Neue Gründer hat das Land! Sieben gute Beispiele zur Förderung von Migrantengründern Inklusives Wachstum für Deutschland | 6
Neue Gründer hat das Land!Sieben gute Beispiele zur Förderung
von Migrantengründern
Inklusives Wachstum für Deutschland | 6
Neue Gründer hat das Land!Sieben gute Beispiele zur Förderung
von Migrantengründern
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Inhalt
Neue Gründer braucht das Land? Neue Gründer hat das Land! 6Vorwort
Wo Ideen wachsen lernen 8„ChancenNutzer“ im Social Impact Lab in Frankfurt am Main
Frauen, die sich trauen 16Bundesprojekt „MIGRANTINNEN gründen“ und jumpp – Frauenbetriebe e. V.
in Frankfurt am Main
Leistungen und Potenziale von Migrantenunternehmen 24Drei Fragen an Dr. René Leicht
Geschäft in Sicht 26Arbeitsgemeinschaft selbstständiger Migranten e. V. (ASM) in Hamburg
Gründung und Nachfolge 34Vier Fragen an Dr. Rosemarie Kay
Gründen gegen alle Widerstände 36Gründungsbüro des IQ-Landesnetzwerks Saarland
Kurs halten! 44Der Lotsendienst für Migrantinnen und Migranten und das IQ-Landesnetzwerk
in Brandenburg
Städte im Wandel 52Vier Fragen an Prof. Dr. Felicitas Hillmann
„Wenn du kämpfst, kriegst du Anerkennung“ 54PhönixPreis – Münchens Wirtschaftspreis für Migrantenunternehmen
Gute Partner und richtige Ansprache 60Das Projekt Migrantinnen und Migranten als Unternehmer.
Ökonomische Vielfalt in Lippe
Linkliste zu den Projekten 66
Die Serie „Nachhaltiges Wachstum für Deutschland“ 68
Unsere Ziele | Impressum 70
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Unternehmer mit Migrationshintergrund leisten
aber auch einen Beitrag zu gelingender Integra-
tion. So zeigen Studien des Instituts für Mittel-
standsforschung der Uni Mannheim, dass Mig-
rantenunternehmen in überdurchschnittlichem
Maß sozial Benachteiligte beschäftigen und aus-
bilden. Wer als Zuwanderer ein Unternehmen
erfolgreich aufbaut und führt, vergrößert zudem
die eigene Chance auf soziale Mobilität und wird
zum Vorbild für ein erfolgreiches Ankommen in
der neuen Heimat.
Hier findet das statt, was wir als „inklusives
Wachstum“ bezeichnen, also ein Wachstum, das
einzahlt auf Beschäftigung und Innovationskraft,
und das gleichzeitig die Chance auf wirtschaft-
liche und soziale Teilhabe aller Bevölkerungs-
gruppen verbessert. Und dennoch wird dieses
Potenzial nicht voll ausgeschöpft. Denn gerade
gründungswillige Migranten stehen vor spezifi-
schen Hürden und werden mit diesen oft allein
gelassen. Ein Scheitern wird so wahrscheinlicher.
Wichtig für den Erfolg sind individuelle Beratungs-
angebote, die die spezifischen Hürden adressie-
ren und professionell den Weg in die berufliche
Selbstständigkeit begleiten.
Heute gibt es von diesen Angeboten zu wenige.
Auch dies zeigt die in dieser Serie veröffentlichte
Studie „Migrantenunternehmen in Deutsch-
land zwischen 2005 und 2014“. Den in der Grün-
dungsberatung aktiven Institutionen fehlt viel-
fach das Wissen über erfolgreiche Ansätze und
deren Anwendung. Mancherorts fehlt vielleicht
auch die Sensibilität für das Thema. So belassen
es viele Institutionen einfach bei der allgemeinen
Gründerberatung, die teils an den spezifischen
Bedürfnissen von Migranten vorbeigeht.
Deutschland ist kein Gründerland. Im internati-
onalen Vergleich gehen hierzulande wenige neue
Unternehmen an den Start. Dies zeigen jedes Jahr
aufs Neue Studien wie der Global Entrepreneur-
ship Monitor. Die fehlenden Gründer sind die
fehlenden Unternehmer von morgen – eine Hy-
pothek für Innovationsfähigkeit, Wachstum und
Beschäftigung. Neue Gründer braucht das Land!
Richtig ist es aber auch zu sagen: Neue Gründer
hat das Land! Denn immer stärker beteiligen sich
Menschen mit Migrationshintergrund am Grün-
dungsgeschehen in Deutschland. Sie beleben die
Gründerszene mit Start-ups und den Mittelstand
mit neuen Geschäftsideen. Unternehmen in allen
Branchen werden heute von Inhabern mit Zu-
wanderungshintergrund geführt. Dass viele
davon auf Wachstumskurs sind, sieht man daran,
dass Migrantenunternehmer immer mehr Jobs
schaffen. Zwischen 2005 und 2014 ist die Zahl
der Arbeitsplätze, die Migrantenunternehmer
geschaffen haben, von 947.000 auf 1,3 Millionen
geklettert. Das zeigt unsere in dieser Serie ver-
öffentlichte Studie „Migrantenunternehmen in
Deutschland zwischen 2005 und 2014“.
Neue Gründer braucht das Land? Neue Gründer hat das Land!Vorwort
7
Neue Gründer braucht das Land? Neue Gründer hat das Land!
Migrantenunternehmen können nur in einem
gesellschaftlichen Umfeld erfolgreich sein, das
ihnen mit Akzeptanz und Anerkennung gegen-
übertritt. Der PhönixPreis der Stadt München
zeigt jedes Jahr, dass Vielfältigkeit den Wirt-
schaftsstandort München stark macht. Einen
ähnlichen Ansatz verfolgten das Kommunale In-
tegrationszentrum und die Wirtschaftsförderung
des Kreises Lippe in Nordrhein-Westfalen mit
ihrem Projekt „Ökonomische Vielfalt in Lippe“,
das sie gemeinsam mit Hochschulen ihrer Region
durchführten.
Ergänzt wird die Publikation durch drei Kurzin-
terviews, die Einblick in die aktuelle Forschung
zu Migrantenunternehmen geben. Felicitas
Hillmann lehrt am Leibniz-Institut für Raum-
bezogene Sozialforschung und an der TU Berlin.
Rosemarie Kay leitet das Institut für Mittel-
standsforschung Bonn und René Leicht ist am
Institut für Mittelstandsforschung der Universi-
tät Mannheim tätig.
Der Wirtschaftsjournalist Benjamin Dierks hat
die Geschichten des Gelingens für uns zusam-
mengetragen. Ihm sei an dieser Stelle gedankt.
Unser Dank gilt aber vor allem all denjenigen, die
sich bereit erklärt haben, sich und ihre Arbeit für
diese Publikation porträtieren zu lassen. Ihre Of-
fenheit hat diese Texte erst möglich gemacht.
Letztlich stellen die Reportagen selbstverständ-
lich unsere Sicht auf die Institutionen und ihre
Arbeit dar.
Wir hoffen, dass Praktiker aus der Gründungs-
beratung hier Anregungen für ihre Arbeit finden.
Und wir wünschen uns, auch die institutionelle
Kreativität der Akteure in Politik, Verwaltung und
den Kammern anzuregen. Denn am Ende kommt
es auch darauf an, entsprechende Angebote
nachhaltig zu institutionalisieren.
Armando García Schmidt
Senior Project Manager,
Bertelsmann Stiftung
Genau hier setzt diese Publikation an. Denn es
gibt intelligente institutionelle Settings und
hochprofessionelle Berater; sie zeigen mit ihrer
Arbeit, wie es gelingt, auf die spezifischen Be-
dürfnisse von Menschen mit Zuwanderungs-
geschichte einzugehen und gleichzeitig eine
effektive Beratungsleistung zu erbringen, die er-
folgreiche Unternehmen auf den Weg bringt.
Sieben Einrichtungen, die genau dies leisten,
stellen wir in dieser Publikation vor. Jede setzt
einen spezifischen Schwerpunkt. So entsteht
insgesamt ein Bild, das nicht den Anspruch auf
Vollständigkeit hat. Aber es wird deutlich, welche
Faktoren zusammenkommen müssen, um Grün-
dungsberatung für Migranten erfolgreich zu
gestalten. En passant sind auch Porträts erfolg-
reicher Migrantenunternehmer entstanden. Die
Vielfalt der Wege in die Selbstständigkeit und die
Vielfalt der Geschäftsideen – vom Importeur für
den Großmarkt über den Entwickler von Apps bis
hin zur spezialisierten Modelagentur – sind be-
eindruckend.
In Frankfurt haben wir zwei spezifische Ange-
bote für Start-up-Gründer besucht: Das Projekt
„ChancenNutzer“ im Social Impact Lab berät
und begleitet junge Menschen mit Migrations-
hintergrund auf dem Weg zu einem erfolgreichen
Unternehmen, gibt aber auch Social Entrepre-
neurs den Raum, ihre Idee zu realisieren. Das
Bundesprojekt „MIGRANTINNEN gründen“
und jumpp Frauenbetriebe e. V. richtet sich an
Frauen mit Migrationshintergrund. Die Erfah-
rung der Arbeitsgemeinschaft Selbstständiger
Migranten (ASM) in Hamburg zeigt, wie die
Zusammenarbeit zwischen einer Selbstorgani-
sation von Migrantenunternehmern und der
Handelskammer zum Nutzen der Existenz-
gründer gestaltet werden kann.
Auch außerhalb der großen Wirtschaftszentren
macht es Sinn, Menschen auf dem Weg in erfolg-
reiche Selbstständigkeit zu begleiten. Einblicke
in die Grundlagen ihrer Arbeit geben uns das
Gründungsbüro des IQ-Landesnetzwerk Saar-
land und zwei Institutionen in Brandenburg: der
Lotsendienst für Migrantinnen und Migranten
und das IQ-Landesnetzwerk Brandenburg.
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Manchmal sprechen Programmierer und der Rest
der Welt dieselbe Sprache. So wie an diesem Nach-
mittag im Westen Frankfurts. Die Temperaturen
steigen das erste Mal im Jahr in frühlingshafte
Höhe, die Sonne scheint durch das Hinterhof-
fenster im Social Impact Lab und Carolin Eißler
tippt fünf Worte in ihr Smartphone: „Im Kühl-
schrank gibt es Eis.“ Noch einmal aufs Display
getippt und überall um sie herum an den schlich-
ten Designerschreibtischen summen die Tele-
fone. Kurz danach ist das Eisfach leer.
Das Social Impact Lab ist ein Inkubator für junge
Unternehmensgründer und Carolin Eißler ist die
Community Managerin hier, also unter anderem
für die Kommunikationsportale zuständig. Ge-
rade hat sie die hauseigene App benutzt und allen
Mitgliedern des Labs eine Push-Nachricht ge-
schrieben, eine Mitteilung, die sich nicht in ir-
gendwelchen Posteingängen versteckt, sondern
sich direkt auf den Bildschirm drängelt. Solche
Push-Texte werden oft für besonders dringende
Nachrichten genutzt – so wie ein Eis am ersten
Frühlingstag eben. Das haben alle verstanden,
die hier im Lab arbeiten, die Tech-Leute ebenso
wie die Betriebswirtschaftler und die Kreativen.
Der Wirtschaftsinformatiker ist Ver-mittler zwischen der Welt der Techniker und der Welt der Manager und Unter-nehmer.
Gurdip Mudhar ist besonders froh, dass die App
ihren Dienst getan hat. Denn er hat sie entwi-
ckelt. Der Wirtschaftsinformatiker ist Vermitt-
ler zwischen der Welt der Techniker und der Welt
der Manager und Unternehmer. Wenn es näm-
lich nicht gerade Eis zu verteilen gibt, das weiß
Gurdip Mudhar, verstehen die beiden Seiten sich
Wo Ideen wachsen lernen„ChancenNutzer“ im Social Impact Lab in Frankfurt am Main
Wo Ideen wachsen lernen
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herzlich schlecht. Er hat deswegen AppRocket
gegründet, ein Start-up, das Unternehmen ihre
eigene App mit einem Baukastensystem erstellt.
Dafür muss niemand selbst programmieren kön-
nen oder einem Programmierer erklären, was er
machen soll. „Bei den BWLern geht es ums Ver-
kaufen, um die schöne Darstellung, aber so denkt
ein Programmierer nicht, der steckt in seiner ei-
genen Welt“, sagt Mudhar.
Im Social Impact Lab will der Jungunternehmer
sich die nötige Unterstützung holen, um sein Ge-
schäft in Schwung zu bringen. Mudhar hat seinen
Laptop in einem der großen, offenen Gemein-
schaftsräume aufgeklappt, der als Arbeits- wie
als Besprechungszimmer genutzt wird. Der lange
Tisch ist übersät mit Gläsern und Kaffeebechern.
Hinter ihm zwei leuchtend orange gestrichene
Regale, sonst gibt es kaum etwas, das von der
Arbeit ablenken könnte. Große Glastüren tren-
nen die Räume. Überall stehen Arbeitstische
in Reih und Glied, an denen Mittzwanziger vor
ihren Laptops brüten. Seit Ende des vergangenen
Jahres nimmt Mudhar dort am Programm
„ChancenNutzer“ teil, ein Angebot eigens für
Gründer mit Migrationshintergrund. Mudhar ist
in London geboren und in Deutschland aufge-
wachsen, seine Eltern stammen aus Indien.
Rund 160 junge Menschen zählen bereits zu den „ChancenNutzern“
Rund 160 junge Menschen zählen bereits zu den
„ChancenNutzern“, darunter auch einige Teams,
die gemeinsam an einer Idee arbeiten. Seit zwei
Jahren läuft das Programm. Wer eine Geschäfts-
Schnittstelle: Gurdip Mudhar kann programmieren, denkt aber wie ein Manager. Das will er zum Geschäft machen.
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Wo Ideen wachsen lernen
leme, an einen Bankkredit zu kommen und grif-
fen auf Darlehen aus der Familie zurück. Die Ent-
wicklung eines Unternehmens bis zur Marktreife
sei damit aber fast unmöglich.
Akademiker entscheiden sich statistisch eher für die Selbstständigkeit, wenn sie eine Einwanderungsgeschichte haben.
Einwanderer spielen eine wichtige Rolle beim
Entstehen neuer Unternehmen in Deutschland.
Rund jeder fünfte Gründer in Deutschland ist
nach Angaben der KfW entweder Ausländer oder
hat die deutsche Staatsbürgerschaft erst nach
der Geburt erhalten. Migranten gründen eher ein
Unternehmen als Abstammungsdeutsche und
tun das häufiger zum Vollerwerb. Das allein sagt
noch nicht viel über ihren Gründergeist aus, weil
Migranten immer wieder auch aus der Not heraus
gründen, um etwa einen Aufenthaltsstatus zu
sichern. Aber auch die Qualität der Gründungen
verändert sich. Jedes vierte von Migranten ge-
gründete Unternehmen verdient sein Geld mitt-
lerweile mit wissensintensiver und moderner
Leistung.
Bei der Beratung der jungen Unternehmer aller-
dings hapert es. Allgemeine Gründerinitiativen
oder Handelskammern erreichen Migranten mit
ihren Angeboten noch vergleichsweise selten.
Deswegen helfen Einrichtungen wie das Social
Impact Lab Gründern mit Migrationshintergrund
beim Start in die Selbstständigkeit und bereiten
sie auf den deutschen Markt, geschäftliche Ge-
pflogenheiten, den rechtlichen Rahmen und be-
sondere Hürden in Deutschland vor.
„Es fehlte die Nähe zur Zielgruppe.“
„Überdurchschnittlich viele Migranten gründen,
aber unterdurchschnittlich viele von ihnen neh-
men Beratungsangebote in Anspruch“, sagt Farid
Bidardel, Projektleiter des „ChancenNutzer“-
Programms. Auch die Frankfurter Initiative hatte
anfangs Probleme, angehende Gründer mit Ein-
wanderungsgeschichte zu erreichen. „Es fehlte
die Nähe zur Zielgruppe. Wir haben gemerkt,
dass vieles über private Verbindungen läuft“,
sagt Bidardel. Viele wendeten sich erst an eine
Beratung, wenn sie von Bekannten einen Tipp
erhalten hätten. Das Social Impact Lab versucht
idee hat, möglichst nicht älter als 30 Jahre alt
ist und entweder selbst nach Deutschland ein-
gewandert ist oder von Einwanderern abstammt,
kann sich bewerben. Es geht vor allem um Mig-
ranten, die in Deutschland aufgrund ihrer Her-
kunft benachteiligt sind und ihre Lebenssitua-
tion verändern wollen. Das ganze Jahr über wer-
den je zum Monatsbeginn meist rund zehn neue
Teilnehmer aufgenommen. Acht Monate lang
können sie dann das Social Impact Lab kosten-
los als Arbeitsplatz nutzen, sich von Mitarbei-
tern und externen Experten beraten lassen und
ihr Konzept im Austausch mit den anderen Teil-
nehmern weiterentwickeln. Rund 40 Unterneh-
men sind bislang von „ChancenNutzern“ ge-
gründet worden.
„Mich haben das Netzwerk und die Spezialisten gelockt, die hier sitzen.“
„Mich haben das Netzwerk und die Spezialisten
gelockt, die hier sitzen“, sagt Gurdip Mudhar.
„Ich kenne mich zum Beispiel mit dem Pricing
nicht so gut aus, wie ich es gestalten soll und so
weiter.“ Bei anderen Gründern im Programm
könne er sich auch schnell ein paar Tipps dafür
holen. Die Möglichkeiten für Gründer in Deutsch-
land findet Mudhar verbesserungswürdig, zu
langwierig, zu behäbig, insbesondere bei der
Finanzierung. Gerade Migranten hätten Prob-
Farid Bidardel (l.) leitet das Frankfurter Projekt „ChancenNutzer“ für Gründer mit Migrationshintergrund wie Gurdip Mudhar.
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Wo Ideen wachsen lernen
tes Problem ist.“ Wie Einnahmeseite, Kundenbe-
ziehung und Kostenstruktur aussehen oder was
das Unternehmen vermitteln soll, hätten sich
viele dann noch gar nicht gefragt. „Wir fragen
immer wieder: Was willst Du eigentlich, wie
willst du es hinkriegen und warum?“, sagt
Bidardel. Vor allem sein Studium der Pädagogik
und Psychologie kommt ihm zugute, wenn er
Gründern bei der Motivationssuche oder ihrer
Entwicklung als Team hilft. Auch als strategi-
scher Berater sei er für viele Teams wertvoll.
„Es muss jemand sein, der seine Arbeits- und Lebenssituation verändern möchte.“
Um die Hürden für eine Bewerbung so niedrig
wie möglich zu halten, lädt Bidardel Interessierte
zu einem Kennlerngespräch ein. Sie sollen mög-
lichst ungezwungen von ihrem Vorhaben be-
richten. Dabei versucht er, so viel wie möglich
zu erfahren. Die Idee soll passen zum Rest des
„ChancenNutzer“-Programms, sie soll tragfähig
sein – und die Bewerber sollen die Hilfe im Social
Impact Lab wirklich benötigen und bereit sein,
sich helfen zu lassen. „Wir wollen nicht jeman-
dem helfen, der unsere Hilfe gar nicht braucht
und es auch ohne uns schaffen würde“, sagt
Bidardel. „Wer schon vier Start-ups hat und ein
neues nebenbei machen möchte, passt nicht in
unser Programm. Es muss jemand sein, der seine
heute, nicht über andere Träger zu gehen, son-
dern sich direkt an Interessierte zu richten, unter
anderem auch an Studienabbrecher.
Auch Bidardels Eltern sind Einwanderer, sie
stammen aus dem Iran. Das spricht sich herum
und nimmt vielen Gründungswilligen mit Mi-
grationshintergrund die Hemmungen, Rat zu
suchen. Bidardel ist mit seinen 30 Jahren auch
nah am Alter vieler Gründer. Vor rund andert-
halb Jahren hat er seine Arbeit im Social Impact
Lab aufgenommen. Die Diskriminierung, von der
viele Teilnehmer berichteten, habe auch er er-
fahren, sagt Bidardel. „Ich sehe mich als Deut-
scher, aber wenn ich mich um einen Job bewerbe
oder eine Wohnung mieten möchte, sind mein
iranischer Name und mein iranisches Aussehen
trotzdem das erste, was wahrgenommen wird.“
Die Teilnehmer spürten, dass er sie verstehe.
„Meistens aber stellten sie nach den ersten Gesprächen fest, dass die Finanzierung ihr letztes Problem ist.“
Viele der Gründer, die zu ihm kommen, seien
überzeugt davon, dass sie eigentlich nur noch
eine Finanzierung bräuchten um loszulegen, sagt
Bidardel. Oft hätten sie eine konkrete Summe im
Kopf. „Meistens aber stellten sie nach den ersten
Gesprächen fest, dass die Finanzierung ihr letz-
Farid Bidardel will für die Teilnehmer der „ChancenNutzer“ stets ansprechbar sein. Hier zeigt ihm Gurdip Mudhar im Gemeinschaftsbüro des Social Impact Labs eine neue Funktion auf seiner Website.
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Wo Ideen wachsen lernen
ein. Irgendwann merkten die Macher des Labs
auch, dass eine bessere Dynamik entsteht, wenn
die Teilnehmer sich einer Gruppe zugehörig füh-
len. Seitdem starten neue Gründer gemeinsam
in kleinen Gruppen zum Monatsbeginn.
Am Frankfurter Lab sind die JPMorgan Chase Foundation und die KfW Stiftung beteiligt.
Social Impact Labs gibt es neben Frankfurt auch
in Berlin, Hamburg, Leipzig, Duisburg und Pots-
dam. Sie werden von der Social Impact gGmbH
betrieben, einem Beratungsunternehmen, das
sich die Förderung sozial Benachteiligter und
sozialen Unternehmertums auf die Fahnen ge-
schrieben hat. Die jeweiligen Angebote werden
mithilfe unterschiedlicher Stiftungen und Unter-
nehmen finanziert. Am Frankfurter Lab sind die
JPMorgan Chase Foundation und die KfW Stiftung
beteiligt. Für „ChancenNutzer“ und das ebenfalls
im Lab angebotene Programm „AndersGründer“
für angehende Social Entrepreneurs haben die
beiden Stiftungen gemeinsam ein Projektbudget
für drei Jahre von 1,5 Mio. Euro zur Verfügung ge-
stellt. Nach Ablauf des Förderungszeitraums soll
das Projekt überprüft werden, samt der Frage, ob
sich auch andere Finanzierungsquellen anbieten.
Arbeits- und Lebenssituation verändern möchte.“
Und es müsse deutlich werden, dass der Migrati-
onshintergrund eine wirtschaftliche oder gesell-
schaftliche Benachteiligung zur Folge hat.
Farid Bidardel legt Wert auf regelmäßi-gen Austausch.
Die grundsätzliche Beratung übernehmen Bidardel
und sein Kollege Nils Hafa, der das Social Impact
Lab in Frankfurt leitet. Bidardel und seine Kolle-
gen haben kein abgetrenntes Büro, sondern
sitzen an ein paar zusammengestellten Schreib-
tischen direkt am Empfang. Spezifischere Bera-
tung, etwa bei Steuerberatern oder Anwälten, er-
halten die Gründer bei externen Experten. Dafür
stehen jedem Teilnehmer 20 Beratungsstunden
außer Haus zur Verfügung.
Wer zum „ChancenNutzer“ wird, erhält mehr
als eine Beratung, nach der er wieder auf sich
gestellt ist. Als Inkubator will das Social Impact
Lab die Teilnehmer wachsen sehen. Projektlei-
ter Farid Bidardel legt Wert darauf, dass seine
Schützlinge regelmäßig im Lab auftauchen und
vom Miteinander im Gemeinschaftsbüro profi-
tieren. Immer wieder lädt er zu gemeinsamen
Mittagessen oder Frühstücken mit Gastrednern
Farid Bidardel kennt die Probleme der Gründer in seinem Programm.
13
Wo Ideen wachsen lernen
ähnlich wie bei anderen Start-up-Unterstützern.
Inkubatoren sind meist nicht für Gründer ge-
dacht, die vor der Arbeitslosigkeit bewahrt
werden müssen, sondern davor, trotz ihres
unternehmerischen Potenzials einen regulären
Job anzunehmen. Und Inkubatoren gibt es oft
an Unis, wo es viele gute Ideen gibt, aber selten
Unternehmer. Und obwohl Langzeitarbeitslose
und prekär Beschäftigte die ursprünglichen Ad-
ressaten der „ChancenNutzer“ waren, werben
Bidardel und sein Team auch viel an Universitä-
ten. Gerade unter Studienabbrechern seien viele
Migranten, die sich für eine Gründung interes-
sierten.
Unter den Gründern im „ChancenNutzer“-Pro-
gramm sind deshalb viele, die man eher der
Start-up-Szene zurechnen würde als der klassi-
schen Migrantenökonomie. App-Entwickler
Die JPMorgan Chase Foundation hat das „Chan-
cenNutzer“-Konzept mit ausgearbeitet. Als das
Social Impact Lab um Finanzierung warb, habe
die Stiftung angeregt, nicht allein Sozialunter-
nehmer zu unterstützen, sondern auch Menschen
mit Migrationshintergrund, sagt Sara Günnewig
von JPMorgan Chase, die am Entstehen der
„ChancenNutzer“ beteiligt war. Ein zentraler
Gedanke der Stiftung sei, Migranten in Arbeit
und Ausbildung zu bringen. Mitarbeiter der Stif-
tung sind auch hin und wieder dabei, wenn die
teilnehmenden Gründer nach vier Monaten ein
erstes Fazit ihres Gründungsvorhabens ziehen.
Die JPMorgan Chase Foundation legte auch Wert
darauf, dass niemand allein gelassen wird, der
sich nicht als der geborene Unternehmer ent-
puppt. „Wir lassen niemanden fallen“, sagt Farid
Bidardel. Wer an der Gründung scheitert, soll
Beratung über Ausbildungs- oder Arbeitsmög-
lichkeiten erhalten. Dafür arbeitet das Social Im-
pact Lab mit dem „Welcomecenter“ zusammen,
das sich bei der Arbeitsagentur um Ausländer
kümmert. Von dort kommen auch einige Bewer-
ber ins Lab.
Es dauert viel zu lange, wieder zu dem zu kommen, was man vorher schon gemacht hat.
Insbesondere innereuropäische Migranten, etwa
aus Spanien, interessierten sich für eine Grün-
dung, wenn die Anerkennung von Qualifikati-
onen und Erfahrungen in Deutschland zu lange
dauert. „Über den Kontakt zum Welcomecenter
treffen wir viele Menschen, die nach Deutschland
gekommen sind, oft schon mit abgeschlossener
Ausbildung oder Arbeitserfahrung“, sagt Bidar-
del. „Die sitzen dann monatelang da und warten
darauf, dass irgendwelche Zertifikate anerkannt
werden. Dann müssen sie womöglich noch ir-
gendwelche Praktika machen. Es dauert viel zu
lange, wieder zu dem zu kommen, was man vor-
her schon gemacht hat. Von denen sagen einige:
Dann mache ich mich doch lieber selbstständig.“
Anders als viele Inkubatoren im IT-Sektor gibt
das Social Impact Lab den Gründern neben Ar-
beitsplatz und Beratung kein Startkapital. Dafür
verlangt es aber auch keine Beteiligung an den
gegründeten Unternehmen. Ansonsten ist vieles
Die Teilnehmer des „ChancenNutzer“-Programms haben im Social Impact Lab stets einen Arbeitsplatz.
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Wo Ideen wachsen lernen
anderen Mitarbeiter von Creative Change die
Schüler mit alltäglichen Diskriminierungen. Zur-
zeit ist vor allem der Umgang mit Flüchtlingen
Thema. Kurz vorm Höhepunkt des vorgeführten
Stücks brechen die Darsteller ab und diskutieren
mit den Schülern anschließend den möglichen
Fortgang des Geschehens. „Wir hoffen, dass die
Schüler sich in dieser Woche öffnen für andere
Kulturen und Menschen“, sagt Aghdassi.
Seit vier Monaten wird Creative Change im Rah-
men der „ChancenNutzer“ gefördert. Bislang fi-
nanziert sich der Verein vor allem aus projektbe-
zogenem Fördergeld des Bundes. Oft ergeben sich
aus den Terminen in den Schulen neue Projekte.
Manch eine Schule etwa vereinbart eine Fort-
bildung, um mit Aghdassis Hilfe ihre Lehrer für
Rassismus zu sensibilisieren. Aber die Finanzie-
rung ist noch Stückwerk. Nun will Aghdassi die
Arbeit seines Teams finanziell auf solidere Füße
stellen. Dafür sucht er Hilfe im Social Impact Lab.
„Wir sind vor allem ein Team von Päda-gogen und keine Wirtschaftsleute.“
„Wir stehen immer wieder vor Situationen, wo
wir denken, da haben wir noch keine Erfahrung“,
sagt Aghdassi. „Hauptsächlich sind wir ein Team
von Pädagogen und keine Wirtschaftsleute, die
Ahnung davon haben, wie wir Fördermittel ak-
quirieren.“ Nun will Creative Change beim Bund
ein Modellprojekt beantragen, das die Arbeit über
die kommenden Jahre sichern würde. Aghdassi
und seine Kollegen hätten dann 130.000 Euro pro
Jahr zur Verfügung. Wenn sie noch eine Kofinan-
zierung von 20 Prozent finden, könnten
sie fortan fest angestellt arbeiten und wären
nicht mehr auf Nebenverdienste angewiesen.
Bislang koordiniert Aghdassi noch in Teilzeit
Inklusionsprojekte an Schulen für den Sozialver-
band VdK.
Auch Pedram Aghdassi kam über die Empfehlung
eines Freundes zum Social Impact Lab. Nach dem
Tipp bewarb er sich mit Creative Change fürs
„ChancenNutzer“-Programm. Neben einzelnen
Gründern werden auch ganze Teams aufgenom-
men. „Für uns ist es eine Riesenhilfe, Räume zu
haben, in denen wir proben können. Dafür etwas
zu mieten, wäre für uns zu teuer.“ Und die Zu-
sammenarbeit im Social Impact Lab hat auch
sind darunter, Webdesigner und solche, die tra-
ditionelles Geschäft mit der Internet-Ökonomie
verbinden wollen. Ein Team etwa entwickelt eine
App für regionale Schuhgeschäfte. Und einige
entdecken erst im Social Impact Lab die soziale
Ader ihres Unternehmens. „Viel fragen sich
während ihrer Zeit hier: Wo ist eigentlich mein
Social Impact?“, berichtet Farid Bidardel. Das ist
kein Muss, aber durchaus ein gewollter Effekt
der gemeinsamen Förderung von Sozialunter-
nehmern und Migranten. Am Arbeitsplatz und
bei organisierten gemeinsamen Treffen begegnen
sich die Teilnehmer der „ChanenNutzer“ und
„AndersGründer“ und fördern Projekte für sozio-
ökonomische Integration von Menschen mit
Fluchtgeschichte.
„Wir hoffen, dass die Schüler sich in dieser Woche für andere Kulturen und Menschen öffnen.“
Bei Pedram Aghdassi kam von vornherein beides
zusammen: der Migrationshintergrund und der
soziale Gedanke bei der Gründung. Er hat den
Verein Creative Change gegründet und hat sich
zum Ziel gesetzt, Rassismus an Schulen zu be-
kämpfen. Mit seinem Team fährt er an Schulen
in ganz Deutschland, vor allem aber in Hessen
und in Ostdeutschland. Dort veranstaltet er
Theater-Projektwochen zum Thema. In kurzen
Theatervorführungen konfrontieren er und die
Halb Unternehmer, halb Aktivist: Pedram Aghdassi will mit seinem Start-up „Creative Change“ Rassismus an Schulen bekämpfen.
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Wo Ideen wachsen lernen
rinnen wollen das in Äthiopien wachsende und
besonders reichhaltige Getreide Teff dort zu Pro-
dukten verarbeiten und diese dann in Deutsch-
land vertreiben.
Die Einwanderungsgeschichte bietet häufig unerkanntes unternehmerisches Potenzial und kann zur Lebensader eines Geschäfts werden.
„Die Lebensgeschichte der Menschen ist eine
der wichtigsten Fragen für uns. Wenn man einen
Vorteil daraus ziehen kann, warum nicht?“,
sagt Farid Bidardel. „Durch die Globalisierung
entwickeln sich Dinge, die ein deutscher Unter-
nehmer womöglich nicht machen könnte.“ Es
geht bei vielen Gründern um mehr, als allein
die Nachteile auszugleichen, die durch einen
Migrationshintergrund entstehen können. Die
Einwanderungsgeschichte bietet häufig uner-
kanntes unternehmerisches Potenzial und kann
zur Lebensader eines Geschäfts werden. Die
Kenntnisse über ein anderes Land und die Erfah-
rungen über die kulturellen, geschäftlichen und
gesellschaftlichen Grenzen Deutschlands hinaus,
das zeigt sich bei den „ChancenNutzern“ immer
wieder, können ein entscheidender Marktvor-
teil sein.
schon etwas gebracht: Ein junger Rap-Künstler,
der hier ein Unternehmen aufzieht, tritt jetzt
auch im Theaterprogramm von Pedram Aghdassi
auf.
Seinen Migrationshintergrund spürt Aghdassi
jeden Tag bei seiner Arbeit. Als er neulich an
einer Schule in Sachsen spielte, nahm eine Klas-
senlehrerin ihn zur Seite und sagte, er solle es
sich nicht zu Herzen nehmen, wenn die Schüler
etwas komisch reagierten. Es sei ihre erste
Begegnung mit einem Schwarzen. Aghdassis
Eltern stammen aus dem Iran. Sein Vater kam
1978 nach Deutschland zum Arbeiten, ein Jahr
vor der Islamischen Revolution. Weil er der
religiösen Minderheit der Bahai angehört, die
seit dem Sturz des Schahs rücksichtslos verfolgt
wird, konnten er und seine Familie nicht mehr
in den Iran zurückkehren.
„Ich habe so viel Ungerechtigkeit im System Schule gesehen, dass ich dieses Thema angehen möchte.“
Aghdassis Erfahrungen in seiner Kindheit und
Jugend haben viel dazu beigetragen, dass er sich
heute mit Rassismus und Ausgrenzung beruf-
lich beschäftigt. Als er in Ingolstadt in die erste
Klasse kam, sprach er schon fehlerfrei Deutsch,
trotzdem wurde er mit allen Ausländerkindern
in einen Deutschkurs gesteckt. Später kam er auf
eine Klosterschule. Als beim Abendmahl in der
ersten Woche alle anderen Kinder die Hostie ent-
gegennahmen, wollte er nicht der Sonderling
sein und machte mit. Zum Dank bekam er von
seinen Lehrern zu hören, was ihm denn einfalle,
mit seiner fremden Religion die Oblate zu essen,
sie sei schließlich der Leib Christi. „Ich habe so
viel Ungerechtigkeit im System Schule gesehen,
dass ich dieses Thema angehen möchte“, sagt der
28-Jährige. „Ich habe gehört, dass in dem Beruf,
den man sich aussucht, immer auch ein bisschen
Traumabewältigung steckt.“
Es gibt einige Gründer im „ChancenNutzer“-
Programm, die sich bei ihrer Gründungsidee von
ihrer Einwanderungsgeschichte haben inspirie-
ren lassen – nicht nur durch die Diskriminierung
in Deutschland. Ein Team will Schulen in Afrika
bauen, ein anderes unterstützt türkischstämmige
Studenten in Deutschland. Zwei junge Gründe-
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men, einem Förderprogramm, das vom Bundes-
ministerium für Familie, Senioren, Frauen und
Jugend finanziert wird. Darin werden 20 Frauen
mit Einwanderungsgeschichte ein Dreiviertel-
jahr lang bei ihrer Unternehmensgründung von
einem persönlichen Mentor begleitet. Dazu gibt
es Workshops und persönliche Fachberatung.
Das soll helfen, um das Unternehmen an den
Start zu bringen. Der Gedanke dahinter: Migran-
tinnen fällt der Zugang zum Arbeitsmarkt in
Deutschland oft noch schwerer als Männern,
die eingewandert sind. Selbstständigkeit kann
für viele eine Möglichkeit dazu bieten. Doch ob-
wohl viele Frauen unternehmerisches Potenzial
mitbrächten, gebe es kaum Projekte, um sie beim
Gang in die Selbstständigkeit zu unterstützen,
heißt es im Bundesfamilienministerium. Ein
eigens abgestimmtes Programm könne dazu
beitragen, aus Migrantinnen erfolgreiche Grün-
derinnen zu machen.
„Für sie ist es selbstverständlich, dass sie in unterschiedlichen Kulturkreisen gelebt haben. Es ist ihnen nicht bewusst, was für ein unglaubliches Asset das ist.“
Viele Frauen seien zu bescheiden, was Erfahrun-
gen und Qualifikationen angeht, die sie durch
ihre Herkunft und Wanderung in ein anderes
Land gesammelt hätten. „Für sie ist es selbstver-
ständlich, dass sie in unterschiedlichen Kultur-
kreisen gelebt haben. Es ist ihnen nicht bewusst,
was für ein unglaubliches Asset das ist“, sagt
Ramona Lange, Leiterin von „MIGRANTINNEN
„Ich habe mich entschieden, das zu zeigen, was ich sehen möchte.“
Ein Unternehmen auf die Beine zu stellen, ist für
die meisten Gründerinnen und Gründer ein gro-
ßer Schritt. Für Elizabeth Nehring ist er nicht nur
groß, für sie hat er biblische Ausmaße. Nehring
hat ihr Unternehmen Elli Gilgal getauft. Gilgal ist
der biblische Ort, an dem die Israeliten erstmals
Rast machten bei ihrem Einzug ins Gelobte Land.
Hier wurden sie nach ihrer langen Reise durch die
Wüste beschnitten – das Symbol dafür, dass Gott
die Schande der Sklaverei in Ägypten von ihnen
abgewälzt hatte. Das gefiel Nehring: Die Schande
der Sklaverei hinter sich zu lassen, das sollte zum
Sinnbild ihres neuen Unternehmens werden.
Elizabeth Nehring hat eine Modelagentur ge-
gründet, allerdings keine ganz gewöhnliche.
Elli Gilgal führt nur Schwarze in der Kartei –
oder Black Models, wie Nehring es branchen-
üblich auf Englisch sagt. Nehring will, dass
Schwarze sichtbarer werden. Ihr Management
hat es sich zum Ziel gesetzt, schwarze Models in
allen Branchen zu etablieren und ein positives
Bild von Afrikanern zu etablieren. Als Kind habe
sie Afrikaner in den deutschen Medien nur gese-
hen, wenn es um Armut, Hunger, Krieg oder Aids
ging, sagt sie. Nehring wurde in Kamerun gebo-
ren und kam im Alter von acht Jahren mit ihrer
Familie nach Deutschland. Dieses Bild von da-
mals will die Mittdreißigerin abstreifen. „Ich
habe mich entschieden, das zu zeigen, was ich
verändert sehen möchte und Teil der Lösung zu
sein, anstelle nur auf das zu schauen, was war
oder noch nicht ist“, sagt sie.
Mit dem Konzept hat Nehring im vergangenen
Jahr an „MIGRANTINNEN gründen“ teilgenom-
Frauen, die sich trauenBundesprojekt „MIGRANTINNEN gründen“ und jumpp – Frauenbetriebe e. V. in Frankfurt am Main
Nicht nur Start-up, sondern Mission: Elizabeth Nehring will mit ihrer Agentur Elli Gilgal schwarzen Models eine Plattform geben.
Frauen, die sich trauen
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Frauen, die sich trauen
Model-Agentin Elizabeth Nehring hat in der
Lobby eines Co-Working-Büros im Frankfurter
Bahnhofsviertel Quartier bezogen. Aus ihrer
Handtasche zieht sie ihren Laptop, aus der Ge-
meinschaftsküche holt sie sich einen Espresso.
Dann lässt sie sich in einen grauen Designer-
sessel sinken. Das ist alles, was sie zum Arbeiten
braucht. Mit ihrer Jeans und der weißen Kostüm-
jacke ist sie noch lässig genug für die Start-up-
Leute in ihren Kapuzenpullis und Turnschuhen,
die hier sonst so herumlaufen, und elegant genug
für jedes Geschäftsessen.
Ihre Website ist gerade fertig geworden. Nehring
hat mittlerweile 20 Models. Im Moment habe sie
mehr Männer als Frauen in der Kartei, berichtet
sie amüsiert. Sie habe sich neben klassischen
Models auch auf Kinder und People spezialisiert,
also Leute, die keine Modelmaße haben, aber als
Typen trotzdem für Werbung oder andere Pro-
duktionen geeignet sind. Nehring ist ganz Ge-
schäftsfrau, wenn sie das Angebot ihrer Agentur
preist. Aber wenn sie von der Motivation berich-
tet, ihr Unternehmen zu gründen, wird schnell
klar, dass sie nicht nur ein beliebiges Start-up
hat, sondern eine Mission.
„Bilder machen Leute, Bilder haben das Potenzial zu zerstören, Menschen, Länder und Kontinente.“
„Bilder machen Leute, Bilder haben das Potenzial
zu zerstören, Menschen, Länder und Kontinente.
Bilder haben Macht, Kraft und Faszination. Wir
denken in Bildern und Bilder beeinflussen unser
Denken“, sagt sie. Aus diesem Grund sei es so
wichtig, ein positiveres Bild von Schwarzen und
Afrikanern zu zeigen. Nehring ist schon seit zehn
Jahren als Hobbyfotografin unterwegs. Ihren ge-
schärften Blick fürs gute Motiv will sie jetzt als
Agentin nutzen.
„Aber wenn man als Migrantin zusam-mengefasst wird, dagegen sträube ich mich.“
Elizabeth Nehring hat es einem Zufall zu ver-
danken, dass sie Unternehmerin geworden ist –
zumindest jetzt schon. „Ich wollte schon immer
Spuren hinterlassen“, sagt sie. Aber ohne „MI-
GRANTINNEN gründen“ und ihre Mentorin, die
gründen“. „Das versuchen wir ihnen bewusst zu
machen, in unserem Projekt, was sie alles mit
sich herumtragen in ihrem Rucksack und welche
Stärken sie mitbringen.“
„Aber wir sind immer noch nicht so weit, dass wir Chancengleichheit und gleiche, gerechte Teilhabe realisiert haben.“
Ramona Lange ist Mitarbeiterin des Vereins
„jumpp – Frauenbetriebe in Frankfurt am Main“,
der nach einer bundesweiten Ausschreibung 2014
die Durchführung von „MIGRANTINNEN grün-
den“ übernommen hat. Das Modellprojekt läuft
zwei Jahre lang, im Frühjahr ist die zweite Staffel
Gründerinnen an den Start gegangen. jumpp ist
aus der Emanzipationsbewegung der 1980er Jahre
hervorgegangen und hilft in erster Linie Frauen,
die sich selbstständig machen wollen. „Wir
haben uns schon immer für Chancengleichheit
und Teilhabe von Frauen eingesetzt“, sagt Lange.
Seit den 1980er Jahren habe sich aber einiges
verändert. Die heutige Generation habe eine
andere Haltung. „Sie musste sich nicht dafür
einsetzen, was die Generationen zuvor geleistet
haben“, sagt Lange. „Aber wir sind immer noch
nicht so weit, dass wir Chancengleichheit und
gleiche, gerechte Teilhabe realisiert haben.“
Frauenpower: Ramona Lange leitet das Programm „MIGRANTINNEN gründen“, das Gründerinnen in einem Jahr fit machen soll fürs eigene Unternehmen.
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Frauen, die sich trauen
modernes Weltbild schaffen, das Frauen Teilhabe
ermögliche.
„Es muss eine Geschäftsidee sein, für die ein Markt vorhanden ist.“
„MIGRANTINNEN gründen“ ist das erste Bun-
desprojekt, das jumpp betreut. Und es läuft etwas
anders ab als der sonst übliche Betrieb der Grün-
dungsberaterinnen. Wer sich bewirbt, sollte eine
ziemlich gute Vorstellung davon haben, wie das
geplante Unternehmen aussehen wird. „Es muss
schon eine Geschäftsidee sein, für die ein Markt
vorhanden ist“, sagt Lange. In der normalen
Beratung kämen Frauen oft mit vageren Ideen.
Dort überlege sie häufig mit den Gründerinnen
gemeinsam, wie sich die Geschäftsidee anpassen
lässt. Im Bewerbungsprozess für „MIGRANTIN-
NEN gründen“ bleibt nicht viel Raum, um Grund-
legendes zu verändern. „Wir starten mit einer
anderen Voraussetzung: Die Idee ist schon so gut,
dass man damit ein Business aufbauen kann.“
Gründerinnen aus vielen verschiedenen Ländern
und Branchen sind im Projekt, das war eine Auf-
lage des finanzierenden Familienministeriums:
von der Chinesin, die Konzerne aus ihrer Heimat
bei der Investition in deutsche Mittelständler be-
raten möchte über eine amerikanische Künstlerin
bis hin zu einer Türkin, die sich als Unternehme-
rin den Traum vom eigenen Hamam erfüllen will.
Rechtsanwältin Alia von Werder, hätte sie es
wohl noch ein wenig auf die lange Bank gescho-
ben. Nehring besuchte im Dezember 2014 einen
Literaturclub in den Räumen von jumpp, als
Ramona Lange sie ansprach. Sie fragte Nehring,
ob sie nicht Interesse hätte, an „MIGRANTIN-
NEN gründen“ teilzunehmen. Die wusste damit
zunächst nicht viel anzufangen. „Als Ramona
Lange damals Migrantinnen sagte, habe ich mich
nicht angesprochen gefühlt. Ich habe gleich ge-
sagt, ich bin deutsch“, berichtet Nehring. „Es
hat ja tatsächlich eine Migration gegeben, so
gesehen habe ich mit dem Begriff an und für sich
kein Problem. Aber wenn man als Migrantin zu-
sammengefasst wird, dagegen sträube ich mich.“
Der Verein will ein modernes Weltbild schaffen, das Frauen Teilhabe ermöglicht.
Ramona Lange weiß, dass es irritierend für viele
Frauen sein kann, mit solch einem Programm
auf ihre Einwanderungsgeschichte festgelegt zu
werden. „Sie wollen draußen eigentlich nicht als
Migrantinnen wahrgenommen werden und jetzt
kommen wir und versuchen, ihnen wieder so ein
Stigma aufzusetzen“, sagt die Projektleiterin. Auf
der anderen Seite seien Migrantinnen mit vielen
Vorurteilen konfrontiert und kämpften oft noch
vergebens um Akzeptanz und Chancengleichheit.
jumpp müsse diese gesellschaftspolitische Sicht
berücksichtigen. Schließlich wolle der Verein ein
In Collagen haben die Teilnehmerinnen von „MIGRANTINNEN gründen“ dargestellt, wie sie sich und ihre Geschäftsidee sehen.
20
Frauen, die sich trauen
Die erste Geschäftsidee war da: Fachkräftetransfer aus Spanien.
„Und es hat mir überhaupt nicht eingeleuchtet,
warum es in Spanien so viele Arbeitslose gibt und
man hier keine Erzieher findet“, sagt die gebür-
tige Barcelonerin. Die erste Geschäftsidee war da:
Fachkräftetransfer aus Spanien. „Das kann man
auch politisch gut verkaufen.“ Auch ihr Mentor
bei „MIGRANTINNEN gründen“ war zufrieden.
Es gebe Konkurrenz und wo Konkurrenz sei, sei
auch ein Markt, sagte Andreas Herzog, ein Start-
up-Berater. Aber Conesa Carbonell beschlich
ein schlechtes Gefühl. Sie klickte sich durch On-
line-Foren, las, dass spanische Facharbeiter in
ihrer Not abenteuerlichen Verträgen zustimmten
in Deutschland. Davon wollte sie nicht Teil sein.
Und sie legte eine Pause ein. Auch das wurde zu-
gelassen im Projekt. Es gibt eine eigene Beraterin
bei jumpp für solche Krisen.
Alle Entwicklungen im Projekt sind interessant
für die Macherinnen und für die politischen Auf-
traggeber in Berlin. „Das Projekt heißt ‚MIGRAN-
TINNEN gründen‘, also geht es natürlich darum,
dass die Migrantinnen auch tatsächlich grün-
den“, sagt Projektleiterin Ramona Lange. Wichtig
„Das eine ist die Idee, das andere ist der Mensch.“
Die zehnjährige Erfahrung als Beraterin hilft
Lange. Sie kann mittlerweile recht schnell ein-
schätzen, ob ein Marktpotenzial vorhanden ist.
„Das sagt aber noch gar nichts darüber aus, ob
diese Person die Idee auch umsetzen kann“, sagt
Lange. „Deswegen ist es so wichtig, dass man
den Menschen erst einmal kennenlernt. Das eine
ist die Idee, das andere ist der Mensch.“ Auch das
Feld der Teilnehmerinnen bei „MIGRANTINNEN
gründen“ unterscheidet sich deutlich von der
Gruppe derer, die sonst bei einer generellen
Gründungsberatung für Frauen oder Migranten
aufläuft. Fast alle Teilnehmerinnen haben stu-
diert und haben oft bereits eine erfolgreiche Kar-
riere hinter sich. Viele von ihnen suchen nun
etwas Neues. Dass die beste Idee nicht davor
schützt, kräftig vor die Wand zu fahren, hat
Cristina Conesa Carbonell erlebt. Die Spanierin
hat ebenfalls an der ersten Staffel von „MIGRAN-
TINNEN gründen“ teilgenommen. Die Geschäfts-
idee brachte der Alltag: Conesa Carbonell fand als
Mutter zweier Kinder keine Kita in Frankfurt.
16 Städte und fünf Länder in elf Jahren: Cristina Conesa Carbonell fand ihre Geschäftsidee, weil sie selbst so viel unterwegs war. Heute hilft sie ausländischen Arbeitnehmern, die nach Frankfurt versetzt werden, beim Ankommen.
21
Frauen, die sich trauen
und sich das zu besorgen, was man braucht“,
sagt Conesa Carbonell und streicht sich über das
kurze rote Haar, das sorgfältig verwuschelt in alle
Richtungen steht. „Und das mache ich gut, das
habe ich für mich und meine Familie immer ge-
macht und das kann ich für andere auch tun.“
Damit war die neue Geschäftsidee gefunden: Re-
location – anderen Menschen aus dem Ausland
helfen, nach einem Umzug aus beruflichen Grün-
den in der Fremde anzukommen. Frankfurt ist
dafür ein gutes Pflaster. Bei den Banken und an-
deren Konzernen kommen dauernd neue Mitar-
beiterinnen und Mitarbeiter aus dem Ausland an.
„Dann war auch mein Mentor wieder zufrieden“,
sagt Conesa Carbonell.
Viele der Mentoren sind ebenfalls selbstständig oder haben Erfahrungen als Unternehmer gesammelt.
Den Mentorinnen und Mentoren kommt eine
wichtige Rolle zu im Projekt. Sie sind die erste
Ansprechperson für die Gründerinnen, sie be-
kommen am ehesten mit, wenn es einmal hakt.
Und nur wenn die Chemie stimmt zwischen
ihnen und den angehenden Unternehmerinnen,
sei aber auch, wie sich die Teilnehmerinnen im
Gründungsprozess verhalten hätten und wie ihre
Aussichten sind. Das Projekt wird vom Institut
für Mittelstandsforschung der Universität Mann-
heim evaluiert, einem der führenden Einrichtun-
gen für die Erforschung der Migrantenökonomie.
Aus den Erkenntnissen sollen mögliche Leit-
linien für die Gründungsberatung von Migranten
und Migrantinnen abgeleitet werden. Es geht
nicht allein um den individuellen Erfolg der Teil-
nehmerinnen, es geht auch um Wissenstransfer.
„Ich habe in den letzten elf Jahren in 16 verschiedenen Städten in fünf verschie-denen Ländern auf drei verschiedenen Kontinenten gelebt.“
Die rettende neue Idee kam Cristina Conesa
Carbonell bei einer Auszeit in Spanien am Strand.
Sie lacht bei der Erinnerung. Wo sonst sollte eine
Spanierin zu sich finden? Sie überlegte, was ihr
wirklich Spaß machte, und mit etwas Abstand
stellte sie fest: Es ist das, was ihr Leben bis dahin
ausgemacht hatte. Seit Jahren jettete die Marke-
tingmanagerin durch die Welt, lebte in Deutsch-
land, England, China und in den USA. „Ich habe
in den letzten elf Jahren in 16 verschiedenen
Städten in fünf verschiedenen Ländern auf drei
verschiedenen Kontinenten gelebt“, sagt sie.
Das hat sie zu ihrem Wahlspruch gemacht. Nun
ist sie wieder in Frankfurt – weil ihr nach der
Geburt des zweiten Kindes die Elternzeit in den
USA zu kurz war. Dort hätte sie nach drei Mona-
ten wieder voll einsteigen sollen. Der Nachteil
in Deutschland: Wieder in eine normale Voll-
zeitstelle zu gehen, und das in einer Führungs-
position, findet sie als Mutter zweier Kinder
nicht machbar. Auch Conesa Carbonell hat sich
in einen Co-Working-Space eingemietet, der in
ihrer Nachbarschaft in Bornheim liegt. Das passt
zu ihrer Arbeitsweise. Hier findet sie die nötige
Ruhe, wenn sie sich konzentrieren muss, ist aber
auch schnell wieder zu Hause.
Damit war die neue Geschäftsidee gefunden: Relocation
„Ich bin mein halbes Leben unterwegs gewesen.
Und egal, ob es Dauerregen gibt in England oder
ob es in China stinkt, jeder hat seine eigenen
Strategien, es sich trotzdem schön zu machen
Cristina Conesa Carbonell merkt häufig erst im Kontakt mit ihren spanischen Kunden, wie deutsch sie selbst schon geworden ist.
22
Frauen, die sich trauen
Summe für die Übersiedlung zur Verfügung ge-
stellt bekommen und sich die Dienstleister dann
selbst suchen. Die wären ihre ideale Zielgruppe.
Aber die sind schwer zu finden. Ihr Kompromiss
derzeit: Sie hat als Subunternehmerin bei einer
großen Agentur angeheuert und erhält über sie
ihre Kunden. Immerhin sei sie so selbstständig,
sagt Conesa Cabonell. Zudem bietet sie Dienst-
leistungen im Marketing an.
Nicht überall funktioniert der Schritt zu mehr beruflicher Eigenständigkeit der Frauen so reibungslos.
Nicht bei allen Gründerinnen ist es so glimpflich
abgelaufen wie bei Cristina Conesa Carbonell und
Elizabeth Nehring, der Model-Agentin.
Einige haben es noch nicht bis zur Selbstständig-
keit gebracht. Bei der ein oder anderen hat
Ramona Lange die Vermutung, dass sie von ihrer
Familie, ihrem Umfeld gebremst werden. Nicht
überall funktioniert der Schritt zu mehr berufli-
cher Eigenständigkeit der Frauen so reibungslos.
Hier sind die Hürden offenbar noch zu hoch, die
„MIGRANTINNEN gründen“ zu überwinden hel-
fen sollte. Namentlich will Lange die Betroffenen
nicht nennen.
fährt das Tandem, wie Ramona Lange es nennt.
Um die passende Partnerin zu finden, fand zu
Beginn der Staffel eine Art Speed-Dating statt.
In einigen Minuten mussten die Teilnehmerinnen
sich und ihre Idee den Mentorinnen und Mento-
ren einzeln vorstellen. Danach fanden sich die
Paare nach gegenseitiger Vorliebe zusammen.
Viele der Mentorinnen und Mentoren sind eben-
falls selbstständig und und erfahrene Unter-
nehmerinnen und Unternehmer. Ramona Lange
achtete darauf, dass sie auch Paare zusammen-
brachte, die nicht aus derselben Branche kamen.
Aber kulturelle Unterschiede stellt sie schon fest und die hat sie nun auszubügeln.
Cristina Conesa Carbonell entdeckt heute einige
Parallelen zwischen dem Verhältnis, das sie zu
ihrem Mentor hatte, und ihrem Verhältnis zu
ihren Kunden jetzt. Ihr Mentor hielt sie damals
an, alle Quittungen aufzubewahren, die Papiere
in Ordnung zu halten. Genau das tut sie heute mit
ihren Kunden. Viele von ihnen sind wie Conesa
Carbonell Spanier. „Ich weiß nicht, ob das kultu-
rell bedingt ist oder einfach persönlich“, sagt sie.
Aber kulturelle Unterschiede stellt sie schon fest
und die hat sie nun auszubügeln. „Meine ersten
Kunden waren liebe Typen, Singles, Spanier, die
haben auf mich gehört“, sagt Conesa Carbonell.
„Dann gibt es schwierigere, Familien, die kom-
men aus dem Süden und denken, sie kommen
her und haben hier innerhalb einer Woche eine
Kita.“ Dazu wollten sie noch eine Kita, wo die
Kinder nicht nur spielen, sondern auch etwas
lernen und bitte nicht so dreckig werden beim
Toben im Matsch. Bei der Wohnungssuche den-
ken viele, sie könnten über den Preis verhandeln,
sagt Conesa Carbonell – und das im umkämpften
Frankfurt.
Als die Marketing-Expertin ihr Relocation-Un-
ternehmen in Angriff nahm, war ihr klar, dass
das rentabelste Geschäft bei den großen Kon-
zernen gemacht wird, die ihren Mitarbeitern den
Service bezahlen. Sie wusste aber auch, dass sie
nicht mit den etablierten Agenturen würde kon-
kurrieren können, die in Frankfurt Banken und
andere Großkunden betreuen. Aus eigener Er-
fahrung weiß Conesa Carbonell, dass es auch sol-
che gibt, die von ihrem Arbeitgeber eine gewisse
Computer und Espresso: Model-Agentin Elizabeth ver-zichtet noch auf ein eigenes Büro und arbeitet in einem Co-Working-Büro.
23
Frauen, die sich trauen
Aber es gibt auch die Situationen, in denen Wi-
derstände schwinden, in denen Ramona Lange
merkt, dass ihr Projekt direkten Einfluss hat:
Atena Emami-Pour zum Beispiel will mithilfe
von „MIGRANTINNEN gründen“ ein Franchise-
Unternehmen für orientalisches Essen aufbauen.
Die aus dem Iran stammende 30-Jährige hatte
es zuvor schon allein versucht. Als sie aber mit
ihrem Konzept bei der Bank vorsprach, schlugen
ihr die Vorurteile entgegen: zu jung, eine Frau, zu
wenig Erfahrung. Dabei hatte sie schon einmal
als Geschäftsführerin gearbeitet. Mit den Berate-
rinnen von jumpp im Rücken, den neuen Kontak-
ten und den Erkenntnissen fällt die Ansprache
schon leichter. „Dieses Projekt schafft ein gutes
Fundament, um sich in der Welt da draußen
durchsetzen zu können“, sagt Ramona Lange.
„Es wäre verwegen zu glauben, wir könnten mit einem Projekt alles verändern.“
Ramona Lange will nicht nur den Gründerinnen
zu persönlichem Erfolg verhelfen, sie will auch
zeigen, dass dieser Erfolg der Gesellschaft nützt.
„Es wäre verwegen zu glauben, wir könnten mit
einem Projekt alles verändern“, sagt Lange. „Wir
müssen die Gründerinnen mit Migrationshinter-
grund immer wieder sichtbar machen. Es geht
darum, das so zu verinnerlichen, dass es irgend-
wann selbstverständlich wird.“
24
Leistungen und Potenziale von Migrantenunternehmen
Diskurs wird Bildung allerdings kaum als Deter-
minante gehandelt. Hier dominiert das Bild,
Migranten seien risikofreudiger und durch eine
Kultur der Selbstständigkeit geprägt. Dies können
wir mit unseren Daten nicht bestätigen. Die Affi-
nität zu unternehmerischer Betätigung resultiert
weniger aus vermeintlich „ethnischen Ressour-
cen“, sondern weit häufiger aus erzwungenem
Mut. Hier sind Prozesse der Selbstselektion zu
berücksichtigen. D. h. diejenigen, die ihr Land
verlassen, sehen häufiger die Notwendigkeit,
etwas anderes aus ihrem Leben zu machen und
haben dabei im Vergleich zu den Angehörigen der
Ankunftsgesellschaft auch weniger zu verlieren.
Eine im Vergleich zu den Herkunftsdeutschen
stärkere Gründungsneigung bei Migrantinnen
und Migranten ist natürlich auch auf Arbeits-
marktveränderungen bzw. darauf zurückzu-
führen, dass die „Einheimischen“ stärker von
verbesserten Angeboten in einer Arbeitnehmer-
position profitieren. Folglich geht dort die Zahl
der Gründungen zurück. Im Übrigen führen hohe
Gründungsquoten unter Migranten nicht auto-
matisch zu einem höheren Bestand an Selbst-
ständigen, da viele mit ihrem Projekt auch
scheitern. Betrachtet man daher die Selbststän-
digenquoten, dann liegen diese bei Personen mit
Migrationshintergrund insgesamt betrachtet
noch geringfügig unterhalb der Quote bei den
Herkunftsdeutschen. Einzelne Nationalitäten-
gruppen liegen aber teils erheblich darüber.
Herr Dr. Leicht, schon heute beteiligen sich Menschen mit Migrationshintergrund überdurchschnittlich am Gründungs-geschehen in Deutschland. Wie ist das zu erklären?
Nach allem, was wir wissen, handelt es sich um
einen Mix aus verschiedenen Ursachen. Fragt
man nach den Gründungsmotiven, dann spielen
Benachteiligungen am Arbeitsmarkt eine große
Rolle. Personen mit Migrationshintergrund er-
hoffen sich – und erzielen auch – signifikant
bessere Verdienstmöglichkeiten. Sie machen
zudem die Erfahrung, dass sie ihre Ideen und Fä-
higkeiten nur unzureichend in einer abhängigen
Beschäftigung verwerten können. Hier kommt
hinzu: Die Zusammensetzung von Einwanderern
hat sich in jüngerer Zeit gewandelt und damit
auch das Qualifikationsniveau. Im öffentlichen
Drei Fragen an Dr. René Leicht, Experte für Entwicklung, Struktur und Leistungsbeitrag von Migrantenunterneh-
men in Deutschland. Herr Dr. Leicht leitet das Arbeitsgebiet „Neue Selbstständigkeit“ am Institut für Mittelstands-
forschung der Universität Mannheim.
25
Leistungen und Potenziale von Migrantenunternehmen
Gründungen liegt längerfristig betrachtet
vor allem im Bildungsbereich. Personen
mit akademischer Ausbildung machen
sich, fast unabhängig von ihrer ethni-
schen Herkunft, mit etwa drei Mal höhe-
rer Wahrscheinlichkeit selbstständig als
Geringqualifizierte. Darüber hinaus müs-
sen die institutionellen Hürden im Zu-
gang zu Selbstständigkeit weiter abge-
baut werden. Ein erster Schritt wäre, den
Dschungel an Paragraphen im Aufenthaltsrecht
zu lichten und dabei Erleichterungen sichtbar zu
machen oder zu schaffen, die es ermöglichen,
dass Drittstaatsangehörige mit unternehmeri-
schen Ambitionen sich hierzulande selbstständig
niederlassen. Es nützt aber wenig, die sogenann-
ten Ermessensspielräume zu vergrößern, wenn
bspw. die Ausländerbehörden, ohne jegliche
fachliche Kompetenz in unternehmerischen
Fragen, den Riegel verschlossen halten.
Ein weiterer Schritt liegt in der Verbesserung der
Informations- und Beratungsinfrastruktur, von
der nicht alle Gründungswilligen gleichermaßen
profitieren. Förderlich wäre zudem eine stärkere
Integration von Migrantinnen und Migranten in
die zentralen Regelinstitutionen der Wirtschaft,
insbesondere eine stärkere Präsenz in den Kam-
mern, Innungen und anderen unternehmens-
nahen Einrichtungen.
Was ist der besondere Beitrag von Migrantenunternehmen zur Zukunfts-fähigkeit der deutschen Volkswirtschaft?
Allein schon das gestiegene Niveau an unter-
nehmerischen Aktivitäten erhöht die Aussicht,
dass Migrantinnen und Migranten die insgesamt
rückläufige Zahl an Unternehmen kompensieren.
In vielerlei Hinsicht beleben sie den Mittelstand
sozusagen „von unten“ und stärken zumindest
die Hoffnung, dass der wirtschaftlich und poli-
tisch wachsenden Macht der marktbeherrschen-
den Konzerne auch künftig eine dezentrale und
schöpferische Vielfalt an Ideen, Produkten und
Dienstleistungen gegenübersteht. Kulturelle und
unternehmerische Diversität ist in einer hete-
rogener werdenden Gesellschaft eine zentrale
Quelle für ein Wachstumsmodell, das auf Zu-
kunftsfähigkeit und Nachhaltigkeit setzt.
Unsere Studien fokussieren auf die bereits sicht-
baren Indikatoren. Vier Erkenntnisebenen er-
scheinen hier wichtig: Erstens können Migran-
tinnen und Migranten die Chancen sozialer
Mobilität und struktureller Integration durch
den Schritt in die Selbstständigkeit erheblich
verbessern. Zweitens leisten Migrantenunter-
nehmen einen zunehmenden Beitrag für die
Beschäftigung, die Fachkräfteentwicklung und
die Exportstärke der Unternehmen in Deutsch-
land insgesamt. Drittens zeigt sich auch hierin
eine qualitative Komponente, da Migrantenun-
ternehmen in überdurchschnittlichem Maße
sozial benachteiligte Gruppen am Arbeits- und
Ausbildungsstellenmarkt beschäftigen. Sie
tragen ferner viertens überproportional zu einer
Internationalisierung kleinerer und mittlerer
Unternehmen bei, da sie häufig über vorteilhafte
Geschäftsbeziehungen und länderübergreifende
Netzwerke verfügen.
Ist das unternehmerische Potenzial von Migranten in Deutschland Ihrer Ansicht nach ausgeschöpft?
Allein schon der demographische Wandel und die
Zuwanderung werden die Zahl an unternehme-
risch engagierten Migranten ansteigen lassen,
ohne dass sich die Selbstständigenquote erhöht.
Doch lässt sich auch die Quote und damit das Po-
tenzial weiter anheben. Der Schlüssel für mehr
26
Geschäft in SichtArbeitsgemeinschaft selbstständiger Migranten e. V. (ASM) in Hamburg
Kaum eine andere Stadt zeigt so deutlich wie
Hamburg, dass die Kaufleute und die Politik nicht
viel trennt. Das Hamburger Rathaus und der neo-
klassizistische Bau der Handelskammer liegen
Rücken an Rücken in der Hansestadt. Sogar einen
Durchgang gibt es zwischen beiden Häusern
durch die Hinterzimmer. Und den Schlüssel, so
besagt ein alter Schnack, hat nicht der Bürger-
meister, sondern der Präses der Kammer.
Marion Wartumjans Büro befindet sich in einer
Nebenstraße auf halber Strecke zwischen Rat-
haus und der Unternehmervertretung. Von ihrem
Büro aus kann sie auf die Rückseite des Rathau-
ses blicken. Wer zu ihr kommen will, muss den
Weg hier in die Innenstadt machen, wo Politik
und Kommerz das Sagen haben. Das will sie auch
so, sagt Wartumjan. Wer sie und ihr Team auf-
sucht, hat nämlich in der Regel ein wirtschaft-
liches Anliegen und solle sich ruhig ein wenig
aus seinem gewohnten Umfeld herauswagen.
„Und wir denken, dass sie, wenn sie eines Tages Unternehmer sind, auch selbst aus-bilden können.“
Marion Wartumjan ist Geschäftsführerin der
Arbeitsgemeinschaft selbstständiger Migranten
(ASM), einem Verein von Hamburger Unterneh-
mern, die eine Einwanderungsgeschichte haben.
Die 2007 gegründete Arbeitsgemeinschaft ist
gleichzeitig Unternehmerverein und Migranten-
organisation. Das ist eines ihrer Alleinstellungs-
merkmale, diese Verbindung ist noch rar in
Deutschland. Die Idee des Vereins ist es, Men-
schen mit Einwanderungsgeschichte auf ihrem
Weg in die Selbstständigkeit zu unterstützen.
Dazu dienen Informationen, individuelle Bera-
tung und Workshops. Die ASM hilft Unterneh-
mern auch nach der Gründung und versucht,
sie bei der Stabilisierung ihres Unternehmens
zu unterstützen. Denn die Idee der Berater geht
nur ganz auf, wenn die neuen Unternehmer
länger im Geschäft bleiben. „Wir helfen ihnen
dabei, Unternehmer zu werden“, sagt Wartumjan.
„Und wir denken, dass sie, wenn sie eines
Tages Unternehmer sind, auch selbst ausbilden
können.“
Rund ein Fünftel der Gründer und Unternehmer in der Hansestadt haben einen Migrationshintergrund.
So positiv der Ansatz klingen mag, die Entste-
hung der Arbeitsgemeinschaft selbstständiger
Migranten war die Reaktion auf ein Problem, das
Hamburg mit dem Rest der Republik teilt: Viele
Gründer mit Migrationshintergrund werden durch
konventionelle Hilfsangebote nicht erreicht. Rund
ein Fünftel der Gründer und Unternehmer in der
Hansestadt hat einen Migrationshintergrund.
Unter Migranten wächst die Gruppe schneller
und viele ihrer Unternehmen haben mit alten
Klischees nichts mehr zu tun. Sie gründen heute
nicht mehr in erster Linie als Gastronomen oder
Einzelhändler, viele schaffen moderne, wissens-
basierte Betriebe. Der Zugang zu nötigen In-
formationen fällt vielen aber schwer. Und die
Beratung von Regelinstitutionen wie die Han-
dels- und Handwerkskammern suchen sie oft-
mals noch nicht auf. Auch migrantische Unter-
nehmer mit existierendem Geschäft hatten trotz
ihrer obligatorischen Mitgliedschaft in der Ver-
gangenheit wenig Kontakt.
Marion Wartumjan im Büro der Arbeitsgemeinschaft selbst- ständiger Migranten (ASM) in der Hamburger Innenstadt
27
Geschäft in Sicht
28
Geschäft in Sicht
gen beschäftigt. Der ursprüngliche Gedanke der
Ausbildungsförderung ist geblieben. Deswegen
unterstützt die ASM die von ihr betreuten Unter-
nehmer dabei, die Ausbildungsberechtigung zu
erhalten. Zweimal im Jahr werden Lehrgänge für
die Ausbildereignungsprüfung angeboten, die
besonders auf die Fragen und Bedürfnisse mig-
rantischer Unternehmer eingehen. Der Hinter-
gedanke der ASM: „Migrantische Unternehmer
können junge Fachkräfte ausbilden, die vielleicht
auch irgendwann einmal den Schritt in die
Selbstständigkeit wagen“, sagt Wartumjan. „Die
Philosophie ist, dass sich der Kreis irgendwann
schließt.“
Von 2008 bis 2015 haben sich rund 2.000 Men-
schen bei der ASM beraten lassen. Der Verein
hat 279 Gründungen mit auf den Weg gebracht,
pro Jahr etwa 40. Viele davon sind Klein- und
Kleinstgründungen, die meisten in Handel und
Dienstleistungen. Menschen aus 80 Nationen
sind dabei. Die Mehrheit der Gründer ist tür-
kischstämmig, gefolgt von Iranern, Afghanen,
Polen und Russen. Der frühere Hamburger Bür-
germeister Ole von Beust fand die Ergebnisse so
überzeugend, dass er sie auch zeigen wollte. „Wir
sind Hamburger“ lautete ein Slogan, mit dem die
Stadt für die zugewanderten Unternehmer warb.
Ausstellungen in der Handelskammer präsen-
tierten Porträts und Werdegang von Selbststän-
digen und deren Branchenvielfalt. Jeder sollte
sehen, dass es unter türkischen und später auch
anderen Unternehmern mit Migrationshinter-
grund nicht nur Besitzer von Dönerläden und
Pizzerien, sondern auch IT-Unternehmerinnen
und Mediziner gibt.
„Der Fokus sollte mehr auf der Verbes-serung der Rahmenbedingungen liegen.“
„Aber im Jahr 2016 in einer globalisierten Welt
halte ich es nicht mehr für zeitgemäß, immer nur
an Einzeldarstellungen erfolgreicher Beispiele zu
arbeiten“, sagt Marion Wartumjan. „Der Fokus
sollte mehr auf der Verbesserung der Rahmen-
bedingungen liegen. Wir sollten uns Struktu-
ren anschauen und untersuchen, warum Ein-
stiege nicht so gut gelingen.“ Die Beratung von
Existenzgründern mit Migrationshintergrund ge-
hört seit der Gründung der ASM zum Programm.
Nun aber gerät sie in Bedrängnis. Jahrelang war
Dass der fehlende Kontakt zu Unternehmern mit
Migrationshintergrund ein Problem ist, erkannte
die Kammer bereits Ende der 1990er Jahre, früher
als viele andere Einrichtungen: Sie wollte migran-
tische Unternehmer erreichen, um sie für das
duale Ausbildungssystem zu gewinnen. Damals
gab es wenige Ausbildungsplätze, die Nachfrage
war hoch. Es mussten dringend neue Angebote
geschaffen werden. „Deshalb entstand die Idee,
einen gemeinnützigen Verein zu gründen, einen
kleinen vorgeschalteten Satelliten, der unabhän-
gig ist, aber eng mit der Kammer kooperiert“,
sagt Wartumjan. So wurde 1998 die Arbeitsge-
meinschaft Türkischer Unternehmer und Exis-
tenzgründer (ATU) durch Mehmet Keskin aus der
Handelskammer heraus gegründet. Sie war die
Vorläuferorganisation der heutigen Arbeitsge-
meinschaft selbstständiger Migranten e. V.
„Die Philosophie ist, dass sich der Kreis irgendwann schließt.“
Handelskammer und ASM arbeiten strukturell
zusammen. Von den drei Vorstandsmitgliedern
des Vereins ist eines ein Bereichsgeschäftsführer
der Handelskammer. Eine solch enge Zusammen-
arbeit zwischen einem migrantischen Unter-
nehmerverein und einer Handelskammer gibt
es in Deutschland sonst nicht. Die Mitglieder
sind überwiegend in Handel und Dienstleistun-
Auf Kontaktsuche: Durch die Arbeitsgemeinschaft Türkischer Unternehmer und Existenzgründer (ATU) wollte die Handelskammer Hamburg 1998 den Austausch mit Migrantenunternehmern beleben.
29
Geschäft in Sicht
„Viele haben regelrecht ein Gründer-Gen.“
In Zeiten stärkerer Förderung konnte die Arbeits-
gemeinschaft mit bis zu drei Stellen Existenz-
gründer beraten. Das hatte den Vorteil, dass Be-
rater mit und ohne Migrationshintergrund zu-
sammenarbeiten konnten – was auch für die
übrigen Bereiche des Vereins gilt. Momentan
kann die ASM nur eine Gründungsberatung mit
20 Wochenstunden vorhalten, die Matthias
Kienzle anbietet. Der Soziologe arbeitet seit über
zehn Jahren in der Gründungsberatung. Er merkt
in seiner täglichen Arbeit, dass Selbstständigkeit
in den Herkunftsländern vieler seiner Kunden
einen höheren gesellschaftlichen Stellenwert
genießt als in Deutschland. „Viele haben regel-
recht ein Gründer-Gen“, sagt Kienzle. „Sie haben
einfach Lust, das zu machen und sind hochmoti-
viert, ich muss sie manchmal sogar ein bisschen
bremsen, damit sie zum Beispiel nicht zu früh
einen langjährigen Mietvertrag eingehen, bevor
die Finanzierung geklärt ist.“ Es gibt auch nega-
tive Folgen: Kunden, die trotz langen Misserfolgs
nicht von ihrer Geschäftsidee lassen wollen.
Die ASM will die Gründer von der Geschäftsidee
bis zur Gründung und darüber hinaus begleiten.
„Meistens ist es so, dass ich erst einmal sortieren
muss“, sagt Kienzle. „Sie kommen schon oft mit
einer ziemlichen Gemengelage.“ Und die betrifft
die Gründungsberatung durch öffentliche Förde-
rung finanziert. Land oder Bund zahlten dafür,
dass die ASM in eigens ausgelobten Projekten
Migranten auf die Selbstständigkeit vorbereitete.
Im Moment muss der Verein die angebotene Be-
ratung aber selbst finanzieren, weil es keine För-
derung für den Bereich gibt. Gründungsberatung
für Migranten stand längere Zeit politisch nicht
hoch im Kurs. Erst durch die Zuwanderung von
Flüchtlingen erhält das Thema wieder Aufmerk-
samkeit.
„In Zeiten hoher Arbeitslosigkeit gibt es Pro-
gramme zur Förderung der Existenzgründung,
damit auch die Arbeitslosenstatistiken ein Stück
bereinigt werden“, sagt Wartumjan. Das ließe
sich anhand der letzten zehn Jahre der Existenz-
gründungsförderung beobachten. „Und wir waren
dann auch Nutznießer solcher Programme und
haben insbesondere Menschen aus der Arbeits-
losigkeit heraus beraten und fit gemacht für die
Umsetzung ihrer Idee von Selbstständigkeit.“
Knapp drei Viertel von ihnen bezogen zur Zeit der
Gründung Arbeitslosengeld II. Wartumjan hält es
für einen Fehler, Selbstständigkeit zyklisch nach
der Lage auf dem Arbeitsmarkt zu fördern. „Des-
halb ist es auch unser Ansinnen, da keine Lücke
entstehen zu lassen“, sagt Wartumjan. „Wir bie-
ten jetzt ein kleineres Programm an, weil wir die
Interessenten, die immer wieder zu uns kommen,
nicht wegschicken, sondern beraten wollen. “
ASM-Geschäftsführerin Marion Wartumjan mit ihrem Mitarbeiter Matthias Kienzle. Der Soziologe berät Existenzgründer mit Migrationshintergrund.
30
Geschäft in Sicht
und sage: Das gibt euch auch eine gewisse Sicher-
heit. Wenn ihr eure Konzession habt, dann habt
ihr sie.“ Viele der Gründungswilligen sprächen
sehr gutes Deutsch, hätten aber mit dem Schrift-
deutsch noch Probleme. Sie täten sich deswegen
manchmal auch mit gedruckten Informationen
schwer. „Es ist vieles anderswo erhältlich, aber
sie kommen trotzdem gern zu uns, um es sich
erklären zu lassen“, sagt Kienzle. „Ich bin dann
ihr Lotse durch den Förderdschungel.“
Viele haben keinen Überblick über die Angebote.
In der Beratung bei Kienzle können die Grün-
dungsinteressenten, wenn sie Arbeitslosengeld
II erhalten, eher über Unterstützung durch Ver-
wandte und Bekannte reden als beim Jobcenter,
wenn sie sich das nötige Startkapital etwa über
einen Darlehensvertrag privat leihen wollen.
Manche vertrauen Kienzle auch an, dass sie hier
und da schon mal Taxi gefahren sind oder ein
paar Tage probeweise im Imbiss mitgearbeitet
haben, um herauszufinden, ob sie dafür taugen.
„Mir ist es manchmal lieber, jemand macht schon
mal was nebenbei und weiß, auf was er sich ein-
lässt, als dass er den ganzen Weg der Gründung
geht und dann merkt, das ist nichts für ihn.“
Hamburg hat ein relativ großes Netz an Angebo-
ten für angehende Unternehmer. Dabei ist zum
Beispiel die Hamburger Existenzgründungsini-
tiative (H.E.I.), ein Zusammenschluss verschie-
dener Organisationen, bei dem auch die Arbeits-
gemeinschaft der selbstständigen Migranten
aufgelistet ist. Dort kann man als Gründer unter
anderem Beratungsgutscheine für verschiedene
Angebote erhalten.
ASM-Geschäftsführerin Marion Wartumjan
merkt allerdings, dass viele der migrantischen
Gründungsinteressierten, die ihre Beratung auf-
suchen, keinen Überblick über die verschiedenen
Angebote haben. Sie hielte es deshalb für sinn-
voll, ein Lotsenprogramm zu fördern, das nach
einer Erstberatung Orientierung gibt über die
Angebote der Regelinstitutionen. Die ASM bemüht
sich darum. Sie verweist nach erster Vertrauens-
bildung auch auf Angebote der Handelskammer,
sofern sie für die jeweiligen Gründer infrage
kommen. „Wir beraten auch einmal im Monat in
nicht nur die bisweilen noch nicht ganz ausge-
gorene Gründungsidee, sondern oft auch die per-
sönliche Situation. Ansonsten stellt Matthias
Kienzle viele Fragen: Gibt es Facherfahrung,
Erfahrung als Selbstständige, wie sieht die Ge-
schäftsidee aus? „Manchmal rechnen wir auch
schon ein bisschen hoch, ganz grob“, sagt
Kienzle. Die Arbeitsgemeinschaft selbständiger
Migranten versucht, in mehreren Schritten zu-
nächst Vertrauen aufzubauen und dem Gründer
dann zu helfen, sich auf dem Markt zu orien-
tieren. Darauf folgt die konkretere Planung der
Gründung, Hilfe beim Businessplan etwa. In der
Startphase geht es um Bankgespräche, Mietpreis-
verhandlungen und die Gewerbeanmeldung. Ist
der Start geglückt, hilft Kienzle, Risiken bei der
Konsolidierung und beim Wachstum des Unter-
nehmens zu erkennen. Viele nutzen aber nur die
Erstberatung und gehen dann wieder ihrer Wege.
„Was viele Migranten abschreckt, ist der starke Formalismus, den wir haben.“
Kienzle muss eine Menge erklären über Regeln
und Rechtliches, Erwartungen und Prozeduren in
Deutschland. „Was viele Migranten abschreckt,
ist der starke Formalismus, den wir haben. Die
Rechtsgrundlage ist schön in Deutschland, aber
der Weg zur Gründung ist manchmal ein biss-
chen steinig“, sagt der Berater. „Ich versuche
dann den Brückenschlag zwischen den Kulturen
Bewunderung fürs Gründer-Gen: Berater Matthias Kienzle beobachtet, dass eine Existenzgründung in anderen Ländern einen höheren Stellenwert genießt.
31
Geschäft in Sicht
gen für berufliche Integration, an dem auch die
ASM teilnimmt. IQ steht für Integration durch
Qualifizierung. Das deutschlandweite Programm
wird vom Bundesarbeitsministerium und vom
Europäischen Sozialfonds gefördert. Einige Pro-
jekte laufen direkt bei der Handwerkskammer,
was nicht nur Kundinnen und Kunden, sondern
auch die Mitarbeiterschaft selbst sensibilisiert.
Beide Kammern arbeiten mit vielen Formaten
seit Ende 2015 mit der für Integration und Arbeit
zuständigen Behörde BASFI daran, geflüchtete
Menschen an die Unternehmen in Hamburg her-
anzuführen.
Die ASM versucht, migrantische Unternehmer
dazu zu bewegen, stärker in Kammergremien
mitzuarbeiten. Dass ihre Interessen manchmal
weniger verfolgt werden, hänge auch damit
zusammen, dass sie seltener in den Gremien der
Kammern und wirtschaftlichen Vereinigungen
sitzen und damit ihre eigenen Interessen weniger
gebündelt vertreten könnten. „Da kann auch
aus der Gruppe selbst mehr kommen“, sagt
Wartumjan. Meistens funktioniere die Mitarbeit
aber nur, wenn ein Unternehmer bereits positive
Erfahrungen in einem der Gremien gemacht hat,
die er weitergeben kann und somit andere er-
mutigt.
Wartumjan schätzt die strukturelle Anbindung an
die Kammer selbst hoch ein. Ein Vorteil, der der
den Räumen der Handelskammer, um die Men-
schen dorthin zu führen.“ Wartumjan macht
sich für eine Förderung stark, die nicht allein die
Gründungsberatung durch die ASM unterstützt,
sondern eine, die besonders die Brückenfunktion
stärkt, die ein solches Beratungsangebot bietet.
Bei der Beratung kommt es häufig mehr auf Vertrauen als auf Formalien an.
„Menschen, die nach Deutschland kommen,
stoßen auf ein komplett neues politisches, ge-
sellschaftliches und wirtschaftliches System“,
sagt Wartumjan. „Ich muss dieses System erst
einmal begriffen haben, deswegen brauche ich
für die Gründung einen gewissen Vorlauf, selbst
wenn ich Berufserfahrung im Bereich meiner
Gründungsidee habe.“ Beratung sei ein sehr
persönliches Geschäft, in dem es häufig mehr
auf Vertrauen als auf Formalien ankomme.
Wartumjan weiß, dass mit der Herkunft der
Mitarbeiter im Verein sich auch die Gruppe der
Ratsuchenden ändert. Arbeitet eine Afghanin
im Verein mit, kommen Afghanen. Ein Iraner
zieht iranische Kundschaft an. Was die ASM ist
und was das Team bietet, verbreitet sich nicht
über formale, sondern vor allem über informelle
Kanäle und über in Anspruch genommene Leis-
tungen.
Institutionen in Deutschland haben Wartumjans
Beobachtung nach noch einen langen Weg der
interkulturellen Öffnung vor sich. Sie sind seit
dem Industriezeitalter hoch standardisiert und
auch deshalb oft nicht in der Lage, auf wechselnde
Anforderungen flexibel zu reagieren. In der Mit-
arbeiterschaft ist die Bevölkerungsstruktur in
Deutschland oftmals noch zu wenig abgebildet.
Das betrifft auch die Handelskammer Hamburg.
Die unabhängige ASM dient als Verbindung zu
Unternehmern mit Einwanderungshintergrund,
die Kammer öffnet sich dadurch aber nicht un-
bedingt selbst. Auch das soll sich ändern. Im ver-
gangenen Jahr gründete die Kammer zusätzlich
die Abteilung „Migrantische Unternehmen“. Sie
soll helfen, diese Unternehmergruppe direkt an-
zusprechen. Die Handwerkskammer hat einen
anderen Weg eingeschlagen. Sie koordiniert etwa
das IQ Landesnetzwerk Hamburg - NOBI, ein
Projekt zur Verbesserung der Rahmenbedingun-
ASM-Geschäftsführerin Marion Wartumjan bespricht sich mit einer Kollegin im Hamburger Büro der Organisation.
32
Geschäft in Sicht
Handelskammer zu verdanken ist: Alle drei Monate
kommt dort ein Arbeitskreis Gründung zusammen.
In dem Gremium mit rund 30 Personen sitzen Ver-
treter der Start-up-Szene, aber auch Bankenver-
treter und Unternehmensberater. MarionWartumjan
wurde als Geschäftsführerin durch die Kammer
ebenfalls mit hineinberufen. „Das ermöglicht einen
besseren Zugang zu den im Arbeitskreis arbeitenden
Institutionen“, sagt sie. „Durch die gute Zusammen-
arbeit mit der Kammer ist auch die Akzeptanz un-
serer Arbeit größer.“ Das verändere den Status der
ASM. „Die Unterstützung von Gründern mit Migrati-
onshintergrund ist nicht zentrales Thema in diesem
Gremium“, sagt Wartumjan. „Deshalb versuche ich
es einzubringen, wenn es mir sinnvoll erscheint.“
Vielen hilft es, wenn jemand ihre Muttersprache versteht, während sie ihr Gründungsvorhaben schildern.
Die ASM hat 18 Mitarbeiter, davon haben nur vier
keine Einwanderungsgeschichte. Alle sind projekt-
bezogen angestellt, Gründungsberater Matthias
Kienzle arbeitet als Honorarkraft. Da der Verein viel
Wert auf Ausbildung legt, beschäftigt er auch selbst
eine Auszubildende. Die Anzahl von Frauen und
Männern hält sich in etwa die Waage. Zwölf ver-
schiedene Sprachen beherrschen die ASM-Mitar-
beiter, was besonders bei der Vertrauensbildung mit
neuen Gründungsinteressierten nützlich ist. Vielen
hilft es, wenn jemand ihre Muttersprache versteht,
während sie ihr Gründungsvorhaben schildern.
„Wir setzen das Personal nach sprachlichen und
interkulturellen Kompetenzen ein, nach fachlichen
Qualifikationen sowie beruflichen und persönlichen
Erfahrungen“, sagt Wartumjan. Dabei sind Ingeni-
eure ebenso wie Betriebswirtschaftler, eine Sozial-
pädagogin, ein Landwirt aus dem Iran oder ein
Afghane, der bis zu seiner Flucht in Wirtschafts-
administration ausgebildet wurde.
In der Regel werden Personal- und Infrastruktur-
kosten über die Förderung von Projekten finanziert.
Als gemeinnütziger Verein ist die ASM darüber hin-
aus auf Spenden und Mitgliedsbeiträge angewiesen.
Die Handelskammer zahlt der ASM für die Infra-
struktur eine jährliche Fördersumme, die ist aber ge-
ring, verglichen mit dem Finanzvolumen, das über
Breites Angebot: Rund 2.000 Gründer und Unternehmer hat die Arbeitsgemeinschaft selbstständiger Migranten seit ihrer Gründung 2007 beraten.
33
Geschäft in Sicht
nun sechs volle Stellen. Für Flüchtlinge ist es
wichtig, dass sie die Erstgespräche in ihrer Her-
kunftssprache führen können. Deswegen kommt
die sprachliche Kompetenz von ASM derzeit be-
sonders hier zur Geltung.
Die ASM arbeitet auch mit einem Projekt der
Stadt Hamburg zusammen, das Flüchtlingen den
Weg in den Arbeitsmarkt erleichtert. Einzelne
Geflüchtete sind in den vergangenen Monaten
direkt an die Gründungsberatung der ASM heran-
getreten. Vor allem Menschen mit Erfahrung als
Selbstständige wollen schnell an ihr früheres Ge-
schäft, etwa in Syrien, anschließen. Das lassen
aufenthaltsrechtliche Bestimmungen mitunter
nicht zu. Matthias Kienzle versucht die Betroffe-
nen dann anzuhalten, eine Gründung bereits im
Hintergrund etwa durch eine erste Marktanalyse
vorzubereiten. Sobald der Aufenthaltsstatus der
Betroffenen geklärt ist, können sie ohnehin alle
Regelangebote in Anspruch nehmen.
Vor allem Selbstständige wollen schnell an ihr früheres Geschäft, etwa in Syrien, anschließen.
Marion Wartumjan hält darüber hinaus nicht
viel davon, in der Gründungsberatung Sonder-
programme für Flüchtlinge aufzubauen. Das sei
in erster Linie eine politische Geste. Schließlich
gebe es bereits solch eine Infrastruktur: Bei
Organisationen wie der ASM mit ihren Erfahrun-
gen und ihrer Expertise seien Flüchtlinge, die
sich selbstständig machen wollen, besser aufge-
hoben. Sicher gebe es besondere Anforderungen,
eine Beratung in der jeweiligen Landessprache
etwa. Aber so etwas lasse sich in einem beste-
henden Förderprogramm schnell bewerkstelligen.
Wartumjan will, dass Zuwanderer in ihrem
Gründungsinteresse generell stärker unterstützt
werden. Und dazu gehörten auch solche, die
gerade erst in Deutschland angekommen sind.
Projekte umgesetzt wird. Von der Stadt Ham-
burg gibt es keine kontinuierliche infrastruktu-
relle Förderung. Etwaige Verhandlungen in diese
Richtung blieben bisher erfolglos. Die ASM hält
sich schon lange auf dem Markt, ohne ständige
Zuschüsse zu bekommen. Wartumjan kritisiert,
dass Träger in anderen Bereichen eher auf eine
ständige Förderung hoffen könnten. Wer etwa im
Kulturbetrieb eine „interkulturelle“ Idee auslobe,
erhalte schneller dauerhaft Zuspruch und Geld.
Andere freie Träger profitierten zudem von guten
Verbindungen zu einer der politischen Parteien.
Wer wie die ASM Integration an der Basis be-
treibe, habe es schwerer. Wartumjan hofft, dass
sich das ändert, wenn nun Flüchtlinge integriert
werden müssen.
„Wir holen Geld nach Hamburg.“
Besonders ärgert es Wartumjan, wenn sie Projekte
nicht kontinuierlich laufen lassen kann, obwohl
es ihrer Ansicht nach sinnvoll wäre. „Wir bemü-
hen uns seit Jahren, Geld auf der Bundesebene
zu akquirieren, und werden fast ausschließlich
über Bundesprojekte finanziert. Also, wir holen
Geld nach Hamburg“, sagt sie. Wenn sich aus
diesen Projekten gut laufende Ansätze entwickelt
hätten, bemühe sie sich, sie auch weiter zu finan-
zieren, wenn die Bundesförderung endet. „Das
bleibt aber immer unsere eigene Aufgabe. Da
würde ich mir schon wünschen, dass Akteure
stärker miteinander arbeiten und stärker ge-
meinsam nach Lösungen suchen, damit man
Dinge erhalten kann, die den Bedarf treffen.“
Neben der Gründungsberatung arbeitet die ASM
an weiteren Projekten. Sie berät unter anderem
kleine und mittelständische Unternehmen, wie
sie sich interkulturell öffnen können und wie
Zugewanderte helfen können, den Fachkräfte-
mangel zu bewältigen. Das derzeit größte Projekt
bei der ASM - die KAUSA-Servicestelle Hamburg
- sorgt dafür, dass Unternehmer mit Migrations-
hintergrund Ausbildungsplätze schaffen. Zu-
gleich sollen Jugendliche mit Einwanderungs-
geschichte ohne große Hürden einen solchen
Ausbildungsplatz finden. Gefördert wird das Pro-
jekt vom Bundesbildungsministerium und vom
Europäischen Sozialfonds. Es wurde im Februar
2016 erweitert und schließt jetzt auch Flücht-
linge ein. Deswegen gibt es dafür bei der ASM
34
Frau Dr. Kay, wie bewerten Sie die Gründungschancen für Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland? Gibt es spezifische Hürden für diese Gruppe?
Ich schätze die Gründungschancen für Menschen
mit Migrationshintergrund in Deutschland grund-
sätzlich als gut ein. Anders wäre es aus meiner
Sicht nicht zu erklären, dass Menschen mit Mig-
rationshintergrund seit vielen Jahren – relativ
gesehen – häufiger ein Unternehmen gründen
als Menschen ohne Migrationshintergrund. Al-
lerdings muss ich hinzufügen, dass diese höhere
Gründungsneigung auch noch andere Usachen
hat: die anhaltende Diskriminierung am Arbeits-
markt und im Falle der Bürger der ost- und mit-
teleuropäischen EU-Beitrittsländer von 2004
und 2007 die zunächst fehlende Arbeitnehmer-
freizügigkeit. Gleichwohl: Menschen mit Mig-
rationshintergrund bieten sich offensichtlich
grundsätzlich gute Möglichkeiten, sich selbst-
ständig zu machen.
Ob es spezifische Gründungshürden für sie gibt,
kann ich nicht ohne weiteres beantworten. Diese
Personengruppe ist äußerst heterogen, bringt
sehr unterschiedliche Gründungsvoraussetzungen
mit und ist infolgedessen mit unterschiedlichen
Hemmnissen und Hürden konfrontiert. Als ein
grundsätzliches Problem erachte ich nach wie
vor berufsständische Voraussetzungen der
Selbstständigkeit: Wer im zulassungspflichtigen
Handwerk gründen will, muss bestimmte Quali-
fikationen mitbringen: einen Meisterbrief, den
Abschluss bestimmter Hoch- und Fachschulen
oder die Gesellenprüfung plus eine mindestens
sechsjährige Berufserfahrung. Auch in einer
Vielzahl von freien Berufen werden an die Quali-
fikation der Gründerinnen und Gründer hohe
Anforderungen gestellt. Diese Regelungen er-
schweren denjenigen Menschen den Schritt in
die Selbstständigkeit, die ihre Berufsausbildung
oder ihr Studium nicht in Deutschland absol-
viert und Probleme mit der Anerkennung ihrer
Abschlüsse haben. Unsere Untersuchungser-
gebnisse deuten darauf hin, dass solche be-
rufsständische Regelungen vor allem zu einer
Verzögerung des Gründungsprozesses beitragen.
Oder sie veranlassen hoch qualifizierte Grün-
dungsinteressierte dazu, in Wirtschaftsbereiche
auszuweichen, in denen keine qualifikations-
bezogenen Hürden existieren.
Wie kann man die vorhandenen Instrumente zur Unterstützung von Migrantenunter-nehmen auf regionaler und kommunaler Ebene verbessern?
In Deutschland gibt es auf regionaler und kom-
munaler Ebene ein umfassendes Angebot an
Unterstützungsleistungen für Gründerinnen und
Gründung und NachfolgeVier Fragen an Dr. Rosemarie Kay, Expertin für Gründungsforschung und die Analyse des Unternehmenslebens-
zyklus, zu Hindernissen im Gründungsprozess für Migranten und zum Zusammenhang von Nachfolge und Zu-
wanderung. Frau Dr. Kay ist Stellvertretende Geschäftsführerin des Institutes für Mittelstandsforschung Bonn.
35
Gründung und Nachfolge
Gründer sowie für Unternehmerinnen und Un-
ternehmer. Dieses Angebot steht grundsätzlich
allen gleichermaßen offen. Allerdings zeigen
Befragungen immer wieder, dass dieses Angebot
wenig bekannt ist, auch und gerade bei Menschen
mit Migrationshintergrund. Insofern wären
regelmäßige, breitstreuende Informationskam-
pagnen hilfreich, die zugleich auf verschiedene
Zielgruppen zugeschnitten werden sollten –
inhaltlich und was den Kommunikationsweg
betrifft. Angesichts der großen Heterogenität der
Gruppe der Menschen mit Migrationshintergrund
halte ich es für schwierig, die Informations- und
Beratungsangebote auf deren spezifische Bedürf-
nisse zuzuschneiden. Als hilfreich würde ich es
jedoch ansehen, wenn die Berater und Beraterin-
nen dafür sensibilisiert wären, dass hier spezifi-
sche Bedürfnisse vorliegen können.
Wie beeinflusst die konkrete nationale Herkunft der Menschen das Gründungs- geschehen und den Erfolg ihrer Unter-nehmen?
In der Tat beobachten wir Unterschiede im Grün-
dungsverhalten, aber auch im Unternehmens-
erfolg in Abhängigkeit von der nationalen Her-
kunft. Das hat unter anderem etwas mit dem
Qualifikationsniveau und der Kultur der Selbst-
ständigkeit im Herkunftsland zu tun, in jüngerer
Vergangenheit aber auch mit der beschränkten
Arbeitnehmerfreizügigkeit der Bürger aus den
mittel- und osteuropäischen EU-Beitrittsländern
von 2004 und 2007. Letztere haben in den ver-
gangenen 10 Jahren das gewerbliche Gründungs-
geschehen stark geprägt. Um hier überhaupt er-
werbstätig sein zu können, hatten sie sich häufig
selbstständig gemacht, sehr oft im Baugewerbe.
In diesen Fällen wurde letztlich nur die eigene
Arbeitskraft vermarktet. Die mit diesen Tätig-
keiten zu erzielenden Einkünfte waren zumeist
geringer als die Einkünfte von Gründerinnen und
Gründen aus Deutschland oder dem übrigen Eu-
ropa. Überhaupt sind die Unterschiede zwischen
deutschen und ausländischen Gründerinnen und
Gründern zumeist eher gering, wenn die – zuge-
gebenermaßen große Gruppe der Gründerinnen
und Gründer aus den genannten EU-Beitritts-
ländern – nicht mitberücksichtigt wird.
Thema Nachfolge: Das IfM Bonn sagt, dass es für Unternehmen in den kommenden Jahren zunehmend schwierig wird, einen Nachfolger zu finden. Sind Menschen mit Migrationshintergrund hier ein Potenzial?
Ja, im Zuge des demographischen Wandels
erwarten wir eine zunehmende Anzahl
von Unternehmen, die vor der Nachfolgefrage
stehen. Gleichzeitig verringert sich das Potenzial
derjenigen, die sich für eine Übernahme inter-
essieren. Deswegen ist es wichtig, das Potenzial
der Übernahmeinteressierten zu erweitern. Dabei
richtet sich der Blick zum einen auf Frauen, zum
anderen aber auch auf Menschen mit Migrations-
hintergrund. Unklar ist, in welchem Ausmaß
letztere schon im Nachfolgegeschehen vertre-
ten sind. Hierzu liegen widersprüchliche Un-
tersuchungsergebnisse vor. Grundsätzlich ist es
jedoch so, dass die Übernahme eines Unterneh-
mens Menschen mit Migrationshintergrund im
Vergleich zur Neugründung eines Unternehmens
Vorteile bietet. Studien haben nämlich gezeigt,
dass Übernehmer geringeren formalen Qualifi-
kationsanforderungen genügen müssen als Neu-
gründer. Dies kommt Menschen mit Migrati-
onshintergrund entgegen, weil diese seltener als
Nicht-Migranten höhere formale Bildungsab-
schlüsse erworben haben oder wenn ihre im Aus-
land erworbenen Bildungsabschlüsse hierzulande
nicht anerkannt werden.
36
Gründen gegen alle WiderständeGründungsbüro des IQ-Landesnetzwerks Saarland
37
Gründen gegen alle Widerstände
machen können? „Aber ich wurde dann immer
unglücklicher“, sagt sie. Denn Hüte verkaufen,
und seien auch ein paar selbst hergestellte dabei,
das war nicht, was sie machen wollte. „Ich bin
in ein kreatives Loch gefallen und konnte nichts
mehr schaffen. Es war eine schwierige Zeit, bis
dann der Umbruch kam.“
Der Umbruch kam, als Simone Luley tat, was
jeder Berufsberater als ersten Tipp bereithält:
sich fragen, was man wirklich tun will. Und der
Umbruch kam, als Simone Luley sich Hilfe holte.
Wer sich im Saarland selbstständig machen will
und nicht recht weiß, wie, oder an Grenzen stößt
und wer dazu nicht aus Deutschland kommt oder
von Einwanderern abstammt, fragt am besten
Stefanie Valcic-Manstein. Die ist Gründungsbe-
raterin im IQ-Landesnetzwerk Saarland. IQ steht
für Integration durch Qualifizierung, ein bundes-
weites Förderprogramm, das Menschen mit Ein-
wanderungsgeschichte in Lohn und Brot oder
eben zum eigenen Unternehmen bringen will.
Valcic-Manstein stellt die richtigen Fragen, wenn
es noch hakt bei der Geschäftsidee, sie kennt die
Tücken, die in der deutschen Bürokratie wie im
Geschäftsleben lauern und sie hat womöglich
noch eine Idee, wenn die Bank keinen Gründungs-
kredit herausrücken will.
Dem Institut für Mittelstandsforschung (ifm) der Universität Mannheim zufolge haben 16 Prozent der Selbstständigen im Saarland einen Migrationshintergrund.
Migrantische Unternehmen bergen ein großes
Wirtschaftspotenzial. Dem Institut für Mittel-
standsforschung (ifm) der Universität Mannheim
zufolge haben 16 Prozent der Selbstständigen
im Saarland einen Migrationshintergrund. Bun-
Manchmal reicht schon der falsche Name, damit
alles schief läuft. Dabei hatte Simone Luley viel
darüber nachgedacht, wie ihr kleines Kunsthand-
werksgeschäft in der Saarbrücker Innenstadt
heißen sollte. Sie wollte in einem Wort ihre Be-
wunderung ausdrücken für die kleinen Schätze,
die sie zum Verkauf anbot, den Hut ziehen vor
denen, die sie geschaffen hatten. Und weil sie
Französin ist, tat sie das auf Französisch. Ihren
Laden nannte sie kurz „Chapeau!“.
Die Redewendung sei ja auch in Deutschland so
gebräuchlich, dass sie jeder verstehen müsste,
dachte sie sich, zumal im Saarland, gleich an
der Grenze zu Frankreich. Die Leute verstanden
„Chapeau“ auch, nur leider etwas zu wörtlich.
Anstatt neugierig auf die Kunst zu werden,
die Luley auf Kommission im Laden ausstellte,
fragten die Kunden nach tatsächlichen Hüten.
Wo Hut auf dem Ladenschild steht, müssten
wohl auch Hüte verkauft werden.
„Es war eine schwierige Zeit, bis dann der Umbruch kam.“
Nun kann Simone Luley sich nicht vorwerfen,
dass sie nicht flexibel genug auf ihre Kunden
reagierte. Als sich die Nachfrage nach Hüten
häufte, rief sie bei Hutmachern an und gab Be-
stellungen auf. „Alle haben mir den Ratschlag
gegeben, du musst das machen, was die Kun-
den wollen“, sagt sie. Und ein Hutgeschäft gab es
noch nicht in der Saarbrücker Innenstadt. Luley
besorgte sich Filz und fing selbst an, Hüte zu
kreieren. Kunst, Kunsthandwerk – das war ihre
Leidenschaft. Warum sollte sie nicht auch Hüte
Verkaufsschlager: Das „Backförmsche“ in den Umrissen des Saarlands hat Simone Luley selbst entwickelt.
38
Gründen gegen alle Widerstände
Gründungen aus der Uni heraus, kofinanziert
vom Europäischen Sozialfonds. Besonders ambi-
tionierten Kunden legt Valcic-Manstein in ihrer
Beratung nahe, sich darum zu bemühen. Ob sie
Migrationshintergrund haben oder nicht, im
Grunde müssten Gründer immer dieselben Fra-
gen beantworten können, sagt Georg Maringer,
Geschäftsführer des FITT: Wer ist mein Kunde
und was bringt ihn dazu, mir sein Geld zu geben?
Welche Kunden sie wollte, wusste die franzö-
sische Saarländerin Simone Luley schnell: „Ich
wollte junges Publikum“, sagt sie und wirft einen
Blick in ihren Laden. Wo sie einst die Werke
befreundeter Künstler zum Verkauf ausstellte,
liegen nun bunt verteilt Töpfchen mit Lebens-
mittelfarbe in den Regalfächern, daneben Back-
pinsel, Spritztüten, Siebe, Schablonen und
Schaber. Besonders stolz ist Luley auf das „Back-
förmsche“, eine Ausstechform, die die Umrisse
des Saarlands hat. Die hat sie sich selbst aus-
gedacht. Luley hat im vergangenen Jahr ihre
gesamten Ersparnisse hineingesteckt, um mit
der Plätzchenform für Lokalpatrioten noch recht-
zeitig zum Weihnachtsgeschäft in den Verkauf
gehen zu können. „Damit bin ich dann auf den
Weihnachtsmarkt gegangen“, sagt sie.
Und die Kunden kamen.
Auf der Suche nach einem neuen Konzept kam
Simone Luley ihr Hobby zugute. Sie backt gern,
am liebsten Cupcakes mit sahnigen Häubchen
und farbenfroher Verzierung. So kam sie auf die
Idee, ihr Können auch anderen zur Verfügung
zu stellen: Sie bot Cupcake-Backkurse an. Luley
richtete das kleine Gewölbe unter ihrem Laden
her und holte sich eine Genehmigung beim Ge-
sundheitsamt. Und die Kunden kamen. Nachdem
sie von Luley gelernt hatten, wie sie kunstvolle
Küchlein backen können, fragten sie sie auch
nach ihrem speziellen Zubehör. Luley forschte
nach und fand heraus, dass es bisher nur online
zu haben war. Also entschied sie, es in ihrem
Geschäft zu verkaufen. Auch ein neuer Name
war bald gefunden: „Zuckerwerk“. Der werde
niemanden mehr verwirren, hoffte Luley. Im Mai
2015 wagte die Unternehmerin den Neustart und
eröffnete ihr heutiges Geschäft. Und bisher läuft
es gut für ihr „Zuckerwerk“. Nur hin und wieder
kommt nun noch ein Kunde, der ihren Laden für
desweit wächst diese Sparte deutlich schneller
als die Zahl der Selbstständigen unter den Her-
kunftsdeutschen. Zwischen 2000 und 2015 ist
die Zahl der selbstständigen Migrantinnen und
Migranten in Deutschland um nahezu 70 Prozent
gestiegen, im Vergleich zu rund 15 Prozent Zu-
wachs bei Neugründungen deutscher Staats-
bürger ohne Migrationshintergrund. Gründungen
in höher qualifizierten Geschäftsbranchen
nehmen dabei zu. Diese Entwicklung will das
IQ-Netzwerk fördern.
Von Beginn an bietet das FITT auch eine Gründungsberatung an.
In Saarbrücken ist das IQ-Landesnetzwerk beim
FITT angesiedelt, dem Institut für Technologie-
transfer an der Hochschule für Technik und
Wirtschaft des Saarlandes. Das 1985 gegründete
Institut wurde 2002 zu einem gemeinnützigen
Unternehmen. Die Mitarbeiter unterstützen ge-
meinsam mit den Professoren der Fachhochschule
private Unternehmen, soziale Einrichtungen und
die öffentliche Hand mit wissenschaftlichem
Know-how. Von Beginn an bietet das FITT auch
eine Gründungsberatung an. Stefanie Valcic-
Manstein kümmert sich mit ihrem Kollegen Faruk
Sahin um Gründer mit Migrationshintergrund.
Die Nähe zur Fachhochschule bietet Vorteile.
Dort haben Gründer die Möglichkeit, sich für ein
Exist-Stipendium zu bewerben, ein Förderpro-
gramm des Bundeswirtschaftsministeriums für
Stefanie Valcic-Manstein ist Gründungsberaterin im IQ-Landesnetzwerk Saarland.
39
Gründen gegen alle Widerstände
„Wir müssen uns viel Zeit nehmen, um die Wege
zur Gründung zu erläutern“, sagt Valcic-Manstein.
Sie blickt vom Büro am Saarufer direkt aufs
Zentrum der Landeshauptstadt. „Jeder hat aus
dem Herkunftsland seine eigenen Vorstellungen
und Erfahrungen.“ Schon das Wissen, dass es
beim Amtsbesuch nicht nützt, sondern schadet,
wenn man dezent ein paar Geldscheine auf den
Tisch legt, könne sie nicht voraussetzen. So
große kulturelle Unterschiede und Verständnis-
probleme kennt die Französin Simone Luley
nicht. Aber auch sie ist froh, dass sie eine Grün-
dungsberatung gefunden hat, die auf die Bedürf-
nisse von Migranten zugeschnitten ist. „Es ist
einfach ein bisschen einfacher gestrickt“, sagt
sie. „Und ich spreche zwar perfekt Deutsch, aber
im Schriftlichen hapert es noch manchmal.“
Der Gang in die Selbstständigkeit könne den Gründern zur Anerkennung ihrer Fähigkeiten verhelfen, die ihnen ander-weitig verwehrt bleibe.
Das IQ-Förderprogramm versteht es als seine
Aufgabe, Migranten den Zugang zum Arbeits-
markt zu erleichtern, wo sie benachteiligt sind
und die üblichen Instrumente keine Chancen-
gleichheit gewährleisten. Ein solcher Zugang
zum Arbeitsmarkt ist die Selbstständigkeit. Wenn
Migranten ein Unternehmen gründen wollen,
sind sie häufig arbeitslos oder von Arbeitslosig-
keit bedroht und suchen eine Alternative zu
einem abhängigen Beschäftigungsverhältnis.
„Dort funktioniert die Selbstvermarktung offen-
sichtlich nicht, wenn es um abhängige Beschäf-
tigung geht“, sagt Wolfgang Vogt, Koordinator
des IQ-Netzwerks im Saarland. „Wenn Menschen
mit dem, was sie machen und wie sie auftreten,
überzeugend sind, dann haben sie auch Chancen
und sind nicht unbedingt auf die Wege, Rituale
und Auswahlkriterien angewiesen, die der Arbeits-
markt der abhängigen Beschäftigung mit sich
bringt.“ Der Gang in die Selbstständigkeit könne
den Gründern zur Anerkennung ihrer Fähigkeiten
verhelfen, die ihnen anderweitig verwehrt bleibe,
sagt Vogt. „Deshalb ist es für uns wichtig, diesen
Weg immer mit im Blick zu haben.“
Was Vogt und seine Kollegen beobachteten: Nicht
nur fühlen sich Gründer mit Migrationshinter-
grund häufig von Institutionen wie Kammern,
eine Konditorei hält und kein Backzubehör, son-
dern einen fertigen Kuchen kaufen will.
„Ich musste das ausschalten und einfach mal machen, um zu sehen, was die Reali-tät bietet.“
Luley wollte eigentlich gar nicht so blauäugig ins
Unternehmertum starten. Schon vor ihrer ersten
Gründung hatte sie sich Rat geholt. „Ich hatte ei-
nige Gründungsseminare besucht, aber da stehst
du einfach manchmal vor einem Berg und denkst,
da kommst du nicht rüber“, sagt Luley. Sie war
eher verunsichert durch die Fachsprache der Grün-
dungsberater – und trat die Flucht nach vorn an.
Genug Unternehmergeist immerhin hatte sie.
„Ich musste das ausschalten und einfach mal
machen, um zu sehen, was die Realität bietet.“
Als es holprig wurde, empfahl Luleys Steuerbe-
raterin ihr, Stefanie Valcic-Manstein um Hilfe zu
bitten. Die Personalentwicklerin kennt das Pro-
blem: Für viele Migranten seien herkömmliche
Beratungsangebote so abschreckend, dass sie gar
nicht erst hingingen. Schon eine etwas edlere
gläserne Bürofassade sei für viele Gründer eine
Hürde, dazu komme der förmliche Ton etwa von
Handels- und Handwerkskammern. Auch wer
ohne Probleme Deutsch spricht und hier bereits
gearbeitet hat, stehe bei der Gründung erst ein-
mal ratlos dar.
Georg Maringer, Geschäftsführer des Instituts für Technologietransfer an der Hochschule für Technik und Wirtschaft des Saarlandes (FITT)
40
Gründen gegen alle Widerstände
sich einige Gründungsintermediäre zusammen-
getan, um angehenden Unternehmern auf die
Beine zu helfen. Dazu zählen das Wirtschaftsmi-
nisterium des Saarlands und die Saarländische
Investitionskreditbank. „Und wir haben gesagt,
eigentlich muss das die Struktur sein, die wir in
die Lage versetzen müssen, am Ende auch ohne
uns diese Klientel mit bedienen zu können“, sagt
Vogt. Fortan machte sich Gründungslotse Faruk
Sahin daran, sich in der SOG zu vernetzen.
Wie kommen wir dahin, dass wir uns selbst überflüssig machen und die inter-kulturelle Öffnung der Einrichtungen fördern?
Die neue Beratung sprach sich herum. Wer mit
migrantischen Gründern nicht zurechtkam,
schickte sie zu Stefanie Valcic-Manstein und
Faruk Sahin. Allerdings wollen beide nicht auf
Dauer Lückenfüller sein. Wenn man es überspitzt
formuliert, sei die Gründungsberatung ein Ve-
hikel gewesen, sagt Koordinator Wolfgang Vogt.
„Selber die Beratung machen, selber die Fälle
kennen, um aus dieser Kenntnis heraus mit den
Akteuren überlegen zu können: Wie kommen wir
dahin, dass wir uns selbst überflüssig machen
und die interkulturelle Öffnung der Einrichtun-
gen fördern?“
Dabei ist die Unterstützung von Gründungen für
das IQ-Landesnetzwerk lediglich ein Neben-
geschäft. Vom Jahresbudget über zwei Millio-
nen Euro, finanziert vom Bund und dem Euro-
päischen Sozialfonds (ESF), entfallen lediglich
90.000 Euro auf die Gründungsförderung, die al-
lein mit Bundesmitteln bestritten wird. Dass die
Gründungsförderung eher auf kleiner Flamme
läuft, ist auch eine politische Maßgabe. Das IQ-
Netzwerk kooperiert mit der Agentur für Arbeit
und wird vom Bundesministerium für Arbeit und
Soziales finanziert. Dort werde eher darauf ge-
achtet, dass unmittelbar sozialversicherungs-
pflichtige Beschäftigung entsteht als ein neues
Unternehmen. „In der Arbeitsmarktpolitik wird
der Weg in die Gründung nicht als Hauptweg ge-
wählt“, sagt Vogt. „Es ist ein Seitenweg, aber es
ist ein Seitenweg, der auch für unsere Zielgruppe
durchaus interessant und gangbar ist.“ Grün-
dungsberatungen berichten übergreifend, dass
die Bundesregierung je nach Höhe der Arbeits-
Ämtern, Banken und Steuerberatern abgeschreckt.
Die Regeleinrichtungen wissen auch nicht mit die-
sen Gründern und ihren Bedürfnissen umzugehen.
„Also haben wir uns gefragt: Wo brauchen die
Gründungsintermediäre Unterstützung, damit
sie mit dieser besonderen Zielgruppe genauso gut
umgehen können wie mit allen anderen?“ sagt
Vogt. „Es war uns klar, dass das eine große Auf-
gabe ist, weil Gründungsförderung ihre eigene
Kultur entwickelt. Und die großen und etablierten
Einrichtungen zählen nicht gerade zu denen, die
besonders flexibel reagieren und sich schnell auf
neue Situationen einstellen können oder wollen.“
„Deswegen haben wir zu unserer Kernaufgabe die faktisch-praktische Gründungsberatung dazugenommen“
Den Gründungsberatern vom Saarufer war klar,
dass sie den großen Institutionen nur auf die
Sprünge helfen können, wenn sie das Geschäft
von Migrantenunternehmen und die Zusammen-
arbeit mit ihnen selbst verstehen. Und sie wuss-
ten: Nur so kommen sie an Banken, Kammern
und andere offizielle Stellen heran, die sie für
die eingewanderten Unternehmer sensibilisieren
wollten. „Deswegen haben wir zu unserer Kern-
aufgabe die faktisch-praktische Gründungsbera-
tung dazugenommen“, sagt Vogt.
Die IQ-Mitarbeiter schauten sich in der Gründer-
szene um und fanden die Saarland-Offensive für
Gründer, kurz SOG. In diesem Netzwerk haben
Wolfgang Vogt koordiniert das IQ-Netzwerk im Saarland und kritisiert, dass die Förderung von Gründern in Deutschland zurückgefahren werde.
41
Gründen gegen alle Widerstände
er dem Bankberater seinen Businessplan vor-
legte, schüttelte der den Kopf – und schickte ihn
zu Stefanie Valcic-Manstein vom IQ-Netzwerk.
„Risikokapital ist ein elementares Problem, wenn man nur ein paar tausend Euro braucht.“
Dort kennt man das Problem. Gerade für kleinere
Gründer ist es schwer, an das erforderliche Geld
für den Unternehmensstart zu kommen. „Risiko-
kapital ist ein elementares Problem, wenn man
nur ein paar tausend Euro braucht“, sagt IQ-Koor-
dinator Wolfgang Vogt. „Wir arbeiten hart daran,
es in diesem unteren Bereich, im Klein- und
Kleinstgründungsbereich zu vernünftigen Kondi-
tionen hier vor Ort akquirieren zu können. Damit
konfrontieren wir die Politik schon seit mehreren
Jahren.“ Das IQ-Netzwerk im Saarland richte sich
mit der Forderung nach besseren Finanzierungs-
instrumenten an die Landespolitik, die Position
werde aber auch bundesweit vertreten.
Als Suliman Khello beim IQ-Netzwerk aufschlug,
arbeitete sich Stefanie Valcic-Manstein durch
seinen Businessplan. Sie hat einen Fragenkata-
log entwickelt, um Pläne von Gründern auf ihre
Stichhaltigkeit zu prüfen. Khellos Geschäftsidee
überzeugte sie. Nun gingen sie gemeinsam zur
Bank. Und zur nächsten. Valcic-Manstein ver-
handelte, Khello schraubte seine Vorstellungen
auf 30.000 Euro herunter, dann auf 15.000. Aber
bei den Banken hieß es immer noch, ohne die
nötigen Sicherheiten sei leider nichts zu machen.
Suliman Khello hätte am liebsten wieder hin-
geschmissen angesichts so beständiger Zurück-
weisung. Aber dafür war es zu spät. Um nicht
nur herumzusitzen, hatte er bereits den Miet-
vertrag unterzeichnet und sich erstes Geld von
Verwandten gepumpt, um die gröbsten Reno-
vierungsarbeiten anzugehen. Also musste es
weitergehen. Aber mit dem Geld seiner Freunde
und Verwandten schuf er sich das nächste Prob-
lem. Denn als er sich nun wieder um einen Grün-
dungskredit bewarb, hieß es, der sei nicht dafür
da, um private Darlehen abzulösen.
Für Wolfgang Vogt ist es unverständlich, warum
schon Gründer mit einer konventionellen Idee
wie Khello so große Finanzierungsprobleme
haben. Noch schwieriger werde es, wenn ange-
losenzahlen den Gang in die Selbstständigkeit
stärker oder zurückhaltender fördere. In Zeiten
hoher Beschäftigung werde Gründung als Weg in
den Arbeitsmarkt eher vernachlässigt.
Die geringe Budgetierung habe eine Reihe negativer Folgen.
Vogt kritisiert, dass die Gründungsunterstützung
in der Bundesrepublik systematisch zurückge-
fahren worden sei. Das sei unter anderem die
Stoßrichtung der Sozialgesetzbücher II und III,
die die Grundsicherung von Arbeitslosen und die
Arbeitsförderung regeln. Das IQ-Netzwerk for-
dere beständig, die Beratung und anderweitige
Unterstützung von Gründern besser auszustatten
und Gründern damit eine größere Chance zu
geben. Die geringe Budgetierung habe eine Reihe
negativer Folgen. Kritisch sei vor allem, dass sie
das Problem von Gründern mit Migrationshinter-
grund verschärfe, an das nötige Kapital für den
Start ihres Geschäfts zu kommen.
Dieses Problem hat Suliman Khello in all seinen
Auswüchsen erfahren. Vor zwei Jahren hat der 32
Jahre alte Syrer seinen Friseursalon in der Saar-
brücker Innenstadt aufgemacht. Ein paar hundert
Meter nur sind es von hier zum Hauptbahnhof.
Die Haupteinkaufsmeile liegt eine Straße weiter,
eine gute Geschäftslage. Khello hatte schon in
Syrien den Friseurberuf erlernt, bevor er 2009
über eine Familienzusammenführung nach
Deutschland kam. Seine Frau lebte schon länger
hier. Khello nahm einen Job als Friseur an und
erarbeitete sich schnell eine eigene Stammkund-
schaft. Nur fragte er sich, wie er mit seinem Ge-
halt seine Familie ernähren sollte. So reifte der
Beschluss, einen eigenen Laden zu eröffnen.
Die passende Immobilie war schnell gefunden
und Suliman Khello war zuversichtlich, dass
seine Kunden ihm die Treue halten würden, wenn
er in seinen eigenen Laden wechselt. Dass er als
im Ausland ausgebildeter Friseur ohne Meister-
brief nicht einfach einen Salon eröffnen kann,
hatte er zähneknirschend akzeptiert. Um die
Handwerkskammer zufriedenzustellen, nahm er
eine Friseurmeisterin mit ins Boot, die für den
Salon verantwortlich zeichnen würde. Nun fehlte
nur noch das nötige Startkapital. 40.000 Euro
benötige er, hatte Khello ausgerechnet. Aber als
42
Gründen gegen alle Widerstände
nicht zu bedienen, weil sie – obwohl es Risiko-
kapital ist – wieder bankübliche Sicherheiten
fordern, was das ganze ad absurdum führt“, sagt
Vogt. „Oder aber sie sind so teuer, dass sie nicht
mehr attraktiv sind.“
„Wir sind hier fast die ganze Familie, ich, meine Schwester, meine Neffen und Nichten, wir machen das alles zusammen.“
Suliman Khello hat an diesem Nachmittag kaum
Zeit zu verschnaufen. Gleich kommt seine näch-
ste Kundin. Zuvor schaut er kurz seinem Neffen
über die Schulter, der einem Kunden den Nacken
rasiert, dann rückt er den Frisierstuhl daneben
zurecht und hechtet die drei Stufen hinauf in den
oberen Raum seines Salons, wo seine Schwester
gerade einer Kundin eine Hochsteckfrisur macht
– ihre Spezialität, Khellos Salon ist schon in ganz
Saarbrücken bekannt dafür. Einst in Syrien lernte
Khello bei seiner Schwester. Als sie vor zweiein-
halb Jahren vor dem Bürgerkrieg floh und auch
ins Saarland kam, konnte Khello ihr einen Job
geben. „Wir sind hier fast die ganze Familie, ich,
meine Schwester, meine Neffen und Nichten, wir
machen das alles zusammen“, sagt Khello. Am
Ende konnte er sich auch finanziell nur auf seine
Familie und auf Freunde stützen. „Jeder hat ge-
geben, was er konnte, ein-, zwei-, dreitausend
hende Unternehmer sich mit etwas ungewöhn-
licheren Geschäftsvorhaben bei den Banken
vorstellen. Viele von ihnen wenden sich auf der
Suche nach Hilfe ans IQ-Netzwerk. Und immer
wieder bekommen die Berater mit, dass Gründer
die Flinte schließlich ins Korn werfen. Ein Kame-
runer war dabei, der gebrauchte Reifen in seine
Heimat exportieren wollte. Die Bank sagte nein.
Oder ein türkisches Paar, das schon seit langen
Jahren in Deutschland angestellt arbeitete, wollte
sich den Traum erfüllen, einen orientalischen
Basar zu eröffnen. Aber der Kredit war so teuer,
dass die beiden das Vorhaben erst einmal auf die
lange Bank schoben.
Vogt findet gerade Geschäftsideen interessant,
die den deutschen mit dem jeweiligen Heimat-
markt des Gründers verbinden, weil diese nicht
nur hier, sondern auch dort ihre Wirtschafts-
kraft entfalten. Aber für die Finanzierung sei diese
Verknüpfung zweier Märkte durch Kleingründer
kaum möglich. „Für internationale Handelsbanken
sind das Peanuts, die gucken sich das gar nicht
erst an. Und kleinere Banken können so ein Ge-
schäft nicht einschätzen“, sagt Vogt. „Das sind
Strukturen, die im Endeffekt diskriminierend
sind.“ Es gebe daneben durchaus Förderpro-
gramme vom Bund und von der EU. „Wenn man
die aber dreimal umdreht, sind sie oft realistisch
Familienbande: Suliman Khello lernte das Friseurhandwerk in Syrien bei seiner Schwester. Heute beschäftigt er sie und andere Verwandte in seinem Salon in Saarbrücken.
43
Gründen gegen alle Widerstände
Vogt sieht die Chance, regionale Märkte über na-
tionale Grenzen hinweg zu verknüpfen. Grün-
der unter den Geflüchteten könnten auch ange-
stammte Branchen in Deutschland beleben. In
der Ausbildung werde kontrovers darüber disku-
tiert, junge Flüchtlinge in Ausbildungsberufe zu
bringen, die in Deutschland unterbelichtet seien.
Das sei auch für Gründer plausibel. „Ich werde
dort besonders erfolgreich sein, wo ich etwas
mache, was sonst niemand machen will“, sagt
Vogt. „Und Menschen, die selber gewandert sind,
die haben ja zumindest unter Beweis gestellt,
dass sie mobil sind, und zwar körperlich, phy-
sisch genauso wie psychisch, sozial und mental.
Und das passt ganz gut zu dem, was Wirtschaft
heute erfordert. Menschen, die mobil genug sind,
dorthin zu gehen, wo sie Chancen haben, die
werden Unternehmertum ändern.“
„Wenn alles gut läuft, mache ich in andert-halb Jahren mein zweites Geschäft auf.“
In den ersten Monaten nach der Gründung befie-
len auch Suliman Khello noch einmal leise Zwei-
fel an seiner Geschäftsidee. Die Kunden kamen
erst zögerlich in seinen Friseursalon, aber lang-
sam wurde es besser. Heute brummt der Laden.
An guten Tagen kommen bis zu 60 Kunden. Vor
einem Jahr seien es nur halb so viele gewesen.
„Wenn alles gut läuft, mache ich in anderthalb
Jahren mein zweites Geschäft auf“, sagt Khello.
Dass die Banken ihm einen Kredit verweigert
haben, hat er bis heute nicht recht verstanden.
„Aber jetzt brauche ich nichts mehr“, sagt er,
und zuckt mit den Schultern.
Nur Stefanie Valcic-Manstein wollte es nicht auf
sich beruhen lassen nach Khellos Geschäftserfolg.
Sie klapperte alle Banken ab, die ihn damals ab-
gewiesen hatten. Und sie forderte die Berater auf,
seinen Salon zu besuchen. Sie sollten sehen, wie
falsch sie damals lagen.
Euro, bis genug zusammen war. Als ich aufge-
macht habe, hatte ich nur 800 Euro in der Kasse.“
„Wir bräuchten mehr noch ein Umfeld, das eine gewisse Experimentierfreude und Risikobereitschaft honoriert.“
Für Khello war es ein Glück, dass er sich auf seine
Familie verlassen konnte. „Wäre ich allein ge-
wesen, hätte ich es nicht gemacht“, sagt er. Aber
aus Sicht des IQ-Gründungsbüros ist es äußerst
problematisch, dass viele Gründer mit Migrati-
onshintergrund bei der Finanzierung auf Familie
und Bekannte zurückgreifen müssen. „So be-
lasten sie ausgerechnet diejenigen, die sie am
Ende auffangen müssen, falls die Geschäftsidee
scheitert“, sagt Wolfgang Vogt. „Wir bräuchten
mehr noch ein Umfeld, das eine gewisse Experi-
mentierfreude und Risikobereitschaft honoriert.“
Dieses zu schaffen, sei eine Aufgabe der Politik
und der Gründungsintermediäre. „Das ist eine
Aufgabe für Kommunen, die können damit her-
vortreten“, sagt Vogt. Auch auf Landes- und
Bundesebene sowie in einzelnen Institutionen
müsse sich mehr bewegen. Das derzeitige Sicher-
heitsdenken resultiere aus der Krise und solle vor
allem große Institute vor dem Scheitern bewahren.
„Aber ein Sicherheitsdenken, das aus solchen
Bereichen kommt, auf die Kleinstunternehmen
zu übertragen, ist einfach Quatsch“, sagt Vogt.
Wolfgang Vogt ist überzeugt, dass die Politik die
Gründungsunterstützung noch einmal überden-
ken muss. Allein die Zahl der Geflüchteten, die
in diesem Jahr in den Sozialsystemen auftauchen
werde, sei ein Anstoß. Wenn darunter mehr oder
weniger gestandene Unternehmer sind, sei es zu-
dem fahrlässig, sie in geringfügigen Jobs unter-
zubringen. Dabei gehe es um die Anerkennung
dessen, was jemand an Qualifikationen mitbringt,
über die formale Anerkennung von Abschlüssen
hinaus. Das Gründungsbüro des IQ-Landesnetz-
werks erhält bereits erste Anfragen von Flücht-
lingen in den Aufnahmeeinrichtungen. Mit ersten
Flüchtlingshelfern arbeiten die Berater zusammen.
Gründung muss ein Weg sein, dieses Potenzial zu
erschließen, weil wir es nicht schaffen werden,
alles nur über sozialversicherungspflichtige Be-
schäftigung hinzukriegen“, sagt Wolfgang Vogt.
„Es würde auch den Menschen nicht gerecht
werden.“
44
Kurs halten!Der Lotsendienst für Migrantinnen und Migranten und das IQ-Landesnetzwerk in Brandenburg
45
Kurs halten!
fees auf den Tisch. Dann setzt er sich neben La-
rissa, legt den Arm um sie und sagt: „Meine Frau
hat einen großen Tatendrang.“
Zwei Monate später im Dezember lag der Umsatz bereits bei 20.000 Euro.
Hinter Larissa Maier hängen an der Wand verteilt
mehrere farbenprächtige, auf Holzrahmen gezo-
gene Leinwandbilder, eines mit einem Blumen-
strauß darauf, daneben ein aufgeschnittener Laib
Brot in Nahaufnahme, Weintrauben, ein Stilleben
aus aufgeschnittenem Obst. Diese Bilder sind seit
einigen Monaten das Geschäft von Larissa Maier.
Es gibt noch viele andere Motive, hunderte, das
Brandenburger Tor, Motorräder im Sonnenunter-
gang, halbnackte Frauen und Albert Einstein.
Im September 2015 gründete Larissa Maier ihr
Unternehmen Lara Art Studio. Über ihre Website
sowie über Plattformen wie Amazon und Ebay
bietet sie Leinwandbilder in verschiedenen
Größen an. Produziert werden sie hier in ihren
Gewerberäumen in Hennigsdorf bei Berlin. Die
ersten Wochen schlug das Geschäft nicht gerade
ein. Ganze 350 Euro setzte Maier im Oktober um.
Zwei Monate später, im Dezember, lag der Um-
satz bereits bei 20.000 Euro. Ein gewaltiger Er-
folg, aber Larissa Maiers Freude währte nur kurz.
Dann brach ihr die Buchhaltung über dem Kopf
zusammen. Sie brauchte Hilfe.
Larissa Maier ist kein Einzelfall. So paradox es
klingen mag, schneller wirtschaftlicher Erfolg
kann Unternehmensgründer ebenso in Bedräng-
nis bringen wie eine anhaltende Flaute. Arbeits-
stunden nehmen Überhand, Akquise muss weiter
betrieben werden; fortlaufende Rechnungen,
Mahnungen, womöglich Vertragsabschlüsse
stehen an, um Kunden zu binden. Oft müssen
„Mutti, die war immer schon kunstbegeistert.“
Alex Maier versucht das Ganze auf einen Satz
zu bringen. Den Wahnsinn der letzten Monate,
der ihn und seine Familie erfasst hat, für den sie
noch keine richtige Erklärung gefunden haben.
Den Erfolg, die sprunghaft gestiegenen Einnah-
men, die vielen Fragen, die jetzt auftauchen,
die Entscheidungen, die getroffen werden müs-
sen. Das hat alles zuerst einmal viel damit zu tun,
dass seine Mutti Kunst gut findet. Alex‘ Mutti ist
Larissa Maier und sitzt ihm gegenüber an einem
runden Küchentisch, auf dem eine mit kleinen
braunen Kaffeetassen bedruckte Tischdecke liegt.
Über dem Kühlschrank zwitschern Kanarienvögel.
Larissa Maier trägt ein schwarzes Kostüm mit
weißer Bluse. „Ich habe drei Kinder groß gezogen
und war lange zuhause“, sagt sie. „Und das wollte
ich nicht mehr, ich wollte endlich Menschen
treffen, meine Erfahrung und meine Fähigkeiten
einsetzen und mich nützlich machen.“
„Mutti sagt, dass Papa ein großes Organi-sationsvermögen hat und viele Ideen.“
Dann hält sie wieder inne, blickt durch ihre starke
eckige Brille hinüber zu ihrem Sohn und schiebt
ein paar Worte auf Russisch nach, die er über-
setzen soll. Sie findet ihr Deutsch zu schlecht,
um selbst noch mehr zu erklären. Alex hört eine
Weile zu und sagt dann: „Mutti sagt, dass Papa
ein großes Organisationsvermögen hat und viele
Ideen.“ Papa ist Vladislav Maier. Er hat ein kanti-
ges Gesicht, trägt ein etwas zu weites Wolljackett
für seine schmale Statur und hilft seiner Frau, wo
er kann. Er stellt eine Kanne tief schwarzen Kaf-
Ein Unternehmen für die Familie: Die russlanddeutsche Gründerin Larissa Maier mit ihrem Sohn Alex (M.) und ihrem Mann Vladislav.
46
Kurs halten!
es darum, bereits existierende Unternehmen zu
stabilisieren oder ihnen wieder auf die Füße zu
helfen.
Mit Charlotte Großes Hilfe hat sie die ersten Hürden gemeistert und kann nun schon über den Ausbau des Unter-nehmens nachdenken.
„Zum einen geht es um die Unternehmen, die
eine gute Perspektive haben und schnell wach-
sen“, sagt Charlotte Große. „Die gehen von null
auf hundert in ganz kurzer Zeit.“ Sie freut sich,
dass Larissa Maier mit ihren erfolgreichen Lein-
wandbildern frühzeitig Alarm geschlagen hat. So
konnte Große ihr mit einer Einzelberatung unter
die Arme greifen. Mit Großes Hilfe hat Maier die
ersten Hürden gemeistert und kann nun schon
über den Ausbau des Unternehmens nachden-
ken. Sie hat eine weitere Halle angemietet, die
die Maiers gerade mit gemeinsamer Kraft reno-
vieren. Hier wollen sie ein Fotostudio einrichten,
um selbst die Motive für ihre Leinwände zu kre-
ieren. Einer der größten Verkaufsschlager war
ein Plakat von David Bowie nach seinem Tod im
Januar. Seither achten die Maiers darauf, dass sie
immer die passenden Prominenten im Sortiment
haben. Leonardo di Caprio, als er seinen ersten
Oscar gewann, die Stars der Fußball-Europa-
meisterschaft. „Und Lemmy von Motörhead“, ruft
Larissa Maier. Ihr Mann Vladislav verhandelt mit
nun Mitarbeiter eingestellt werden, was Anmel-
dungen und Lohnbuchhaltung nach sich zieht.
Selbst wer sich vor der Gründung hat beraten
lassen, kommt nun häufig nicht mehr hinterher.
Derlei Probleme kann eine Gründungsberatung
zwar anreißen. Wenn sie aber auftauchen, ist
weitere Unterstützung nötig.
Wenn die Gründer weitere Unterstüt-zung brauchen, kommt IQ ins Spiel.
Wenn die betroffenen Gründer Glück haben,
kommt dann Charlotte Große ins Spiel. Die Sozio-
login kennt sich aus mit kleinen Unternehmen,
die ins Stocken geraten sind. Große arbeitet beim
BIUF e. V., Anfang der 1990er Jahre gegründet als
Brandenburgisches Institut für Umbildung und
Fortbildung. Große ist dort zuständig für „Qua-
lifizierung in Migrantenunternehmen“. Unter
dem Titel leitet sie ein Teilprojekt des Landes-
netzwerks IQ. Das Kürzel steht für Integration
durch Qualifizierung. Das deutschlandweite Pro-
gramm wird vom Bundesministerium für Arbeit
und Soziales sowie vom Europäischen Sozial-
fonds finanziert und soll Menschen mit Migrati-
onshintergrund in Deutschland den Zugang zum
Arbeitsmarkt erleichtern. Das Netzwerk bietet in
erster Linie Qualifizierungsmaßnahmen an, um
Leute fit zu machen für eine abhängige Beschäf-
tigung. Aber auch Selbstständigkeit wird unter-
stützt. Im Fall von Charlotte Große geht
Im Druckerraum des Lara Art Studios werden die Bilder umgehend auf Holzrahmen gezogen (linkes Bild). Larissa Maier präsentiert eines ihrer Erfolgsmotive, die Deutschlandfahne (mittleres Bild). Vor der Tür der alten Industriebaracke lagern Mitarbeiter neues Material (rechtes Bild).
47
Kurs halten!
tionell hoch ist die Anzahl der Selbstständigen
unter Vietnamesen, Türken und Russen. Gastro-
nomen und Einzelhändler machen zusammen
nur noch ein Drittel von ihnen aus, 2003 waren
es noch gut 70 Prozent. Die meisten sind Ein-
Personen-Unternehmen. Knapp 40 Prozent der
Unternehmer haben Angestellte.
Charlotte Große hat sich in ihrem Büro am Rand
der Potsdamer Innenstadt in einen Sessel fallen
lassen. Neben ihrem Schreibtisch steht ein Flip-
chart, darauf eine vollgeschriebene Tabelle. Am
Tag zuvor war eine ihrer Kundinnen da. Mit ihr
hat Große eine SWOT-Analyse erstellt. SWOT ist
ein englisches Akronym aus den Begriffen Stär-
ken, Schwächen, Chancen und Gefahren. Die
Analyse kommt eigentlich aus dem Militär und
soll, heute auch bei Unternehmen angewendet,
bei der strategischen Positionsbestimmung hel-
fen. Die betroffene Kundin ist auch so ein Fall,
der durch die Decke ging. Sie hatte als Putzkraft
in einer Gebäudereinigungsfirma gearbeitet.
Als die Unstimmigkeiten mit ihrem Vorarbeiter
immer größer wurde, entschied sie sich zu kün-
digen und erzählte einigen der angestammten
Privatkunden davon. Diese wollten sie gern wei-
terbeschäftigen. Da traf sie die Entscheidung,
sich selbstständig zu machen. „Der Laden hat gut
eingeschlagen, im ersten Monat hat sie schon 199
reine Arbeitsstunden gehabt – und da sind noch
keine Fahrzeiten dabei“, sagt Große. „Jetzt muss
sie jemanden einstellen und gleichzeitig weiter
Akquise betreiben.“
einem IT-Dienstleister, der als Teilhaber einstei-
gen will – damit Lara Art Kapital zum Wachsen
hat und die Website und die Verkaufssoftware
immer auf dem neusten Stand sind.
Besonders problematisch ist es, wenn Unter-
nehmer nicht rechtzeitig merken, dass Ärger auf
sie zukommt. „Sie brauchen einen offenen Um-
gang mit Turbulenzen und ein innerbetriebliches
Frühwarnsystem“, sagt Große. „Unsere größte
Schwierigkeit ist, dass die Leute oft erst kom-
men, wenn ihnen der Rock in Flammen steht.“
Dieses Problem betrifft häufig Unternehmer mit
Einwanderungsgeschichte. Rund jedes siebte
Unternehmen in Brandenburg wird von einem
ausländischen Staatsangehörigen gegründet. Das
Gewerbeamt berücksichtigt bei der Zählung nur
die Staatsangehörigkeit, nicht die Abstammung.
Würde man den Anteil deutscher Staatsangehö-
riger mit Einwanderungsgeschichte einbeziehen,
läge die Zahl von Gründern mit Migrationshinter-
grund also höher.
Die Zahl der Gewerbeanmeldungen von Ausländern in Brandenburg hat sich seit Ende der 1990er Jahre verdreifacht.
Die Zahl der Gewerbeanmeldungen von Aus-
ländern in Brandenburg hat sich seit Ende der
1990er Jahre verdreifacht. Im Moment führen
Polen die Statistik an. Auch die Zahlen bulgari-
scher und rumänischer Anmeldungen sind seit
dem EU-Beitritt der Länder angestiegen. Tradi-
48
Kurs halten!
verdanken. Die ist Gründungsberaterin beim Lot-
sendienst in Brandenburg. Das Land hat dafür ge-
sorgt, dass Beratung vor und nach der Gründung
ineinandergreifen. Das IQ Projekt „Qualifizierung
von Migrantenunternehmen“ von Charlotte Große
hilft Unternehmern seit 2013 nach der Gründung.
Der Lotsendienst für Migrantinnen und Migranten
von Julia Plotz kümmert sich um die Qualifizierung
vor der Gründung. Bereits im zwölften Jahr legen
das Arbeits- und das Wirtschaftsministerium in
Brandenburg diese Unterstützung für Gründer mit
Migrationsgeschichte auf. Der Europäische Sozial-
fonds und das Arbeitsministerium finanzieren das
Projekt. Rund 100 Gründungsinteressierte qualifi-
ziert der Lotsendienst jedes Jahr. Julia Plotz leitet
das Projekt und sorgt mit ihrer Kollegin dafür, dass
auch Gründungsinteressierte aus entfernteren
Ecken des Landes vom Angebot Gebrauch machen
können. „Im ersten Schritt führen wir ein Deve-
lopment Center durch, um festzustellen, welche
persönlichen Kompetenzen die Gründungswilligen
mitbringen und um die Tragfähigkeit der Ge-
schäftsidee einzuschätzen.“ Dieses Verfahren soll
die beiden Lotsinnen bei der Entscheidung unter-
stützen, wer ein individuelles Coaching von im
Schnitt 30 Stunden erhält. Denn gecoacht werden
diejenigen, die die besten Aussichten auf eine
tragfähige Existenz als Unternehmerinnen und
Unternehmer haben.
„In 99 Prozent der Fälle sind es Migranten der ersten Generation, die direkt zugewandert sind.“
Als Lehrerin und Betriebswirtin kennt Plotz sich
aus mit Marktanalysen und Rentabilitätsberech-
nungen. Im Vordergrund steht für sie aber die
Person. Sie will die jeweiligen Menschen und ihre
Motive kennenlernen, um deren Erfolgschancen
einzuschätzen. „Wir suchen uns die Menschen
nicht aus, die kommen zu uns, viele durch die
Jobcenter“, sagt Julia Plotz. „In 99 Prozent der
Fälle sind es Migranten der ersten Generation,
die direkt zugewandert sind.“ Durch kulturelle
Unterschiede und Sprachbarrieren seien sie be-
sonders auf Beratung angewiesen. Aber selbst
diese Gruppe sei sehr heterogen, Ethnien und
Kulturkreise unterschieden sich ebenso wie das
sprachliche Niveau und die Kompetenzen. „Bei
Migranten, deren Deutsch nicht perfekt ist und
deren Berufsabschüsse nicht anerkannt wurden,
„Zu uns kommen eigentlich die Kümmer-existenzen.“
Dies sind die Fälle, die Große besondere Freude
bereiten. Aber die sind nicht die Regel. Große
ist seit Jahren als Beraterin im Geschäft. Sie hat
sich angewöhnt, die Dinge beim Namen zu nen-
nen. „Zu uns kommen eigentlich die Kümmer-
existenzen“, sagt sie. Kleine Unternehmen, die
in Schieflage geraten und sich auch ein geförder-
tes Coaching bei der KfW wegen des Eigenanteils
nicht erlauben können. Ein paar Straßen weiter
in einer der Potsdamer Einkaufsstraßen unterhält
ein asiatisches Paar schon seit Wendezeiten ein
Gemischtwarengeschäft. „Die sind sehr auf sich
bezogen und bemerken dann zu spät, oh, die Welt
um meinen Laden verändert sich“, sagt Große.
„Links ein Bioladen, rechts ein teures Café und die
haben immer noch Waren in ihrem Fenster stehen,
die keiner mehr haben will.“ Auf Kundenschwund
reagierten sie traditionell mit Preissenkungen,
was kaum noch rentable Umsätze ermögliche.
„Sie sind die Billigheimer, so haben sie angefan-
gen und das war natürlich auch ihr Marktvorteil“,
sagt Große. „Das funktioniert aber nicht mehr,
zumindest nicht in Ecken wie Potsdam.“
Rund 100 Gründungsinteressierte berät der Lotsendienst jedes Jahr.
Dass die Not leidenden Unternehmer überhaupt bei
Charlotte Große landen, haben sie oft Julia Plotz zu
Wenn der Rock schon in Flammen steht: Charlotte Große hilft Unternehmern, die ihr Geschäft nicht mehr unter Kontrolle haben.
49
Kurs halten!
grundlegende Analyse unseres Unternehmens
gemacht und uns beim Thema Buchhaltung
weitergebracht“, sagt Larissa Maier.
Larissa Maier hat mittlerweile einen Mini-Jobber
eingestellt, der ihr die Holzrahmen zusammen-
zimmert und mit den Leinwandbildern bespannt.
Der steht im Druckerraum mit kräftigen, täto-
wierten Armen an einem großen Tisch in der
Mitte und tackert eine Leinwand am Rahmen
fest. Auch ein Praktikant arbeitet im Betrieb. Er
sitzt am Computer, wählt Motive aus und justiert
die Drucker. Maier ist mit ihrem Unternehmen
in einer Halle auf einem alten Industriehof in
Hennigsdorf untergekommen. Den Tipp hatte
sie von Freunden, die hier ebenfalls ein Geschäft
mit Fotodrucken betrieben. „Wir sind zwar Kon-
kurrenten, aber wir helfen uns trotzdem“, sagt
Maier. Ihr Sohn Alex ist jetzt 26 Jahre alt. Er ist
noch bis zum Jahresende bei der Bundeswehr ver-
pflichtet, dann will er in den Betrieb einsteigen.
„Ich mache jedes Business, bis es gute Resultate bringt – wie einen Sport.“
„Wir brauchen ein gutes Familien-Business, wir
haben auch noch zwei jüngere Söhne“, sagt Vater
Vladislav. Finanziell beteiligt ist Alex schon. Das
nötige Startkapital für die großen Drucker und
das erste Material bekam seine Mutter nur mit
seiner Hilfe zusammen. Alex hat für seine Mutter
einen größeren Kredit aufgenommen, Larissa
sind die Chancen auf dem Arbeitsmarkt gering,
eine adäquate Anstellung zu finden“, sagt Plotz.
Die meisten von ihnen wollten sich jedoch nicht
abschreiben und sehen in der Selbstständigkeit
eine gute Alternative, sich ins Erwerbsleben zu
integrieren.
Auch Vladislav Maier hat so angefangen, lange
bevor seine Frau daran dachte, einen Onlinehan-
del für Leinwanddrucke zu gründen. Die Maiers
sind Spätaussiedler aus Russland. Larissa Maier
kam im Jahr 2000 nach Deutschland, ihr Mann
zwei Jahre später. 2009 machte er sich als Haus-
meister selbstständig. Aus der Zeit kannte er
Julia Plotz schon. Wegen der Geschäftsgründung
seiner Frau Larissa trat er wieder mit Julia Plotz
in Kontakt. „Ich habe gesagt, Frau Plotz, ich bin
schon selbstständig, alles ok, ich habe einen
Arbeitsplatz, aber jetzt kommt meine Frau, das
ist eine andere Stufe, ein bisschen größer, ich bin
Hausmeister, das ist nicht so schwer wie Online-
handel. Frau Plotz, wir brauchen Ihre Hilfe“, er-
zählt Vladislav Maier. „Wir haben uns ungefähr
ein Jahr darauf vorbereitet, welche Maschinen
wir brauchen, welches Material wir brauchen,
wo es die beste Qualität gibt.“
„Viele sagen, sie wollen finanziell unabhängig sein, von Ämtern und allem, sie wollen ihr eigener Chef sein und sie wollen ein Vorbild sein für ihre Kinder. “
Julia Plotz kennt solche Anfragen und kann oft
erkennen, welche Motive dahinterstecken: „Viele
sagen, sie wollen finanziell unabhängig sein, von
Ämtern und allem, sie wollen ihr eigener Chef
sein und sie wollen ein Vorbild sein für ihre Kin-
der. Gefragt sein, gebraucht sein, das sind schon
die Hauptmotive.“ Ein Auskommen zu haben, sei
vielen näher als der Gedanke an unternehmeri-
schen Erfolg und Reichtum. „Es gibt viele, die
sind seit zehn Jahren hier, machen hier und dort
einen Ein-Euro-Job, die sagen sich, ich bin jetzt
52, mein Deutsch wird nicht mehr perfekt, meine
Kinder werden groß, was mache ich denn jetzt?“
Als die Maiers mit ihrer Geschäftsidee kamen,
half Julia Plotz beim Start. Sie unterstützte sie
beim Ausfüllen von Anträgen und bereitete sie
auf Besuche bei Behörden und Banken vor. Als
das Unternehmen dann lief, übergab sie die Be-
treuung an Charlotte Große. „Frau Große hat eine
Julia Plotz vom Brandenburger Lotsendienst setzt auf Zahlen und ihre Menschenkenntnis, wenn sie Existenzgründer berät.
50
Kurs halten!
stadt Potsdam und der Zukunftsagentur Bran-
denburg, einer Fördereinrichtung des Landes,
funktioniere gut. „Die unterschiedlichen Leis-
tungen laufen zusammen, weil die Leute, die an
den verschiedenen Stellen sitzen, ein gemein-
sames Ziel haben, sagt Große. „Das heißt nicht
Ruhm und Ehre für jede einzelne Person, sondern
zu gucken, wie die Dinge optimal organisiert sein
müssen, damit die Leute, für die wir zuständig
sind, die bestmögliche Unterstützung erhalten.“
Wie auch in anderen Bundesländern werden Regel-
einrichtungen wie die Kammern von Gründern
mit Migrationsgeschichte oftmals nicht in An-
spruch genommen. Für Charlotte Große hängt
das damit zusammen, dass zu ihnen kaum per-
sönlicher Kontakt bestehe. „Unsere migranti-
schen Kunden sind alle sehr beziehungsorientiert,
deswegen ist die Verknüpfung mit den Regelan-
geboten so extrem schwierig“, sagt sie. „Man
muss viel Zeit investieren. Ich muss mit den
Leuten in ein privates Gespräch kommen. Sie
müssen das Gefühl bekommen, die Person auf
der anderen Seite des Schreibtisches interessiert
sich für mein Leben und guckt nicht auf die Uhr.
Erst wenn die Beziehung geklärt ist, kann man
über Sachthemen reden.
Meier hat sich zusätzlich Geld von Freunden ge-
liehen. Und ein paar Tausend Euro kamen vom
Jobcenter dazu, einige Verwandte gaben auch
etwas. Larissa und Vladislav Maier hatten auch
in Russland schon eigene Firmen, einen Lebens-
mittelhandel und eine Baufirma. „Ich mache
jedes Business, bis es gute Resultate bringt – wie
einen Sport“, sagt Vladislav. „Aber Russland und
Deutschland sind unterschiedliche Länder und
das Business ist auch anders, die Gesetze zum
Beispiel.“
„Die Leute, die an den verschiedenen Stellen sitzen, haben ein gemeinsames Ziel.“
Wenn der Lotsendienst die Betreuung eines
Unternehmens wie das der Maiers an Charlotte
Große vom Netzwerk IQ übergeben will, läuft
das meist per Zuruf. Julia Plotz und Charlotte
Große sind regelmäßig in Kontakt. „Die Lot-
sendienst-Berater kennen ihre Leute und kön-
nen die einschätzen, da kommt dann eine Mail“,
sagt Charlotte Große. Dass die beiden Dienste so
gut verzahnt seien, liege vor allem daran, dass
sie und Julia Plotz sowie einige andere Akteure an
einem Strang ziehen. Auch die Zusammenarbeit
mit der Wirtschaftsförderung der Landeshaupt-
Zwischen Julia Plotz (l.) und Charlotte Große stimmt die Chemie. Sie arbeiten bei der Beratung von Gründern und Unternehmern eng zusammen.
51
Kurs halten!
Bei der Beratung von Flüchtlingen sei die An-
sprache besonders wichtig, sagt Plotz. „Schon
das Erstgespräch muss anders aufgebaut sein:
eine persönliche Ebene herstellen, sich Zeit für
die Menschen nehmen, Vertrauen bilden. Wir
fangen nicht gleich mit Umsatzzahlen an.“ Ohne
Einfühlungsvermögen und Empathie würde man
im Beratungsprozess scheitern.
Julia Plotz und Charlotte Große bedauern, dass
die Selbstständigkeit von Behörden und Institu-
tionen nicht als gleichberechtigter Weg ange-
sehen werde, Zugang zum Arbeitsmarkt zu er-
möglichen. Dabei sei die positive Wirkung von
Migrantenunternehmen gerade in Brandenburg
deutlich zu sehen. Viele gingen mit ihren kleinen
Firmen in wirtschaftliche Nischen, von denen
andere vorher gesagt hätten, sie lohnten sich
nicht. Zudem falle den Unternehmen eine soziale
Aufgabe zu: „Es gibt in Eberswalde eine Ände-
rungsschneiderei, die ist ein Treffpunkt für
Menschen, die sonst niemanden haben zum
Reden“, sagt Julia Plotz. „Gerade wo sonst alles
wegstirbt, sind diese Läden für ältere Leute eine
Anlaufstelle und für Neuankömmlinge eine
Schaltzentrale.“
„Wenn immer alle einer Meinung sind, gibt es keine Entwicklung mehr.“
In der Uckermark, wissen die Beraterinnen zu
berichten, gebe es nun sogar wieder niederge-
lassene Ärzte, die Hausbesuche machten – Ärzte
mit Migrationshintergrund. „Mit Hausbesuchen
kannst du kein Geld verdienen, dazu musst du
eine Haltung haben“, sagt Charlotte Große.
„Da geht es um das Verständnis davon, was ein
guter Hausarzt tut. Der muss auch über die
Hühner reden und ob sie Eier legen.“ Die Gesell-
schaft brauche die Unterschiedlichkeit, die ihre
Kunden mitbrächten. „Wenn immer alle einer
Meinung sind, gibt es keine Entwicklung mehr“,
sagt Große. „Irgendwer muss auch mal quer
bürsten.“
Es sei deswegen nicht ungewöhnlich, dass ein
Gründer, sobald er Vertrauen gefasst hat, sich
immer wieder an dieselben Personen wendet.
Viele hätten am liebsten eine umfassende Be-
treuung aus einer Hand. „Man kann nicht sagen,
für alles, was das Unternehmen betrifft, kommen
sie zu uns. Aber wenn sie zum Beispiel wissen
wollen, wie die Voraussetzungen für ein duales
Studium der Kinder sind, dann gehen sie mal wo-
anders hin – so funktioniert die Welt nicht, dann
haben wir sie sofort verloren“, sagt Große.
„Wir wollen keine Spirale der Entmündi-gung in Gang setzen, sodass sie dann wegen jeder Kleinigkeit zu uns kommen.“
Auch Charlotte Große und Julia Plotz können
ihren Kunden nicht alle Fragen beantworten.
Aber sie versuchen, sie immer wieder an andere
Stellen zu verweisen und diese auf ihr Kommen
vorzubereiten. „Es ist eine Gratwanderung, zwar
Unterstützung zu leisten, wo die Menschen wirk-
lich Hilfe benötigen, sie auf der anderen Seite
aber nicht in Abhängigkeit zu halten, indem man
ständig irgendwelche Dinge für sie tut“, sagt
Große. „Wir wollen keine Spirale der Entmündi-
gung in Gang setzen, sodass sie dann wegen
jeder Kleinigkeit zu uns kommen.“
In den letzten Monaten bekommt Julia Plotz zu-
nehmend Anfragen von Flüchtlingen. Sie werden
unter anderem von den Jobcentern und den Mig-
rationsberatungsstellen auf das Projekt aufmerk-
sam gemacht. „Sie versuchen auch aus eigener
Motivation heraus Informationen zu bekommen,
weil sie oft eine stärkere Neigung haben, sich
selbstständig zu machen“, sagt Plotz. Zwei an-
erkannte Asylbewerber aus Syrien haben bereits
mithilfe der Lotsendienst-Beratung gegründet.
Einer von ihnen will einen Großhandel betreiben,
was ohne Förderung schwierig ist. Und eben
diese bleibt vielen Geflüchteten aufgrund von
befristeten Aufenthaltstiteln versagt. Er versucht
es zunächst als Handelsvermittler. Der zweite
will kosmetische Produkte produzieren, weil er
damit in Syrien 20 Jahre Erfahrung hat. Ohne
Finanzierung ist auch das schwierig, deshalb
steigt er zunächst als Händler ein.
52
Städte im Wandel
sozio-ökonomischer Status, Bildung). Es ändern
sich auch die Zeitlichkeiten, nach denen eine
Stadt tickt. Transitäre Mobilität nimmt zu:
Menschen kommen für kürzere Zeiträume in
die Stadt, viele verharren in Warteschleifen.
Das zeigt sich insbesondere an den öffentlichen
Räumen, in denen sich die unterschiedlichsten
Stadtbewohner treffen. In unserer Forschung
interessieren wir uns daher für die Frage, wie
einerseits auf Migration ausgerichtete Ansätze
der Stadtentwicklung aussehen, und wie ande-
rerseits die in der Praxis schon vorhandenen
Aktivitäten migrantischer Akteure eingebunden
werden können. Eine Heterogenität bejahende
Stadtgesellschaft lässt sich an der Qualität ihrer
Museen, Büchereien und Erholungsangebote für
alle Bewohnergruppen erkennen. Je mehr sich
die Städte für ihre vielfältigen Bewohner öffnen
können, desto besser.
Viele deutsche Städte durchleben einen Strukturwandel. Welche Rolle spielen dabei Migrantenunternehmen?
Ich erinnere mich, dass erstmals Mitte der 1990er
Jahre internationale Konzepte zum „ethnischen
Unternehmertum“ diskutiert wurden. Der Struk-
turwandel spielt in diesem Selbstverständnis
eine wichtige Rolle. Mit der ihm zugrunde lie-
genden Deindustrialisierung wurden besonders
auch die Arbeitskräfte, die zuvor in die boomen-
den Industrien der 1960er angeworben wurden,
arbeitslos. Dies führte zum Beispiel zur Heraus-
bildung armutsgeprägter Quartiere. Immer mehr
Migranten machten sich angesichts der Krise auf
dem Arbeitsmarkt selbstständig. Anfangs war
dies wenig willkommen, die Behörden blockier-
ten bzw. waren nicht darauf vorbereitet, sich mit
den Unternehmern auszutauschen. Die Grün-
Frau Professor Hillmann, Sie forschen über Städte im Wandel. Was sind für Sie die wichtigsten Elemente einer Stadtgesellschaft, die Hetero-genität bejaht?
Städte leben davon, dass sie unfer-
tig sind. Das macht einen erheb-
lichen Teil ihres Reizes aus. Eben
jener Zustand der Unfertigkeit
bietet einer Vielzahl von Akteuren
Möglichkeiten, sich auszuprobie-
ren und Ideen umzusetzen. Dazu
braucht es ein tolerantes und vielfältiges Umfeld.
Heterogenität ist der eigentliche Kern von Ur-
banität. Das Neue, das dort entsteht, macht die
Städte interessant und zwar für die Stadtbewoh-
ner selbst und für Besucher. Der mit der Globa-
lisierung einsetzende Schub der urbanen Trans-
formation verändert die Städte in Europa schnell
und dies äußert sich unter anderem in einem
Mehr an Diversität. Die Erneuerung, die kein
historisches Vorbild hat, verläuft entlang ver-
schiedener Dimensionen. Ähnlich wie während
der Industrialisierung findet sie ihren Ausdruck
in städtebaulich-infrastrukturellen Maßnahmen.
Begleitet wird sie von einem Umbau des tragen-
den sozioökonomischen Gefüges und einem
Wandel der symbolisch-kulturellen Repräsen-
tation. Sie ist zudem markant von der Durchset-
zung neuer Migrations- und Mobilitätsmuster
geprägt. Die Regenerierung von Städten, d. h. der
Versuch, von planerischer Seite Einfluss auf die
Ausgestaltung des zunehmend fragmentierten
städtischen Zusammenlebens zu nehmen, setzt
bei diesen unterschiedlichen Dimensionen an.
Es ändert sich zum Beispiel nicht nur die Zusam-
mensetzung der Bevölkerung (Alter, Herkunft,
Vier Fragen an Prof. Dr. Felicitas Hillmann, Expertin für Stadtentwicklung und Migration, zur Rolle der Migranten-
unternehmen im städtischen Raum. Frau Professor Hillmann ist Abteilungsleiterin beim Leibniz-Institut für Raum-
bezogene Sozialforschung in Erkner (Brandenburg) und vertritt an der TU Berlin das Fachgebiet „Transformation
städtischer Räume im internationalen Kontext“.
53
Städte im Wandel
terogenität der Stadtgesellschaft lang-
sam. Deutschland betrieb in der ersten
Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Anti-Mi-
grationspolitik bzw. eine gezielte Exklu-
sionspolitik. Später wurde die Vorstel-
lung hochgehalten, dass eine bestimmte
Schwelle an Zuwanderung in den Stadt-
teilen besser nicht überschritten wer-
den sollte. Heute sprechen einige Wis-
senschaftler davon, dass wir in einer
postmigrantischen Gesellschaft leben bzw. von
„Neuen Deutschen“. Das ist abgeguckt bei der
Bewegung der New Americans. In einer Einwan-
derungsstadt wie New York gibt es keine Mehr-
heitsbevölkerung mehr, es gibt größere Tole-
ranz und gleichzeitig stärkere Segregation. Ich
sage diesen Menschen: Wir sind stark genug, die
Neuen kennenzulernen. Und: Wir äßen immer
noch Sauerkraut und Kartoffeln, gäbe es keine
Pizzerien. Auch das war mal ein Ideen-Import.
Was könnte getan werden, um den positiven Beitrag von Migrantenunternehmern in Deutschland besser sichtbar zu machen?
Migrantenunternehmen sind nur ein kleiner
Ausschnitt aus den stärker globalisierten Le-
benswelten. Wir werden uns noch auf viel mehr
einstellen müssen: auf ein Mehr an Menschen,
die an verschiedenen Orten zugleich leben, auf
weitere Geflüchtete, auf mehr migrantische Ar-
beitskräfte am Arbeitsmarkt. Deutschland wird
inzwischen international als Einwanderungs-
land gesehen, unsere Nachbarn werden mit Neu-
gier darauf schauen, was wir daraus machen.
Trotz aller Unkenrufe sind Stadtteile wie Kreuz-
berg und Neukölln immer wieder Impulsgeber für
gesamtstädtische Veränderungen gewesen. Mig-
rantische Unternehmer waren für die Planer und
Institutionen häufig Zugang zu den verschie-
denen Communities – das ist für die Stadt min-
destens so wichtig wie für deren wirtschaftli-
che Funktion. Migration bedeutet bestimmt nicht
immer Regenerierung, doch städtische Regene-
rierung ohne Migration ist angesichts der Glo-
balisierung eine Utopie. Wir sollten Verständ-
nis schaffen für die Komplexität von Migration,
indem wir uns klarmachen, dass Migration an
allen Ecken und Enden unserer Gesellschaft Ver-
änderungen provoziert.
der erhielten kaum Kredite – dies zeigen Studien
der Landesinvestitionsbank Berlin in den 2000er
Jahren. Heute gibt es in den großen deutschen
Städten eine starke Ausdifferenzierung, d. h. wir
sehen nicht nur Gemüsehändler oder Import-Ex-
port-Läden, sondern Unternehmer mit Migrati-
onshintergrund in allen Wirtschaftsbereichen. Es
wäre verkehrt, Migrantenunternehmen als Son-
derfall anzusehen: Sie bilden nur den Trend einer
zunehmenden Brüchigkeit der postindustriellen
städtischen Arbeitsmärkte besonders klar ab:
Flexibilisierung, weniger betriebliche Absiche-
rung und Individualisierung von Risiken. Die zu-
nehmende Solo-Selbstständigkeit ist ein Trend,
der typisch für eine ganze Generation Erwerbstä-
tiger ist. Erste vergleichende Untersuchungen zu
migrantischen und nicht-migrantischen Unter-
nehmern im Friseur- und Textilgewerbe zeigen,
wie wenig bedeutsam oft die Unterscheidung
zwischen migranten-geführten und nicht-mi-
granten-geführten Unternehmen ist. Hinzu
kommt, dass viele Migrantenunternehmen un-
sichtbar bleiben und doch fundamental wichtig
für das Funktionieren der Städte sind. Der demo-
graphische Wandel führt dazu, dass immer mehr
Menschen Pflegedienstleistungen brauchen. Die
Migrantinnen, die aus diesen Gründen zu uns
kommen, stabilisieren die Städte durch ihre Tä-
tigkeiten – auch sie spielen eine Rolle im Struk-
turwandel.
Manchen macht ein Stadtbild Angst, das sichtbar von Migrantenunternehmen geprägt wird. Was sagen Sie diesen Menschen?
Ich bin mir nicht sicher, ob das wirklich so ist.
Ich glaube, dass dieses Gefühl Ausdruck allge-
meiner Verunsicherung und Desorientierung ist.
Die Veränderungen in den Städten, die Verknap-
pung bezahlbaren Wohnraums, die Zunahme an
sozio-ökonomischer Spreizung zwischen denen,
die im System sind und denen, die herausfal-
len, das ist der Umbruch für sehr viele Menschen.
Die Hinzukommenden werden dann als bedroh-
lich eingestuft. Eine einfache Antwort auf kom-
plexe Fragen. Paradoxerweise gibt es dort, wo die
wenigsten Migranten sind, die größten Ängste.
In Deutschland, das sich auch dann noch poli-
tisch als Nicht-Einwanderungsland definierte,
als es de facto schon längst Einwanderungsland
war, verlief die Annäherung an eine gelebte He-
54
„Wenn du kämpfst, kriegst du Anerkennung“PhönixPreis – Münchens Wirtschaftspreis für Migrantenunternehmen
Getrocknete Aprikosen, Pistazien, Olivenöl –
Serdar Yildirim schreitet die Regale in seinem
Lagerhaus ab und zeigt auf die Waren, die sich
darin stapeln, meterhoch, meterweit. Er schiebt
den schweren transparenten Vorhang zum Kühl-
raum zur Seite. Dahinter wieder Regale, Schafs-
käse und Ayran, frisch aus der Türkei importiert.
Kaum vorstellbar, dass diese Waren vor 33 Jahren
noch zu einem halben Aufstand geführt haben in
der Großmarkthalle von München. 1983 machten
Serdar und sein Vater Mesut hier den ersten tür-
kischen Obst- und Gemüsestand auf, um vor allem
die türkischen Lebensmittelhändler der Umge-
bung zu versorgen. Die alteingesessenen deut-
schen Standinhaber pöbelten und rempelten,
wurden auch mal handgreiflich. Ein Türke in ihrer
Großmarkthalle, das war zu viel. „Da wurden wir
angefeindet und wegen jedem Mist haben sie den
Kontrolldienst gerufen, immer mussten wir
kämpfen“, sagt Yildirim. „Aber wenn du kämpfst,
kriegst du irgendwann auch Anerkennung.“
„Wir haben in dieser Gesellschaft immer noch gewisse Prototypen im Kopf, wenn wir von Migranten sprechen.“
Anerkennung, das ist, was vielen eingewanderten
Unternehmern auch heute noch fehlt, selbst wenn
sie wirtschaftlich Erfolg haben. Das sagt Kameran
Shwani. Er sitzt an seinem Schreibtisch im Refe-
rat für Arbeit und Wirtschaft der Stadt München
und hält einen schweren Klotz aus Plexiglas in
der Hand, das erste Exemplar des PhönixPreises
von 2010. Der Preis soll die Anerkennung brin-
gen, die die deutsche Gesellschaft vielen lange
verwehrt hat. Shwani ist sein Initiator. Jedes
zweite Gewerbe wird in München von Gründern
mit Migrationshintergrund angemeldet. Mig-
ranten führen hier knapp 30.000 Unternehmen
55
„Wenn du kämpfst, kriegst du Anerkennung“
mit rund 100.000 Arbeitsplätzen. Mit dem Phö-
nixPreis zeichnet die Stadt jedes Jahr fünf Unter-
nehmer aus, die eine Einwanderungsgeschichte
haben und sich durch ein besonders richtungs-
weisendes Geschäft hervortun, am besten gepaart
mit sozialem Engagement. Serdar Yildirim und
seine Micro Frucht Handels GmbH gehörten im
Herbst 2015 zu den Gewinnern. „Wir haben in
dieser Gesellschaft immer noch gewisse Proto-
typen im Kopf, wenn wir von Migranten sprechen“,
sagt Initiator Kameran Shwani. „Die wollen wir
mit dem PhönixPreis brechen.“
„Wir wissen, was wir können, da bedarf es keiner Huldigungen.“
Serdar Yildirim lehnt sich in seinem Schreib-
tischsessel zurück. An zwei Seiten hat sein Büro
in der Großmarkthalle Fensterscheiben über
die gesamte Breite, durch die er jederzeit sehen
kann, was im angrenzenden Lager passiert.
Yildirim blickt auf das Porträt seines Vaters, das
neben dem Wappen eines türkischen Fußball-
vereins an der Wand hängt. Mesut Yildirim trägt
darauf Seidenschal, Schnauzer und Schieber-
mütze und lächelt gewinnend. „Wir wissen, was
wir können, da bedarf es keiner Huldigungen“,
sagt Serdar Yildirim. „Aber natürlich freut man
sich, wenn man eine Anerkennung von der Stadt
München erhält.“ Dann wendet er den Blick ab
vom Porträt und schiebt hinterher: „Besonders
in einem erzchristlichen Land wie Bayern, wo die
Regierung ständig Politik gegen meine Lands-
leute macht.“
Als er hier vor 33 Jahren aufschlug, gab es Ärger: Serdar Yildirim in seinem Lagerhaus in der Großmarkthalle München
56
„Wenn du kämpfst, kriegst du Anerkennung“
Heute ist die Münchner Großmarkthalle ohne die Türken kaum noch denkbar.
Wenn du kämpfst, kriegst du irgendwann Aner-
kennung, so war es auch damals, Mitte der 1980er
Jahre, als Neulinge in der Großmarkthalle. Serdar
Yildirim und sein Vater betrieben ihren Markt-
stand trotz der feindlichen Stimmung der Stand-
nachbarn erhobenen Hauptes und arbeiteten
daran, ihr Geschäft zu verbessern. Sie begannen,
Obst mit einem Sattelschlepper aus der Türkei
bringen zu lassen. Das war neu damals und die
Konkurrenz staunte nicht schlecht, als die
Yildirims auf ihrem Stand frische Bergkirschen
aus der Osttürkei auftürmten. Die überstanden
den tagelangen Transport am besten. Auch Ge-
müse konnten sie nun oft frischer anbieten als
die Mitbewerber, Auberginen zum Beispiel Die
Yildirims kamen angesichts der hohen Nachfrage
gar nicht mehr hinterher. Die Ablehnung der
Konkurrenz wandelte sich in Achtung. „Irgend-
wann wurden wir beste Freunde mit denen, die
uns anfangs angefeindet hatten“, sagt Yildirim.
Heute ist die Münchner Großmarkthalle ohne die
Türken kaum noch denkbar.
Das Preisgeld des Münchner PhönixPreises
beträgt 5.000 Euro – und das müssen sich die
Gewinner auch noch teilen. Die Summe ist nicht
der Rede wert für Unternehmer wie Yildirim, der
mittlerweile zweistellige Millionenbeträge um-
setzt. Kameran Shwani schüttelt emsig den Kopf.
Ums Geld gehe es auch nicht, sagt er. Die Stadt
München zeichne sie aus, das sei wichtig. Der
zweite Bürgermeister Josef Schmid überreicht
den Preis im Alten Rathaus, Handelskammer und
Handwerkskammer sind dabei und zur feierlichen
Verleihung macht ein beachtlicher Teil der Mün-
chner Unternehmerszene, der Verwaltung und
der Politik seine Aufwartung. Die Preisträger, das
will Shwani vermitteln, werden in diesen Kreis
aufgenommen. Und ein bisschen Marketing be-
kämen sie damit obendrein frei Haus. Das könne
auch einem Millionenbetrieb nicht schaden.
„Die Gastarbeiter sind damals einer Gesellschaft begegnet, die nicht auf sie vorbereitet war.“
Kameran Shwani ist fasziniert vom Werdegang
der Yildirims, vom kleinen Einzelhandel zum
europaweiten Lebensmittellieferanten, der
mittlerweile in zweiter Generation geführt wird.
„Die Gastarbeiter sind damals einer Gesellschaft
begegnet, die nicht auf sie vorbereitet war“, sagt
Shwani. „Die mussten die Initiative ergreifen,
um ihre eigenen Landsleute zu versorgen.“ Die
Landsleute wollten auch in der deutschen Fremde
ihre Kultur und ihre Essgewohnheiten pflegen.
Das haben kreative Köpfe wie Yildirim senior
erkannt und entsprechend Waren angeboten.
Erste Dönerbuden, Pizzerien und Einzelhandels-
geschäfte entstanden. Wahrgenommen wurden
die ersten Betriebe von der Mehrheitsgesellschaft
kaum. „Das hat sich geändert, als die ersten
Migranten Tante-Emma-Läden übernahmen“,
sagt Shwani. „Aber als wirtschaftlicher Faktor
waren sie trotzdem noch nicht so präsent.“
Mesut Yildirim kam 1960 nach Deutschland. In
der Türkei hatte es einen Militärputsch gegeben
und der überzeugte Sozialdemokrat nutzte das
Arbeitskräftegesuch der Bundesrepublik. In Ro-
Ayran, Joghurt und Oliven: Serdar Yildirim richtet sein Angebot nach den Wünschen türkischer und anderer Einwanderer in Deutschland.
57
„Wenn du kämpfst, kriegst du Anerkennung“
senheim stieg er bei einem Zwischenstopp aus
dem Zug. Am Bahnsteig hatte er einen Mann in
Tracht und mit Gamsbart am Hut gesehen. Das
beeindruckte ihn so sehr, dass er ihn ansprach.
Der Mann war Papierfabrikant und gab Mesut
Yildirim seinen ersten Job. Zwölf Jahre später
eröffnete Yildirim sein Unternehmen Micro Frucht
und die Familie zog nach München. Es war noch
nicht so, dass migrantisches Unternehmertum
gefördert wurde. Im Gegenteil, Gastarbeiter durf-
ten kein Gewerbe aufbauen, das beschied ein
Stempel im Pass. Für die Gründung sprang ein
Steuerberater als Strohmann ein, der ins Handels-
register eingetragen wurde. „Der Steuerberater
hat damals so viel verdient, dass er ein Kasino
in Las Vegas gekauft hat“, sagt Serdar Yildirim
lachend und es ist nicht ganz klar, ob das eine
Legende oder Tatsache ist.
Serdar Yildirim stieg schon früh ins Unternehmen
ein. Sein Vater war herzkrank und die Mutter hielt
ihn an, zu helfen. Als Mesut Yildirim im Jahr 2000
starb, übernahm Serdar die Geschäfte. Nach den
goldenen 1980er Jahren musste Micro Frucht
einige Turbulenzen überstehen. Die Wiederver-
einigung sei nicht gut gewesen für die Umsätze,
sagt Serdar Yildirim. Zu viel Geld sei nach Ost-
deutschland geflossen und versandet. Auch der
Öffnung der EU kann er wenig abgewinnen.
Schließlich nahm sie den Yildirims die Sonder-
rolle, die sie sich als Händler erkämpft hatten.
„Die Zöllner waren für uns die Wächter“, sagt
Yildirim. Der Tod des Vaters war der nächste
große Dämpfer. Die Firma wurde zwischen den
Söhnen aufgeteilt. Serdar erhielt den Lebens-
mittelgroßhandel und den Firmennamen. Die
heutige europaweite Ausrichtung ist zu einem
großen Teil sein Werk.
Wie konnten Migranten ermächtigt werden, ihre Potenziale zu nutzen?
Kameran Shwani hatte lange darüber nachgedacht,
wie der Preis für die migrantischen Unternehmer
heißen sollte. Der Phönix aus der Asche schien
ihm irgendwann ein gutes Bild. Schließlich sei
für die Migranten die wichtigste Frage, wie sie
wieder aufstehen, wenn sie einmal von der Hei-
mat in die Ferne gezogen sind. Shwani hat die
Erfahrung selbst hinter sich. In jungen Jahren
kam der Kurde nach Deutschland, machte in
München sein Abitur und studierte. Er arbeitete
in der Entwicklungshilfe und als Journalist und
kam schließlich zu dem Schluss, dass die für
ihn wichtigste Entwicklungshilfe vor der Haus-
tür stattfand: Wie konnten Migranten ermächtigt
werden, ihre Potenziale zu nutzen? Von der Stadt
München bekam er 2007 den Auftrag, irgend-
etwas zu entwickeln, um mehr Kinder von Ein-
wanderern in Ausbildung zu bringen und Unter-
nehmen von Migranten zu stabilisieren. Denn
von denen schlitterten überproportional viele in
die Pleite. In München gab es schon einen „Tag
des ausländischen Unternehmers“, darauf wollte
Shwani aufbauen. In Australien entdeckte er den
Ethnic Business Award, einen Unternehmerpreis
für Einwanderer. Damit war die Idee für den
PhönixPreis geboren.
Die Wirtschaft sollte mitentscheiden, wer beim Migrantenwirtschaftspreis auf dem Podium steht.
Kameran Shwani musste zu Beginn viele Fragen
beantworten. In Politik und Wirtschaft waren
nicht alle gleich davon überzeugt gewesen, dass
dieser Preis sich tragen würde und unter den
Migrantenunternehmen genügend auszeich-
nungswürdige zu finden sein würden, vermutet
er. Viele Vorurteile herrschten noch in den Köp-
fen. Immerhin, sein damaliger Chef, der heutige
Münchner Oberbürgermeister Dieter Reiter, war
überzeugt von Shwanis Idee, die Unsichtbaren
Wieder aufstehen nach dem Verlust der Heimat: Kameran Shwani entwickelte den Münchner PhönixPreis für einge-wanderte Unternehmer.
58
„Wenn du kämpfst, kriegst du Anerkennung“
auf die Elektroinstallation? Kann man so mitma-
chen mit ein paar Hilfskräften. Der Großauftrag,
um 500 Wohnungen mit Glasfaserkabeln auszu-
statten? Hat sich ganz gut ergeben. Es ist nur zu
erahnen, welche Anstrengung dahinter steckt.
Vielleicht wird Buzinnik auch von seinem neue-
sten Vorhaben eines Tages so nonchalant be-
richten. Er steht kurz vor der Übernahme eines
anderen EDV-Betriebs. Der Besitzer will verkau-
fen und Buzinnik ist überzeugt, dass er in ein
sicheres Geschäft investiert. Das Unternehmen
betreut einige Baugenossenschaften. Buzinnik
würde Wartungsverträge mit über zehn Jahren
Laufzeit übernehmen. Die Firma besteht seit 30
Jahren und Buzinnik ist sich sicher, dass er seine
eigenen Wachstumspläne durch den Deal um
gute zehn Jahre abkürzen könnte. Er selbst hat
momentan einen Jahresumsatz von knapp unter
einer Million Euro. Das könnte bald mehr sein –
wenn er nur den benötigten Kredit bekommt. Im
Moment versucht Buzinnik es bei der KfW. Fünf
Millionen Euro müsste er investieren. Etwas
Kapital hat er angespart, aber das reicht nicht.
„Es ist natürlich angenehm, als Zugereister ausgezeichnet zu werden.“
Es ist nicht leicht, wenn man sich jeden Schritt
erkämpfen muss. Sein ganzes Unternehmen hat
Buzinnik aus selbst erwirtschafteten Erträgen
aufgebaut. Sein PhönixPreis – Buzinnik zählt zu
den Preisträgern des Jahres 2015 – ist auch Aner-
kennung dafür. „Es ist natürlich angenehm,
sichtbar zu machen. Der SPD-Politiker leitete vor
seinem heutigen Amt das Referat für Arbeit
und Wirtschaft. Der Münchner Stadtrat legte
großen Wert darauf, die Handels- und die Hand-
werkskammer mit ins Boot zu holen. Die Wirt-
schaft sollte mitentscheiden, wer bei dem Mig-
rantenwirtschaftspreis auf dem Podium steht.
Beim ersten Kontakt mit den Kammern musste
Kameran Shwani dann auch noch etwas Über-
zeugungsarbeit leisten. Schon als er in einem
früheren Projekt migrantische Unternehmen
für die duale Ausbildung gewinnen wollte, waren
einige Vertreter der Kammern nicht sicher, dass
zugewanderte Unternehmer in der Lage wären,
auszubilden.
Die Genugtuung für Kameran Shwani ist, dass
er mit seinen Preisträgern nach und nach jedes
dieser Vorurteile durch praktische Beispiele wi-
derlegen kann. Der IT-Unternehmer Alexander
Buzinnik ist so eines. Bereits drei Fachinforma-
tiker hat er ausgebildet und beschäftigt zwei von
ihnen. Ihm ist es am liebsten, wenn seine sieben
Mitarbeiter viel selbst entscheiden. In seiner Mac-
PC Werkstatt CVS e. K. zähle das Team, sagt er.
Hinter dem etwas sperrigen Namen verbirgt sich
eine rührige Computerwerkstatt, die Buzinnik
2002 in seinem Wohnzimmer gründete, während
er noch sein Abitur ablegte. Dann zog er in seinen
ausgebauten Keller. 2009 schließlich eröffnete er
seine Werkstatt am Rand der Münchner Innen-
stadt. 2007 hatte er sein Unternehmen um einen
Elektroinstallationsbetrieb erweitert. „Elektrik
ist im Vergleich mit der EDV ganz überschaubar“,
sagt Buzinnik.
Der hagere Mittdreißiger lehnt am Verkaufstre-
sen seines Ladengeschäfts. An der Wand neben
ihm hängt eingerahmt die PhönixPreis-Urkunde,
gut sichtbar für die Kunden. Hinter ihm schließt
ein schmaler, langer Raum an, die Werkstatt, voll-
gestellt mit Rechnern und Monitoren. Als er mit
seiner Firma hier einzog, unkten die Nachbarn,
der Laden werde sich wohl nicht lange halten.
Sie wussten nicht, dass Buzinnik schon Tausende
Kunden hatte und einen beachtlichen Stamm an
Firmen, für deren EDV-Wartung er verantwort-
lich war. Die Laufkundschaft im Geschäft macht
heute 20 bis 30 Prozent seines Umsatzes aus. Wenn
Buzinnik erzählt, klingt es so, als habe sich vieles
gefügt in seinem Unternehmen. Die Erweiterung
Jeden Schritt erkämpft: Der IT-Unternehmer Alexander Buzinnik gründete sein Unternehmen einst im Wohnzimmer.
59
„Wenn du kämpfst, kriegst du Anerkennung“
Vertreter der örtlichen Sparkasse dazu und lässt
ihn refe-rieren, wie man heute an einen Kredit
kommt – oder wie nicht. Auch das europäische
Projekt DELI betreut er. Das englische Akronym
steht für die Förderung von Diversität und Integ-
ration. Das Programm soll dazu führen, dass
Migrantenunternehmen europaweit besser bei
der Auftragsvergabe berücksichtigt werden und
sich dauerhaft am Markt etablieren können.
Mit vielen ist die Verbindung so gut, dass er sie einbinden kann in sein weiteres Programm.
Shwani bleibt mit den Preisträgern so gut es geht
in Kontakt. Er will hören, wie die Resonanz war
auf die Auszeichnung. Aber wichtiger noch: Mit
vielen ist die Verbindung so gut, dass er sie ein-
binden kann in sein weiteres Programm. Er bittet
sie vorbeizukommen und zu referieren über Mar-
keting, Steuern oder was Gründer noch so unter
den Nägeln brennen könnte. Kürzlich hatte er
eine iranischstämmige Preisträgerin zu einem
Vortrag gebeten. Oft lädt er auch Flüchtlinge zu
den Veranstaltungen ein. Als die Preisträgerin
nun von ihrer Eventmanagementfirma berichtete
und erwähnte, dass sie selbst einmal als Flücht-
ling nach Deutschland gekommen sei, konnte
sie sich danach vor Praktikumsbewerbungen
kaum retten. Sie habe sich später noch einmal
bei Shwani gemeldet, berichtet er zufrieden. Sie
wollte ihm sagen, dass sie sich nun stärker enga-
gieren werde.
als Zugereister ausgezeichnet zu werden“, sagt
Buzinnik. 1994 kam er mit seinen Eltern aus
Odessa nach München, da war er 13 Jahre alt.
Er ging zur Hauptschule, zur Realschule, war
zunächst aufs Sozialamt angewiesen, landete
auf der Straße, finanzierte sich dann selbst das
Gymnasium. „Wenn man in Deutschland einen
nicht Deutsch klingenden Namen hat, hat man
schon Probleme, bestimmte Bergspitzen zu er-
klimmen“, sagt Buzinnik. „Nichtsdestotrotz ist
es eine Frage des Geschicks und der Einstellung.“
Kameran Shwani hat seine helle Freude daran, wenn es so läuft wie bei Buzinnik. Dann funktioniert der PhönixPreis ganz im Sinne des Erfinders.
So ein Preis sei nur etwas wert, wenn man etwas
mit ihm anzufangen weiß, sagt Buzinnik. Und
wahrscheinlich wäre sein bisheriger Werdegang
nicht so verlaufen, wenn der Unternehmer nicht
auch von der PhönixPreis-Verleihung mit den
nächsten angebahnten Geschäften nach Hause
gekommen wäre. Mit einem anderen Preisträger,
der Softwarefirma Quality Minds, hat er eine Zu-
sammenarbeit vereinbart. Auch ein polnischer
Trockenbauunternehmer habe ihn angesprochen.
Der habe immer angemeldete Hilfsarbeiter zur
Hand, falls Buzinnik sie einmal benötigen sollte.
Kameran Shwani hat seine helle Freude daran,
wenn es so läuft wie bei Buzinnik. Dann funk-
tioniert der PhönixPreis ganz im Sinne des Er-
finders. „Die Preisverleihung dauert anderthalb
Stunden, danach sind wir aber noch zwei bis drei
Stunden zusammen“, sagt Shwani. „Alle Ethnien
sind vertreten und die gemeinsame Sprache ist
Deutsch, es ist eine Kontaktbörse.“ Ohnehin
steht der Preis nicht allein, sondern soll als eine
Art Plattform dienen für eine Reihe an Angeboten
für Unternehmer mit Einwanderungsgeschichte,
die Shwani koordiniert.
Kameran Shwani ist im Münchener Wirtschafts-
referat zuständig für die „Kompetenzentwick-
lung in Unternehmen und Migrantenökonomie“.
Er arbeitet mit Kollegen vom Münchner Existenz-
büro zusammen, die Gründer vor dem Gang in
die Selbstständigkeit beraten. Ebenso kümmert
er sich um die Qualifizierung von Unternehmen.
Regelmäßig lädt Shwani Gründer und Unterneh-
mer zu Vorträgen ein, bittet zum Beispiel einen
Stolzer Arbeitgeber: In seiner Computerwerkstatt beschäftigt Alexander Buzinnik heute IT-Experten, die er selbst ausgebildet hat.
60
Gute Partner und richtige AnspracheDas Projekt Migrantinnen und Migranten als Unternehmer. Ökonomische Vielfalt in Lippe
die Suche nach Kooperationspartnern gemacht.
So haben wir zunächst die beiden wissenschaft-
lichen Partner an Bord geholt, die Katholische
Hochschule NRW für die sozialwissenschaftliche
Begleitung und den Bereich Medienproduktion
der Hochschule Ostwestfalen-Lippe. Ihre Auf-
gabe war es, Filme über Unternehmer in Lippe
zu drehen. Nachdem wir hörten, welche Kosten
da auf uns zukommen, war uns auch klar, dass
wir das Budget nicht alleine stemmen können.
Deshalb waren wir sehr froh, dass die Stiftung
Standortsicherung des Kreises Lippe das Projekt
so gut fand, dass sie es finanziell gefördert hat.
Der Kreis Lippe im Nordosten des Landes Nordrhein-Westfalen ist durch seine mittelständische Wirtschaft
geprägt. Auch Zuwanderung hat es in den zurückliegenden Jahrzehnten gegeben. Jeder fünfte der knapp 350.000
Einwohnerinnen und Einwohner des Kreises ist ein Mensch mit Migrationshintergrund. Im Jahr 2015 haben sich
auf Anregung des Kommunalen Integrationszentrums unterschiedliche Akteure aus Verwaltung, Wirtschaft und
Wissenschaft zusammengefunden, um in einem gemeinsamen Projekt die Erfahrungen von Migrantenunterneh-
mern im Kreis zu erforschen und für den Leistungsbeitrag dieser Unternehmer zu werben. Wir sprachen darüber
mit dem Projektleiter und Mitarbeiter des Kommunalen Integrationszentrums, Armin Schauf, und mit einem der
wissenschaftlichen Projektpartner, Prof. Dr. Marc Breuer, Soziologe an der Katholischen Hochschule Nordrhein-
Westfalen, Abteilung Paderborn.
Marc Breuer Armin Schauf
Herr Schauf, Sie arbeiten für das Kommunale Integrationszentrum des Kreises Lippe, wie kam es zu dem Projekt „Lippe verbindet“?
Armin Schauf: Das Thema Zuwanderung wird
vielfach mit Blick auf Defizite diskutiert. Als
wir als Kommunales Integrationszentrum an
den Start gingen, haben wir uns gefragt, wie wir
einen positiven und zugleich auch informativen
Zugang zu diesem Thema finden können. Und
so kamen wir auf die Idee, Unternehmer mit Mi-
grationshintergrund zu porträtieren und ihren
Beitrag in der Öffentlichkeit darzustellen. Wir
haben eine Projektskizze aufgesetzt und uns auf
61
Gute Partner und richtige Ansprache
aus unterschiedlichen Lebenslagen heraus
Teilhabe realisieren. Damit beschäftigen
wir uns auch bezogen auf Migrantinnen
und Migranten. Das Anliegen von Herrn
Schauf ergänzte sich damit sehr gut. Mit
der Tätigkeit von Migranten als Unter-
nehmer verbinden sich für uns zentrale
Forschungsfragen, weil es um spezifische
Formen der Teilhabe und Integration
geht. Für mich stellt sich zudem die Frage,
welche Rolle migrantische Gemeinschaften und
Netzwerke für die unternehmerische Tätigkeit
spielen.
Was haben Sie dann konkret gemacht?
Marc Breuer: Eine Mitarbeiterin führte sieben
qualitative Interviews mit Unternehmerinnen
und Unternehmern, 15 weitere Interviews wur-
den von Studierenden im Rahmen eines Lehr-
forschungsprojektes übernommen. Die leitende
Frage war: Welche Erfahrungen machen Migran-
tinnen und Migranten als Unternehmer in ihrer
Selbstständigkeit? Auf welche Ressourcen greifen
sie zurück, welche Schwierigkeiten gibt es, wel-
che Unterstützungsbedarfe werden gegebenen-
falls deutlich und wie nehmen sie sich selbst in
der Rolle als Unternehmer wahr? Um das Projekt
handhabbar zu machen und um die Vergleich-
barkeit der Interviews sicherzustellen, konzent-
rierten wir uns weitgehend auf zwei Gruppen, auf
Unternehmer mit russlanddeutschem und mit
türkischem Migrationshintergrund.
Welche Ergebnisse hätten Sie in dieser Art nicht erwartet?
Marc Breuer: Die Auswertung ist noch nicht ganz
abgeschlossen, aber manche Dinge lassen sich
bereits erkennen. Es gibt einige Besonderheiten,
in denen sich unsere Befragten von einheimischen
Unternehmern unterscheiden. Das ist etwa die
Form, wie die Unternehmer ihre Identität be-
schreiben. Was wir in allen Interviews gefunden
haben, bezeichnen wir sozialwissenschaftlich
mit dem Begriff der „hybriden Identität“. Uns
begegnen immer wieder Muster wie dieses: Je-
mand sagt von sich, ich bin Deutscher, aber ich
bin gleichzeitig auch Russlanddeutscher. Oder er
betont die Bedeutung von Erfahrungen aus Russ-
land für seine Arbeit, etwa für den Zugang zu
Herr Schauf, die lokale Wirtschaftsförderung war auch mit von der Partie. Was hat die zu dem Thema gebracht?
Armin Schauf: Als wir die Kollegen der Wirt-
schaftsförderung gefragt haben, ob das Thema
interessant für sie sein könnte, konnte man es
klickern hören: „Oh ja, das ist eine spannende
Geschichte, damit haben wir uns noch nie be-
schäftigt.“ Gleichzeitig waren sie sehr an den
Ergebnissen interessiert. Es gab ja noch gar keine
Erkenntnisse darüber, was Migrantenunter-
nehmer für Lippe bedeuten. Ähnlich sah das die
Stiftung Standortsicherung. Die Stiftung macht
sonst relativ viele Projekte im Bereich Kultur,
um Lippe als Wirtschaftsstandort und auch für
Fachkräfte attraktiver zu machen. Auch aus die-
ser Perspektive heraus war das Thema spannend,
denn für die Standortsicherung ist die Frage nach
Potenzialen, zum Beispiel im Bereich der Aus-
bildung und der Wachstumsdynamik allgemein
höchst relevant. So haben die Perspektive der
Integration und die der Wirtschaft in diesem
Thema perfekt zusammengefunden.
Das Projekt hatte zwei Bausteine: wissen-schaftliche Analyse zum einen und Sensi-bilisierungskampagne zum anderen. Die wissenschaftliche Seite haben Sie, Herr Breuer, vertreten. Was haben Sie gedacht, als Herr Schauf bei Ihnen an die Tür klopfte und was hat Sie dazu gebracht, zu sagen – ja, da können wir als Katholische Hochschule NRW mitmachen?
Marc Breuer: Einer der Forschungsschwerpunkte
unserer Hochschule gilt der Frage, wie Menschen
62
ständiger Gastronom und hat seit einigen Jah-
ren offenbar guten Erfolg. Wieder andere sagen:
Meine Eltern hatten schon ein Unternehmen,
einen Lebensmittelhandel. Ich führe das weiter,
in einem anderen Land, aber ich setze diese Rolle
fort. Wir finden auch manche, die Wert darauf
legen, ihr eigener Chef zu sein. Es gibt also ganz
unterschiedliche Hintergründe, nicht anders wie
als einheimischen Unternehmern.
Herr Schauf, neben der wissenschaftlichen Arbeit von Herrn Breuer mit seinem Team sind im Rahmen des Projekts auch eine Broschüre mit Porträts von Unternehme-rinnen und Unternehmern sowie fünf Imagefilme entstanden. Ist es Ihnen dadurch gelungen, Menschen in Lippe zu erreichen und zu verdeutlichen, dass Migrantenunter-nehmer ein bereichernder Bestandteil von Wirtschaft und Gesellschaft in Lippe sind?
Armin Schauf: Ich würde sagen, das ist uns ge-
lungen. Das öffentliche Interesse war sehr groß.
Medien sind sehr schnell auf das Projekt ange-
sprungen. Wir hatten Berichterstattung im WDR-
Fernsehen. Und bei YouTube sind die qualitativ
extrem hochwertigen Imagefilme der Unterneh-
men zu sehen, die die Studierenden der Hoch-
schule OWL produziert haben. Die Studierenden
hatten von uns die Aufgabe bekommen, Filme zu
machen, die nicht zu pädagogisch sind, die die
Unternehmen gleichzeitig als Imagefilm benut-
zen können, in denen aber die Thematiken Mig-
ration und Unternehmertum auch für Menschen
manchen Kunden, die er dadurch sprachlich und
kulturell besser verstehe. In jedem Fall geht es
darum, zwei zunächst unabhängige Zugehörig-
keiten zu verknüpfen. Eine Friseurin mit türki-
schen Vorfahren hat das anschaulich beschrie-
ben: „Also ich bin zwar in Deutschland geboren
und aufgewachsen, aber ein Teil von mir ist sehr
südländisch“. Sie fahre jedes Jahr in die Türkei
in den Urlaub. Dort hole sie sich Anregungen für
Frisuren oder lerne neue Techniken kennen, etwa
über das Haarefärben. Branchenübergreifend
sehen wir bei unseren Befragten, wie sie beide
Identitäten, die aus dem Herkunftsland und die
deutsche, in ihrer unternehmerischen Tätigkeit
miteinander kombinieren und daraus für ihr
Unternehmen auch Kapital schöpfen.
Oft wird gemutmaßt, Migranten seien risiko- freudiger und neigten daher eher zur Selbst-ständigkeit. Wie haben die Unternehme-rinnen und Unternehmer Ihnen gegenüber ihre Motivation beschrieben?
Marc Breuer: Wir finden ganz unterschiedliche
Motive, aus denen heraus Menschen mit Zuwan-
derungserfahrung selbstständig wurden. Man-
che sagen: Ich realisiere meinen Kindheitstraum.
Andere mussten sich aus einer ökonomischen
Notlage heraus orientieren. Ich denke an einen
Unternehmer, der als Asylsuchender aus der Tür-
kei nach Deutschland kam, zunächst keine Arbeit
aufnehmen durfte, dann als Journalist und später
im industriellen Bereich tätig war. Er probierte
verschiedene Dinge aus, wurde schließlich selbst-
Gute Partner und richtige Ansprache
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22
AlbinaKalinina
28
AndreIsaak
NeslihanKürkcü
JacobDück
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HanaaIbrahim
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NadideSayan
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FatmaÜnalInhalt
12
JohannWallmann
14
OxanaGontcharova
ArthurSchröder
20
Projekt-beschrebung
6
16
JohannTöws
63
Gute Partner und richtige Ansprache
fragten sehen ihre Familie als wichtige Unterstüt-
zung für die Tätigkeit, weil Familienangehörige im
Unternehmen mithelfen. Ein weiterer bedeuten-
der Gesichtspunkt ist, dass die Befragten häufig
von der Bedeutung ethnischer Netzwerke für ihre
Unternehmensgründung sprechen. Sie realisier-
ten den Aufbau des Unternehmens nicht nur aus
eigener Kraft, sondern profitierten häufig von
gegenseitiger Unterstützung. In der öffentlichen
Diskussion werden Netzwerke von Migrantinnen
und Migranten, etwa religiöse Gemeinden, häu-
fig eher als Hemmschuh für Integration wahrge-
nommen. Aber wir sehen, dass für viele Befragte
diese Netzwerke mit Menschen aus dem gleichen
Herkunftsland auch bedeutsame Ressourcen be-
reitstellen, um überhaupt erfolgreich Unter-
nehmer werden zu können. Wir haben mit Un-
ternehmern aus der russlanddeutschen Gruppe
gesprochen, von denen einige einem christlichen
Unternehmerverein angehören, die darin eine
bedeutende Unterstützung sehen. Neben unseren
beiden Hauptgruppen mit türkischem und russ-
landdeutschem Migrationshintergrund hatten
wir aber auch einzelne Befragte, aus asiatischen
oder afrikanischen Ländern, die jenseits ihrer Fa-
milie in der Region kaum mit Menschen aus dem
eigenen Herkunftsland vernetzt sind.
Entwickeln sich vor diesem Hintergrund dann nicht aber auch schnell Strukturen einer in sich geschlossenen Ökonomie, die andere aussperrt?
Marc Breuer: Manchmal wird das Schreckge-
spenst einer parallelgesellschaftlichen Ökono-
mie an die Wand gezeichnet: Ein Unternehmer
kommt aus einem bestimmten Land, hat nur
Kunden, die auch aus diesem Land kommen und
auch nur Mitarbeiter aus diesem Land. Das ist
aber eine eher unrealistische Vorstellung, die
nur selten der Realität entspricht, was ja auch
die neueren Untersuchungen zu der Thematik
zeigen. Tatsache ist, dass Unternehmer vielfach
sogenannte ethnische Ressourcen in ihr Unter-
nehmen einbringen. Was das bedeutet, kann man
auf drei Ebenen sehen: Erstens sind die Produkte
oder Dienstleistungen teilweise vom Herkunfts-
land geprägt. Gerade im Dienstleistungsbereich
gibt es viele Möglichkeiten, die Herkunftskul-
tur als Ressource im Unternehmen zu mobilisie-
ren. Ich habe eben von einer türkischen Friseurin
vorstellbar werden, die keine Experten sind. Die
Studierenden der Hochschule OWL haben das op-
timal umgesetzt. Das sieht man an den hohen
Klickzahlen, die die Filme erreicht haben:
www.youtube.com/channel/UCew5Sr67bjCB7XhyNYRhI1A
Auch hat es auf Seiten der Politik Effekte gege-
ben. Wir hatten die Rückmeldung aus manchen
Unternehmen, dass lokale Bürgermeister nach-
gefragt haben: „Können wir Sie mal besuchen?“
Und auch auf die Broschüre, die wir veröffent-
licht haben, in der die Unternehmer porträtiert
sind, gab es etliche positive Rückmeldungen.
Herr Breuer, Ihr spezifisches Interesse war es, auch auf den Aspekt der Teilhabe zu schauen. Kann man sagen, dass unternehmerische Aktivität von Menschen mit Zuwanderungs-geschichte nicht nur Vorteile für Wachstum und Beschäftigung bringt, sondern auch Teilhabe für diese Menschen selbst oder vielleicht noch für mehr Menschen bringt?
Marc Breuer: Unternehmer zu sein ist ja schon
eine Form der Teilhabe. Man erzielt dadurch Ein-
kommen. In den Interviews wurde deutlich, dass
ein hohes persönliches Engagement dahinter-
steckt und für viele auch ein gewaltiges Arbeits-
pensum. Darüber hinaus hat Teilhabe aber noch
viele weitere Dimensionen, zum Beispiel in der
Familie, in der Freizeit, die auch vielfach mit der
Selbstständigkeit verknüpft sind. Viele der Be-
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ArthurSchröder
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Projekt-beschrebung
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grund, die sie aber oft aus starker Eigeninitiative
heraus gemeistert haben. Manche berichten von
Schwierigkeiten während der Ausbildung oder im
Studium, weil ihnen z.B. in einer Prüfung feh-
lende grammatische Kenntnisse anzumerken
waren. Auch von Behörden oder Banken fühlten
sich einige im Prozess der Gründung eher abge-
wiesen. Es wurden aber auch viele positive Erfah-
rungen sichtbar. Insbesondere beschrieben ei-
nige die gute Unterstützung durch Kammern und
Wirtschaftsverbände.
Armin Schauf: Von der Abschlussveranstaltung
und aus der Auswertung der Interviews von Herrn
Breuer ist mir sehr in Erinnerung geblieben, dass
sich die meisten aus der Familie heraus finanzie-
ren. Der Zugang zu öffentlichen Fördermitteln
gelingt irgendwie nicht allen. Das hat sicher ver-
schiedene Ursachen, vielleicht auch Unwissen-
heit – wie beantrage ich solche Gelder oder wo
in Deutschland kriege ich solche Unterstützung?
Das scheint mir eine wichtige Barriere zu sein.
Sie kommen aus der Kommunalverwaltung, Herr Schauf. Was könnte die Politik auf kommunaler und auf Landesebene machen, um Gründung und unternehmerischen Erfolg von Menschen mit Migrationshintergrund zu stärken?
Armin Schauf: Ein wichtiger Aspekt wäre eine
Stärkung der Anerkennungskultur. Die Leistung
der Menschen, die zu uns kommen und gekom-
men sind, muss sichtbar gemacht und anerkannt
werden. Es ist ja nicht so, dass dies ein neues
Phänomen wäre. Menschen mit Migrationshin-
tergrund haben seit Gründung der Bundesrepu-
blik hier Unternehmen geschaffen. Ein zweiter
Aspekt wäre eine nachhaltige, d. h. institutiona-
lisierte Infrastruktur von Beratungs- und Anlauf-
stellen. Die KAUSA-Servicestellen sind in dieser
Hinsicht gute Einrichtungen. Hier müsste es aber
eine nachhaltige und flächendeckende Förderung
geben. Der dritte wichtige Aspekt ist die inter-
kulturelle Öffnung der Verwaltung und der Rege-
linstitute der Wirtschaft. Hier müssen Menschen
sitzen, die vorurteilsfrei auf das Thema blicken.
Herr Schauf, wie geht es weiter mit „Lippe verbindet“?
gesprochen, bei Gastronomen ist es offenkundig,
ebenso bei Reiseveranstaltern. Wo es für die Pro-
dukte wichtig ist, kauft man auch bei Lieferanten
aus der Herkunftsregion ein. Zweitens haben
Mitarbeitende häufig ebenfalls einen Migrations-
hintergrund, aber nicht notwendigerweise den-
selben wie die Unternehmer. Mehrere der Be-
fragten sind stolz auf die multinationale Her-
kunft ihrer Mitarbeitenden. Das heißt, dass wir
teilweise eine Art intraethnisch-migrantisches
Milieu erkennen können, das aus verschiedenen
Herkunftsländern zusammenwächst und das ist
ja gerade das Gegenteil einer geschlossenen
Parallelgesellschaft. Drittens wären da noch die
Kunden. Häufig ist es schon so, dass zum Beispiel
ein russlanddeutscher Anwalt viele russland-
deutsche Klienten hat. Denn durch die gemein-
same Herkunftssprache ist ein niederschwelliger
Zugang möglich. Wir haben aber in unserer Un-
tersuchung keinen Fall, in dem es ausschließlich
Klienten aus einer Gruppe gäbe. Alle haben auch
deutsche Kunden, viele beschreiben einen multi-
ethnischen Kundenkreis. Offenbar ist schon die
Tatsache, dass man Migrationserfahrungen teilt,
eine Basis, die Zugänge zu Mitarbeitenden oder
Kunden erleichtert.
Lassen Sie uns auf den Anfangspunkt von Selbstständigkeit schauen. Wie beschreiben die von Ihnen Interviewten heute erfolg-reichen Unternehmer ihre Gründungszeit? Welche Hindernisse haben sie genannt?
Marc Breuer: Das Wichtigste sind Sprache und
Zugang zu Bildungsabschlüssen. Bei vielen Be-
fragten standen Sprachprobleme im Vorder-
Gute Partner und richtige Ansprache
65
Gute Partner und richtige Ansprache
Armin Schauf: Das Projekt als solches ist been-
det. Wir versuchen jetzt aber, die Unternehmer
mit Migrationshintergrund in Lippe zu vernetzen.
Denn dies wurde als Wunsch aus der Unterneh-
merschaft selbst geäußert. Es ist immer besser,
wenn diese Leute für sich selber sprechen. Das
können wir als Kommunales Integrationszent-
rum sowieso nicht tun. Und das Thema ist auch
bei den Kammern angekommen. Zumindest
für die Industrie- und Handelskammer kann
ich sprechen, da sie uns im Projekt unterstützt
haben, mit der Bereitstellung von Räumen unter
anderem.
Herr Schauf, was würden Sie in zwei Stich-punkten Kolleginnen und Kollegen aus anderen Kommunen auf den Weg geben, die sagen, das ist ein wichtiges Thema für mich, ich möchte so etwas Ähnliches machen wie „Lippe verbindet“?
Armin Schauf: Die beiden Stichworte lauten:
gute Partner und richtige Ansprache der Unter-
nehmer. Gute Partner sind das A und O. Ohne die
Zusammenarbeit zwischen Kommunalem Integ-
rationszentrum und Wirtschaftsförderung, ohne
die Förderung durch die Stiftung Standortsiche-
rung und ohne die Katholische Hochschule NRW
und die Hochschule OWL als wissenschaftliche
Begleiter hätten wir das in der Art und Weise nie
hinbekommen. Darüber hinaus ist Ansprache
wichtig: Gerade wir in den Kommunalen Inte-
grationszentren müssen versuchen, stärker die
Sprache der Wirtschaft zu sprechen und nicht auf
die Unternehmer mit moralischen Ansprüchen
zugehen, die am Ende alle überfordern.
66
Social Impact Lab Frankfurt (ChancenNutzer, AndersGründer):
http://frankfurt.socialimpactlab.eu
jumpp Frauenbetriebe e. V. Frankfurt:
www.jumpp.de
„MIGRANTINNEN gründen“ – Existenzgründungen von Migrantinnen, Frankfurt:
www.migrantinnengruenden.de
Institut für Mittelstandsforschung der Universität Mannheim:
www.institut-fuer-mittelstandsforschung.de
ASM Arbeitsgemeinschaft selbstständiger Migranten e. V., Hamburg:
www.asm-hh.de
IQ-Landesnetzwerk Hamburg – NOBI:
www.nobi-nord.de
Institut für Mittelstandsforschung, Bonn:
www.ifm-bonn.org
IQ Landesnetzwerk Saarland:
http://netzwerk-iq.saarland
IQ Gründungsbüro Saarland:
http://netzwerk-iq.saarland/gruendungsbuero
Institut für Technologietransfer an der Hochschule für Technik und Wirtschaft des Saarlandes (FITT):
www.forschung-fuer-das-saarland.de
Social Impact Lab gGmbH Potsdam:
http://potsdam.socialimpactlab.eu
Lotsendienst für Migranten und Migrantinnen in Brandenburg:
http://lotsendienst.socialimpact.eu
Leibniz-Institut für Raumbezogene Sozialforschung, Erkner:
www.mwfk.brandenburg.de/cms/detail.php/bb1.c.246426.de
Linkliste zu den Projekten
67
Linkliste zu den Projekten
PhönixPreis – Münchner Wirtschaftspreis für Migrantenunternehmer:
www.muenchen.de/rathaus/Stadtverwaltung/Referat-fuer-Arbeit-und-Wirtschaft/
Arbeitsmarktpolitik/Kompetenzentwicklung/Phoenix.html
Kommunales Integrationszentrum Lippe:
www.kreis-lippe.de/Dienstleistungen/Kommunales-Integrationszentrum
Katholische Hochschule Nordrhein-Westfalen, Paderborn:
www.katho-nrw.de
Für eine allgemeine Übersicht:
Existenzgründerportal des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie:
www.existenzgruender.de/DE/Weg-in-die-Selbstaendigkeit/Entscheidung/
GruenderInnen-Branchen/MigrantInnen/inhalt.html
Fachstelle Migrantenökonomie
www.netzwerk-iq.de/fachstelle-migrantenoekonomie.html
68
Die Serie „Nachhaltiges Wachstum für Deutschland“
Band 1 „Wachstum im Wandel.
Zehn Konfliktfelder wirtschaft-
lichen und sozialen Wandels in
Deutschland“
Band 2 „Das Potenzial der heterogenen
Gesellschaft nutzen.
Migrantenunternehmen als
Motor inklusiven Wachstums“
Band 3 „Zukunftsinvestitionen.
Empirische Befunde zur
Wirkung öffentlicher Ausgaben
auf inklusives Wachstum“
Band 4 „Zukunftswirksame Ausgaben
der öffentlichen Hand.
Eine infrastrukturbezogene
Erweiterung des öffentlichen
Investitionsbegriffs“
Band 5 „Migrantenunternehmen in
Deutschland zwischen 2005
und 2014.
Ausmaß, ökonomische
Bedeutung, Einflussfaktoren
und Förderung auf Ebene der
Bundesländer“
Die Serie „Nachhaltiges Wachstum für Deutschland“
1
Inklusives Wachstum für Deutschland 02/2015Inklusives Wachstum für Deutschland 02/2015
Das Potenzial der heterogenen Gesellschaft nutzen
Migrantenunternehmen als Motor inklusiven Wachstums
Friederike-Sophie Niemann | Armando García Schmidt
Fakten
Zuwanderung und Gründung
Interview
Drei Fragen an Dr. René Leicht
Potenziale
Hemmnisse und Förderung für Gründungen
m Vergleich zu vielen seiner europäischen
Partner geht es Deutschland aktuell wirt-
schaftlich gut. Doch der Blick allein auf
das Wirtschaftswachstum täuscht. Das
Wachstum der vergangenen Jahre ist nicht inklusiv:
Teilhabechancen sind zunehmend ungleich verteilt.
Damit gerät der gesellschaftliche Zusammenhalt
in Gefahr. Doch wie sehen Politikansätze aus, die
beides kombiniert erreichen: Wachstumspotenziale
ausschöpfen und Teilhabechancen erweitern? Im
Rahmen des Projektes „Inclusive Growth. Strategien
und Investitionen für Inklusives Wachstum“ ent-
wickelt und diskutiert die Bertelsmann Stiftung
konkrete Empfehlungen für ein inklusives Wachs-
tumsmodell. Das vorliegende Impulspapier diskutiert
auf Grundlage des aktuellen Forschungsstandes, in-
wiefern die Gründungstätigkeit von Zuwanderern und
Menschen mit Migrationshintergrund schon heute
ein Motor inklusiven Wachstums in Deutschland ist
und wie Potenziale identifiziert werden können.
Die Bedingungen, unter denen es möglich ist, in einem
Land unternehmerisch tätig zu werden, haben einen un-
mittelbaren Effekt nicht nur auf die Leistungsstärke der
Volkswirtschaft des Landes. Wer gründet und wer nicht
gründet und als wie nachhaltig sich solche Gründungen
erweisen, sagt viel darüber aus, wie die Teilhabechancen
in einer Gesellschaft verteilt sind. Sind die Bedingungen
dergestalt, dass Gruppen, die in Bezug auf wirtschaft-
liche Prozesse noch keine vollständige Chancengleich-
heit erfahren – wie z. B. Frauen, junge Menschen und
Menschen mit eigener Zuwanderungserfahrung oder
Migrationshintergrund –, als Unternehmer zu Taktge-
bern einer erfolgreichen Wirtschaft werden können?
Oder werden ihre Potenziale nicht gesehen und nicht
genutzt? Welche Hindernisse sind spezifisch?
I
1
Inklusives Wachstum für Deutschland 01/2015Inklusives Wachstum für Deutschland 01/2015
Wachstum im WandelZehn Konfliktfelder wirtschaftlichen und sozialen Wandels in Deutschland
Henrik Brinkmann | Benjamin Dierks |Armando Garcia Schmidt
ohe Beschäftigung und stabiles Wachstum:
Deutschland geht es wirtschaftlich gut.
Doch der Blick alleine auf das Wirtschafts-
wachstum täuscht. Grundsätzliches ist in
Bewegung geraten: Globalisierung, Digitalisierung,
demographischer Wandel und zunehmende soziale
Ungleichheiten verändern unsere Art zu Wirtschaften
und auch unser gesellschaftliches Zusammenleben.
Im Rahmen des Projektes „Inklusives Wachstum für
Deutschland“ analysiert die Bertelsmann Stiftung
diese Zusammenhänge. Ziel ist es, konkrete Emp-
fehlungen für ein neues, ein inklusives Wachstum
vorzulegen – Strategien also, die wirtschaftliche Pro-
sperität und sozialen Ausgleich gleichermaßen för-
dern. In einem ersten Projektschritt hat die Stiftung
das Gespräch mit Beobachtern unserer Gesellschaft
gesucht. Ergebnis dieser Gespräche ist die Beschrei-
bung von zehn Konfliktfeldern wirtschaftlichen und
gesellschaftlichen Wandels.
Welche Wechselbeziehungen ergeben sich aus Globali-
sierung, Digitalisierung, demographischem Wandel und
zunehmender sozialer Ungleichheit? Wie greifen diese
Entwicklungen ineinander? Welche disruptiven Entwick-
lungen sind denkbar? Vor welche Herausforderungen
wird Wirtschaft damit gestellt? Wie reagiert Gesellschaft
darauf? Welche Rückkoppelungseffekte und Konflikte
können daraus entstehen?
Mit diesen Zukunftsfragen im Gepäck haben wir im
Frühsommer 2015 zwölf deutsche Gegenwartsdenker
eingeladen, mit uns ins Gespräch zu gehen. Entschei-
dend war für uns die Vielfalt der Perspektiven. Wir
sprachen mit der Kulturtheoretikerin Christina von
Braun, dem Makrosoziologen Heinz Bude, dem
Wirtschaftswissenschaftler Sebastian Dullien, der
Politik- und Wirtschaftswissenschaftlerin Anke
Hassel, dem Publizisten Wolf Lotter, dem Sozio-
logen Armin Nassehi, dem Historiker Paul Nolte,
H
Paradise Lost Schocks 2.0 Gekommen, um zu bleiben
Zukunftsinvestitionen
Empirische Befunde zur Wirkung öffentlicher Ausgaben auf inklusives Wachstum
Inklusives Wachstum für Deutschland 03/2015
Inklusives Wachstum für Deutschland | 4
Zukunftswirksame Ausgaben der öffentlichen Hand
Eine infrastrukturbezogene Erweiterung des öffentlichen Investitionsbegriffs
Migrantenunternehmen in Deutschland zwischen 2005 und 2014
Ausmaß, ökonomische Bedeutung, Einflussfaktoren und Förderung auf Ebene der Bundesländer
Inklusives Wachstum für Deutschland | 5
Migrantenuntern_2016_RZ.indd 1 05.07.16 09:45
69
70
Unsere Ziele | Impressum
Impressum
© September 2016 Bertelsmann Stiftung
Bertelsmann Stiftung
Carl-Bertelsmann-Straße 256
33311 Gütersloh
Telefon +49 5241 81-0
www.bertelsmann-stiftung.de
Verantwortlich
Armando García Schmidt
Autoren
Benjamin Dierks - Reportagen
Armando García Schmidt - Vorwort und Interviews
Lektorat
Sibylle Reiter
Grafikdesign
Nicole Meyerholz, Bielefeld
Bildnachweise
Benjamin Dierks, Berlin
Seite 16 Dagmar Morath
Seite 26 IfM Bonn
Seite 36, 40 Social Impact Lab, Frankfurt
Seite 57 RAW München
Seite 60 Marion Koell, Katholische Hochschule NRW
Seite 62, 64, 65 Antoine Jergi, Bertelsmann Stiftung
Druck
Hans Kock Buch- und Offsetdruck, Bielefeld
ISSN 2365-8991
Inclusive Growth
www.bertelsmann-stiftung.de/
inklusives-wachstum
Blog: New Perspectives on Global
Economic Dynamics
http://ged-project.de/de
Sustainable Governance Indicators
www.sgi-network.org
Twitter: https://twitter.com/
BertelsmannSt
Facebook: www.facebook.com/
BertelsmannStiftung
Unsere Ziele
„Inklusives Wachstum für Deutschland“ ist eine
Publikationsreihe aus dem Programm „Nachhaltig
Wirtschaften“ der Bertelsmann Stiftung. Deutsch-
land geht es aktuell wirtschaftlich gut. Doch das
Wachstum der letzten Jahre ist nicht inklusiv:
Ungleichheiten zwischen Menschen, Generationen
und Regionen nehmen zu. Um das Erfolgsmodell
Soziale Marktwirtschaft fit für die Zukunft zu ma-
chen, muss neu über den Zusammenhang zwischen
Wachstum und gesellschaftlicher Teilhabe nach-
gedacht werden. Die Reihe trägt mit Analysen,
Konzepten und Empfehlungen zu dieser notwendi-
gen Debatte bei.
Die Bertelsmann Stiftung engagiert sich in der
Tradition ihres Gründers Reinhard Mohn für das
Gemeinwohl. Sie versteht sich als Förderin des ge-
sellschaftlichen Wandels und unterstützt das Ziel
einer zukunftsfähigen Gesellschaft. Die Stiftung ist
unabhängig und parteipolitisch neutral.
Adresse | Kontakt
Bertelsmann Stiftung
Carl-Bertelsmann-Straße 256
33311 Gütersloh
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Telefon +49 5241 81-81543
www.bertelsmann-stiftung.de