dient als Analysewerkzeug, mit dem Geschlecht als Zusammenspiel
von Körper, Identität und Begehren gesehen wird, die durch diskursive und nichtdiskursive
Mechanismen konstruiert und innerhalb dieser Mechanismen verändert werden können. Mit
diesem Werkzeug können Filme hinsichtlich einer Kontinuität von gesellschaftlich
geschlechtlichen Normen untersucht werden, in Bezug auf queere Filme konnten Mechanismen
der Herstellung von Geschlecht sichtbar gemacht und perFormative Verschiebungen benannt
werden. In der Analyse von Todo sobre mi madre konnte herausgearbeitet werden, dass
traditionelle Bilder von Familie, Frau und Mutterschaft aktualisiert wurden, um sie dann
perFormativ zu verschieben und umzudeuten. Die ´neuen´ Bilder sind unkonventionell,
individualistisch und veränderbar, sowohl in Bezug auf Körperlichkeit als auch auf
Identitätskonzepte. Verwandtschaftsbeziehungen wurden zu Wahlverwandtschaften
umgestaltet und bauen vor allem auf Freundschaftskonzepte auf, wie sich auch in anderen
Filmen des Queer Cinema beobachten lässt. Mit Silverman können Bilder als politische
Möglichkeit gesehen werden; über Mechanismen der Identifikation kann auch marginalisierten
100
Subjekten Idealität gewährt werden. Dadurch lässt sich eine Veränderung des Bildrepertoires
einer Gesellschaft herbeiführen.
Um die spezifische Medialität von Film zu fassen, die in Butlers Konzept von PerFormativität
nicht expliziert gemacht wird, habe ich zunächst nach Stuard Hall ´Film´ als kommunikativen Akt
definiert, der in machtvolle Systeme eingeschlossen ist. Als kommunikativer Akt kann Film als
perFormative Handlung gefasst werden, auf deren spezielle Medialität Andrea Seier verweist.
Ich habe die von Seier entwickelte analytische Unterscheidung zwischen der Geschlechter-
Performativität und der medialen Ebene der Performativität aufgegriffen, die darauf
aufmerksam macht, dass im Film neben gesellschaftlichen auch filmisch-ästhetische
Konventionen aufgegriffen werden (müssen). Film umfasst nicht nur Sprache und Körper,
sondern arbeitet auch v.a. mit gesellschaftlichen Bildern und Musik und greift auf literarische
und filmische Konventionen zurück. In der Analyse von Todo sobre mi madre habe ich
insbesondere intertextuelle Bezüge fokussiert. Im Film werden Werke aus den 1950ern
aufgegriffen, und – wie herausgearbeitet werden konnte – ihre Bedeutungen in Bezug auf
Beziehungsstrukturen und Weiblichkeitsentwürfen verschoben, ebenso wie das Verhältnis von
Phantasie und Realität, von Performanz und perFormativem Handeln, neu verhandelt wird. In
der innerfilmischen Welt konnte ein Verwischen der Grenzen zwischen Realität und Fiktion
nachgezeichnet werden. Über die Doppelung der medialen Gesellschaft im Film (durch Film im
Film) und über Bezüge zur außerfilmischen Realität (Reale Plätze und Namen, historische
Ereignisse309) verwischen auch die Grenzen zwischen filmischer und außerfilmischer Realität.
Wenn Widerständiges, Verschiebungen als Bildungspotential analysiert werden sollen, müssen
nach Mecheril auch Ermöglichungsbedingungen reflektiert werden, unter welchen sich dieses
Potential aktualisieren kann. In Todo sobre mi madre finden die Verschiebungen in einer kleinen
Welt statt, in der hegemoniale gesellschaftliche Normen nur bedingt greifen: der Welt des
Theaters und der Großstadt Barcelona. Die Anonymität der Großstadt ist in vielen der neueren
queeren Filmen Ort der Handlung.
XXY spielt großteils in der abgeschiedenen familiären Umgebung, in der bewusst die
Entscheidung getroffen wurde, fern von der Meinung anderer zu leben. Der Vater ist in einem
unabhängigen Arbeitsverhältnis, in dem er zudem als Biologe die Möglichkeit hat, sich
intellektuell mit Abweichungen von der Norm auseinanderzusetzen.
309
Videla, argentinische Militär und Diktator wurde 1998 verhaftet, Manuela berichtet Rosa davon am Krankenbett.
101
In anderen Filmen sind die Bedingungen für perFormatives Widersprechen nicht so günstig und
gelingen nur bedingt oder gar nicht. Als Beispiel dafür kann Ma vie en rose310 genannt werden.
Dort kleidet sich Ludo gern in Prinzessinnenkostümen, spielt mit Barbiepuppen und mag lange
Haare. Das Problem ist nur, dass Ludos „X für ein Mädchen in den Müllkübel gefallen ist“ und das
Kind „ein Y an dessen Stelle bekommen hat“311. Menschen mit XY-Chromosomen würden nach
dem in den Alltag eingegangenen medizinischen Diskurs als Jungen bezeichnet, und Jungen
sollten nicht im Prinzessinnenkostüm herumlaufen und andere Jungen heiraten wollen. Das
Problem spitzt sich zu, als Begehren thematisiert wird. Die Situation um Ludo dramatisiert sich,
als er_sie verkündet, sein_ihren Freund Jerome heiraten zu wollen und sich im Schultheater als
Schneewittchen vom Prinzen Jerome wachküssen lässt. Die Dissonanz zwischen dem, was sich
Ludo wünscht und dem, was von Ludo erwartet wird, führt im Film zu sozialer Ausgrenzung und
Ausschluss aus der Gesellschaft, in der die Familie bisher lebte. Ludos Normbruch wird
sanktioniert, indem der Familie die Existenzgrundlage entzogen wird: Ludo wird verprügelt und
von der Schule verwiesen, der Vater, der in einem abhängigen Arbeitsverhältnis zum Vater von
Jerome steht, verliert die Arbeit. Auch zu gesellschaftlichen Treffen des gutbürgerlichen Vororts,
den Geburtstagsfeiern, wird die Familie nicht mehr eingeladen. Als auch noch Schimpfwörter an
ihre Hauswand gesprüht werden, und Ludo einen Selbstmordversuch macht, zieht die Familie
aus dem Ort weg und beginnt anderswo ein neues Leben aufzubauen. Dabei wird angedeutet,
dass es dort möglicherweise gelingen kann, nicht den herkömmlichen Geschlechterrollen zu
entsprechen, indem d_ Nachbar_in Chris auftaucht, d_ scheinbar als Tomboy in der
Gemeinschaft akzeptiert ist. Der Film endet mit der Aussage des Vaters, Ludovic solle so sein
wie er sein möchte, Hauptsache er sei glücklich.
Mit Ma vie en rose können Bedingungen reflektiert werden, unter denen es nur schwer möglich
ist, perFormativ zu widersprechen und gesellschaftliche Sanktionen stark greifen. Die
gesellschaftliche Ordnung wird mit Gewalt wieder neu hergestellt auf Kosten der Ausgrenzung
einer ganzen Familie.
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Queer Cinema Potential hat, der hegemonialen
Geschlechterordnung perFormativ zu widersprechen, wie vor allem am Beispiel Todo sobre mi
madre nachgezeichnet wurde. Indem bestimmte Rechte beansprucht werden, bestimmte
310
Ma vie en rose Mein Leben in Rosarot (FRA 1997) R: Alain Berliner, D: Alain Berliner & Chris Vander Stappen 311 „Um ein Baby zu bekommen, spielen die Eltern Poker, wenn einer gewinnt schickt Gott ein „X“ oder ein „Y“: XX für ein Mädchen und XY für einen Jungen, Mein X für ein Mädchen ist in den Mülleimer gefallen und ich bekam ein Y an seiner Stelle. Ein Fehler.“ So erklärt Ludo warum er_sie ein ´Jungenmädchen´ ist (MA VIE EN ROSE, 00:43 – 00:44)
102
Lebensweisen und Familienstrukturen bevorzugt und wandelbare Identitäten und Körper
selbstverständlich gelebt werden, inszeniert der Film veränderte geschlechtliche Normen, die
über das Stück Un tranvía llamado deseo in Abgrenzung zu Vergangenem gestellt werden und
über ein Verwischen von Grenzen in Bezug zur (außerfilmischen) Realität hergestellt werden.
Auch XXY öffnet eine mögliche Zukunft, in der nicht zwischen zwei Geschlechtern gewählt
werden muss und stellt offen die Forderung, mehr als zwei Geschlechter und damit verbundene
Lebensweisen anzuerkennen. Wie diese gelingen kann, wird vor allem im familiären Kontext
nachskizziert, in der `Öffentlichkeit` bleibt es nur als Wunsch und Forderung angedeutet.
Für die Bedeutung Queeren Kinos gilt es nicht nur zu reflektieren, wie wiederholt und
widersprochen wird und dadurch verändert wird, sondern auch unter welchen Umständen
perFormatives Widersprechen in der innerfilmischen Realität gelingen kann, und welche Folgen
für die Beteiligten inszeniert werden.
103
11. Quellenverzeichnis
11.1. Literaturverzeichnis
Aaron, M. (2004). New Queer Cinema. Edinburgh: University Press.
Aaron, M. (2004). New Queer Cinema: An Introduction. In M. Aaron, New Queer Cinema (S. 3-
14). Edinburgh: University Press.
Almodovar, P. (1999/2005). Todo sobre mi Madre. Guión original. Stuttgart: Reclam.
Almodóvar, P. (1999/2005). Todo sobre mi Madre. Guión original. Stuttgart: Reclam.
Althusser, L. (1970). Ideologie und ideologische Staatsapparate. Abgerufen am 27. Juli 2011 von