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Ein Anti-Seriafist: Der ungarische Komponist Mcirton /lies
Musik alsklingende. EnergieZu zeitgenössischen Klängen gehören
für Mcirton tues, geboren 1975 in Budapest, emotionale Qualitäten
mit sinnlichen Erlebnis-
werten. Nach wegweisenden Studien bei Detlev Müller-Siemens in
Basel und bei Wolfgang Rihm in Karlsruhe, ist er nun ein
international anerkannter Komponist sowie Klavier spielender und
dirigierender Interpret seiner Musik. Bei Wergo ist soeben ein
Porträt-Album erschienen.
Hans-Dieter Grünefeld
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M&r WelcheAufgaben reklamieren Sie für sich
alszeitgenössischer Komponist?Märton Illes: Für mich ist Musik per
seeine Ausdrucksform oder sogar ein 'Aus-druckszwang. Musik
transportiert emoti-onale und körperlich-gestische Inhalte.Diese
Inhalte werden von Interpretendurch klingende Energie
übertragen.Eine wesentliche Voraussetzung dafür istnatürlich, dass
Inhalte selbst die substan-zielle «Energiedeckung» vom
Klangma-terial haben. Insofern wünsche ich, dassZuhörer in meiner
Musik feinste psycho-physische Regungen wieder erkennenund
körperlich erleben können und sobei ihnen Energiepotenziale
mobilisiertwerden.
M&T:Wasbedeutet Kommunikation für Sie?Märten Illes:
Kommunikation ist Gebenund Nehmen zur gleichen Zeit, das istMusik
nicht. Bei Kunst im Allgemeinenund Musik im Besonderen geht
Aus-druck nach aussen, ist dadurch einseiti-
ge Kommunikation. Ich nehme als Rezi-pient Impulse an und
verarbeite sie. AlsKomponist gebe ich zunächst nur, undim Konzert
übertragen sich die Inhalte.
M& t: In Kompositionen ist aber etwas angelegt, wo-rauf die
Zuhörer reagieren können oder sollen. Sonstwäre Musik hermetisch
oder esoterisch.Märten Illes: Natürlich sollen Menschenauf meine
Musik reagieren, aber siemüssen mir das nicht mitteilen. Deshalbist
das keine Kommunikation, sondernnur eine Reaktion. Was ich mache,
isttraditionelle Darbietung. Meine Musik
mussten damals Hunderte Volksliederauswendig lernen, und diese
Ressourcenmit all ihrer Urgestik habe ich nicht ver-gessen. Ebenso
in der Schulzeit hatte ichunter anderem Begegnungen mit
Mini-malmusic: ein Schlagzeug-Ensemble hat-te Werke von Steve Reich
aufgeführt. Einpaar Jahre später war dieser Stil für michnicht mehr
interessant, aber man ist alsjunger Mensch eben auch solchen
Im-pulsen wehrlos ausgeliefert. Später habeich bemerkt, dass mich
organisch wu-chernde Strukturen mehr interessierenals vorab
definierte anorganisch geomet-
«Musik ist einseitige Kommunikation))
soll genau so funktionieren wie traditi-onelles oder
kanonisiertes Repertoireklassischer Musik. Ich führe Musik aufoder
meine Musik wird aufgeführt undvom Publikum empfangen. Solange
ichgenug geben kann, ist das schön. Wasich komponiere, soll
selbstverständlichvom Inhalt sinnfällig sein. Ich möchte,dass die
Inhalte meiner Musik durch dasMedium Energie möglichst präzise
wie-der erkannt werden können.
M& T: Wenn Sie an Tradition denken, woran orientie-ren Sie
sich?Märten Illes: Wir haben, wenn wir nuran die Menge der Kunst
denken, die inden letzten sechzig Jahren entstandenist, eine
uferlose Tradition. Die Produk-tion im Kunstbetrieb ist enorm und
derZugang zu einem gigantischen Spekt-rum an sehr unterschiedlichen
Infor-mationsquellen ist einfach und zugleichextrem selektiv. Sogar
wenn zwei Künst-ler in der gleichen Stadt aufwachsen undarbeiten,
ist es sehr unwahrscheinlich,dass sie sich der gleichen
künstlerischenTradition verpflichtet fühlen. Wenn dieKunst in
Europa während der spätenKolonialzeit zum Schmelztiegel
europä-ischer und importierter aussereuropä-ischer Kulturen wurde,
ist sie jetzt eineriesige Zentrifuge aller Kulturen undauch
Trivialitäten geworden: Finde erst-mal einen Halt darin und finde
am Endeheraus, aus welcher Klamotte der einzel-ne Wassertropfen
kommt.
M& I: Wiesieht das für Sie persönlich aus?Märton Illes:
Jeder einzelnen Biografieist heute ein persönliches
Traditionsbe-wusstsein zuzuordnen, eine Kette vonReibungsmomenten
mit jenen Traditi-onssegmenten, welchen während
desSchleudervorgangs das Individuum be-ViUSStoder zufällig
begegnet. In unseremBildungssystem war die Volksmusik sehrpräsent
und sie hat mich beeinflusst. Wir
rische. Ich bin ein Anti-Serialist und glau-be, dass die
Ereignisse in der Musik aufeiner ausschliesslich sinnlichen
Ebenemiteinander korrespondieren können.Jedes einzelne Detail als
Konsequenz desvorhergehenden kann deshalb nur imglühenden, physisch
erlebten Echtzeit-moment des Setzens geboren werdenund seine
Rechtfertigung erlangen.
M& I: Welche Lehrer haben Ihr Selbstverständnis alsKomponist
nachhaltig geprägt?Märton Illes: Mein erster Kompositions-lehrer
war Detlev Müller-Siemens ausHamburg und ehemaliger Student
vonGyörgy Ligeti. In Basel, wo er unterrich-tet, war ich als Ungar
bei ihm sehr will-kommen. Er war sehr wichtig für mich,weil er mich
mit mir damals unbekann-ten ästhetischen Ansichten konfrontierteund
zugleich half, den Weg zur eigenenStilsprache zu finden. Er hat ein
Senso-rium für kräftiges, raues Klangmaterial,was mir sehr nahe
ist. Als ich im Altervon 25Jahren zu Wolfgang Rihm gekom-men bin,
hatte ich schon eine stilistischeStabilität. Zu Rihms vielen
Fähigkeitengehören ein ausserordentliches Gespürfür Energetik und
gestaltphysiognomi-sche Differenzierung. Was aber für michdas
Wichtigste ist: sein unerschöpflicheskathartisches Potenzial.
M& T: Hat die ungarische Sprache irgendeinen Ein-fluss auf
Ihren Kompositionssti/?Märten Illes: Ja. Ich glaube, die
ges-tisch-rhythmische Welt der ungarischenVolksmusik und Sprache
habe ich so tiefin mir, dass sie dauerhaft und essenziellfür meine
Musik ist. Aber nicht alles istungarisch konnotiert, meine
musikali-sche Syntax etwa empfinde ich als seh~deutsch, so beim
Anspruch auf Dichteund Sperrigkeit, meiner Formliebe undAffinität
zu einem gewissen inhaltlichenKonfliktreichtum. Deshalb würde
ichmeine Kompositionen, ähnlich wie bei
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M& T: Ungarisch ist keine indoeuropäische Spracheund hat
genuin ganz andere Grammatik- und Beto-nungsregeln. Daraus ergibt
sich ein bestimmter, inDeutsch unbekannter Tonfall. Ist dieser
Tonfall beiIhnen präsent?Märton Illes: Dazu kann ich sagen, dassdie
erste immer betonte Silbe im Un-garischen je nachdem
unterschiedlichlang und anders gefärbt sein kann unddie Satzmelodik
sehr abwechslungsreichist. Und ja, den Tonfall der
ungarischenSprache kann ich in meiner Musik ganzkonkret nachweisen,
in scharfer Rhyth-mik, in der Betonungsstruktur, eine oftschroffe
Welt, doch auch durchaus insamtig-sinnlichen Sprachgesten.
JedesWort ist ausserdem ein komplexes rhyth-misches Gebilde, das
man relativ präzisenotieren und in meiner Musik hörenkann.
Bela Bart6k, als Synthesen aus mehrerenKulturressourcen
sehen.
M& T: Ihren Werken kann man gewisse Topoi wieTorso,
Polydimensionalität und Synchronizität vonKlangereignissen
zuordnen. Was ist Ihr ästhetischesKonzept?Marton Illes: Musik ist
eine Kunst in derZeit. Bei Torso habe ich viel Freude dar-an, wie
ich Bruchstücke und Leerräumeenergetisch zusammenfasse und ihnenin
bestimmten Konstellationen Sinn zu-weise, wie ich überfüllte
Klangräume soaufladen kann, dass sie ihren "Schatten»auf die
ereignisleeren Passagen werfenund so die Stille mit Energie
füllen.Mit Polydimensionalität haben bereitsCharles Ives und Elliot
Carter gearbeitet,sie ist eine exzessive Form der Polyfonie.Ich
arbeite mit linearen Schichtungen,die in den meisten Parametern wie
Puls,Harmonik und Spannungs temperaturvoneinander abweichen. Die
dabei ent-stehende faszinierende Komplexitätkann jedoch immer
wieder in simple,einförmige Gestalten wie Unisono oder
Einstimmigkeit münden. Diese Gegen-sätze sind interessant. Was
nicht bedeu-tet, dass ich alles mehrdimensional kom-poniere,
sondern da können auch ganzandere Aspekte in den
Vordergrundtreten.
M& I: Sie sind auch praktizierender Solist, Interpreteigener
Werke und Dozent für Musiktheorie undKomposition. Haben diese
Tätigkeiten eine Wechsel-wirkung auf Ihre musikalischen
Ideen?Märten Illes: Ja, aber das ist ziemlichunbewusst. Oft wird
mir gesagt, dass ichnicht so viel unterrichten solle, weil
esschädlich für meine kompositorischeTätigkeit sein könnte. Das
merke ichüberhaupt nicht. Theorie ist eine ande-re Denkweise, eher
analytisch mit leichtmusealem Charakter, sodass es kaumBerührungen
der Sphären gibt. DenKornpositionsunterricht mache ich nochnicht so
lange, dass ich Schlüsse ziehenkönnte. Manchmal kann es
hemmendwirken, wenn ich meine Klavierwerkespielend komponiere, dann
höre ichsie auch anders. Als ich mein Klavier-konzert schrieb,
hatte ich Bedenken,von meinen pianistischen Reflexen be-einflusst
zu werden. Aber von solchenReflexen waren auch Brahms und
Lisztnicht frei. Die Wechsel der Perspektivenhat Vor- und
Nachteile.
M& T: Brauchen Sie das Klavier zum Komponieren?Märten Illes:
Früher immer, jetzt weni-ger. Ich improvisiere gerne und ich
erle-be dann die Musik körperlich. Die phy-sisch-auditive
Wahrnehmung durch dasOhr kombiniert mit der taktilen unter-scheidet
sich vom inneren Hören in dersinnlichen Qualität. Mein vor
Kurzemvollendetes Werk für Streichorchesterhabe ich komplett ohne
Klavier kompo-niert, auch weil es vierteltönig ist.
M& T: Welche Verbindungen haben für Sie Klänge undvisuelle
Assoziationen?Märton Illes: Visualität spielt eine gros-se Rolle.
Auf jeden Fall denke ich sehrintensiv in und an Linien. Oft sehe
ichkomponierend Zeichnungen, und es istdeshalb keine Überraschung,
dass mei-ne neueste Werkreihe den Titel «Raj-zok», also
Zeichnungen, trägt. Ich geheauch gern zu Ausstellungen, weil
derRaum in der bildenden Kunst sehr di-rekt zu erleben ist. In der
Zeitkunst Mu-sik kommt der Raum immer zu kurz. Ichglaube
allerdings, dass in beiden Küns-ten beides existiert. Ich denke
sehr vielin Raumdimensionen, also was in derMusik als Zeit
erscheint, ist räumlich-grafisch empfunden.
M& T: Komponieren Sie vor allem per Auftrag oderauch in
Eigeninitiative für Solisten und Ensembles?
Märton Illes: Sowohl als auch. Mit demEnsemble Modern habe ich
engen Kon-takt und schon mehrere Werke verwirk-licht. Am 3.
November wird in Frankfurtein weiteres Ensemblestück zur
Urauf-führung kommen. Gelegentlich kom-poniere ich für Freunde und
Solisten.Ausserdem spiele ich mit einigen mirvertrauten Musikern
regelmässig zusam-men.
M& T: Sie haben in fast allen Genres publiziert. HabenSie
Präferenzen?Märten Illes: Grössere Klangkörper sindträger als
Ensembles mit solistischenStimmen. Und einzelne Instrumentesind
paradoxerweise durchdringenderals in chorischer Funktion. Und da
mir- oft virtuose - Bewegung sehr wichtigist, bevorzuge ich
Kammerbesetzungen.Auch Transparenz ist bei hohem Kom-plexitätsgrad
in kleinen Besetzungenbesser zu kontrollieren. Doch das Wesenmeiner
Musik ist nicht wirklich kamrner-musikalisch, sondern sie hat Wucht
undist extrovertiert. Das ist eine Diskrepanz,die sich darin
niederschlägt, dass dieWerke für Kammerensembles meistensorchestral
und die Orchesterkompositi-onen wie grossbesetzte Kammermusik-werke
klingen. •