Offerhaus, A. (2010): EU-Korrespondenten als Wegbereiter einer europäischen Öffentlichkeit?. In: Horst Pöttker und Christian Schwarzenegger (Hrsg.): Europäische Öffentlichkeit
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HorstPöttker I Christian Schwarzenegget (Hrsg.) Europäische öfftntlichkeit und journalistische Verantwortung Journalismus International, 6 Köln : Halem, 2010
Die Reihejournalismus International wird herausgegeben von Horst Pöttker.
ISSN 1866-2080
Gedruckt mit Unterstützung der Stiftung Presse-Haus NRZ
und des Vereins zur Förderung der publizistischen Selbstkontrolle (FPs).
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme (inkl. Online-Netzwerken) gespeichert, verarbeitet, vervielfaltigt oder verbreitet werden.
Europäische Öffentlichkeit und journalistische Verantwortung
Herbert von Halem Verlag
Inhalt
Vorwort I Preface
Articles at a glance
1. EINLEITUNG I PRELUDE
MIKLOS HARASZTI
Journalistic self-regulation at a European level. A defidency?
2. EUROPÄISCHE ÖFFENTLICHKEIT -
BEGRIFF UND REALITÄT I EUROPEAN PUBLIC SPHERE -CONCEPT AND REALITY
11114
17
JENS WOELKE (MüNSTER) I CHRISTIAN STEININGER (sALZBURG) 1 40
TORSTEN MAURER (TÜBINGEN)
Zur Realität europäischer Öffentlichkeit. Die Darstellung der EU in Informationssendungen des deutschen und Österreichischen Fernsehens
CORNEUA WALLNER (FRIEDRICHSHAFEN) 76
Kommunikationswissenschaftliche Buropaforschung braucht Ausweitung. Mediale Unterhaltung als Bestandteil europäischer Öffentlichkeit
CORNEUA BRANTNER (WIEN) 92
Das Österreichische Eu-Theater. Europäisierung der Österreichischen Öffentlichkeitempirische Befunde und Schlussfolgerungen
NATASA SIMEUNOVIC (BELGRAD)
Concept and Reality ofEuropean Public Sphere. The Eurovision Song Contest
ANKE OPFERHAUS (BREMEN)
Eu-Korrespondenten als Wegbereiter einer europäischen Öffentlichkeit? Vergemeinschaftung und journalistische Selbstkontrolle bei Korrespondenten in Brüssel
3· SELBSTKONTROLLE IN JOURNALISTISCHEN
KULTUREN EUROPAS
BESTANDSAUFNAHME UND VERGLEICH I SELF-REGULATION AND CULTURES OF
JOURNALISM IN EUROPE-
SURVEY AND COMPARISON
ADEUNE HUUN ( OSZE, WIEN)
The actual situation. Feasibility and need for media self-regulation in Europe
ROBERT PINKER (LONDON)
Similarities and differences. The structure and functions of European press councils
MIKHAIL FEDOTOV (MOSKAU)
A Russian way to journalistic self-regulation. The Grand Jury and its development
HUUB EVERS (TILBURG)
Wachhund oder Lendenschurz? Der Ombudsmann im niederländischen Selbstkontrollsystem
RADOMIR CHOLAKOV (SOFIA)
Der Weg in die Hölle ist mit guten Absichten gepflastert. Eine Problematik der grenzüberschreitenden Selbstregulierung am Beispiel Bulgarien
131
145
168
191
203
217
233
PHILIPP SCHMALLEGGER (WIEN)
Turkey and Austria. Which face of the EU is presented in the public?
4· JOURNALISTISCHE SELBSTKONTROLLE ALS
BESTANDTEIL DES KOMMUNIKATIONSRAUMS
EUROP A - MÖGLICHKEITEN UND BARRIEREN I JOURNALISTIC SELF-CONTROL AS A COMPONENT
OF THE COMMUNICATION SPACE EUROPE
PROSPECTS AND BARRIERS
ROLAND BURKART (WIEN) I UTA RUSSMANN (INNSBRUCK) I JÜRGEN GRIMM (WIEN)
Wie verständigungsorientiert ist Journalismus? Ein Qualitätsindex am Beispiel der Berichterstattung über Europa im Österreichischen Nationalratswahlkampf 2oo8
WILLIAM GORE (LONDON)
Benefits and disadvantages. A pan-European media accountability system?
DAPHNE KOENE (AMSTERDAM)
European press councils.No >one-fits-all<-model
PETER STUDER (ZÜRICH)
Vorläufig nicht ... Vom Sinn und Unsinn eines europäischen Presserats
HANS-JÖRG TRENZ ( OSLO)
Durchsetzende Vernunft? Das Korrektiv kritischer Medien im europäischen Integrationsprozess
256
292
308
326
s. JOURNALISTISCHE SELBSTKONTROLLE,
EUROPÄISCH GEDACHT I SELF-REGULATION OF JOURNALISM,
EUROPEAN CONTEMPLATIONS
HENRIK KAUFHOLZ (KOPENHAGEN) 346
Zu medienfreundlich und intransparent? Presseräte reichen nicht aus, um Vertrauen Zurückzugewinnen
HORST PÖTTKER (WIEN I DORTMUND) 351
What kind of European Council? Publicness as the underlying principle in journalistic self-regulation for all of Europe
CHRISTIAN SCHWARZENEGGER (AACHEN /WIEN) 365
>European Private Sphere< and Journalistic Responsibility. Some remarks on why Europeanization of Self-regulation is advisable
MARCUS KREUTLER (DORTMUND) 380
Codes of Ethics in Europa. Ist ein gemeinsamer Kodex möglich?
KATRIN ENDERS (WILHELMSHAVEN) 396
Online-J ournalismus. Selbstregulierung als Mehrebenenmodell
KAARLE NORDENSTRENG (TAMPERE) 417 Self-regulation: A contradiction in terms? Discussing constituents of journalistic responsibility
6. PODIUMSDISKUSSION I PANEL DISCUSSION
EXPERTENGESPRÄCH
Wege zur europäischen Selbstkontrolle des Journalismus?
440
7· FAZIT I CONCLUSION
WOLFGANG R. LANGENBUCHER (WIEN)
Ein Rat für die Freiheit der gesellschaftlichen Kommunikation. Plädoyer für die Überwindung des journalistischen Nationalismus
ANHANG I APPENDIX
Geografische Ansiedlung der Presseräte im !5eltelc:n oszE I Map: Geographical settling of
councils in oszE area
I Index of subjects
I Index of names
474
475
Vorwort
Braucht Europa länderübergreifende Organe, die sich um die Selbstdisziplin von Journalisten kümmern? Osteuropäische Medienrechtier und -politiker stehen dieser Idee in der Regel offen gegenüber. Dagegen halten die Presseräte etlicher westeuropäischer Länder internationale Institutionen der Medienselbstregulierung bisher für überflüssig, weil sich alle berufsethischen Konflikte des J oumalismus auf ihrer nationalen Ebene lösen ließen.
Gleichwohl hat der Beauftragte der >Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa< (oszE) für die Freiheit der Medien, damals der Deutsche Freimut Duve, schon 2004 einen europäischen Presserat ins Auge gefasst. Dessen Aufgabe sollte sein, Journalisten an ihre Verantwor
bei der Berichterstattung über zwischenstaatliche und ethnische ~\.vullc1-"''" zu erinnern.
Daneben gibt es weitere Argumente für die Einführung publizistiSelbstregulierung auf europäischer Ebene: In manchen europäischen Ländern existieren keine Presseräte, der Österreichische beispielsweise wurde nach längerer Pause gerade erst wieder zum Leben erweckt. Nationale Selbstkontrollgremien kümmern sich wenig um die Behandlung gesamteuropäischer Themen in den Medien. Europäische Öffentlichkeit braucht publizistische Selbstkontrolle, die Journalisten an ihre Berichtspflicht über andere europäische Länder und über gemeinsame europäische Themen erinnert. Journalisten, deren Arbeit sich auf mehrere Länder bezieht, beispielsweise Auslandskorrespondenten, brauchen dafür berufliche Orientierungen, die international anerkannt werden.
11
NATASA SIMEUNOVIC
ÖRG" In Search of the European Public S phere. In: RECO~ O~li-TRENZ, HANS J . "l ble at· http·ffwww.arena.uio.no/pubhcau-
ne working Paper, 2008, avat a . 8. 12 df accessed o7.02.2oo9 ons/working-papers2oo8/~aper~/:po -nsfor~ation of the public sphe
VERSTRAETEN' HANS: The medta an t e tra re. In: European Journal of Communication, 11, 1996, PP· 347-370
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ANKE OPFERHAUS
EU-Korrespondenten als Wegbereiter einer europäischen Öffentlichkeit? Vergemeinschaftung und journalistische Selbstkontrolle bei Korrespondenten in Brüssel
Abstract
Jeden Tag versammeln sich Hunderte Journalisten in Brüssel zum >Rendez-vous de midi<, der Presse-Information der Europäischen Kommission. Im Pressezentrum des Berlaymont-Gebäudes informieren Pressesprecher und oft auch Kommissionsmitglieder selbst die internationalen Pressevertreter über politische Pläne und Entscheidungen. Für die Korrespondenten ist diese Veranstaltung nicht nur eine wichtige Informationsquelle, sondern auch ein soziales Ereignis, bei dem sie mit ihren Kollegen aus anderen Mitgliedsstaaten aktuelle politische Themen diskutieren können. Deshalb kann diese Veranstaltung als erste Instanz einer europäischen Öffentlichkeit betrachtet werden.
Die Ergebnisse vieler Inhaltsanalysen zeigen uns allerdings, dass diese europäische Öffentlichkeit sich nicht in der Öffentlichkeit nationaler Massenmedien widerspiegelt. Gerade diese öffentlichkeiten deuten Prozesse von Europäisierung an, zum Beispiel ein steigendes Interesse an der Europäischen Union und ihren Akteuren. Doch die transnationalen Verbindungen - sowohl zwischen politischen Akteuren und als auch bei Mediendiskursen - sind selten, und eine echte europäische Perspektive ist ungewöhnlich.
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ANKE OFFERHAUS
In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, um eine europäische Öffentlichkeit herzuste~len. Daher konzentriere ich mich auf die Arbeitsbedingungen und -routmen der Eu-Korrespondenten in Brüssel. Als Gatekeeper für Eu-Nachrichten und Produzenten von Eu-Medienberichterstattung haben sie großen Einfluss und spielen eine wichtige Rolle bei der Gestaltung nationaler öffentlichkeiten. Die Leitfragen meines Beitrags sind:
1. Was charakterisiert EU-Korrespondenten und ihre Arbeitsbedin-gungen?
2. Was sind zurzeit die Kernprobleme ihrer Arbeit? 3· Wie wird journalistische Selbstkontrolle praktiziert? Die empirischen Daten basieren sowohl auf Analysen journalistischer
Organisationen und Dokumente als auch auf qualitativen Interviews mit deutschen EU-Korrespondenten.
1. Einleitung
Hunderte von Journalisten aus einer Vielzahl von Nationen versammeln sich täglich zum >Rendez-vous de midi<, der 12 Uhr-Pressekonferenz, im Pressesaal des Berlaymont-Gebäudes der Europäischen Kommission. Pressesprecher verkünden von einem bühnenartigen Podest mit zwei Rednerpulten aktuelle Vorhaben und Entscheidungen der Kommission. Im Hintergrund stehen Europa-Flaggen. Die Kommissionssprecher moderieren die Fragerunde nach ihrer jeweiligen Stellungnahmegewandtper Vornamen: »Yes, Karel, your question!«, »S'il vous plait, Jean!« oder >>Stephen please!«. Am Rande der Sesselreihen u~d im Vorraum des Pressesaals tauschen sich die Journalisten über natiOnale Positionen und die Tragweite bestimmter Kommissionsentscheidungen für ihre Heimatnationen aus. Sie diskutieren die aktuellen Themenaufmacher der Brüsseler Leitmedien sowie darüber, ob sie bei der Fülle von politischen Ereignissen und Entscheidungsprozessen lieber dieses ~d~r jenes Thema aufgreifen sollten. Bevor die Journalisten das Kommisstonsgebäude wieder verlassen, um zurück in ihre Büros im nahe gelegenen Residence Palace oder im International Press Centre zu gehen, versorgen sie sich im Vorbeigehen noch mit zahlreichen bereitliegenden Dokumenten, Pressemitteilungen und den restlichen Exemplaren des kommissionsinternen Pressespiegels.
Eu-Korrespondenten als Wegbereiter einer europäischen Öffentlichkeit? Vergemeinschaftung und journalistische Selbstkontrolle bei Korrespondenten in Brüssel
Die Pressekonferenz ist daher nicht nur eine zentrale Informationsquelle, sondern auch ein wichtiger O~t des kollegialen Meinungsaustauschs, wie an der Aussage eines Korrespondenten deutlich wird: >>Dann ~ibt es ja jeden Tag ein Pressebriefing [ ... ].Wenn wir über europäische Offentlichkeit reden- dort wird sie gemacht. Sie schlägt sich dann nicht immer in den Medien nieder, aber da ist einer der wenigen Orte in Europa, wo über europäische Themen geredet wird. Und einige Themen interessieren tatsächlich in allen Ländern.«
Was europäische Öffentlichkeit heißt, welchen Kriterien sie genügen soll und wie sie sich entwickeln kann, ist in der Kommunikationsund Medienwissenschaft seit einigen Jahren ein breites Forschungsfeld. Während der zitierte Journalist darunter das >>Reden über europäische Themen, also Themen, die alle Mitgliedsländer interessieren« versteht, ~erden in der Wissenschaft verschiedene Konzepte von europäischer Offentlichkeit diskutiert und vornehmlich anhand von Medieninhaltsanalysen analysiert. Damit verbunden ist die Frage, wie es um die bisherige Entwicklung bzw. Existenz einer europäischen Öffentlichkeit bestellt ist. Wenngleich die Interpretationen der empirischen Befunde widersprüchlich sind, ist jedoch unumstritten, dass den Massenmedien und somit dem Journalismus eine zentrale Multiplikations- und Integrationsfunktion im Prozess europäischer Öffentlichkeitsbildung eingeräumt wird. Der überwiegende Teil der Studien bezieht sich, wie die Beiträge von Woelke/Steininger/Maurer und Wallner/Brantner (in diesem Band), auf die Funktion einer politischen Öffentlichkeit und damit insbesondere auf die gesellschaftliche Aufgabe des Journalismus als vierter Gewalt und Organ der politischen Meinungsbildung in demokratischen Systemen. Der Fokus dieses Beitrags richtet sich auf den letztgenannten Aspekt, nämlich die Frage, inwieweit das internationale Korps der EuKorrespondenten in Brüssel Wegbereiter einer europäischen Öffentlichkeit sein kann, indem es transnationale Strukturen der Vergemeinschaftung und der journalistischen Selbstkontrolle entwickelt. Dazu werden im Folgenden zunächst theoretische Überlegungen angestellt, nach welchen Kriterien das Pressekorps bereits jetzt die erste Instanz einer europäischen Öffentlichkeit sein kann. Im zweiten Abschnitt werden auf der Basis empirischer Befunde die Arbeitsbedingungen von EU-Korrespondenten dargestellt sowie im dritten Abschnitt Formen ihrer Vergemeinschaftung und der journalistischen Selbstkontrolle herausgearbeitet. Den Beitrag beschließt eine Zusammenfassung der Ergebnisse und eine
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ANKE OPFERHAUS
daraus abgeleitete fokussierte Beschreibung aktueller Problemfelder im
Eu-Journalismus.
2. Eu-Korrespondenten als Wegbereiter einer europäischen öffen tlichkei t?
Das Brüsseler Pressekorps ist durch verschiedene Merkmale gekennzeichnet, die die Vorstellung des Pressekorps als erster Instanz einer europäi-
schen Öffentlichkeit nahelegen. Es handelt sich erstens um eine Präsenzöffentlichkeit. Damit besteht
die Möglichkeit einer transnationalen Netzwerkbildung zur Komm.~nikation von Meinungen in diesem Netzwerk, einer Beschreibung von Offentlichkeit als sozialem Raum, wie sie Jürgen Habermas in seiner handlungsorientierten Konzeption vorgenommen hat (HABERMAS 1992: 436).
Auf dieser Grundlage hat das Pressekorps zweitens gute Voraussetzungen zur Erfüllung der Kriterien einer idealen Diskursöffentlichkeit. Eine solche Öffentlichkeit soll nach den Vorstellungen von Habermas
(1981, 1990, 1992) drei Bedingungen erfüllen: a) Die Offenheit des Zugangs zum öffentlichen Diskurs für alle gesell
schaftlichen Gruppen und Themen von kollektiver Bedeutung. Auf das Pressekorps als europäische Öffentlichkeit übertragen heißt das eine prinzipielle Offenheit für die in Brüssel akkreditierten Journalisten aller Nationalitäten und die damit verbundene Möglichkeit, alle Themen, die sie für relevant erachten, zur Sprache zu bringen. Zudem ist davon auszugehen, dass es unter den Korrespondenten keine unmittelbaren Sprachbarrieren gibt, da sie vermutlich mindestens
Englisch als Lingua franca beherrschen. . . b) Das Prinzip der Diskursivität in der öffentlichen Kommumkatwn.
Unter Diskurs versteht Habermas einen Prozess der vernünftigen Begründung von Normen. In diesem Prozess sollen zwanglos Perspektiven und Argumente ausgetauscht und zur Überzeugung anderer Beteiligter genutzt werden. So ist im transnationalen Gespräch der Korrespondenten untereinander theoretisch ein Austausch von Argumenten möglich, der mindestens auf einer wechselseitigen Bezugnahme auf andere Kollegen basiert, als diskursiv abgeschliffener Konsens möglicherweise sogar auch mit der Ausbildung einer europäischen
Perspektive verbunden sein kann.
. Eu-Korrespondenten als Wegbereiter einer europäischen Öffentlichkeit? Vergememschaftung und journalistische Selbstkontrolle bei Korrespondenten in Brüssel
c) Die Legitimationsfunktion der Öffentlichkeit für die Politik. Nach Habermas sollen öffentliche Diskurse einerseits Entscheidungsressourcen für politische Eliten einbringen und andererseits politische Entscheidungen im öffentlichen Diskurs legitimiert werden. Dieser auf das gesamtgesellschaftliche Zusammenspiel von Politik und Öffentlichkeit bezogene Zusammenhang hat ebenfalls normativen Charakter und ist in sein,er Gegebenheit schwer zu überprüfen. Dass dem Pressekorps jedoch eine solche Funktion zugeschrieben wird, zeigt sich in der Einschätzung .von EU-Politikern und Pressesprechern. Aus ihrer Sicht gelten die Brüsseler Journalisten als erstes Stimmungsbarometer in der Reaktion auf die öffentliche Verkündung politischer Entscheidungen. Das Pressekorps bildet drittens eine geschlossene Berufsgruppe, in
der mindestens eine Vernetzung, wenn nicht sogar eine Vergemeinschaftung und daraus resultierend eine Ausbildung sozialer Regeln unter den Korrespondenten möglich sind. Eine >Vergemeinschaftung< im Sinne Max Webers sollen »Soziale Beziehungen« heißen, »wenn und soweit die Einstellung des sozialen Handeins [ ... ] auf subjektiv gefühlter (affektueller oder traditionaler) Zusammengehörigkeit der Beteiligten beruht« (WEBER 1972: 21). Die Annahme einer Gemeinschaft impliziert nicht, dass dem europäischen Pressekorps eine homogene Journalismuskultur im Allgemeinen oder ein einheitliches journalistisches Selbstbild im Besonderen zugrunde liegt, welches aktuell beliebte Fragestellungen der transnationalen und komparativen Journalismusforschung sind. Dennoch kann das Pressekorps als Berufsgemeinschaft verstanden werden, bei der es sich in einer formalen Betrachtungsweise um die Gruppe der bei der EU akkreditierten Journalisten handelt bzw. deren Mitglieder sich in der Selbstbeschreibung dieser Gruppe zugehörig fühlen.
Eine Berufsgemeinschaft konstituiert sich wie jede andere Gemeinschaft nicht nur durch ihre Mitglieder, sondern auch durch die Ausbildung und Einhaltung bestimmter, in dieser Gemeinschaft geltender sozialer Normen und Regeln. Normen sind kollektive Erwartungen an das Verhalt~n von Individue~ mit unterschiedlicher Verbindlichkeit. Die Einhaltung dteser Normen w1rd durch Sanktionen, also Belohnung oder Bestrafung, kontrolliert. Eine soziale Kontrolle und die damit verbundene Ausübung von Sanktionen können durch Gruppenmitglieder oder durch Personen in Machtpositionen innerhalb der Gruppe erfolgen. Bei hoher Relevanz werden soziale Normen durch Gesetze kodifiziert und über Strafen durchgesetzt. Hier wirken Institutionen als Kontrolleure. Weniger bedeutsame
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ANKE OPFERHAUS
Normen werden durch zwischenmenschliche Reaktionen wie explizites Rügen oder implizite Abwendung, die im schlimmsten Fall bis hin zum sozialen Ausschluss von gruppenrelevanter Information und Kommunikation reicht, sanktioniert. Normen und Regeln werden von Akteuren durch (Berufs-)Sozialisation erlernt. Die Sozialisation ist dabei die Anpassung der Individuen an die Regeln der Gemeinschaft durch die Verinnerlichung der relevanten Normen. Sozialisationsprozesse bewirken demnach, dass im sozialen Zusammenleben Handlungsorientierungen entstehen, auf die sich Individuen in ihrem Handeln beziehen und so dazu tendieren, sich entsprechend den jeweils geltenden Normen der Gemeinschaft zu verhalten (SCHÄFERS/KOPP 2006; BERGER/LUCKMANN 1969 ).
Auch wenn es in einem nicht zugangskontrollierten Beruf wie dem Journalismus nicht zu einer den klassischen Professionen vergleichbaren Berufsschließung kommen kann und soll, sind der Grad an beruflicher Autonomie und Selbstkontrolle zentrale Themen für den Journalismus und die Erfüllung seiner gesellschaftlichen Funktion. Berufliche Autonomie, wie sie Professionen als charakteristisches Merkmal zugeschrieben wird, bezieht sich auf die professionseigene Kontrolle des Berufszugangs und des beruflichen Handelns, die Exklusivität ihrer Zuständigkeit sowie auf die Freiheit von Laienurteilen. Sie bedeutet demnach eine weitgehend selbstständige Regelung von Problemen der Berufsgruppe im Rahmen ihrer berufsspezifischen Kompetenzen. Als berufliche Autonomie desJournalismuskann seine U nabhängigkeit von Beeinflussungsversuchen durch das politische System und durch journalistische Bezugsgruppen wie Presse- und Öffentlichkeitsreferenten gelten. So sind unter anderem die Eigenständigkeit der Recherche und die Neutralität in der Berichterstattung zentrale journalistische Qualitätskriterien. Als journalistische Selbstkontrolle ist die journalismuseigene Überprüfung der Einhaltung der damit verbundenen Normen und Regeln zu verstehen. Journalistische Selbstkontrolle kann sowohl auf individueller als auch auf institutionalisierter Ebene ausgeübt werden.
Insgesamt bleibt festzuhalten, dass die Gruppe der EU-Korrespondenten aufgrundder genannten Punkte die erste Instanz einer europäischen Öffentlichkeit darstellen und somit Wegbereiter für eine europäische Berichterstattung sein kann. Da Untersuchungen zur Entwicklung einer europäischen Öffentlichkeit bislang vor allem von der Analyse von Medienberichterstattung geprägt sind, sollen vor dem Hintergrund der Frage nach der Rolle von Eu-Korrespondenten als ihren Wegbereitern folgende Aspekte des journalistischen Produktionszusammenhangs genauer beleuchtet werden:
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Eu-Korrespondenten als Wegbereiter einer europäischen Öffentlichkeit? Vergemeinschaftung und journalistische Selbstkontrolle bei Korrespondenten in Brüssel
" Was charakterisiert die Arbeitsbedingungen von EU-Korrespondenten?
" Wie wird in Brüssel journalistische Selbstkontrolle ausgeübt? Die empirische Grundlage des Beitrags bilden die Ergebnisse einer
Organisations- und Dokumentenanalyse sowie qualitativer Leitfadeninterviews mit deutschen Eu-Korrespondenten, die im Rahmen einer Untersuchung zur Professionalisierung des deutschen EU-Journalismus gewonnen wurden ( OPFERHAus 2010 ).
3. Arbeitsbedingungen von EU-Korrespondenten
3.1 Merkmale des Korrespondentenstandorts Brüssel
Der Korrespondentenstandort Brüssel ist durch vier charakteristische Merkmale gekennzeichnet, die mit spezifischen Folgen für die journalistische Arbeit verbunden sind.
a. Die Komplexität des Berichterstattungsgegenstands. Sie ergibt sich aus der inhaltlichen Vielfalt von Eu-Themen, der Gleichzeitigkeit von politischen Ereignissen und Eu-Entscheidungsprozessen, insbesondere auch aus der Langwierigkeit der politischen Entscheidungsprozesse, der Verrechtlichung der Verfahren und der damit verbundenen bürokratischen Fachsprache sowie schließlich aus der Verschränkung von innenund europapolitischer Dimension der Themen. Für die Korrespondenten bedeutet dies, dass sie innerhalb des ersten Arbeitsjahres in Brüssel mit einer dauerhaften Informationsüberforderung umgehen müssen. In dieser Zeit sind insbesondere Brüssel-erfahrene Kollegen von Bedeutung, mit deren unterstützender Expertise sie versuchen, möglichst schnell die Brüssel-typischen Arbeitsabläufe zu verstehen und ein Gefühl für die Relevanz und Reichweite der politischen Ereignisse zu entwickeln. Ihrem Selbstverständnis nach verstehen sich alle Korrespondenten als Themengeneralisten, die mit Blick auf ihr Publikum im Rahmen ihrer Berichterstattung großen Wert auf einordnende Erklärungsleistungen legen.
b. Die Pluralität von Akteuren. Die kontinuierlich gewachsene Zahl von Akteuren, die auf europäischer Ebene in den politischen Entscheidungsprozess involviert sind, spiegelt sich für die Journalisten in einer Vielzahl von Informationsquellen wider, die sie bei ihrer Recherche berücksichtigen müssen. Allen voran strukturieren das politische und das medienori-
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'""'"'~·•" Handeln der drei Eu-Institutionen den Berufsalltag und die The:'mccm1u::.,vv<uu der journalistischen Beobachter (zu ihrer unterschiedlichen ,uau~~Mn:uL und Zugänglichkeit vgl. OFFERBAUS 2008). Die wichtigste Quelle ist die Europäische Kommission und die von ihr organisierte tägliche Pressekonferenz. Die Presseabteilung der Europäischen Kommission ist durch das umfangreiche Angebot an pressebezogenen Aktivitäten und die Vergabe der für sämtliche EU-Institutionen gültigen (Dauer-)Akkreditierung seit jeher erster Anlaufpunkt für die Eu-Korrespondenten. Im journalistischen Alltagsgeschäft ist außerdem das Europäische Parlament eine entscheidende Informationsquelle, da die Parlamentarier aus der nationalen Sicht relevante Probleme frühzeitig erkennen und an die nationalen Medien herantragen. Bei Großereignissen wie Gipfeltreffen dient die Pressestelle des Europäischen Rats als Informationsquelle. Wichtiger als die von ihr verkündeten gemeinsamen Abschlusserklärungen sind jedoch im Vorfeld von Gipfeltreffen die Ständigen Vertretungen der jeweiligen Länder. Sie geben durch Länderbriefings und in sogenannten >Hintergrundgesprächen< Auskunft über die jeweiligen Positionen der Mitgliedsstaaten. Für Brüssel ist außerdem die steigende Anzahl der dort ansässigen Lobbyisten von Bedeutung (vAN SeHENDELEN 2oo6; RUCHT 2002). Sie versuchen nicht nur, unmittelbar auf den politischen Prozess einzuwirken, sondern auch, vermittelt durch Journalisten und massenmediale Berichterstattung, Öffentlichkeit für ihre Interessen zu erzeugen. Schließlich spielen in Brüssel die Journalisten selbst als Informationsquellen für ihre Kollegen eine zentrale Rolle. Sie dienen nicht nur als Informanten und der Reduktion anfänglicher Unsicherheiten in Themenwahl und -darstellung, sondern auch einer in Brüssel ausgeübten informellen Selbstkontrolle (vgl. dazu genauer Abschnitt 4.1). Aus der Vielzahl von Informationsmöglichkeiten resultiert ferner, dass die Journalisten danach streben, eine sichere Einschätzung der Relevanz und vor allem der Qualität und Verlässlichkeit von Informationsquellen zu erlangen.
c. Internationalität kennzeichnet den Standort insofern, als im Unterschied zu anderen Hauptstadtkorrespondentenplätzen wie Washington, London, Berlin oder Moskau nicht nur der politische Apparat einer Nationalität beobachtet wird, sondern im Rahmen des Europäischen Rats und des Europäischen Parlaments das politische Handeln von 27 Mitgliedsstaaten sowie das politische Handeln einer supranationalen politischen Institution, der Europäischen Kommission, die Grundlage der Berichterstattung bilden. Für die Journalisten heißt das, dass Eu-Themen in ihrer Genese überwiegend von transnationaler Reichweite sind und sie daher
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EU-Korrespondenten als Wegbereiter einer europäischen Öffentlichkeit? Vergemeinschaftung und journalistische Selbstkontrolle bei Korrespondenten in Brüssel
auf Informationen von Akteuren aus potenziell allen Mitgliedsländern angewiesen sind. Je besser und zahlreicher ihre Sprachkenntnisse sind, desto einfacher ist ein direkter und schneller Kontakt zu Akteuren anderer Länder herstell bar.
d. Schließlich wird die Arbeit am Standort Brüssel durch ihre Zentralität ausgezeichnet. Das heißt, dass sämtliche journalistischen Arbeitsprozesse und Kontakte der Journalisten zu unterschiedlichen beruflichen Bezugsgruppen im sogenannten >Europa-Viertel von Brüssel< stattfinden. Die drei EU-Institutionen, die Büros vieler Journalisten im Residenz Palast oder im Internationalen Pressezentrum sowie eine große Ansammlung von Cafes und Restaurants sind in Fußreichweite angesiedelt. Daraus resultiert, dass sich die Korrespondenten zu denselben Anlässen wie Pressekonferenzen, politischen Abendveranstaltungen oder anderen Ereignissen an den immer wieder gleichen Orten versammeln und dass man sich häufig zufallig über den Weg läuft. So sind Recherchen vergleichsweise unaufwendig, da alles vor Ort und schnell erhältlich ist.
Aus den genannten Merkmalen folgt für den Arbeitsalltag der Korrespondenten die Notwendigkeit, aber auch die strukturelle Gelegenheit der Vernetzung. So ist sowohl eine nationale als auch eine transnationale Vernetzung der Korrespondenten mit Berufskollegen sowie mit EUPolitikern und anderen EU-Akteuren potenziell möglich. Dies bestätigt zunächst die eingangs formulierte Annahme über die Wirkungsfähigkeit der Korrespondenten als europäische Öffentlichkeit.
3.2 Die Dynamik der Berichterstattung aus Brüssel
Betrachtet man die Entwicklung des Eu-Pressekorps als Gruppe potenzieller Vernetzungspartner, zeigt folgende Darstellung anband der dauerhaft in Brüssel akkreditierten Korrespondenten die Dynamik am Korrespondentenstandort,1
Die über lange Zeit kontinuierliche Zunahme der in Brüssel akkreditierten Journalisten ist durch die verschiedenen Erweiterungsrunden der Europäischen Union in den Jahren 1986 ( Süderweiterung durch Spa-
1 Bei herausragenden politischen Ereignissen wie Gipfeltreffen steigt die Anzahl in der Regel sfrunghaft um das Doppelte an, da Journalisten vieler, insbesondere populärer Medien speziell zu solchen Anlässen nach Briissel reisen (vgl. RAEYMAECKERS er al. zoo7: 1o4, 110 ).
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ANKE OPFERHAUS
ABBILDUNG 1
Anzahl der Korrespondenten in Brüssel
Quelle: 1976, 1986 (Raeymaeckers et al. 2007]; 1990-2002 (Meyer 2002al; 2003-2009 eigene
Erhebung (European Commissionl
nien und Portugal), 1995 (Norderweiterung durch Finnland, Schweden und Österreich), 2004 ( Osterweiterung durch Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn und Zypern) sowie im Jahre 2007 (Bulgarien, Rumänien) auf nunmehr 27 Mitgliedsländer erklärbar. Qualitätsmedien fast allerneuen Mitgliedsländer haben in der Regel ein bis zwei Jahre vor dem Beitritt ihres Landes zur EU Korrespondenten nach Brüssel entsandt. Außerdem lässt sich die Zunahme auf eine sukzessive Vertiefung der Europäischen Union durch die Unterzeichnung der Verträge von Maastricht (1992), Amsterdam (1997) und Nizza (2001) zurückführen. Insbesondere erstgenannter war als Vertrag über die Europäische Union z.B. für viele deutsche Redaktionen Anlass, eigene Korrespondentenbüros in Brüssel auf- bzw. bereits vorhandene auszubauen.
Ein weiterer Aspekt einer zunehmenden Dynamik jenseits der gestiegenen Anzahl von Korrespondenten ist die Beschleunigung des >Nachrichtenbeats< aus Brüssel, also eine Zunahme von Informationsmenge und Informationsumsatz in kürzerer Zeit. Mit wachsender politischer Bedeutung der EU ist nicht nur die Zahl involvierter Akteure angestiegen, sondern produziert auch die EU selbst einen größeren Ausstoß potenziell berichterstattungsrelevanter Ereignisse. In Brüssel ist damit eine Pro-
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Eu-Korrespondenten als Wegbereiter einer europäischen Öffentlichkeit? Vergemeinschaftung und journalistische Selbstkontrolle bei Korrespondenten in Brüssel
fessionalisierung sämtlicher journalistischer Bezugsgruppen einhergegangen, wie man am Beispiel des kontinuierlichen Auf- und Ausbaus der Pressearbeit der EU-Institutionen beobachten kann (vgl. dazu auch BRÜGGEMANN 2008). Zugleich ist das Interesse der Heimatredaktionen an diesen Ereignissen gestiegen. Dies wird an der wachsenden Nachfrage deutlich, die eine zunehmende Frequenz der Berichterstattung in den Medien zur Folge hat (vgl. dazu bereits MEYER 2002a). Während Korrespondenten früher üblicherweise einen Artikel pro Woche oder sogar nur pro Monat lieferten, schreiben sie heute täglich mindestens einen. Zudem verfolgen die Redaktionen die Eu-Berichterstattung ihrer Korrespondenten mittlerweile über Nachrichtenagenturen parallel mit, was mitunter zu Meinungsverschiedenheiten in der jeweiligen Interpretation der Ereignisse führt.
Die kontinuierliche Vergrößerung des Pressekorps und die zunehmende Kommerzialisierung von Eu-Informationen veränderten die Arbeitsbedingungen der Korrespondenten. Zum einen ist damit eine Verkürzung der Aufenthaltsdauer der Korrespondenten in Brüssel einhergegangen. In vielen Ländern wurde ein Rotationssystem eingeführt, demzufolge sie nur noch drei bis maximal fünf Jahre in Brüssel arbeiten und dann entweder zurück in die Heimatredaktion gehen oder zum nächsten Korrespondentenplatz weiterwandern. So ist das Pressekorps mittlerweile von hoher Fluktuation und einer damit einhergehenden wechselseitigen Anonymität der Korrespondenten gekennzeichnet. Zum anderen ist mit zunehmendem >Nachrichtenbeat< für die Korrespondenten ein erhöhter Aktualitäts- und Wettbewerbsdruck verbunden. Welche Folgen diese Arbeitsbedingungen für die Vergemeinschaftung der Korrespondenten und für die journalistische Selbstkontrolle haben, wird im folgenden Abschnitt dargestellt.
4· Formen der Vergemeinschaftung und der journalistischen Selbstkontrolle
4.1 Informelle Selbstkontrolle
Für den Korrespondentenstandort Brüssel wurde schon immer ein hohes Maß an Kollegialität und enger Zusammenarbeit unter den Journalisten als typisches Merkmal benannt (vgl. z.B. KRAUSE 1991; RIST 1998).
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ANKE OPFERHAUS
Ein herausragendes Beispiel journalistischer Zusammenarbeit führte
im Zusammenhang mit dem Brüsseler Korruptionsskandal zum Rück
tritt der Europäischen Kommission im Jahre 1999· Eine kleine Gruppe von
Korrespondenten von Medien aus fünf verschiedenen Ländern kooperierte in der Informationsbeschaffung und koordinierte ihre Veröffent
lichungen dermaßen, dass sie nicht nur die unter Korruptionsverdacht
stehende Eu-Kommission unter massiven Druck setzte, sondern auch die
Nachrichtenagenda der restlichen Medien bestimmte (vgl. zu den Details
MEYER 2002a, 2002b). Durch die soziale Vergemeinschaftung des Presse
korps und die enge nationale und transnationale Zusammenarbeit wurde
nicht nur in diesem speziellen Fall die Kontrolle des politischen Apparats
möglich, sondern ist daneben generell ein hohes Maß an informeller journalistischer Selbstkontrolle charakteristisch.
Für dieJournalistenstellen Kollegen eine zentrale Informationsquelle
dar, und die eigene Einbindung in die Informationsflüsse dieses Kontakt
netzwerks ist für sie von entscheidender Bedeutung: »Dinge alleine zu
verstehen, ohne Gesprächspartner, ohne mallaut mit anderen zu überle
gen: Was heißt das, was wir hier machen? Dieses auf den Punkt bringen,
es einzudampfen - das ist hier ganz schwer. Der Dialog mit Kollegen ist
hier für mich eine fundamental wichtige Angelegenheit- also guter Journalismus reflektiert über das, was er sieht.«
Hier wird deutlich, dass der kollegiale Austausch der Diskussion aktueller Themen und somit dem Abgleich von Wissen und Wertungen
dient. Dies ist insbesondere für Neulinge in Brüssel wichtig, da es in
der Eingewöhnungsphase ihre einzige Chance ist, mit der anfänglichen
Informationsüberforderung umzugehen (ebenso bei britischen und fran
zösischen Korrespondenten, BAISNEE 2002: uzf.). Aber auch mit zuneh
mender Routinisierung der Arbeitsprozesse ist der stete Kontakt zu Kol
legen, dem eine wechselseitige Einschätzung der Qualität der journalisti
schen Arbeit zugrunde liegt, von zentraler Bedeutung. Sachkompetenz,
Recherchemethoden und somit Verlässlichkeit seiner Information sowie
das Geschick des Korrespondenten, in der Berichterstattung komplexe
Zusammenhänge einfach und ansprechend darzustellen, sind Qualitäts
indikatoren, die seine professionelle Position innerhalb des Pressekorps
definieren. Indem sich Korrespondenten mit ihrem Informationsbedarf
immer wieder gezielt an bestimmte Kollegen wenden, wird hier journa
listische Selbstkontrolle im Sinne einer positiven Sanktionierung dieser
Qualitätsmerkmale informell und im sozialen Umgang ausgeübt. Beson-
Eu-Korrespondenten als Wegbereiter einer europäischen öffemlichkeit? Vergemeinschaftung und journalistische Selbstkontrolle bei Korrespondenten in Brüssel
derslangjährig erfahrene Journalisten, die für angesehene Medien arbei
ten, sowie diejenigen, die ein weitreichendes Netzwerk an professionellen Kontakten haben, genießen unter Kollegen ein hohes Ansehen.
Ein Beispiel für negative Sanktionierungen journalistischen Arbeitens sind die Reaktionen deutscher Korrespondenten auf den >Fall Tillack<.2
Auch wenn das juristische Verfahren abgeschlossen und bis heute nicht
endgültig geklärt ist, ob tatsächlich Bestechungsgelder geflossen sind
(vgl. FAZ-Artikel vom 07.01.2oo9), löste er im Pressekorps nicht nur eine
Diskussion über die Arbeitsbedingungen in Brüssel sowie über die Pres
sefreiheit und den Quellenschutz in Belgien aus (ALFTER 2005, zoo4),
sondern war er unter deutschen Korrespondenten auch Gegenstand von
Diskussionen über die Rolle des >investigativen Journalismus< in Brüssel.
Was damit assoziiert wird, variiert unter Korrespondenten in zwei Rich~ tungen: Einerseits verstehen sie darunter einen professioneH-distanzier
ten >Recherchejournalismus<, bei dem Journalisten nicht nur zugelieferte
Informationen verarbeiten, sondern sich ihre Themen selbst suchen, den
sachlichen Hintergrund umfassend aufbereiten und dabei aktiv auf ihre
Quellen zugehen. Andererseits verbinden viele damit einen >Skandaljour
nalismus<, wie er Tillack aufgrundseiner Berichterstattung zugeschrieben
wurde. Während die erste journalistische Zielorientierung breite Zustim
mung findet und viele Journalisten diese Selbstbeschreibung für sich reklamieren, wird die Zielsetzung einer Skandalisierung um der öffent
lichen Aufmerksamkeit willen massiv abgelehnt. Begründet wird dies
mit dem Vorwurf, im Rennen um gut verkäufliche Scoops vielfach Themen und Phänomene in einem überzogenen Maße aufzubauschen und dabei
auf unseriöse Quellen zurückzugreifen: »Man ist kritisch der Institution gegenüber, nicht aber den Quellen«.3 Auch wenn aus den Interviews nicht
hervorgeht, ob und wenn ja, welche sozialen Folgen seine Auffassung von
2 Der für seine Recherchen über Missstände in den Eu-Behörden bekannte Journalist HansMartin Tillack wurde an: 19: März 2004 von einer Spezialeinheit zur Korruptionsbekämpfung der belg1schen Pohze1 festgenommen. Das Büro des Stern-Korrespondenten wurde durchsucht, zahlreiche Kisten mit Archivmaterialien zu Brüsseler Betrugs- und KorruptiOnsgeschichten sowie Arbeitsgeräte wie Laptop und Handy beschlagnahmt. Anlass war der seit 2002 aufseiten der Eu-Betrugsbekämpfungsbehörde OLAF bestehende Verdacht, T11lack habe einen Beamten der Kommission bestochen, um an interne Geheimdokumente zukommen.
3 Umgekehrt wirft Tillack (2006), der sich selbst als investigativen Journalisten im Sinne eines das po_litischeSystem kontrollierenden Journalismus sieht, dem deutschen Pressekorps vor, dass v1ele ~enchte aus Br~ssel zwar professionell recherchiert, aber mit einer pro-europäischen Voremgenommenhe!t der Korrespondenten geschrieben seien.
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ANKE OFFERHAUS
Journalismus für Hans-Martin Tillack hatte, wird deutlich, dass die Korrespondenten mit den Äußerungen ihrerPositionen und Bewertungen das im Pressekorps gültige Regelwerk transparent machen.
Folgendes Zitat illustriert die Bedeutung der Zusammenarbeit von Eu-Korrespondenten und eine daraus resultierende transnationale Form journalistischer Selbstkontrolle anlässlich von Gipfel- und Ministerrats
treffen: »Nehmen Sie mal eine ganz normale Sitzung des Ministerrates. Wenn die zu Ende
ist, dann gibt es zs Konferenzen parallel, die kann ich unmöglich wahrnehmen.
[ ... ]Also, was mache ich? Ich gehe zu meinen ausländischen Kollegen. Ich kenne
die Schlachtordnung ein bisschen vorher, und dann weiß ich schon, aha, das hakt
heute an den Franzosen, an den Polen, weiß der Geier an wem, vielleicht an den
Finnen- dann gehe ich da hin. Und dann sage ich: >Sag mal, was haben jetzt eure
Leute erzählt? Wie interpretieren die das?<- und dann tauschen wir das aus. [ ... ]
Und zwar eigentlich voll gegen die Vorschriften unserer Sender- das machen wir
über den Obergefreitendienstweg sozusagen.<<
Trotz ihrer zentralen politischen Bedeutung sind die Sitzungen in der Regel nicht öffentlich und politische Entscheidungsprozesse daher undurchsichtig und schwer nachvollziehbar. Die Weitergabe politischer Informationen erfolgt durch Länderbriefings der Ständigen Vertretungen der Mitgliedsländer, bei denen vor und nach Ministerratstreffen zeitgleich Regierungsvertreter aktuelle Problemsituationen und die dazugehörigen Länderpositionen erläutern. Das Zitat zeigt, dass sich die Korrespondenten des damit verbundenen nationalen Spins durchaus bewusst sind und durch transnationalen Informationsahgleich und -austausch die schlechte bzw. einseitige Informationslage kompensieren. Auch hierfür sind ein guter Kontakt und die sichere Einschätzung der Expertise der Kollegen Voraussetzung. So dient die transnationale Zusammenarbeit einerseits der Informationsbeschaffung über andere Länderpositionen und andererseits der Informationskontrolle der eigenen Länderposition. Beides ist von zentraler Bedeutung für die Rekonstruktion der nationalen Konfliktkonstellationen in den Räten und für die Entwicklung eines
europäischen Verständnisses. Allerdings weisen Äußerungen von Korrespondenten daraufhin, dass
diese Form der transnationalen Selbstkontrolle mit den aktuellen Veränderungen einer kontinuierlichen Vergrößerung des Pressekorps und der zunehmenden Dynamik des medialen Wettbewerbs zu erodieren beginnt, wie folgendes Zitat illustriert:
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EU-Korrespondenten als Wegbereiter einer europäischen Öffentlichkeit? Vergemeinschaftung und journalistische Selbstkontrolle bei Korrespondenten in Brüsse!
»Es ist leider eine Entwicklung im Gange, die ich nicht so toll finde: Wir waren
internationaler, als ich hier anfing. Das hat aber was mit einer Entwicklung der
Medien ih allen unseren Ländern zu tun. Der Konkurrenzkampf wird unglaub
lich viel härter. Die Verrücktheit auch der Printmedien wird immer größer, die
Sprunghaftigkeit, die verzweifelte Suche nach Originalität, nach Exklusivität. [ ... ]
Dadurch belauern sich in den jeweiligen Nationen die Kollegen untereinander
viel, viel stärker.<<
Zugleich werden die wachsende Konkurrenz und nachlassende journalistische Zusammenarbeit innerhalb des Pressekorps als Folge der veränderten Arbeitsbedingungen deutlich. Während die Tatsache, dass die Korrespondenten unterschiedliche nationale Medienmärkte bedienen, lange Zeit ein vergleichsweise konkurrenzloses Miteinander ermöglichte, stehen sie nun zunehmend unter nationen- und medienübergreifendem Wettbewerbsdruck Wie innerhalb nationaler Mediensysteme hat sich auch eine Brüssel-interne Medienhierarchie herausgebildet, an deren Spitze die Europa-Ausgabe der Financial Times steht. Ihre Stellung basiert auf der breiten Leserschaft unter den Eu-Bediensteten sowie auf dem engen Kontakt und daher schnellen Informationsfluss zwischen EU-Akteuren und Korrespondenten. Von den übrigen Brüsseler Korrespondenten wird der privilegierte Informationszugang als Durchbrechen des Kollegialschemas bewertet (vgl. auch RAEYMAECKERS et al. 2007). Zudem kritisieren sie den damit verbundenen Institutionen-Spin und den Themendruck, dem sie sich durch die Berichterstattung der FT ausgesetzt sehen.
Eine weitere Folge der Vergrößerung des Pressekorps bezieht sich auf die Grundlage der Gemeinschaftsbildung. Was sein Kollege als »Wir waren internationaler, als ich hier anfing« beschreibt, erklärt ein Korrespondent folgendermaßen:
»Bei Kollegen gibt es das Gesetz der großen Zahl. Wenn es zu viele sind, dann
bilden sich Kleingruppen, die sich immer wieder treffen. Die Wahrscheinlichkeit,
dass alle sechs, sieben Österreicher täglich in der Pressekonferenz zusammenste
hen, ist sehr groß.<<
Das Zitat verweist auf eine Verstärkung nationaler Gruppenkonstellationen durch die Vergrößerung des Pressekorps. In privaten Beziehungen wie im beruflichen Alltag überwiegen mittlerweile Kontakte zu Kollegen aus dem eigenen Land. Das ist darauf zurückzuführen, dass die Korrespondenten ähnliche Berufsinteressen haben, da für die Berichterstattung gleiche Themen und Themendeutungen relevant sind, und dass ein gemeinsamer kultureHer Hintergrund wechselseitiges Vertrauen, sichere
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ANKE OPFERHAUS
Kompetenzeinschätzung und den Informationsaustausch begünstigt. Während die Korrespondenten aus unterschiedlichen Mitgliedsstaaten innerhalb des kleineren Pressekorps einander sehr gut kannten und vielfach über kulturelle Unterschiede hinweg auch miteinander befreundet waren, gehen transnationale Verbindungen in der Regel nicht mehr über einen pragmatischen beruflichen Informationsaustausch hinaus.
Die angeführten Beispiele zeigen die Bedeutung sowie Anlässe und Formen der Zusammenarbeit, die mit informellen Prozessen journalistischer Selbstkontrolle verbunden ist. Darüber hinaus wurde allerdings auch deutlich, dass im Zuge veränderter Arbeitsbedingungen unter den Korrespondenten transnationale Gemeinschaftsbildungen zugunsten nationaler abnehmen. Für die Zusammenarbeit bedeutet dies eine Formalisierung transnationaler beruflicher Kontakte (vgl. auch BAISNEE zoo2: m) bis hin zu einer wachsenden Anonymität im Pressekorps, die jeglichen journalistischen Austausch unmöglich macht. Eine transnationale journalistische Selbstkontrolle ist jedoch nur dann möglich, wenn die Journalisten nicht nur in einer formalisierten, sondern in einer sozialen Beziehung zueinander stehen.
4· 2 InstitutionalisierteSelbstkontrolle
Die jüngsten Entwicklungen am Korrespondentenstandort Brüssel haben eine Form der institutionalisierten Selbstkontrolle hervorgebracht. Ein Dokument, das in Zusammenarbeit verschiedener journalistischer Berufsorganisationen entwickelt wurde, illustriert die professionelle Reaktion des Journalismus auf den gestiegenen Marktwert von EU-Informationen.
Die Internationale Journalistenföderation (IJF), die als internationaler Journalistenverband ein Augenmerk auf die Sicherung journalistischer Arbeitsbedingungen und die Wahrung einer journalistischen Berufsethik war in der Entwicklung eines journalistischen Verhaltenskodex für Brüssel initiativ. Im Jahre 2004 wurden unter den EU-Korrespondenten wie auch in der deutschen journalistischen Fachpresse die Informationsqualität von Eu-Nachrichten und der Einfluss von Lobbyisten auf die tägliche Berichterstattung diskutiert (BASTIN 2004; MUKKE 2004). Hintergrund waren der spürbar gestiegene Informationsausstoß der zahlreichen in Brüssel ansässigen Akteure und die gewachsene Zahl
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Eu-Korrespondenten als Wegbereiter einer europäischen Öffentlichkeit? Vergemeinschaftung und journalistische Selbstkontrolle bei Korrespondenten in Brüssel
von Internetauftritten, die Eu-Informationen präsentieren. In vielen FäHen, so die Kritik, sei nicht klar zu erkennen, welche Nachrichten mit journalistischem Interesse und welche Nachrichten im Interesse von Lobbyisten verbreitet werden. Zudem wurde die doppelte Erwerbstätigkeit von akkreditierten Journalisten beklagt, die sich mit Nebenjobs für EUInstitutionen, PR- und Lobby-Unternehmen Geld hinzu verdienen.
Aus diesem Anlass wurde von der IJF eine öffentliche Debatte entfacht und ein Verhaltenskodex für Journalismus und Medien in Brüssel entworfen. Dieser wurde im Februar 2004 per Pressemitteilung veröffentlicht und über journalistische Berufsorganisationen auf nationaler und europäischer Ebene verbreitet. So erschien der Code of Conduct for ]ournalism and Media in Brussels in der fünften Ausgabe 2004 des Journalist, der Zeitschrift des Deutschen Journalisten-Verbands. Bis heute ist er auf der Internetseite des IJF wie auch auf der Internetseite von ]ournalist@Your Service, der zentralen InformationsanlaufsteHe für Eu-Korrespondenten in Brüssel, abrufbar.4 Der Kodex, der sich an den einzelnen Journalisten wie auch an Medienorganisationen wendet, verweist auf die journalistischen Grundsätze der Pressefreiheit, der journalistischen Ethik und der Glaubwürdigkeit von Nachrichten und Informationen. Er betont die Unabhängigkeit des Journalismus und appelliert an die redaktionelle Verantwortung, diese Grundsätze durch entsprechende Maßnahmen und inhaltliche QJ.lalitätskontrollen sicherzustellen.
Das Beispiel zeigt, dass unter den veränderten Arbeitsbedingungen des Brüsseler Journalismus von institutioneller Seite ein Handlungsbedarf definiert und mit allgemeinen Empfehlungen zur Sicherung von journalistischer Unabhängigkeit und Qualität darauf reagiert wurde. Ähnlich wie beim Deutschen Presserat, der die Einhaltung des deutschen Pressekodex überwacht, dessen Sanktionsmaßnahmen bei Verstößen aber auf öffentliche Rügen beschränkt sind, stellt sich jedoch die Frage nach der Effektivität dieser Form institutionalisierter Selbstkontrolle. Mehr noch als auf nationaler Ebene handelt es sich bei diesem Dokument um Empfehlungen, die unter Korrespondenten und in Redaktionen wenig bekannt sind und deren Umsetzungen nahezu nicht überprüft werden können. So besteht ein grundsätzliches Problem darin, dass eine institutionalisierte Selbstkontrolle nur funktioniert, wenn der Bruch der zu
4 Vgl. http://www.ifj.org/default.asp?Index=226S&Language=EN und http://www.brusselsreporter.eu/?p=44 [27.04.201o].
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ANKE OFFERHAUS
kontrollierenden R~geln einheitlich festgelegt und durch wirkungsvolle Strafen sanktionierbar ist.
s. Eu-Korrespondenten- Wegbereiter einer europäischen Öffentlichkeit?
Fasst man die Beispiele journalistischer Selbstkontrolle und die dahinter liegende Entwicklungsdynamik der Berichterstattung aus Brüssel zusammen, können zwei für den Eu-Journalismus zentrale Problemfelder unterschieden werden.
Ein Problemfeld besteht im geringen Autonomiespielraum gegenüber der Politik. Unter den Arbeitsbedingungen der vielfach allein für ein oder mehrere Medien arbeitenden Korrespondenten, die durch zunehmenden Wettbewerb, harte Zeitrestriktionen, Vielfalt und Komplexität der Berichterstattungsthemen sowie durch eine massive Informationsüberflutung gekennzeichnet sind, kann nur wenig bis nahezu überhaupt keine Eigenrecherche stattfinden. Es besteht die Gefahr, dass sich Recherchen der Korrespondenten lediglich auf das Zusammentragen und die Verarbeitung vorgegebener Presseinformationen beschränkt. Zudem wird durch den zunehmenden Brüssel-internen Wettbewerb der Medien für Eu-Akteure das >Spinnen< von Informationen möglich. Die auf der Grundlage persönlicher Kontakte erhaltenen Informationen werden von Journalisten unter Zeitdruck nicht mehr detailliert geprüft, sondern vorzeitig veröffentlicht. Solche Veröffentlichungen von noch inoffiziellen Informationen und Positionen können mitunter kontraproduktiv für den politischen Prozess sein, da sie möglicherweise übereilte politische Stellungnahmen und Entscheidungen erzwingen. Sollte darüber hinaus der von der IJF geäußerte, aber schwer zu überprüfende Vorwurf einer doppelten Erwerbstätigkeit vieler Korrespondenten stimmen, ist auch hier die journalistische Unabhängigkeit gefährdet.
Ein weiteres Problemfeld stellt der Rückgang der transnationalen Zusammenarbeit dar. Durch die Vergrößerung des Pressekorps und der damit verbundenen wachsenden Anonymität unter den Korrespondenten geht ein entscheidendes Informations- und Handlungskorrektiv verloren. Bei transnationalen Berichterstattungsereignissen oder gemeinsamen Presseveranstaltungen tendieren Eu-Korrespondenten immer weniger dazu, Kontakt zu Kollegen aus anderen Ländern aufzunehmen.
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Eu-Korrespondenten als Wegbereiter einer europäischen Öffentlichkeit? Vergemeinschaftung und journalistische Selbstkontrolle bei Korrespondenten in Brüssel
So lernen sie nicht mehr die Perspektiven anderer Mitgliedsstaaten kennen. Eine Zusammenarbeit, wie sie bei der öffentlichen Thematisierung der Korruptionsfälle in der Europäische Kommission möglich wurde, hat es so seither nicht mehr gegeben (QUATREMER 2002). Zudem wird sie umso unwahrscheinlicher, je geringer ein auf persönlichem Kontakt und professioneller Verlässlichkeit basierendes transnationales Kontaktnetz unter den Journalisten ausgebildet ist. Dies ist jedoch notwendig, wenn es um die journalistische Kontrolle des gesamten internationalen Machtapparats und nicht nur um die mediale Beobachtung der eigenen Landesvertreter aufEu-Ebene geht.
Beide Problemfelder, die Einschränkung der journalistischen Autonomie wie der Rückgang transnationaler Zusammenarbeit, verweisen auf einen drohenden Qualitätsverlust im Eu-Journalismus. Journalistische Selbstkontrolle zur Sicherung journalistischer Qualität wird und wurde in Brüssel vor allem durch die wechselseitige soziale Kontrolle innerhalb der professionellen Gemeinschaft ausgeübt. Das heißt, weniger explizit kontrollierend als durch einen engen Kontakt und intensiven Austausch von Information und Meinungen sind die Journalisten Informationsquellen und Ratgeber untereinander. Mehr implizit stehen diejenigen Korrespondenten im Zentrum des Informationsaustauschs, deren EUbezogene Sach- und journalistische Fachkompetenz sowie deren Informationen und Informationsquellen von den Kollegen als glaubwürdig und verlässlich eingeschätzt werden. Im journalistischen Berichterstattungsalltag dominiert der Austausch unter Kollegen der eigenen Nation, während bei politischen Großereignissen gerade der transnationale Austausch wichtig ist. In dem Moment, in dem jedoch die journalistische Vergemeinschaftung durch wachsende Größe und zunehmende Konkurrenz innerhalb des Pressekorps aufbricht, erscheint eine Institutionalisierung von journalistischen Selbstkontrollmechanismen notwendig. Der vom IJF erlassene Pressekodex kann als ein solcher Schritt interpretiert werden. Dort, wo soziale Regeln einer sich nicht mehr wechselseitig bekannten Gruppe nicht mehr funktionieren, sollen institutionelle Regelungen greifen. Da diese allerdings nicht mit Sanktionen für Medienunternehmen uhd Journalisten verbunden sind, ist ihr Wirkungspotenzial zweifelhaft.
Bilanziert man die Ergebnisse vor dem Hintergrund der Einstiegsüberlegung, ob und inwieweit Eu-Korrespondenten Wegbereiter einer europäischen Öffentlichkeit sein können, fällt die Einschätzung nüch-
ANKE OPFERHAUS
tern aus. Wenngleich sie es durch das europäisch-internationale Setting
sein könnten, zeigen die Ergebnisse im Blick auf die transnationale
Vergemeinschaftung, dass mit der Vergrößerung des Pressekorps und
zunehmendem Aktualitäts- und Wettbewerbsdruck die Korresponden
ten die bereits vorhandene strukturelle Gelegenheit des transnationalen
Austauschs immer weniger nutzen. Darüber, ob sie selbst bei tatsächlich
gegebenem Austausch zu einer >diskursiv abgeschliffenen europäischen
Meinung< im Habermas'schen Sinne kommen würden, lässt sich ohnehin
nur spekulieren. Des Weiteren wäre die Frage zu stellen- um die Neben
bemerkung des Eingangszitats aufzunehmen: »sie schlägt sich dann
nicht immer in den Medien nieder«-, ob und wenn nein, warum die The
meninteressen und Positionen anderer Länder nicht in der Berichterstat
tung auftauchen, selbst wenn die Korrespondenten diese kennen, bedeut
sam und plausibel finden. In diesem Zusammenhang kann an anderer
Stelle gezeigt werden, dass es Logik und Struktur der Berichterstattung
nicht erlauben, europäische Themen und Perspektiven durchzusetzen.
Die Herstellung eines nationalen Themenbezugs und die nationale Deu
tung von Eu-Politik sind wesentliche Kriterien für die Durchsetzung von
Eu-Themen in den Heimatredaktionen und bestimmen somit die typi
schen Handlungsorientierungen von Eu-Korrespondenten. So besteht
häufig ein deutlicher Unterschied zwischen dem, was sie über die politi
schen Fakten und Entscheidungsprozesse auf europäischer Ebene wissen,
und dem, was sie tatsächlich darüber schreiben ( OPFERHAUS 2010 ).
Die Autorin
Dr. ANKE OPFERHAUS ist Universitätslektorin am Institut für historische Publizistik, Kommunikations- und Medienwissenschaft (IPKM) der Uni
versität Bremen und wissenschaftliche Mitarbeiterin (Postdoctoral Fel
low) im Teilprojekt B3 »Die Transnationalisierung von Öffentlichkeit
am Beispiel der EU« des Sonderforschungsbereichs 597 »Staatlichkeit
im Wandel« der Jacobs University und der Universität Bremen. Ihre For
schungsinteressen in den Bereichen: Transnationalisierung der
Medienkommunikation mit dem Schwerpunkt europäische Öffentlich
keit, Journalismusforschung und Professionssoziologie.
EU-Korrespondenten als Wegbereiter einer europäischen Öffentlichkeit? Vergemeinschaftung und journalistische Selbstkontrolle bei Korrespondenten in Brüssel
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