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Musik und Klangkultur 10
Musik im Zeitalter der Globalisierung
Prozesse - Perspektiven - Stile
Bearbeitet vonDaniel Siebert
1. Auflage 2014. Taschenbuch. XII, 228 S. PaperbackISBN 978 3
8376 2905 7
Format (B x L): 14,8 x 22,5 cmGewicht: 368 g
Weitere Fachgebiete > Musik, Darstellende Künste, Film >
MusikwissenschaftAllgemein > Musikpsychologie,
Musiksoziologie
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Aus:
Daniel Siebert
Musik im Zeitalter der GlobalisierungProzesse – Perspektiven –
Stile
Dezember 2014, 228 Seiten, kart., 32,99 €, ISBN
978-3-8376-2905-7
Der Begriff Globalisierung ist sowohl populär als auch
wissenschaftlich interdiszipli-när anwendbar und gewissermaßen ein
»Zauberwort« für alle gesellschaftlichen Ver-änderungen der letzten
50 Jahre.Doch wie wird Globalisierung musikalisch erfahrbar und was
ist im gegenwärtigen»Zeitalter der Globalisierung« das signifikant
»Neue« bezogen auf die Entstehung kul-tureller Hybridformen? Anhand
dreier musikalischer Beispiele unterschiedlicher Kon-texte, Szenen
und Stilhöhen geht Daniel Siebert einerseits den Differenzen nach,
diesich in den Auswirkungen der Globalisierung abzeichnen, und
arbeitet andererseitsszene- und subkulturübergreifende Mechanismen
der Globalisierung heraus.
Daniel Siebert, Musikwissenschaftler und Soziologe, hat an der
Universität zu Köln imFach Musikwissenschaft promoviert.
Weitere Informationen und Bestellung
unter:www.transcript-verlag.de/978-3-8376-2905-7
© 2014 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt
Vorwort | I Einleitung: Musik im „Zeitalter der Globalisierung“
| 1 Definitionen der Globalisierung | 12 2 Historische Verortung
der Globalisierung | 14 3 Das „Zeitalter der Globalisierung“ | 16 4
Musik im Zeitalter der Globalisierung | 18 5 Gesellschaftliche
Verortung der Globalisierung | 22 6 Modelle der kulturellen
Globalisierung | 23 7 Forschungsstand: Musik und Globalisierung |
25 8 Gliederung, Relevanzen und Fragestellung | 28
8.1 Politisch-ökonomische Transnationalität | 31 8.2
Technisch-innovative Verdichtung von Raum und Zeit | 32 8.3
Informell-kulturelle Reflexivität | 35 8.4 Prozesse der
Globalisierung | 37 8.5 Musikalische Fallbeispiele | 37
II Stockhausens Weltmusik | 1 Stockhausens Texte zur Weltmusik |
45 2 TELEMUSIK und HYMNEN | 56 3 Musikalische Analyse: HYMNEN |
65
3.1 Anfang und „Internationale“ | 66 3.2 „Deutsches Zentrum“ |
69
-
3.3 UdSSR und USA | 72 3.4 „Hymunion“ und Schluss | 77
4 Der transnationale Gedanke in HYMNEN | 79 5 Global village und
Stockhausens Weltmusikkonzept
in HYMNEN | 85 III Jamaikanischer Ska im globalen Kontext | 1
Jamaikanische Unterhaltungs- und Tanzmusik | 97
1.1 Die afrikanische Traditionslinie | 97 1.2 Mento, R ’n’ B und
Soundsystems | 99 1.3 Jamaikanischer Ska | 104 1.4 Rocksteady und
Reggae | 113
2 Adaptionen des jamaikanischen Ska durch die Subkultur der
Skinheads in Großbritannien | 126 2.1 Two-tone | 135
3 Die Entbettung des Ska in Großbritannien im Spannungsfeld
zwischen Rassismus und transnationaler Identität | 138
IV Traditionen der world music | 1 World music: konstruierte
Traditionen einer globalen Welt? | 146
1.1 Paul Simon | 149 2 Afrikanische Populärmusik als hybride
world music | 161
2.1 S. E. Rogie | 162 2.2 Orchestra Baobab | 167 2.3 Baaba Maal
| 169
3 World music im Spannungsfeld der Globalisierungsdebatte:
Heterogenisierung versus Homogenisierung der Musikkultur | 171
4 Die globale Netzwerkgesellschaft: Neue Möglichkeiten für die
world music im Zeitalter der Globalisierung? | 176 4.1 Vampire
Weekend | 179
V Gemeinsamkeiten und Differenzen
der drei Fallbeispiele | 1 Modelle der kulturellen
Globalisierung | 194 2 Perspektiven und Prozesse im Zeitalter der
Globalisierung | 197
2.1 Politisch-ökonomische Transnationalität | 197
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2.2 Technisch-innovative Verdichtung von Raum und Zeit | 199 2.3
Informell-kulturelle Reflexivität | 199 2.4 Prozesse der
Globalisierung | 200
3 Fazit | 202
Bibliographische Angaben | Abkürzungsverzeichnis | 207
Diskographie | 207 Filmographie | 208 Internet-Seiten | 208
Musikalien | 208 Verwendete Literatur | 209
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Vorwort
Als im Jahr 2007 die Idee dieser Arbeit entstand, war der
Ansatz, Globali-sierungstheorien mit musikalischen Fallbeispielen
zu verknüpfen, ein ver-gleichsweise neuer Gegenstand der
musikwissenschaftlichen Forschung. In den folgenden Jahren nahmen
die Publikationen zu diesem Thema jedoch stetig zu, so dass man
mittlerweile von einer recht guten Literaturlage spre-chen kann,
obwohl nicht alle Thematiken in diesem Zusammenhang er-schlossen
wurden. Bildeten 2007 Werke von Max Peter Baumann, Philip Bohlman
oder Veit Erlmann die musikethnologische Ausnahme, so ent-standen
angefangen mit dem Band Musik und Globalisierung, herausgege-ben
von Christian Utz, weitere Publikationen – zum Beispiel von Susanne
Binas-Preisendörfer oder Bob White –, welche versuchen, Musik und
Glo-balisierung analytisch zu verbinden. In diesen Tagen erscheint
auch das neue Buch von Christian Utz, Komponieren im Kontext der
Globalisierung, in dem Utz Konsequenzen und Schwierigkeiten der
Reflexivität kultureller Globalisierung für die Kunstmusik im 20.
und 21. Jahrhundert diskutiert und zudem systematische Perspektiven
für eine globale Musikhistoriogra-phie und kompositorische Praxis
konzipiert. Die stetig anwachsende Litera-tur zum Thema Musik und
Globalisierung bestärkte mich darin, auf dem richtigen Weg zu sein:
Anscheinend hatte ich hier einen wissenschaftlichen Gegenstand
aufgegriffen, der viele Kollegen1 beschäftigt und offenbar den Nerv
der Zeit trifft; zahlreiche Gespräche und Diskussionen auf
Symposien und Kongressen bestätigten diese Annahme.
1 In dieser Arbeit sind bei männlichen Funktionsbezeichnungen in
der Regel im-
mer auch die weiblichen Formen mitgemeint.
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10 | MUSIK IM ZEITALTER DER GLOBALISIERUNG
Gegen Ende meines Studiums beschäftigte ich mich intensiv mit
Ulrich Becks populärem und gesellschaftstheoretischem Ansatz einer
„Zweiten Moderne“. Es drängte sich die Frage auf, ob es denn hierzu
musikalische Beispiele gäbe, die diese „Zweite Moderne“
repräsentieren. Schnell wurde allerdings klar, dass Becks
theoretischer Ansatz – trotz sporadischer Versu-che von Heinrich
Klotz2 Mitte der 90er Jahre – sich nicht dazu eignete, ei-nen
klaren Kriterienkatalog zu erarbeiten, an denen sich musikalische
Bei-spiele analysieren ließen. Ein Baustein in Becks Theorie ist
die Globalisie-rung. Diese nun einzeln zu betrachten, erschien mir
– da als Begriff um-fangreich und ambivalent genug – die logische
Konsequenz aus meinen Studien zur „Zweiten Moderne“. Meine
anfängliche Idee war es, detailliert die Frage zu untersuchen, ob
und wie sich das von den Globalisierungsthe-oretikern definierte
„Zeitalter der Globalisierung“ in der Musik darstellen lässt. Dafür
erstellte ich zunächst einen Überblick über die hierzu relevan-ten
Theorien und reduzierte diese dann auf wesentliche Kriterien. Die
nächste Aufgabe bestand darin, musikalische Beispiele zu
generieren, die eine Übersicht über verschiedene musikalische
Perspektiven und auch Gen-res geben können. Dass dieses aus der
Gegebenheit der allumfassenden musikalischen Praxis und Geschichte
natürlich nicht möglich ist, war mir bewusst; die vorliegende
Arbeit möchte nicht den Anspruch erheben, die herausgestellten
Globalisierungstheorien tatsächlich zu beweisen. Der
Er-kenntnisgewinn liegt vielmehr im Detail: Der Versuch, eine
Verbindung zwischen Musik und Globalisierung an Fallbeispielen
analytisch zu über-prüfen und sich hierbei nicht von bereits
vorhandenen Grenzen innerhalb der jeweiligen Disziplinen
einschränken zu lassen, trägt innovativ dazu bei, die wachsende
Nachfrage nach dem Themenkomplex zu befriedigen und zu
ergänzen.
Für das Gelingen der vorliegenden Arbeit gilt mein herzlicher
Dank Prof. Dr. Frank Hentschel, der sie betreut und gefördert hat,
und den Zweit- beziehungsweise Drittgutachtern Prof. Dr. Christoph
von Blumröder und Prof. Dr. Michael Custodis. Zu guter Letzt möchte
ich ganz besonders mei-ner Familie danken, die mich in all der Zeit
unterstützt und ertragen hat. Meinen beiden Kindern Lionel und
Marie, die während des Verfassens der Dissertation zur Welt kamen,
ist dieses Buch gewidmet.
2 Heinrich Klotz (Hrsg.), Die zweite Moderne: eine Diagnose der
Kunst der Ge-
genwart, München 1996.
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I Einleitung: Musik im „Zeitalter der Globalisierung“
Seit ungefähr 50 Jahren ist der Begriff Globalisierung in der
Gesellschaft verankert. Die ständige Konfrontation in nahezu allen
öffentlichen und pri-vaten Lebensbereichen vom Arbeitsplatz über
das Freizeitvergnügen bis hin in die Haushalte hat ein Bewusstsein
für globale Zusammenhänge geschaf-fen. Die Auswirkungen der
Globalisierung sind im Alltagsleben mittlerwei-le so präsent, dass
sich die Frage, wie sich diese analog in der Musik nie-derschlagen,
geradezu aufdrängt. Denn Globalisierung hat definitiv zu einer
Veränderung der kulturellen Landschaften geführt, von denen die
Musik di-rekt oder indirekt betroffen ist.
„If all historical cultures have always been hybrid – well,
what’s new?“1, fragt John Tomlinson gegen Ende seines Buches
Globalization and Culture. Diese Frage stellt sich durchaus als
berechtigt dar. Selbstverständ-lich bewegten sich alle Kulturen und
kulturellen Erzeugnisse nie in herme-tischen Räumen und waren zu
allen Zeiten gesellschaftlichen Strömungen und Moden ausgesetzt,
die sich aus verschiedenen ethnischen, politischen, regionalen und
nationalen, ja selbst klimatischen Überlagerungen zusam-mensetzten.
Um der Frage Tomlinsons nachzugehen, bietet das wissen-schaftliche
Gebiet der Kulturtransferforschung einen guten Überblick. Für
Hans-Jürgen Lüsenbrink geht die Formulierung kultureller Hybridität
auf den Begriff „métissage“ aus dem 16. Jahrhundert zurück.2 Die
gegenwärti-ge Zeitepoche stellt für ihn eine besondere Form des
Kulturtransfers dar: 1 John Tomlinson, Globalization and Culture,
Cambridge 1999, S. 144.
2 Hans-Jürgen Lüsenbrink, „Kulturtransfer – neuere
Forschungsansätze zu einem
interdisziplinären Problemfeld der Kulturwissenschaften“, in:
Helga Mittelbauer
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12 | MUSIK IM ZEITALTER DER GLOBALISIERUNG
„Kulturtransferprozesse im definierten Sinn sind genuine
Bestandteile von Kultur-
kontakten, die von ganz unterschiedlichen politischen Kontexten
und sehr verschie-
denen sozio-kulturellen Konstellationen gekennzeichnet sein
können. Kulturkontak-
te entstehen in der Tat in so unterschiedlichen Prozessen wie
der kolonialen Erobe-
rung, der Immigration und dem Tourismus. Sie bilden gleichfalls
die kulturelle Di-
mension wirtschaftlicher und politischer Austauschbeziehungen,
die durch die der-
zeitige neue Phase der Globalisierung eine – im Verhältnis zu
den früheren Expansi-
onsphasen der Globalisierung im 16.-18. und an der Wende vom 19.
zum 20. Jahr-
hundert – völlig neue Intensität erfahren haben.“3
Beide Zitate, Tomlinsons ebenso wie Lüsenbrinks, beschreiben
gewisser-maßen die Eckpfeiler der vorliegenden Arbeit:
Globalisierung ist (1.) die Voraussetzung für die Entstehung
kultureller Hybridformen und hat (2.) in ihrer gegenwärtigen Phase
eine neue Dimension an Intensität erreicht.
1 DEFINITIONEN DER GLOBALISIERUNG Der Begriff Globalisierung ist
sowohl populär als auch wissenschaftlich in-terdisziplinär
anwendbar und somit ein „Zauberwort“ für alle sich abbil-denden
globalen (und auch lokalen) Veränderungen. Eine einheitliche
De-finition des Terminus Globalisierung erscheint zunächst
problematisch, da jede Disziplin der Gesellschaftswissenschaften
offenbar einen eigenen Glo-balisierungsbegriff verwendet.4 Selbst
innerhalb der Soziologie gibt es an-dauernde Debatten über Art und
Verwendung des Begriffes und unzählige Literatur und Systematiken
über dessen Geschichte.5 Ulrich Beck unterteilt das Begriffsfeld
sogar noch in Unterkategorien wie Globalismus, Globalität und
Globalisierung, um die verschiedenen Schwerpunkte und Ebenen
einer
und Katharina Scherke (Hrsg.), Ent-grenzte Räume. Kulturelle
Transfers um
1900 und in der Gegenwart (= Studien zur Moderne 22), Wien 2005,
S. 23-41.
3 Ebd., S. 29.
4 Vgl. Jan Nederveen-Pieterse, „Der Melange-Effekt“, in: Ulrich
Beck (Hrsg.),
Perspektiven der Weltgesellschaft, Frankfurt a. M. 1998, S.
87-124, hier S. 87.
5 Einen guten Überblick hierfür findet man zum Beispiel in Jörg
Dürrschmidt,
Globalisierung, Bielefeld 2002, S. 7.
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I EINLEITUNG: MUSIK IM „ZEITALTER DER GLOBALISIERUNG“ | 13
sich global verändernden Gesellschaft besser zu beschreiben.6
David Held hingegen versucht die Fülle an wissenschaftlicher
Literatur über Globalisie-rung in verschiedene Geisteshaltungen zu
differenzieren. Der Autor unter-scheidet hierbei zwischen
„hyperglobalists“, „sceptics“ und „transfor-mationalists“7, welchen
er jeweils verschiedene Attribute und Einstellungen zu globalen
Fragen zuordnet. Zusammengefasst definiert er Globalisierung als
„process (or set of processes) which embodies a transformation in
the spatial organi-
zation of social relations and transactions – assessed in terms
of their extensity, in-
tensity, velocity and impact – generating transcontinental or
interregional flows and
networks of activity, interaction, and the exercise of power
“8
.
Entscheidend für das Aufkommen des Begriffes Globalisierung ist
wohl das in den letzten Jahrzehnten immer mehr entstandene
Bewusstsein einer begrenzten Welt, in der „keine Externalisierung
von Handlungsfolgen“9 mehr möglich scheint. Malcolm Waters fasst
dies in seiner Definition von Globalisierung zusammen, indem er
diese beschreibt als „a social process in which the constraints of
geography on economic, political, so-
cial and cultural arrangements recede, in which people become
increasingly aware
that they are receding and in which people act
accordingly“10
.
Jürgen Osterhammel und Niels P. Petersson formulieren im Buch
Ge-schichte der Globalisierung weitere Gemeinplätze im
Globalisierungs-diskurs; die Veränderungen der Gesellschaft werden
hier in drei globale Merkmale unterteilt: (1.) Die Globalisierung
stellt durch die Verschiebung der politisch-ökonomischen
Machtverhältnisse zwischen Staaten und Märk-ten die Bedeutung des
Nationalstaats in Frage. (2.) Die Globalisierung führt
6 Vgl. Ulrich Beck, Was ist Globalisierung?, Frankfurt a. M.
1997, S. 26-28.
7 David Held, Anthony McGrew, David Goldblatt und Jonathan
Perraton, Global
Transformations, Cambridge 1999, S. 10.
8 Ebd., S. 16.
9 Jürgen Habermas, Die postnationale Konstellation, Frankfurt a.
M. 1998, S. 87.
10 Malcolm Waters, Globalization (zuerst: Oxon 1995), 2.
Auflage, Oxon 2001,
S. 5.
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14 | MUSIK IM ZEITALTER DER GLOBALISIERUNG
durch technische Innovationen zu Veränderungen der Kategorien
von Raum und Zeit und zu einer neuen Ordnung sozialer Beziehungen
durch technische Netzwerke. Und (3.): Die Globalisierung hat durch
die Errun-genschaften der Kommunikationstechnologie und deren
globaler Reichwei-te und Informationsaustausch massiven Einfluss
auf den kulturellen Wan-del.11 Wichtig sind hierbei vor allem das
gleichzeitige Auftreten und die Verflechtungen dieser drei Aspekte
der Globalisierung, da jeder einzelne noch keine Konturen einer
neuen Zeitepoche darstellt.
2 HISTORISCHE VERORTUNG DER GLOBALISIERUNG Generell wird der
historischen Verortung der Globalisierung in der Litera-tur viel
Aufmerksamkeit gewidmet. Obwohl der Begriff selbst in der zwei-ten
Hälfte des 20. Jahrhunderts erstmals in der Form gebraucht und
seine Popularität in die 1990er Jahre datiert wird,12 versuchen
einige Autoren Kriterien der Globalisierung in einer „global
history“ oder „world history“ darzustellen. Anthony G. Hopkins zum
Beispiel unterscheidet vier histori-sche Phasen der Globalisierung:
archaic-globalization, proto-globalization, modern-globalization
und post-colonial-globalization.13 „Archaic“ meint die historische
Periode der Völkerwanderungen und den Bedeutungswachs-tum der
Städte, „proto“ die Umgestaltung der Staatssysteme und den
ex-pandierenden Finanzfluss zwischen 1600 und 1800, „modern“
bezeichnet die Zeit des Aufstieges des Nationalstaats und die
Ausweitung der Industri-alisierung nach 1800 und mit
„post-colonial“ ist die gegenwärtige Zeitepo-che ab 1950 gemeint.14
Ein zeitliches Einsetzen von Globalisierungsvor-
11 Vgl. Jürgen Osterhammel und Niels P. Petersson, Geschichte
der Globalisie-
rung, München 2003, S. 11-13.
12 Vgl. Anthony G. Hopkins, „The History of Globalization“, in:
ders. (Hrsg.),
Globalization in World History, London 2002, S. 11-46, hier S.
37; Osterham-
mel und Petersson, Geschichte der Globalisierung, S. 18.
13 Anthony G. Hopkins, „Introduction“, in: ders. (Hrsg.),
Globalization in World
History, S. 1-10, hier S. 3-7.
14 Bei David Held heißen diese vier Kategorien „premodern“-,
„early modern“-,
„modern“- und „contemporary“-period of globalization, Held et
al., Global
Transformations, S. 26. Ein ähnliches Stufenmodell entwickelte
auch Roland
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I EINLEITUNG: MUSIK IM „ZEITALTER DER GLOBALISIERUNG“ | 15
gängen ist demnach nicht genau bestimmbar beziehungsweise kann
man hier nicht von einem genauen „Einsetzen“ sprechen. Es lassen
sich mögli-cherweise aber einige historische „Eckpunkte“ der
Globalisierung ausma-chen: Ein entscheidender Globalisierungsanlauf
wird um 1500 datiert; mit dem Aufbau der portugiesischen und
spanischen Kolonialreiche entstanden hier irreversible globale
Vernetzungen.15 Im 19. Jahrhundert führte dann vor allem die
politische und infrastrukturelle globale Reichweite des
auf-blühenden British Empire zu einer Verstärkung des Welthandels
und zu ei-ner größeren multikulturellen Vielfalt.16 Es wird zudem
von verschiedenen Autoren versucht, die Globalisierungsgeschichte
durch globale Ereignisse wie die erste Weltumsegelung, die
Einführung der Weltzeit, die bemannte Raumfahrt oder die globale
nukleare Bedrohung nach dem Zweiten Welt-krieg historisch zu
verankern.17
Robertson, vgl. Roland Robertson, Globalization: Social theory
and global Cul-
ture, London 1992, S. 57 ff.
15 Vgl. Osterhammel und Petersson, Geschichte der
Globalisierung, S. 25. Hieraus
leitet sich auch der oben genannte Begriff „Métissage“ ab.
16 Vgl. Hopkins, „The History of Globalization“, S. 31; Martin
Albrow, Abschied
vom Nationalstaat, Frankfurt a. M. 1998, S. 231; Roland
Robertson, „Glokali-
sierung: Homogenität und Heterogenität in Raum und Zeit“, in:
Beck (Hrsg.),
Perspektiven der Weltgesellschaft, S. 192-220, hier S. 210.
17 Bruce Mazlish, „An Introduction to Global History“, in: ders.
und Ralph
Buultjens (Hrsg.), Conceptualizing global history, Boulder 1993,
S. 1-24, hier S.
1 f. Ralf Dahrendorf zum Beispiel bezeichnet die Mondlandung am
20. Juli
1969 als Beginn der Globalisierung, vgl. Ralf Dahrendorf,
„Anmerkungen zur
Globalisierung“, in: Beck (Hrsg.), Perspektiven der
Weltgesellschaft, S. 41-54,
hier S. 41. Jürgen Osterhammel und Niels P. Petersson sehen in
der Einführung
des „Earth-Day“ im Jahre 1970 den Beginn eines globalen
Bewusstseins, vgl.
Osterhammel und Petersson, Geschichte der Globalisierung, S.
105.
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16 | MUSIK IM ZEITALTER DER GLOBALISIERUNG
3 DAS „ZEITALTER DER GLOBALISIERUNG“ Viele wissenschaftliche
Autoren sehen den Ursprung eines „Zeitalters der Globalisierung“ ab
Anfang des 20. Jahrhunderts.18 Dieser Terminus leitet sich aus
Martin Albrows Begriff „Global Age“19 ab und dient im Folgenden zur
Beschreibung der gesellschaftlichen Veränderungen ab 1950. Die
zwei-te Hälfte des 20. Jahrhunderts ist besonders bedeutsam, weil
hier erstmals ein gesellschaftliches globales Bewusstsein entstand:
Die Anzahl der nach 1950 veröffentlichten Publikationen über
globale Komplexität und deren Wechselwirkungen erhöhte sich
signifikant, und die Versuche, eine „global history“ zu
formulieren, nahmen massiv zu;20 auch wurden die in den 1960er
Jahren aufkommenden Debatten über Entwicklungspolitik,
Kon-sumgesellschaft und Risikogesellschaft alle in einem globalen
Kontext ge-führt.21 Hieraus entwickelten sich die theoretischen
Vorstellungen einer Weltgesellschaft. Es gibt demzufolge eine
globale, institutionelle und kultu-relle Ordnung, welche das System
der Nationalstaaten und die Identität je-des Einzelnen prägt und
beeinflusst. Gemeint sind hiermit vor allem gleiche
18 Vgl. Robertson, Globalization, S. 179; Osterhammel und
Petersson, Geschichte
der Globalisierung, S. 63 ff.; Klaus Müller, Globalisierung,
Bonn 2002, S. 8;
Anthony Giddens, Konsequenzen der Moderne, Frankfurt a. M. 1995,
S. 84.
19 Albrow, Abschied vom Nationalstaat. Der Titel der englischen
Originalausgabe
lautet The Global Age. State and Society Beyond Modernity.
20 Vgl. Robertson, Globalization, S. 9 f. Der Ursprung einer
„Weltgeschichte“ lässt
sich allerdings in das Zeitfenster zwischen 1890 und 1914
datieren. Vor allem
Hans Ferdinand Helmots Weltgeschichte von 1899 legte hier die
Grundvoraus-
setzungen einer neuen theoretischen Perspektive der
Weltgeschichtsschreibung,
vgl. Matthias Middell, „Kulturtransfer und Weltgeschichte“, in:
Mittelbauer,
Scherke (Hrsg.), Ent-grenzte Räume, S. 43-73.
21 Die Einführung der Begriffe „Erste“, „Zweite“ und „Dritte
Welt“ führte zum
Beispiel zu der gängigen Aufteilung des Globusses in politische
Blöcke, vgl.
Stuart Hall, „Die Frage der kulturellen Identität“ [1992], in:
ders., Rassismus
und kulturelle Identität (= Ausgewählte Schriften 2), hrsg. und
übers. von Ulrich
Mehlem, Dorothee Bohle, Joachim Gutsche, Matthias Oberg und
Dominik
Schrage, Hamburg 1994, S. 180-222, hier S. 198 f.; Robertson,
Globalization, S.
59; Albrow, Abschied vom Nationalstaat, S. 131; Osterhammel und
Petersson,
Geschichte der Globalisierung, S. 86-87.
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I EINLEITUNG: MUSIK IM „ZEITALTER DER GLOBALISIERUNG“ | 17
globale Bildungs- und Wissenschaftsideale sowie der globale
Anspruch auf medizinische Grundversorgung, Infrastruktur,
Hochkultur etc.22
Diese „Tendenz einer kulturellen Unipolarität“23 wurde erstmals
am Ende des 19. Jahrhunderts mit dem Einfluss der europäischen
Kolonial-mächte – und hier im Besonderen des Vereinigten
Königreiches als erster moderner Großmacht – sichtbar. Jürgen
Osterhammel und Niels P. Pe-tersson beschreiben, dass viele
Nationen dem Vereinigten Königreich kul-turell wie ökonomisch
nacheiferten. Die Anpassung war wohl grundsätzlich nicht erzwungen,
sondern der Attraktivität des westlichen, in diesem Falle
britischen, Wohlstandes geschuldet.24 Wie Malcolm Waters damit
zusam-menhängend analysiert, entstand hier eine homogenisierte,
globale, größ-tenteils westlich geprägte Hochkultur. Die globale
Verbreitung von stan-dardisierten Opernrepertoires, Literatur- und
Wissenschaftsapparaten war nach Waters insbesondere eine Folge der
schnelleren Transportmöglichkei-ten und des raschen Ausbaus der
Infrastruktur in jener Zeit.25
Eine globale Weltgesellschaft, wie sie seit ungefähr 1950
auszumachen ist, besitzt nun keinen zentralen Akteur mehr; einzelne
Akteure stehen hier in unmittelbarer Konkurrenz und sorgen somit
für eine kulturelle Vielfalt.26 Ulrich Beck sieht hieran ein neues
Globalisierungsmerkmal: „Globalisierung meint also auch:
Nicht-Weltstaat. Genauer: Weltgesellschaft ohne
Weltstaat und ohne Weltregierung. Es breitet sich ein global
desorganisierter Kapita-
lismus aus. Denn es gibt keine hegemoniale Macht und kein
internationales Regime
– weder ökonomisch noch politisch.“27
Die Weltgesellschaft beschreibt ein politisch-ökonomisch
transnationales Netzwerk, welches die globalen, kulturellen
Veränderungen bestimmt. Der
22 Vgl. John W. Meyer, John Boli, George M. Thomas und Francisco
O. Ramirez,
„Die Weltgesellschaft und der Nationalstaat“, in: John W. Meyer,
Weltkultur.
Wie die westlichen Prinzipien die Welt durchdringen, hrsg. von
Georg Krücken,
Frankfurt a. M. 2005, S. 85-132, hier S. 91-94.
23 Osterhammel und Petersson, Geschichte der Globalisierung, S.
59.
24 Vgl. ebd., S. 58 ff.
25 Vgl. Waters, Globalization, S. 172.
26 Vgl. ebd., S. 143.
27 Beck, Was ist Globalisierung?, S. 32, Hervorhebungen im
Original.
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18 | MUSIK IM ZEITALTER DER GLOBALISIERUNG
kulturelle Relevanzverlust der Nationalstaaten, ihre politische
Neuformie-rung in transnationalen Bündnissen, der gleichzeitige
Bedeutungsgewinn der transnational corporations sowie der wachsende
kulturelle Einfluss durch Migration entstandener globalurbaner
Ballungsräume stützen die theoretischen Vorstellungen einer
Weltgesellschaft. Globale Prozesse ent-wickelten sich ab dem
Zweiten Weltkrieg so rasant, dass sich deren Ein-fluss in einer
kulturellen weltgesellschaftlichen Ordnung auf einer globalen
institutionellen Ebene manifestierte. Aspekte der Globalisierung
lassen aber nicht nur eine Weltgesellschaft entstehen, sondern
fördern gleichzeitig auch den politischen Fundamentalismus.
Christiane Harzig und Dirk Hoerder lie-fern hierfür ein Beispiel
aus der gegenwärtigen Migrationsgeschichte: „Migrants live,
mentally, simultaneously in home and host societies, live
transcul-
tural lives. Their networks extend over continents. While the
concept of bourgeois
cosmopolitanism and working-class internationalism may
overemphasize class cul-
tures, the concept of ,culture shock‘ overemphasizes disruption,
and that of a ,global
village‘ neglects cultural specifics. Problems emerge from
racism and exclusion ra-
ther than migrants’ inability to cope. A 1990s Bangladeshi
migrant in a racialized
neighbourhood of London noted: ,I can surf around the world on
the Internet, I have
family who phone me from America and Australia, but I am afraid
to go outside my
own front door.‘“28
Hieran wird die „Dialektik der Globalisierung“ deutlich, die bei
einigen Autoren eine zentrale Stellung für die Beschreibung des
Zeitalters der Glo-balisierung einnimmt.29
4 MUSIK IM ZEITALTER DER GLOBALISIERUNG Das Zeitalter der
Globalisierung wird auch in anderen gesellschaftlichen
Zusammenhängen bedeutsam. So fällt zum Beispiel der Diskurs über
die
28 Christiane Harzig und Dirk Hoerder, What is Migration
history?, Cambridge
2009, S. 143.
29 Vgl. Beck, Was ist Globalisierung?, S. 85; Giddens,
Konsequenzen der Moder-
ne, S. 96.
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I EINLEITUNG: MUSIK IM „ZEITALTER DER GLOBALISIERUNG“ | 19
„Postmoderne“ in diesen Zeitraum. In seinem Aufsatz Zen und der
Westen beschreibt Umberto Eco die gesellschaftliche Lage wie folgt:
„Die Diskontinuität ist, in den Wissenschaften wie in den
Alltagsbeziehungen, die
Kategorie unserer Zeit: die moderne westliche Kultur hat die
klassischen Begriffe
von Kontinuität, universellen Gesetzen, Kausalbeziehung,
Vorhersehbarkeit der
Phänomene endgültig aufgelöst: sie hat, so kann man
zusammenfassend sagen, da-
rauf verzichtet, allgemeine Formeln auszuarbeiten, die den
Anspruch erheben, die
Gesamtheit der Welt in einfachen und endgültigen Termini zu
bestimmen. Neue Ka-
tegorien haben in die modernen Sprachen Eingang gefunden:
Ambiguität, Ungewiß-
heit, Möglichkeit, Wahrscheinlichkeit. [D]as einstige Bewußtsein
von einem geord-
neten und unwandelbaren Universum kann in der heutigen Welt
bestenfalls ein Ge-
genstand rückwärtsgewandter Sehnsucht sein: es ist nicht mehr
das unsere.“30
Hier nun eröffnet sich das Feld der Zusammenhänge von Kultur und
Globa-lisierung. Für Ulrich Beck ist die Herstellung der
kulturell-symbolischen Reflexivität der Globalisierung eine
Schlüsselfrage der Kultursoziologie geworden: Globalisierung „zielt
daher nicht nur auf die ‚Objektivität zunehmender
Interdependenzen‘. Gefragt
und untersucht werden muß vielmehr, wie sich der Welthorizont in
der transkulturel-
len Produktion von Sinnwelten und kulturellen Symbolen öffnet
und herstellt.“31
Es soll im Folgenden nicht danach gefragt werden, wie der
Begriff der „Postmoderne“ Einfluss auf die Musikkultur ausübte,32
sondern wie sich die aktuelle Periode der Globalisierung ab 1950 –
die als Zeitalter der Glo-balisierung bezeichnet wird – auf die
Musikkultur auswirkt.
30 Umberto Eco, Das offene Kunstwerk, Frankfurt a. M. 1973, S.
214 f. Auch die
Avantgardebewegungen jener Zeit und der damit einhergehende
Traditionsbruch
werden mit den globalgesellschaftlichen Veränderungen um 1950 in
Verbin-
dung gebracht, siehe hierzu Peter Bürger, Theorie der
Avantgarde, Frankfurt a.
M. 1974, S. 82-86.
31 Beck, Was ist Globalisierung?, S. 88.
32 Andreas Domann geht in seiner Diskursanalyse diesem Thema
umfassend nach,
Andreas Domann, Postmoderne und Musik, Freiburg i. Br. 2012.
-
20 | MUSIK IM ZEITALTER DER GLOBALISIERUNG
Wie bereits erwähnt, wurde von verschiedener Seite versucht,
gesell-schaftliche Strömungen und Veränderungen ab 1950 in der
Musik und Mu-sikkultur darzustellen. Neben dem Diskurs über
Postmoderne und Musik gab es auch Bestrebungen, die
gesellschaftlichen Veränderungen jener Zeit, die unter den
Begriffen „Zweite Moderne“ oder „Reflexive Moderne“ ge-führt
werden, mit musikalischen Entwicklungen und Ereignissen in
Ver-bindung zu bringen.33 Grundannahmen all dieser
gesellschaftlichen Ver-knüpfungen mit der Musikkultur lassen sich
durch die Theorien und Er-kenntnisse der Musiksoziologie
beschreiben und lauten zusammengefasst: (1.) Das Kunstwerk spiegelt
immer die gesellschaftliche Realität wider, (2.) der Künstler muss
immer in seinem sozialen Milieu betrachtet werden und (3.) ein
musikalischer Stil bringt immer die gegenwärtige Zeitepoche zum
Ausdruck.34
Auch diese Arbeit geht von der Prämisse aus, dass sich die
gesellschaft-lichen Veränderungen, die der Globalisierung
zuzuschreiben sind, in der Musik widerspiegeln. Globalisierung hebt
sich von den oben genannten Begriffen Postmoderne, „Zweite Moderne“
oder „Reflexive Moderne“ ab, da es sich hierbei um konkret
beschreibbare Veränderungen handelt, die sich auf verschiedenen
gesellschaftlichen Ebenen darstellen lassen und zu allen Zeiten
relevant waren. Freilich kam der Globalisierungsdiskurs erst in der
Zeit ab 1950 auf – unter anderem ist daher auch dieser Zeitrahmen
für diese Arbeit gesteckt –, dennoch lassen sich kulturelle
Sachverhalte seit der
33 Der Band von Jörn Peter Hiekel (Hrsg.), Orientierungen. Wege
im Pluralismus
der Gegenwartsmusik (= Veröffentlichungen des Instituts für Neue
Musik und
Musikerziehung Darmstadt 47), Mainz 2007, bietet hierfür einen
guten Über-
blick. Siehe auch Christian Utz, „Kunstmusik und reflexive
Globalisierung – Al-
terität und Narrativität in chinesischer Musik des 20. und 21.
Jahrhunderts“, in:
Alenka Barber-Kersovan, Alfred Smudits und Harald Huber (Hrsg.),
West
Meets East (= Musik und Gesellschaft 29), Frankfurt a. M. 2011,
S. 147-180.
34 Annahmen dieser Art werden besonders von der klassischen
Musiksoziologie
vertreten, vgl. Alphons Silbermann, Empirische Kunstsoziologie,
Stuttgart 1973,
S. 75. Die Grundthese einer Verknüpfung zwischen Musik und
Gesellschaft ist
im Wesentlichen auf die soziologische marxistische Theorie
zurückzuführen, in
der alle kulturellen Güter Abbild der Gesellschaft sind und sich
aus dieser evo-
zieren.
-
I EINLEITUNG: MUSIK IM „ZEITALTER DER GLOBALISIERUNG“ | 21
Antike durch interkulturelle (globale) Verknüpfungen erklären.35
Musik ist in gewisser Weise schon immer global gewesen und
transkultureller musi-kalischer Austausch keineswegs ein Merkmal
einer neuen historischen Epoche.36 Das Zeitalter der Globalisierung
erhält nun durch die verschiede-nen Ebenen und Komplexitäten
globaler Zusammenhänge, deren theoreti-sche Prämissen erst ab 1950
erforscht wurden, eine exklusive historische Bedeutung; sowohl der
Künstler als auch das Kunstwerk wurden hierdurch geprägt,
verändert, anders interpretiert und unterschiedlich definiert.
In der Musikwissenschaft haben sich in den letzten Jahren einige
Ge-meinplätze herausgebildet, wie sich gesellschaftliche
Veränderungen, die der Globalisierung zuzuschreiben sind, auf die
Musikkultur auswirken kön-nen.37 Zum einen ist es durch mediale
Entwicklungen möglich geworden, dass nahezu alle Musiken aus
Geschichte und Gegenwart aller Völker und gesellschaftlichen
Gruppen für fast jedermann zur Verfügung stehen. Hier-bei entstehen
globale Zusammenhänge und Überschneidungen nicht nur in der Musik
selbst, sondern vor allem auch in den ökonomischen Arbeitswei-sen
und Aufführungsformen.38 Zum anderen haben sich im Laufe des
20.
35 Für musikalische Beispiele hierfür siehe Helmut Rösing,
„Populäre Musik und
kulturelle Identität. Acht Thesen“, in: Thomas Phleps (Hrsg.),
Heimatlose Klän-
ge?: Regionale Musiklandschaften heute (= Beiträge zur
Popularmusik-
forschung 29/30), Karben 2002, S. 11-34, hier S. 23 f.
36 Eine durch Migrationsströme transformierte kulturelle
Landschaft hatte in allen
historischen Phasen Einfluss auf die Musik. Ein Beispiel aus dem
18. Jahrhun-
dert ist das spanische Idiom in einigen Werken Domenico
Scarlattis, vgl. Barba-
ra Zuber, „Wilde Blumen am Zaun der Klassik“, in: Heinz-Klaus
Metzger und
Rainer Riehn (Hrsg.), Domenico Scarlatti (= Musik-Konzepte 47),
München
1986, S. 3-39. Für weitere aktuelle Studien zum Thema Musik und
Migrations-
forschung siehe auch Silke Leopold und Sabine Ehrmann-Herfort
(Hrsg.), Mig-
ration und Identität. Wanderbewegungen und Kulturkontakte in der
Musikge-
schichte (= Analecta musicologica 49), Kassel 2013.
37 Eine gute Übersicht hierfür bietet Bob W. White,
„Introduction: Rethinking
Globalization through Music“, in: ders. (Hrsg.), Music and
Globalization: Criti-
cal Encounters, Bloomington 2012, S. 1-14, hier S. 2-5.
38 Weitere Gedanken hierzu finden sich bei Gertrud
Meyer-Denkmann, Grenz-
übergänge zwischen Musik, Kunst und den Medien heute, Oldenburg
2005, S.
49 ff.
-
22 | MUSIK IM ZEITALTER DER GLOBALISIERUNG
Jahrhunderts fast alle Musikformen losgelöst von nationalen
Konzepten und ethnischen Zuweisungen entwickelt.39 Diese beiden
Annahmen gilt es zu hinterfragen und werden unter anderem im
Folgenden schwerpunktartig beleuchtet.
5 GESELLSCHAFTLICHE VERORTUNG DER GLOBALISIERUNG Um den
Forschungsrahmen weiter einzugrenzen, soll zunächst jedoch die
Frage der gesellschaftlichen Verortung der Globalisierung geklärt
werden. Abgesehen von der Debatte über die verschiedenen
historischen Perioden der Globalisierung und deren zeitliches
Einsetzen wird hierüber eine weite-re Kontroverse geführt. Die
soziologischen Diskurse gehen der Frage nach, aus welcher
Gesellschaftsordnung heraus der Begriff Globalisierung herzu-leiten
ist. So sieht Immanuel Wallerstein diese als kapitalistische und
öko-nomische Weltordnung europäischen Ursprungs.40 Bezogen auf die
westli-che Hemisphäre ist Globalisierung ein Begriff, welcher
seinen Ursprung in der Aufklärung hat, da hier erstmalig der
Gedanke einer Universalgeschich-te formuliert und verbreitet
wurde.41 Globalisierung steht demnach in direk-tem Zusammenhang mit
der Ausdehnung der europäischen Kultur; die kul-turelle
Gestaltungskraft der europäischen Moderne macht Globalisierung erst
möglich, daher wird diese entsprechend auch als „Aufstieg des
Wes-tens“42 bezeichnet.
39 Vgl. Susanne Binas-Preisendörfer, „Ethnische Repräsentationen
als Herausfor-
derung für Musikwissenschaft und Musikpolitik“, in:
Barber-Kersovan,
Smudits, Huber (Hrsg.), West Meets East, S. 21-34, hier S.
29.
40 Immanuel Wallerstein, „Culture as the Ideological
Battleground of the Modern
World-System“, in: Mike Featherstone (Hrsg.), Global Culture.
Nationalism,
globalization and modernity, London 1990, S. 31-35, hier S.
35.
41 Vgl. Hopkins, „The History of Globalization“, S. 12; Mike
Featherstone, „Glob-
al Culture: An Introduction“, in: ders. (Hrsg.), Global Culture,
S. 1-14, hier S. 3.
42 Osterhammel und Petersson, Geschichte der Globalisierung, S.
111. Dieser Be-
griff wurde ursprünglich von William MacNeill eingeführt, vgl.
William
MacNeill, The rise of the West, Chicago 1963.
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I EINLEITUNG: MUSIK IM „ZEITALTER DER GLOBALISIERUNG“ | 23
Der westliche Einfluss wird in der Debatte über eine kulturelle
Globali-sierung unterschiedlich bewertet. Für Mike Featherstone
bedeutet kulturelle Globalisierung ein Expandieren der
gegenseitigen kulturellen Wechselbe-ziehungen und eine dauerhafte
kulturelle Interaktion.43 Hier wird kulturelle Globalisierung nicht
als „Verwestlichung“, sondern mehr als ein Phänomen der kreativen
Aneignung gesehen.44 Anthony Giddens sieht durch die glo-bale
Verbreitung der westlichen Institutionen diese im Kontext einer
kultu-rellen Globalisierung gar als geschwächt: „Dass der Einfluss
des Abendlands auf die übrige Welt schwächer wird, ist keine
Folge der nachlassenden Wirkung der zunächst im Abendland
entstandenen Institu-
tionen, sondern – ganz im Gegenteil – ein Ergebnis ihrer
globalen Verbreitung. Die
ökonomische, politische und militärische Macht, die dem
Abendland zur Vorherr-
schaft verhalf […], reicht nicht mehr aus, um die westlichen
Länder deutlich von
anderen Ländern in anderen Gegenden abzuheben.“45
Westlicher Einfluss, wie auch immer dieser bewertet wird, spielt
für die Theorien einer kulturellen Globalisierung und speziell für
die Musik im Zeitalter der Globalisierung also eine übergeordnete
Rolle.
6 MODELLE DER KULTURELLEN GLOBALISIERUNG David Held formuliert
angelehnt an die vorgestellten vier Zeitperioden der Globalisierung
fünf Ebenen der kulturellen Globalisierung: Zunächst be-merkt er
einen transkontinentalen kulturellen Austausch im Zeitalter der
Völkerwanderung und sieht hierin eine globale historische
Grundlage. Ab dem späten 18. Jahrhundert wurde diese Grundlage
durch einen kulturellen Austausch sowohl der verschiedenen
Nationalstaaten und sogenannten Na-tionalkulturen als auch der
verschiedenen politischen Gesellschaftsordnun-gen ergänzt. Im
späten 19. Jahrhundert beschleunigte sich dann dieser Aus-tausch
durch neue Formen der technischen Übermittelung. Die vierte
Ebene
43 Vgl. Featherstone, „Global Culture“.
44 Vgl. ebd.; Waters, Globalization, S. 6; Osterhammel und
Petersson, Geschichte
der Globalisierung, S. 111.
45 Giddens, Konsequenzen der Moderne, S. 70 f.
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24 | MUSIK IM ZEITALTER DER GLOBALISIERUNG
beschreibt die gegenwärtige Situation des immer schneller
werdenden tech-nischen Wandels und Informationsaustausches und die
dadurch bedingten politischen und institutionellen
Transformationen. Das hier angedeutete Zeitalter der Globalisierung
führt demnach zu neuen kulturellen globalen Strömungen, welche die
alten nationalen Kulturen, Ideologien und politi-schen
Institutionen verändern. Die fünfte Ebene einer kulturellen
Globali-sierung liegt laut Held in den Produkten und Deutungen der
Konsumgesell-schaft. Deren Ambiguität stellt für ihn eine neue
komplexe Form der kultu-rellen Globalisierung dar, deren Einfluss
auf die bestehenden Gesellschaf-ten und Kulturen noch nicht
absehbar sei.46
Die von Held angesprochenen Veränderungen der nationalen
Kulturen und Ideologien beschreibt Arjun Appadurai in einem Modell,
welches die globalen kulturellen Strömungen auf fünf verschiedenen
Landschaften (scapes) darstellt. Diese scapes bieten die
Möglichkeit, Veränderungen na-tionaler Ideologien und Kulturen
unter verschiedenen Blickwinkeln zu be-trachten. Appadurai
unterscheidet zwischen ethnoscapes, technoscapes, financescapes,
mediascapes und ideoscapes.47 Ethnoscapes beschreiben die ethnische
Herkunft oder den nationalen Bezugsrahmen eines Individuums
unabhängig von seiner Staatsangehörigkeit oder seines
Aufenthaltsortes (unterschieden wird zwischen Gastarbeiter,
Flüchtling, Migrant, Tourist etc.), technoscapes beschreiben die
kulturellen Verbindungen auf einer technisch-innovativen Ebene. Als
Beispiel dient hier der Austausch von technischen Dienstleistungen
und Gütern, welcher einzig durch Angebot und Nachfrage global
reguliert wird. Hieran angelehnt formuliert Appa-durai die
financescapes: Der entgrenzte globale Kapitalfluss erschafft dabei
durch seine Vielzahl an verschiedenen Varianten eine eigene globale
kultu-relle Landschaft. Die nun verbleibenden mediascapes und
ideoscapes hän-gen eng miteinander zusammen. Mediascapes
beschreiben sowohl die un-terschiedlichen technischen Ebenen der
Medienlandschaft (Zeitung, Jour-nal, Fernsehen, Radio etc.) als
auch deren inhaltliche Ausrichtung. Gemeint ist hier, wer welche
Medien zu welchem Zwecke der lokalen oder globalen
Informationsstreuung nutzt und wie diese Informationen später von
ver-schiedenen globalen Rezipienten wahrgenommen und interpretiert
werden.
46 Held et al., Global Transformations, S. 328.
47 Arjun Appadurai, Modernity at Large: Cultural Dimensions of
Globalization,
Minneapolis 1996, S. 33.
-
I EINLEITUNG: MUSIK IM „ZEITALTER DER GLOBALISIERUNG“ | 25
Der Rezipient wird durch die Ebene der ideoscapes unterschieden.
Gemeint sind hier die jeweiligen ideologischen Einstellungen eines
Staates, einer Bewegung oder einer Einzelperson wie zum Beispiel
Freiheitlichkeit, Wohlstand, Menschenrechte, Souveränität,
Darstellungsweise oder Demo-kratieempfinden.48 Diese fünf scapes
dienen der Beschreibung des kulturel-len Wandels im Zeitalter der
Globalisierung: Die Aufteilung der Gesell-schaft in kulturelle
Landschaften eröffnet die Möglichkeit,
Globalisierungs-zusammenhänge auf den verschiedenen Ebenen getrennt
voneinander zu analysieren.49 Die Interessen einer
Weltgesellschaft, einzelner Staaten, außerstaatlicher Gruppierungen
oder Einzelpersonen stimmen in einigen scapes überein, in anderen
wiederum können sie weit auseinander liegen. So wird von Appadurai
eine dezentrale globale Welt konstruiert.
7 FORSCHUNGSSTAND: MUSIK UND GLOBALISIERUNG
Auch wenn die Untersuchung des Zusammenhangs von Musik und
Globa-lisierung nach wie vor als musikhistorisch nicht sehr stark
beleuchtet zu be-trachten ist, liegen inzwischen einige Arbeiten
vor, die den ersten Einstieg in die Thematik erleichtern. Vor allem
in der Musikethnologie wurden in den letzten Jahrzehnten
musikalische Wandlungen im Kontext globaler Veränderungen
erforscht,50 obwohl es sich gleichermaßen um ein histori-sches wie
soziologisches Phänomen handelt. Allerdings wurden in den
48 Ebd., S. 33-37.
49 Der Musikethnologie Max Peter Baumann bezeichnete auf dem
Symposium
„Entgrenzte Welt? Musik und Kulturtransfers in der Gegenwart“
vom 20. bis 22.
Juli 2012 in der Humboldt-Universität zu Berlin Appadurais
Landschaften auch
als „die fünf Dimensionen der globalen kulturellen Dynamik“.
50 Besonders sind hier folgende Arbeiten von Max Peter Baumann
und Bruno
Nettl zu nennen: Max Peter Baumann (Hrsg.), World Music, Music
of the
World (= Intercultural Music Studies 3), Wilhemshaven 1992;
ders., „The Local
and the Global: Traditional Musical Instruments and
Modernization“, in: The
world of music 42/3 (2000), S. 121-144; ders., Musik im
interkulturellen
Kontext, Nordhausen 2006; Bruno Nettl, The Study of
Ethnomusicology, Urba-
na 1983; ders., The Western Impact on World Music, New York
1985.
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26 | MUSIK IM ZEITALTER DER GLOBALISIERUNG
weitaus meisten Studien Veränderungen der Musikkultur innerhalb
einge-grenzter Kulturkreise in den Fokus genommen.51 Die bis dato
wenigen all-gemeinen Publikationen über das Thema Musik und
Globalisierung bilden hier die Ausnahme.52 Ferner sind auch die
„Cultural Studies“ zu nennen, die sich seit den 1980er Jahren mit
den Auswirkungen der Globalisierung auf die Kultur
auseinandergesetzt haben.53 Beispiele aus der Identitätsfor-schung
und den „Cultural Studies“ belegen, wie selbstgewählte globale
Identitäten in verschiedenen Kontexten und Lebenssituationen nach
Belie-ben wechseln und jeweils in den Vorder- oder Hintergrund
rücken.54 Bezo-gen auf die Musik konstatiert Simon Frith:
51 Zum Beispiel Kevin Dawe, „Roots Music in the Global Village:
Cretan ways of
dealing with the world of large“, in: The world of music 43/3
(2001), S. 47-66;
Michael Bodden, „Rap in Indonesian youth music of the 1990s:
Globalization,
outlaw genres, and social protest“, in: Asian music Journal of
the Society for
Asian Music 36/2 (2005), S. 1-26; Iain Chambers, „Travelling
Sounds. Whose
Centre, whose Periphery?“, in: Popular Music Perspectives 3
(1992), dt. in:
PopScriptum – World-Music 3, S. 45-51. Die Auflistung von
musikalischen
Einzelstudien zum Thema Musik und Globalisierung ließe sich noch
um ein
Vielfaches erweitern.
52 Zum Beispiel Christian Utz (Hrsg.) Musik und Globalisierung.
Zwischen kultu-
reller Homogenisierung und kultureller Differenz, Saarbrücken
2007; Susanne
Binas-Preisendörfer, Klänge im Zeitalter ihrer medialen
Verfügbarkeit, Biele-
feld 2010; Alexandros G. Baltzis, „Globalization and Musical
Culture“, in: Acta
musicologica 77/1 (2005), S. 137-150; Veit Erlmann, „The
politics and
Aesthetics of Transnational Musics“, in: The world of music 35/2
(1993), S. 3-
15; White (Hrsg.), Music and Globalization.
53 Ein gutes Beispiel hierfür bietet der Band von Marianne I.
Franklin (Hrsg.),
Resounding international relations: on music, culture, and
politics, New York
2005.
54 Vgl. Harris M. Berger und Giovanna Del Negro, Identity and
everyday life: in
the study of folklore, music, and popular culture, Middletown
2004, S. 151 f.
Ein Beispiel, das die Autoren anführen, ist eine typische
Situation im Leben ita-
lienischer Migranten in den USA: Der in Amerika geborene Sohn
lädt seine Ar-
beitskollegen in sein Elternhaus ein, um ihnen die Vorzüge der
„originalen“ ita-
lienischen Kochkünste seiner Mutter zu präsentieren. Diese
wiederum fühlt sich
einerseits durch die Wertschätzung geschmeichelt, möchte aber
nicht auf die
-
I EINLEITUNG: MUSIK IM „ZEITALTER DER GLOBALISIERUNG“ | 27
„Es geht nicht um die Frage, auf welche Weise ein Musikstück […]
die Menschen
widerspiegelt, sondern wie es diese Menschen produziert; in
welcher Weise es eine
musikalische Erfahrung, eine ästhetische Erfahrung herstellt und
konstruiert. Die wir
nur verstehen können, indem wir sowohl eine subjektive als auch
kollektive Identität
annehmen.“55
Friths These stützt sich auf zwei Prämissen: „[E]rstens, dass
Identität be-weglich ist [und] zweitens, dass unsere Erfahrung von
Musik […] sich am besten als Erfahrung eines Selbst in einem
Prozess verstehen lässt.“56
Die Komplexität des kulturellen Wandels im Zeitalter der
Globalisie-rung wird vor allem durch die Kontroverse der
kulturellen Homogenisie-rung oder Heterogenisierung
veranschaulicht. In einem Zeitungsartikel von Wolf Lepenies Mitte
der 1990er Jahre heißt es hierzu: „Das Stichwort ‚Globalisierung‘
zeichnet das Bild einer sich vereinheitlichenden
Welt. Aber während die Oberfläche der einen Welt immer
einförmiger wirkt, stoßen
darunter heftiger denn je zuvor die unterschiedlichen
Lebenswelten der einzelnen
aneinander. Diese Lebenswelten sind keineswegs einheitlich
geprägt, sondern bilden
stets Mischformen: es gibt nur noch hybride Kulturen.“57
Eine Darstellung des sozialwissenschaftlichen Diskurses der
kulturellen Homogenisierung versus Heterogenisierung bietet Jörg
Dürrschmidt, wel-cher die hierzu wichtigsten Autoren mit ihren
verschiedenen Thesen und verschiedenen Unterkategorien der
jeweiligen Prozesse vorstellt.58 Bezogen auf die Debatte innerhalb
der Disziplin der Musikwissenschaft bietet der
Rolle der kochenden Hausfrau reduziert werden, da sie aus gutem
sizilianischen
Hause kommt und diese Rolle in ihrer „Heimat“ nie ausfüllte.
55 Simon Frith, „Musik und Identität“, in: Jan Engelmann
(Hrsg.), Die kleinen Un-
terschiede, Frankfurt a. M. 1999, S. 149-169, hier S. 151.
56 Ebd, Hervorhebungen im Original.
57 Wolf Lepenies, „Nur noch Mischformen. Wandel des Wertesystems
in Europa“,
in: Der Tagesspiegel vom 27.04.1996, S. 23.
58 Dürrschmidt, Globalisierung, S. 104-111.
-
28 | MUSIK IM ZEITALTER DER GLOBALISIERUNG
Aufsatz „Cultural Grey-out“ oder „Many Diverse Musics“? von Gerd
Grupe einen Überblick.59
8 GLIEDERUNG, RELEVANZEN UND FRAGESTELLUNG Wie haben sich also
die globalen Veränderungen ab 1950 auf die Musik-kultur ausgewirkt?
Das Zeitalter der Globalisierung und ihr Einfluss auf die
Musikkultur sollen im Folgenden durch verschiedene Begriffe und
„Schlagwörter“ dargestellt werden. Als Fundament dient hierbei, wie
der Begriff Globalisierung ab 1950 definiert und historisch
verortet wird, und ferner, welche Darstellungen für den kulturellen
Einfluss der Globalisie-rung insbesondere auf die Musikkultur
herangezogen werden. Das Zeitalter der Globalisierung erklärt sich
aus der Perspektive des Nationalstaats und seiner internationalen
Einbindungen und Überlagerungen, des technischen Fortschritts der
Kommunikationsmedien und einer grenzüberschreitenden
Kulturindustrie. In diesem Kontext sind folgende Thematiken
relevant: Migration, Urbanisierung, transnational corporations,
Weltgesellschaft, Be-schleunigung, Verdichtung von Raum und Zeit,
Internet, globale Netz-werkgesellschaft, „Gegenkultur“, globale
Identität, Kulturindustrie, „Ame-rikanisierung“, „Globale
Kulturindustrie“ und der Begriff des „global village“. Zu diesem
Begriffspool gesellen sich nun drei Prozesse der Globa-lisierung:
„Glokalisierung“, „Enttraditionalisierung“ und „Entbettung“. Diese
Begriffe und ihre dazugehörigen theoretischen Befunde sollen
exemplarisch an drei musikalischen Fallbeispielen näher untersucht
wer-den: an „Stockhausens Weltmusik“, „Jamaikanischer Ska im
globalen Kon-text“ und die „Traditionen der world music“. Dabei
gehört es zum Konzept der Arbeit, Beispiele unterschiedlicher
Kontexte, Szenen und Stilhöhen herauszugreifen, um einerseits
Differenzen aufzuzeigen, die sich in den Auswirkungen der
Globalisierung abzeichnen, andererseits aber auch sze-ne- und
subkulturübergreifende Mechanismen der Globalisierung
herauszu-arbeiten. Die Fallbeispiele stammen alle aus dem
zeitlichen Rahmen des Zeitalters der Globalisierung, also ab 1950.
Sie stehen zudem alle in einem
59 Gerd Grupe, „,Cultural Grey-out‘ oder ,Many Diverse Musics‘?
Musikkulturen
der Welt in Zeiten der Globalisierung“, in: Utz (Hrsg.), Musik
und Globalisie-
rung, S. 11-26.
-
I EINLEITUNG: MUSIK IM „ZEITALTER DER GLOBALISIERUNG“ | 29
westlichen Zusammenhang. Wie schon erwähnt, entspringen
Globalisie-rungszusammenhänge immer einem westlichen Kontext.
Dieser drückt sich bei Karlheinz Stockhausen durch die Herkunft des
Künstlers, im jamaikani-schen Ska durch postkoloniale und bei der
world music durch ökonomische Zusammenhänge aus.
Die drei Fallbeispiele wurden also so gewählt, dass sich hieran
die ver-schiedenen globalgesellschaftliche Einflüsse beschreiben
lassen. Wenn die-se einen gemeinsamen gesellschaftlichen Ursprung
haben, sollten – so die Kernthese dieser Arbeit – auch die drei
musikalischen Fallbeispiele ge-meinsame Merkmale aufweisen, die die
globalisierte Musikkultur beschrei-ben. Das Zeitalter der
Globalisierung hat möglicherweise die Grenzen ver-schiedener
Musiktraditionen, Stilistiken und Genres aufgehoben und sozia-le,
politische und kulturelle Veränderungen bewirkt. Die Relevanz des
The-mas ergibt sich daraus folgend aus mindestens drei Gründen:
1. Globalisierung ist als musikhistorische Tatsache anzusehen.
Eine aktuelle Musikgeschichtsschreibung kann nicht auskommen, ohne
diesen zentralen Faktor einzubeziehen und seine Auswirkungen auf
die Musik zu untersuchen.
2. Vorgänge der Globalisierung sind überaus komplex, und es kann
daher zum Verständnis dieser Vorgänge insgesamt beitragen, sie aus
der Perspektive einer einzelnen Wissenschaft heraus konkret zu
beleuchten; in diesem Falle aus der Perspektive musikalischer
Entwicklungen.
3. Die Fragestellung ist in besonderem Maße dazu geeignet,
konkrete musikhistorische Prozesse, kompositorische Stilistiken und
musi-kalische Praktiken im Kontext der sozialgeschichtlichen
Verände-rungen zu erklären. Dies trägt überdies zur
interdisziplinären Ein-bindung der musikwissenschaftlichen
Forschung bei.
Das bereits vorgestellte Modell der verschiedenen globalen
scapes von Ar-jun Appadurai, die verschiedenen Formen der
kulturellen Heterogenisie-rung von Bruno Nettl60 und die vier
Stufen der kulturellen Interaktion von
60 Nettl, The Study of Ethnomusicology, S. 350 ff.
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30 | MUSIK IM ZEITALTER DER GLOBALISIERUNG
Krister Malm und Roger Wallis 61, welche im Verlauf der Arbeit
noch vor-gestellt werden, sollen dabei helfen, die Dimensionen der
kulturellen Glo-balisierung besser zu verstehen. Diese drei Modelle
dienen den musikali-schen Fallbeispielen als übergeordnete
theoretische Erklärungsmodelle und fungieren gewissermaßen als
Leitfaden. Bemerkenswert an den Modellen ist, dass sie trotz
unterschiedlicher wissenschaftlicher Ebenen die kulturelle
Globalisierung auf ähnliche Weise beschreiben und historisch
verorten. So steht in allen Modellen die Globalisierungsperiode ab
1950 im Fokus des globalen kulturellen Austausches und in allen
spielen die technischen Inno-vationen, neue Formen einer
transnationalen Gemeinschaft sowie die Reichweiten einer Globalen
Kulturindustrie eine wichtige Rolle im kultu-rellen
Globalisierungsprozess.
Die Sichtung der Globalisierungsliteratur – mit Schwerpunkt auf
sozio-logischen Texten – lässt sich nun in drei Perspektiven
einteilen, welche als Gerüst für die Beschreibung der
gesellschaftlichen Veränderungen im Zeit-alter der Globalisierung
fungieren und innerhalb deren sich die oben ge-nannten
„Schlagwörter“ formieren: (1.) politisch-ökonomische
Transnatio-nalität, (2.) technisch-innovative Verdichtung von Raum
und Zeit und (3.) informell-kulturelle Reflexivität. Auf dieser
Basis lassen sich dann wiede-rum drei Prozesse der Globalisierung
ableiten, die konkrete Auswirkungen auf die kulturelle Sphäre und
somit auch auf die Musikkultur haben. Die bearbeiteten
Globalisierungstheorien weisen diese Unterteilung nicht direkt auf.
Sie ist demnach mehr als Schema zu verstehen, da sich die einzelnen
Themenkomplexe im inhaltlichen Diskurs fortwährend überschneiden.
Im Zusammenspiel der Prozesse Glokalisierung,
Enttraditionalisierung und Entbettung, in deren Komplexität und
Dialektik, zeichnet sich das neue Zeitalter der Globalisierung ab.
In diesem Zeitraum ab 1950 – so die zu-grunde gelegte Kernthese –
wurde die Musikkultur signifikant verändert. Es soll hierbei aber
klar festgehalten werden, dass das Zeitalter der Globalisie-rung
lediglich eine, nämlich die jüngste Periode der Globalisierung
ist.
61 Beschrieben in Roger Wallis und Krister Malm, Big Sounds from
Small Peo-
ples. The Music Industry in Small Countries, New York 1984;
siehe auch
Krister Malm, „Local, National and International Musics. A
Changing Scene of
Interaction“, in: Baumann (Hrsg.), World Music, S. 211-227.
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I EINLEITUNG: MUSIK IM „ZEITALTER DER GLOBALISIERUNG“ | 31
8.1 Politisch-ökonomische Transnationalität Der Terminus
Transnationalität ist im Zeitalter der Globalisierung zu einer
Standardkategorie für die Beurteilung der Weltpolitik geworden.
Vorläufi-ge Tendenzen lassen sich allerdings schon in früheren
Globalisierungsperi-oden finden. So beschreiben zum Beispiel
Osterhammel, Petersson und David Held die modern period of
globalization zwischen 1880 und 1945 als transnational, da hier
weltpolitisch erstmals zwischen Demokraten, Faschis-ten und
Kommunisten unterschieden wurde.62 Der Ursprung des Begriffs liegt
in der Literatur der 1960er Jahre von Robert O. Keohane und Joseph
S. Nye63, Raymond Aron64 sowie James N. Rosenau65, welche die
transna-tionalen Interaktionen von Akteuren wie
Nichtregierungsorganisationen, multinationalen Konzernen und dem
internationalen Finanzwesen analy-sierten.66 Vor allem Rosenau
konstruierte ein Netzwerkmodell „unrevidier-barer polyzentrischer
Weltpolitik“67, welches sich zusammensetzt aus trans-nationalen
Organisationen (zum Beispiel der Weltbank, der katholischen Kirche,
der italienischen Mafia oder McDonalds), transnationalen Proble-men
(zum Beispiel Klimaveränderungen, Aids oder einer atomaren
Ge-fahr), transnationalen Ereignissen (zum Beispiel einer
Fußballweltmeister-schaft oder den beiden Golfkriegen),
transnationalen Gemeinschaften (zum Beispiel Religionen, Wissen,
Lebensstilen oder politischen Orientierungen) und transnationalen
Strukturen (zum Beispiel Arbeitsformen oder Finanz-strömen).68
Weitere theoretische Modelle eines globalen transnationalen
62 Osterhammel und Petersson, Geschichte der Globalisierung, S.
79; Held et al.,
Global Transformations, S. 362.
63 Robert O. Keohane und Joseph S. Nye (Hrsg.), Transnational
Relations and
World Politics, Cambridge 1971.
64 Raymond Aron, Peace and War: a Theory of International
Relations, New York
1967.
65 James N. Rosenau (Hrsg.), Linkage Politics: Essays on the
Convergence of Na-
tional and International Systems, New York 1969.
66 Vgl. Albrow, Abschied vom Nationalstaat, S. 190 f.
67 James N. Rosenau, Turbulence in World Politics, Brighton
1990, S. 17, zit. n.
Beck, Was ist Globalisierung?, S. 70.
68 Ebd., S. 70 f.
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32 | MUSIK IM ZEITALTER DER GLOBALISIERUNG
Systems finden sich außerdem bei Leslie Sklair69 oder Ulf
Hannerz.70 Sklair beschreibt in einem hegelianischen Theoriemodell
das Zusammenspiel zwi-schen „transnational corporations“ (TNCs),
einer „transnational capitalist class“ und einer übergeordneten
„transnational cultural practice“.71 Hannerz greift dieses Modell
auf und spricht darüber hinaus von einer „global ecumene“, in der
direkt oder indirekt alle globalen Akteure und Ereignisse in einem
Sinnzusammenhang stehen.72
8.2 Technisch-innovative Verdichtung von Raum und Zeit Die
technisch-innovative Verdichtung im Zeitalter der Globalisierung
stellt möglicherweise die eindrucksvollste und „greifbarste“
Veränderung einer globalen Welt dar. David Held behauptet sogar,
dass die Frage „What is globalization?“ am konkretesten mit den
beschreibbaren Phänomenen der technisch-innovativen Verdichtung der
Welt beantwortet werden kann.73 Entscheidendes Kriterium ist
hierbei die Beschleunigung des Transports, der Kommunikation und
der Produktion, welche die Art und Weise, wie Kulturen in Zeit und
Raum zueinander gestellt sind, fundamental verändert hat. Bei allen
technischen Neuerungen spielt im Globalisierungskontext die
veränderte Wahrnehmung der Zeit oder des Zeitverhältnisses eine
überge-ordnete Rolle: Zeitverhältnisse sind durch die technischen
Innovationen der letzten 200 Jahre nicht mehr als starr zu
begreifen.74 Die Einführung der
69 Leslie Sklair, Sociology of the Global System, London
1991.
70 Ulf Hannerz, Transnational Connections, London 1998.
71 Sklair, Sociology of the Global System, S. 81 f.; vgl. auch
Dürrschmidt, Globa-
lisierung, S. 68 f.
72 Hannerz, Transnational Connections, S. 6 f; vgl. auch
Dürrschmidt, Globalisie-
rung, S. 70 f.
73 Held et al., Global Transformations, S. 14 f.
74 Gemeinhin wird die Einführung des Telegraphen um 1839 als
Beginn eines sich
verändernden globalen Zeitverständnisses betrachtet, vgl.
Osterhammel und
Petersson, Geschichte der Globalisierung, S. 54 f.; Anthony
Giddens, Entfessel-
te Welt. Wie die Globalisierung unser Leben verändert, Frankfurt
a. M. 2001, S.
22. Bemerkenswerte Studien über die Geschichte und die
Veränderung der Ar-
beits- und Freizeitentwicklung im 20. Jahrhundert liefert der
Band von Eckart
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I EINLEITUNG: MUSIK IM „ZEITALTER DER GLOBALISIERUNG“ | 33
Weltzeit und die damit einhergehende globale Vereinheitlichung
der Zeit zwischen 1880 und 1920 war zwar ein gesellschaftlicher
transnationaler Beschluss, stellte aber auch eine Reaktion der
Weltgemeinschaft auf die durch technische Innovationen
herbeigeführte Verdichtung dar.75 Entfer-nungen wurden durch Ausbau
der Infrastruktur in immer kürzerer Zeit zu-rückgelegt, so dass
sich die Zeit- und Raumverhältnisse entsprechend ver-änderten.
Jürgen Habermas bemerkt hierzu: „Schon die Reisenden, die um 1830
die ersten Eisenbahnen benutzen, hatten über
neue Raum- und Zeitwahrnehmungen berichtet. Im 20. Jahrhundert
haben Autover-
kehr und zivile Luftfahrt den Personen- und Gütertransport
weiter beschleunigt und
die Entfernungen auch subjektiv immer weiter schrumpfen
lassen.“76
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde das Zeit- und
Raumver-ständnis durch neue wissenschaftliche Erkenntnisse wie
Einsteins Relativi-tätstheorie, aber auch durch die Beschäftigung
mit außereuropäischen Zeit-modellen erweitert.77
Die neuen Errungenschaften der Technik erzielten auch andere
Effekte auf die Gesellschaft. So beschreibt beispielsweise Marshall
McLuhan, dass technische Innovationen wie der Telegraph und das
Radio nationale Macht-verhältnisse neutralisierten, da ihre
Reichweiten nicht mehr von physischen nationalen Grenzen beschränkt
wurden. Die technischen Innovationen lie-ßen laut McLuhan eine neue
Art des Machtkampfes entstehen, bei dem es um eine ideologische und
politische Mitbestimmung sowie Kontrolle der übertragenen
Informationen ging.78 Theodor W. Adorno sah ferner durch den stetig
voranschreitenden technischen Apparat eine Auflösung der Klas-
Hildebrandt und Gudrun Linne (Hrsg.), Reflexive Lebensführung:
zu den sozi-
alökologischen Folgen flexibler Arbeit, Berlin 2000.
75 Vgl. Robertson, Glokalisierung, S. 210. Die weltweite
Übernahme des gregoria-
nischen Kalenders in früheren Globalisierungsperioden muss
wiederum als Vor-
läufer dieser Ereignisse betrachtet werden.
76 Habermas, Die postnationale Konstellation, S. 70.
77 Vgl. Hartmut Rosa, Beschleunigung. Die Veränderung der
Zeitstrukturen in der
Moderne, Frankfurt a. M. 2005, S. 64 ff.
78 Vgl. Marshall McLuhan, Understanding Media: the extensions of
man [1964],
Corte Madeira 2003, S. 404.
-
34 | MUSIK IM ZEITALTER DER GLOBALISIERUNG
sen.79 In den 1960er Jahren entwickelte sich in der westlichen
Hemisphäre eine alternative und gesellschaftskritische Bewegung,
die sich um eine Li-beralisierung und Dezentralisierung der
technischen Innovationen und der dadurch transportierten
Informationen bemühte. Die Konstituierung der globalen
Netzwerkgesellschaft, welche liberal, dezentral und frei fungiert,
nahm mit den technischen Innovationen der Gegenkultur der 1960er
Jahre ihren Anfang.80 Die Entstehung der Gegenkultur ist zudem als
Reaktion auf eine immer weiter voranschreitende
Industriegesellschaft zu interpretieren und jenes den Gegenkulturen
immanente Suchen nach Auswegen aus dieser in einen
globalgesellschaftlichen Kontext eingebettet.
Was die Musikkultur angeht, so stellen technologische
Entwicklungen einen Hauptfaktor der Globalisierung von Musik dar.
Beschleunigung und die Verdichtung von Raum und Zeit haben
historisch schon immer Einfluss auf die Musikkultur gehabt. So
konnte beispielsweise das javanesische Gamelan-Ensemble auf der
Pariser Weltausstellung 1889, welches Einfluss auf Musiker wie
Claude Debussy hatte, nur durch den neu eröffneten Suez-kanal nach
Europa gelangen. Ohne die Verkürzung des Weges wäre diese Reise für
die Instrumente wohl nicht schadlos zu bewältigen gewesen.81 Als
weitere Verbindung von Musikkultur und Technik haben aber vor allem
die industriellen aufnahmetechnischen Neuerungen der letzten 100
Jahre die Musik wesentlich geprägt und verändert. Das Kunstwerk,
welches immer reproduzierbar gewesen ist, konnte nun durch eine
neue Art der technischen Reproduktion erweitert werden.82 Durch die
industriellen aufnahmetechni-schen Innovationen wie Radio,
Telekommunikation und Phonograph ver-
79 Theodor W. Adorno (Hrsg.), Spätkapitalismus oder
Industriegesellschaft?,
Frankfurt a. M. 1969, S. 25 ff.
80 Beispielsweise wurde das Modem 1978 von einigen Hackern
entwickelt, vgl.
Manuel Castells, Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft. Teil 1
der Trilogie Das
Informationszeitalter [1996], Opladen 2001, S. 53.
81 Vgl. John Joyce, „The Globalization of Music: Expanding
Spheres of Influ-
ence“, in: Mazlish, Buultjens (Hrsg.), Conceptualizing global
history, S. 205-
224, hier S. 209-211.
82 Walter Benjamin datiert um 1900 den Beginn der technischen
Reproduzierbar-
keit als anerkanntes künstlerisches Verfahren und als eigene
Kunstform, vgl.
Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen
Reproduzier-
barkeit [1936], Frankfurt a. M. 2006, S. 9-11.
-
I EINLEITUNG: MUSIK IM „ZEITALTER DER GLOBALISIERUNG“ | 35
breiteten sich auch die Produkte der Musikindustrie über den
ganzen Glo-bus. Diese operierte von vornherein global und nutzte
die neuen Reichwei-ten des technischen Apparates. Um 1900 entstand
eine transnationale Mu-sikindustrie, die bereits alle Kennzeichen
einer global operierenden Organi-sation trug.83 Am Ende des 20.
Jahrhunderts teilten sich fünf transnationale Musikfirmen 80
Prozent des weltweiten Tonträgergeschäfts.84 Die Musik-industrie
als TNC verbreitet hier also weltweit kulturelle Erzeugnisse, dient
dabei aber weder ökonomisch noch kulturell den Interessen eines
Staates. Sie ist lediglich profitorientiert und abhängig von
ökonomischen Marktme-chanismen.
8.3 Informell-kulturelle Reflexivität Im Vergleich zu den
bereits beschriebenen Perspektiven der Globalisierung ist die
informell-kulturelle Reflexivität relativ schwer zu greifen. Dies
ist vor allem der Tatsache geschuldet, dass von den
Sozialwissenschaften hier-für noch keine konkrete Definition oder
Theorie ausgearbeitet wurde. Um die kulturellen Wechselwirkungen
(oder Rückkoppelungen) im Zeitalter der Globalisierung zu
erläutern, werden in erster Linie Beispiele herange-zogen: So wurde
der Wahlsieg der Partei Bündnis 90/Die Grünen bei der Landtagswahl
in Baden-Württemberg am 27. März 2011 von allen Partei- und
Wahlforschern gleichermaßen mit der Reaktorkatastrophe im
japani-schen Fukushima am 11. März 2011 in Verbindung gebracht. Die
täglich übermittelten Bilder und Schreckensmeldungen aus dem
havarierten Kern-kraftwerk lösten eine starke Ablehnung gegenüber
der Atomenergie aus, welche sich in der unmittelbar danach
anstehenden Wahl und dem Sieg der grünen „Anti-Atom-Partei“
widerspiegelte. Ein globales Ereignis wirkte
83 Zur Geschichte und Entwicklung der globalen Musikindustrie
siehe Andreas
Gebesmair, Musik und Globalisierung: zur Repertoireentwicklung
der transna-
tionalen Phonoindustrie unter besonderer Berücksichtigung des
österreichischen
Musikmarktes, Wien 2000, sowie Andreas Gebesmair und Alfred
Smudits
(Hrsg.), Global Repertoires: Popular music within and beyond the
transnational
music industry, Aldershot 2001.
84 Andreas Gebesmair, „Introduction“, in: ders., Smudits
(Hrsg.), Global Reper-
toires: Popular music within and beyond the transnational music
industry, S. 1-
6, hier S. 2.
-
36 | MUSIK IM ZEITALTER DER GLOBALISIERUNG
sich direkt auf ein lokales aus, wobei diese in einem nicht
unmittelbaren Sinnzusammenhang stehen.
Die Perspektive der informell-kulturellen Reflexivität wird am
deut-lichsten durch die Entstehung der Kulturindustrie und den
Ausbau der Mas-sen- und Kommunikationsmedien dargestellt, welche im
Zeitalter der Glo-balisierung zu neuen Formen einer Globalen
Kulturindustrie führten. Ge-prägt wurde der Begriff der
Kulturindustrie zunächst von den Ausführun-gen Theodor W. Adornos
und Max Horkheimers.85 Die Kulturindustrie und die produzierten
Waren wurden hier noch stark technisch konstruiert,
kapi-talistisch, eindimensional und homogen gedeutet. Reflexivität
bedeutet nun, dass globale Ereignisse (siehe obiges Beispiel),
Konsumgüter oder kulturel-le Erzeugnisse von der Weltgesellschaft
aktiv bewertet und gesteuert wer-den. Dieses wird besonders anhand
der unterschiedlichen Wahrnehmungen und Deutungen der jeweiligen
Akteure sichtbar, denn die Globale Kulturin-dustrie definiert sich
immer über die variablen Interpretationen produzierter Waren. Eine
globale Einheit besteht hier in der kapitalistischen Grundidee und
in der gewonnenen Eigendynamik der Produkte. Das medial verbreitete
„Image“ eines Produktes wird nun teilweise mehr beworben als das
eigent-liche Produkt. Die Vermarktung von Swatch-Uhren oder
Nike-Sport-anzügen zielt auf eine Ideologie der Produkte ab und
nicht mehr auf den profanen Besitz einer Uhr oder eines
Sportanzuges.86
Eine veränderte Kontextualisierung im Nexus einer Globalen
Kulturin-dustrie stellen auch die Photographien von Oliviero
Toscani dar, welche Anfang der 1990er Jahre für Werbekampagnen der
Modefirma United Co-lors of Benetton benutzt wurden. Toscanis
politisch und gesellschaftlich brisanten Photographien eines
sterbenden Aidskranken oder einer blutver-schmierten Uniform eines
Soldaten und das den Photographien immanente politische Statement
werden hier für das Werben für Bekleidungsartikel eingesetzt und
somit aus seinem ursprünglichen Kontext gerissen. Reflexi-vität
bedeutet also die Auflösung einer eindimensionalen Perspektive
kultu-reller Produkte.
85 Vgl. Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, Dialektik der
Aufklärung. Phi-
losophische Fragmente [1944], 14. Auflage, Frankfurt a. M. 2003,
S. 128-176.
86 Für weitere Erläuterungen am Beispiel der Marken Swatch und
Nike siehe Scott
Lash und Celia Lury, Global Culture Industry: The Mediation of
Things, Camb-
ridge 2007, S. 196 ff.
-
I EINLEITUNG: MUSIK IM „ZEITALTER DER GLOBALISIERUNG“ | 37
8.4 Prozesse der Globalisierung Die drei Prozesse der
Globalisierung stellen nun die signifikanten soziokul-turellen
Veränderungen des Zeitalters der Globalisierung dar. Sie sind das
Resultat aus dem Zusammenspiel der erörterten politisch-,
technisch- und informell-globalen Entwicklungen. Die drei Prozesse
hängen eng miteinan-der zusammen, verweben sich und meinen mitunter
die gleichen Sachver-halte. Auf den Ebenen der Weltgesellschaft,
der globalen Netzwerkgesell-schaft und des global village werden
die unterschiedlichen Resultate der Glokalisierung, der
Enttraditionalisierung und der Entbettung besonders sichtbar und
schaffen neue globale und lokale Identifikationsmuster. Die
weiteren Beschreibungen und Definitionen der drei Prozesse der
Globali-sierung sollen an den musikalischen Fallbeispielen direkt
erläutert und in die jeweiligen Kapitel mit eingeflochten
werden.
8.5 Musikalische Fallbeispiele Die drei musikalischen
Fallbeispiele werden nachfolgend gemäß ihrer un-terschiedlichen
Konstitutionen schwerpunktartig beleuchtet. Die drei Per-spektiven
und Prozesse der Globalisierung fungieren hierbei als gemeinsa-me
Merkmale einer sich verändernden Gesellschaft. In allen drei
Musikbei-spielen werden diese immer wieder mit unterschiedlicher
Intensität zum Vorschein kommen.
Das Kapitel „Stockhausens Weltmusik“ stellt zunächst die
Schriften Karlheinz Stockhausens zum Thema Weltmusik vor. Das
Weltmusikkon-zept des Komponisten wird dann in einen
soziokulturellen Kontext verortet. Anschließend werden die
kompositorischen Mittel Stockhausens vorge-stellt, mit denen er
sein Weltmusikkonzept musikalisch ausdrücken möchte. Hierbei fällt
der Blick besonders auf seine Werke TELEMUSIK und HYMNEN. Aus den
HYMNEN werden sodann vier Ausschnitte näher be-leuchtet. Der
übergeordnete globale Kontext wird abschließend schwer-punktartig
anhand der Thematiken des transnationalen Gedankens in den HYMNEN
und des Einflusses des global village in Stockhausens
Weltmu-sikkonzept näher untersucht.
Das zweite Kapitel mit dem musikalischen Fallbeispiel des
jamaikani-schen Ska im globalen Kontext beschreibt zunächst die
Genese der jamai-kanischen Unterhaltungs- und Tanzmusik bis hin zur
Musikform Ska als
-
38 | MUSIK IM ZEITALTER DER GLOBALISIERUNG
erster jamaikanischer „Nationalmusik“ und deren
Weiterentwicklung über den Rocksteady zum Reggae. Der globale
Einfluss auf die Entwicklung der jamaikanischen Unterhaltungs- und
Tanzmusik steht dabei im Vordergrund. Schwerpunktartig sollen
hieran die verschiedenen Positionen der
Homoge-nisierung-versus-Heterogenisierungs-Debatte beleuchtet
werden. Die Adap-tionen des jamaikanischen Ska durch die Subkultur
der Skinheads stellt ein weiteres Beispiel für die Relevanz der
drei Perspektiven und Prozesse der Globalisierung im musikalischen
Kontext dar. Vor allem die Entbettung der Musikform Ska in
Großbritannien im Spannungsfeld zwischen Rassismus und
transnationaler Identität soll vorgestellt werden.
Das dritte musikalische Fallbeispiel im Kapitel „Traditionen der
world music“ stellt die marktstrategisch entwickelte
Schirmkategorie „world mu-sic“ in den Mittelpunkt der Untersuchung.
Es soll gefragt werden, ob hier möglicherweise eine „neue“
musikalische Traditionslinie einer globalen Welt konstruiert wurde.
Anhand musikalischer Beispiele aus dem Œuvre Paul Simons und
einiger Musiker westafrikanischen Ursprungs wird dieser Frage
nachgegangen. Auch soll world music im Spannungsfeld der
Globa-lisierungsdebatte Homogenisierung versus Heterogenisierung
der Musik-kulturen verortet werden. Hierbei treten wiederum die
verschiedenen Per-spektiven und Prozesse der Globalisierung mit
unterschiedlicher Gewich-tung in den Vordergrund. Abschließend
sollen die neuen Möglichkeiten der world music im Zeitalter der
Globalisierung mit Schwerpunkt auf den Auswirkungen einer
aufkommenden globalen Netzwerkgesellschaft anhand der
zeitgenössischen Band Vampire Weekend aufgezeigt werden.
Alle Verweise der drei musikalischen Fallbeispiele auf globale
Zusam-menhänge werden in einem abschließenden Fazit noch einmal
gegenüber-gestellt. Die Einbettung der Fallbeispiele in die
vorgestellten theoretischen Modelle einer kulturellen
Globalisierung und in den Diskurs Homogenisie-rung versus
Heterogenisierung werden an dieser Stelle ebenfalls vorge-nommen.
Die Kernthese der Arbeit, dass alle drei Fallbeispiele durch
glo-balgesellschaftliche Veränderungen im Zeitalter der
Globalisierung signifi-kant beeinflusst wurden, soll damit eine
Darstellung erhalten. Die Idee, welche hinter der zentralen
Fragestellung steht, soll durch die unterschied-lichen Blickwinkel
der musikalischen Fallbeispiele und auch durch die dif-ferenzierten
wissenschaftlichen Herangehensweisen an diese untermauert werden:
Karlheinz Stockhausen verkörpert dabei den Künstler als
Einzel-person, der auf die veränderte gesellschaftliche Lage im
Werk Bezug
-
I EINLEITUNG: MUSIK IM „ZEITALTER DER GLOBALISIERUNG“ | 39
nimmt; Ska repräsentiert eine Musikform, welche durch
verschiedene glo-bale Einflüsse verändert wird; und die world music
ist ein konstruiertes Genre der Musikindustrie und stellt somit
einen intendierten Versuch dar, auf globale Veränderungen Bezug zu
nehmen und diesen einen festen Rahmen zu geben. Wie oben erwähnt,
ist der gemeinsame Bezugsrahmen der drei Musikbeispiele die
zeitliche Eingrenzung ab 1950 und der den Fallbeispielen immanente
westliche Einfluss.
Die drei ausgewählten musikalischen Beispiele ließen sich
durchaus auch durch andere ersetzen beziehungsweise ergänzen. So
hätte man statt Karlheinz Stockhausen möglicherweise auch Ansichten
und Werke von John Cage, Frank Zappa oder Dieter Schnebel als
Muster heranziehen kön-nen. Auch die Oper Nixon in China von John
Adams gäbe ein gutes Bei-spiel für eine (individuell intendierte)
musikalische Reaktion auf globalge-sellschaftliche Veränderungen in
der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ab. Für den Ska als eine im
Zeitalter der Globalisierung entstandene und weiterentwickelte
Musikform fänden sich ebenfalls durchaus Äquivalente. Die
südafrikanische Musikform Kwela, auf die im dritten Fallbeispiel
kurz Bezug genommen wird, würde hier gewiss ein gleichgewichtetes
Pendant darstellen. Andere im globalen Zusammenhang interessante
postkoloniale Musikformen wären beispielsweise auch Rai, Bhangra,
Arabesk oder Qawwali. World music als konstruiertes Genre findet
wiederum Ebenbilder in Subgenres wie New Age oder auch in
Kategorisierungen wie Jazz oder noch allgemeiner in der Kategorie
black music. Weitere Untersuchungen könnten anhand der
aufgestellten Kriterien des Zeitalters der Globalisierung also
folgen. Ohnehin besitzt gerade die Geschichte populärer Musikformen
einen globalen historischen Kern und ihre weltweite Verbreitung und
Ver-marktung sind unmittelbar mit den technischen Innovationen
verknüpft, welche in den Globalisierungsphasen des 20. Jahrhunderts
eine wichtige Rolle spielen.87 In neuesten Studien wird sogar davon
ausgegangen, dass al-
87 Alexandros G. Baltzis führt die Entstehung populärer
Musikformen bis auf den
Kolonialismus und den Sklavenhandel zurück, vgl. Baltzis,
„Globalization and
musical Culture“, S. 141. In der neueren Geschichte der
US-amerikanischen Po-
pulärmusik wird die Zeit ab 1950 – also der dieser Arbeit
zugrunde liegenden
jüngsten Globalisierungsperiode – als Paradigmenwechsel
bezeichnet. Die po-
puläre Musik erfährt ab diesem Zeitpunkt eine größere Relevanz,
vgl. Reebee
Garofalo, Rockin‘ Out: popular music in the USA, Boston 1997, S.
1 ff.
-
40 | MUSIK IM ZEITALTER DER GLOBALISIERUNG
le populären Musikformen durch Entwicklungsgänge entstanden, die
der Globalisierung zuzuschreiben sind; unterschiedliche Formen und
musikali-sche Facetten dienen hierbei nur noch als regionale
Orientierungen, Identi-fikationsmerkmale oder
Verkaufsanreize.88
Ein weiterer Forschungsansatz, der hier ebenfalls nicht verfolgt
wird, könnte ferner darin bestehen, globale Zusammenhänge in Werken
zu analy-sieren, die zeitlich vor dem Zeitalter der Globalisierung
datiert werden, oder auch zu versuchen, eine Gegendarstellung an
Werken im Zeitalter der Globalisierung zu vollziehen, in denen kein
oder ein anders gearteter glo-balgesellschaftlicher Zusammenhang
auszumachen ist.89 Freilich führten diese Diskurse auch zu
Ergebnissen, welche aber die Kernthese dieser Ar-beit nicht infrage
stellen würden. Die nun folgenden Beschreibungen der musikalischen
Fallbeispiele unternehmen den Versuch, die gesellschaftli-chen
Veränderungen des Zeitalters der Globalisierung sichtbar zu machen
und somit auch eine Theorie zu liefern, anhand der weitere
Untersuchungen entlang der aufgestellten soziologischen Kriterien
erfolgen können.
88 Vgl. Binas-Preisendörfer, Klänge im Zeitalter ihrer medialen
Verfügbarkeit, S.
163.
89 Besonders hervorzuheben wären hier musikalische Fallbeispiele
aus dem asiati-
schen Raum. Globalisierungszusammenhänge werden in Indien oder
Japan ganz
anders bewertet, da gerade im kulturellen Bereich der westliche
Einfluss durch
die Wertschätzung und Geschichte der eigenen Hochkultur anders
ausgeprägt
ist. Dennoch könnte man wohl die Transformationen indischer
Musikformen der
letzten fünfzig Jahre durchaus in einem Globalisierungskontext
betrachten. Es
wurde in dieser Arbeit allerdings bewusst auf ein „asiatisches“
Beispiel verzich-
tet, da hierfür umfangreiche Vorkenntnisse der indischen oder
japanischen Mu-
sik vonnöten wären.