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Moderne und Zeitgenössische Kunst 26. Oktober 2018

May 06, 2023

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Khang Minh
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Moderne und Zeitgenössische Kunst26. Oktober 2018

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„All art has been contemporary.“Maurizio Nannucci, 2005

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Arbeitszimmer von Bernd Schultz in der Villa Grisebach,Fotografie von Xiomara Bender, 2017

Sammlung Bernd Schultz „Abschied und Neuanfang“Auktion zugunsten eines ExilMuseums in Berlin

Band IIIModerne und Zeitgenössische Kunst 26. Oktober 2018, 14 Uhr

Bernd Schultz Collection“A Farewell and a New Beginning”Auction to benefit the “ExilMuseum” in Berlin

Volume IIIModern and Contemporary Art 26 October 2018, 2 p.m.

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Grisebach — Herbst 2018

Vorbesichtigung der Werke Sale Preview

Experten Experts

Dr. Stefan Körner +49 30 885 915 64 [email protected]

Zustandsberichte Condition [email protected]

Ausgewählte WerkeMünchen

4. und 5. Oktober 201810–18 Uhr6. Oktober 201810-15 UhrTürkenstraße 10480799 München

Düsseldorf8. und 9. Oktober 201810–18 UhrBilker Straße 4–640213 Düsseldorf

Zürich 11. und 12. Oktober 2018 10–18 Uhr 13. Oktober 2018 10-15 Uhr Bahnhofstraße 14 8001 Zürich

Sämtliche WerkeBerlin 19. bis 23. Oktober 2018 10–18 Uhr

24. Oktober 2018 10–15 Uhr Fasanenstraße 25 10719 Berlin

Dr. Markus Krause +49 30 885 915 [email protected]

Nina Barge +49 30 885 915 37 [email protected]

Lena Winter +49 30 885 915 [email protected]

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Grisebach — Herbst 2018

Hildegard Bachert, New YorkNina Barge, BerlinProf. Dr. Rainer Beck, Coswig-Sörnewitz Mayen Beckmann, KölnDr. Ingeborg Berggreen-Merkel, PotsdamDr. Katja Blomberg, BerlinProf. Dr. Eugen Blume, Ribnitz-DamgartenThomas Borgmann, BerlinSilke Bräuer, BerlinShantala S. Branca, BerlinDr. Margrit Bröhan, BerlinDr. Thomas Frhr. von Brück, BerlinProf. Dr. Hubert Burda, MünchenProf. Dr. Werner Busch, BerlinProf. Dr. Gerhard Casper, Stanford Ulrich Clewing, BerlinFriedrich Dieckmann, BerlinMichael Dieterici, BerlinDr. Christian Dräger, LübeckDr. Klaus von Dohnanyi, HamburgSimon Elson, BerlinWerner Fischer, BerlinSix Friedrich, MünchenKlaus Gerrit Friese, BerlinDr. Josephine Gabler, BerlinDr. Barbara Gaehtgens, BerlinAnne Ganteführer-Trier, KölnAxel Ganz, Paris Prof. Dr. Günther Gercken, LütjenseeDr. Manon Grisebach, Glanz-FerndorfOlga Grjasnowa, BerlinHans-Heinrich Grosse-Brockhoff, DüsseldorfProf. Dr. Herwig Guratzsch, HamburgMichael Haas, BerlinNicole Hackert, BerlinMichael Hasenclever, MünchenProf. Dr. Detlef Heikamp, FlorenzOliver Hell, BerlinDr. Dietrich H. Hoppenstedt, Burgwedel und BerlinProf. Dr. Wilhelm Hornbostel, BerlinBischof Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Wolfgang Huber, BerlinFlorian Illies, BerlinOliver Jahn, MünchenJanna Jochheim, BerlinMicaela Kapitzky, BerlinBenjamin Katz, KölnDaniel Kehlmann, New York und BerlinDr. Claude Keisch, BerlinDr. Petra Kipphoff von Huene, Hamburg

Dr. Melitta Kliege, Erlangen Prof. Dr. Hans Kollhoff, BerlinDr. Stefan Körner, BerlinProf. Dr. Ernst Kraas, BerlinDr. Markus Krause, BerlinKaroline von Kügelgen, HamburgProf. Dr. h.c. Klaus-Dieter Lehmann, Berlin und MünchenOlaf Lemke, BerlinProf. Dr. Karin von Maur, StuttgartMargit J. Mayer, Berlin Dr. Friedrich Meschede, BielefeldDr. Hans-Joachim Möhle, KölnProf. Dr. Pia Müller-Tamm, KarlsruheEske Nannen, EmdenMichael Neff, Frankfurt a.M.Dr. Elke Ostländer, BerlinProf. Dr. Dr. Gerd Presler, WeingartenChristian Ratjen, KönigsteinProf. Dr. Peter Raue, BerlinHerbert Remmert, DüsseldorfWilfried Rogasch, BerlinThole Rotermund, HamburgUdo Samel, Berlin Daniel von Schacky, DüsseldorfDr. Werner Schade, BerlinDr. Bernhard Schaub, MünchenDr. Jürgen Schilling, BerlinSusanne Schmid, BerlinDr. Martin Schmidt, BerlinDr. Dorothea Schöne, BerlinProf. Dr. Klaus Schrenk, BerlinNikolaus W. Schües, HamburgProf. Dr. Peter-Klaus Schuster, BerlinProf. Klaus Staeck, HeidelbergProf. Dr. Raimund Stecker, DüsseldorfProf. Dr. Christoph Stölzl, WeimarProf. Dr. Margret Stuffmann, Frankfurt a.M. Florian Sundheimer, MünchenUwe Tellkamp, DresdenProf. Dr. Christian Thielemann, Berlin und DresdenLuigi Toninelli, Monte-CarloRobert Unger, BerlinWilfried Utermann, DortmundDr. Wilfried Wiegand, BerlinProf. Dr. Dietrich Wildung, MünchenProf. Dr. Michael Wolffsohn, MünchenCarmen Würth, KünzelsauMichel Würthle, Berlin

Sehr dankbar sind wir We are very grateful

Bernd Schultz und Mary Ellen von Schacky-Schultz in der Villa GrisebachFotografie von Barbara Klemm

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Georg Stefan Troller Wofür brauchen wir ein ExilMuseum? Zum Fragenstellen und Entschuldigen

Wann war eigentlich unsere Zeit? Als wir zu Hunderttausen-den aus unseren Heimaten – den ursprünglichen und oft genug auch den angenommenen – vertrieben wurden? Da hat sich kaum ein Mensch, der nicht selber betroffen war, um uns geschert. Als wir dann, ich glaube es war höchstens einer von zwanzig, zurückgekehrt sind ... oder uns, zumin-dest beruflich oder sprachlich, wieder dem alten Kulturver-ein annäherten ...: Immer war uns bewusst, dass uns eigent-lich niemand zurückgerufen oder zurückgewünscht hatte. Und kaum einer hat uns danach befragt, wie es denn wirklich gewesen sei. Ja, die häufigste Frage bestand darin, warum wir eigentlich nicht „drüben“ geblieben wären in den Ländern der Sieger bzw. der Verheißung?

Was das Exil im Innersten bedeutet – und es ist ja letzt-lich so etwas wie der Verlust der Lebensmitte, des Lebens-zusammenhangs – das hat mich nie jemand gefragt und auch kein Mensch sich je dafür entschuldigt. Nun soll end-lich so ein Ort entstehen, wo diese Frage gefragt, diese Ent-schuldigungen ausgesprochen werden sollen. Wie schön, wenn ich es noch erleben könnte!

Paris, im September 2018

Fotografie von No. Schmidt, 2013

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Werner Busch Les Spuren

Wer sich ein wenig in Venedig auskennt, wird irgendwann auf die Libreria „Acqua Alta“ von Luigi Frizzo in der Calle Lunga Santa Maria Formosa im Stadtteil Castello gestoßen sein, nach eigenem Bekunden „the most beautiful bookshop in the world“. Zumindest ist es der chaotischste Buchladen der Welt, ein langer Schlauch mit Nebengelassen, in der Mitte eine venezianische Gondel, kaum noch als solche zu erkennen, zugeschüttet mit Büchern, wild durcheinander. Die Regale und vom Umsturz bedrohte Stapel lassen immer nur eine Person durch die schmalen, manchmal schier zugewachsenen Gänge kommen. Eigentlich ist es ein mehr oder weniger modernes Antiquariat, aber auch Abladeplatz für Bibliotheken verstorbe-ner Gelehrter. Systematisch kann man nicht suchen, dafür aber, lässt man sich etwas Zeit, zufällig etwas finden. Man sollte dem Laden besser nur am späteren Nachmittag oder am Abend einen Besuch abstatten: Bei Kunstlicht und zum Teil im Halbdunkel werden Chaos und Schmutz gnädig verklärt. Nach hinten öffnet sich ein Ausgang ins Freie zu einem kleinen Hinterhof mit hoher Mauer, zu ihrer Krone führt eine Treppe aus endgültig abgelegten Büchern, oben angelangt blickt man auf einen schmalen, sich verzweigenden Kanal, seine Schwärze ist durch ständiges leichtes Gluckern irritierend belebt.

Beim vorletzten Besuch fand ich dort einen schmalen Band, der mit dem oberen Rand ein kleines Stück aus einem tiefen Stapel herausragte, so dass nur ein Teil einer auf dem Cover angebrachten handschriftlichen Widmung zu sehen war. Und wie es so geht, ich erkannte die Handschrift sofort. „Mit freundschaftli-chem Gruß, Le“ stand dort. An wen der Gruß ging, war nicht herauszubekommen, obwohl der Adressat, ebenfalls auf dem Cover, die Adresse von Le vermerkt hatte: „University of California, Berkeley, Cal. Institute of History of Art“. Es handelte sich um einen Band des Yale University Art Gallery Bulletin, Vol. 33, No. 3, October 1972, der die Beiträge eines Symposions in Yale vom November 1970 versammelte, unter dem Titel „Correlations between German and Non-German Art in the Nine-teenth Century“. Ich erwarb den Band 2015 für acht Euro. Le hatte auf dem Titel auf die Seiten 67ff. verwiesen und damit auf seinen Beitrag: L.D. Ettlinger, „Hans von Marées and the Academic Tradition“. Herausgeber des Bandes war Egbert Haverkamp-Begemann, die weiteren Beiträger neben Ettlinger waren: H.W. Jan-son, Robert Rosenblum, Victor H. Miesel, Heinrich Schwarz und Gert Schiff, samt und sonders in Amerika tätige Gelehrte und zweifellos eine höchst bezeichnende Versammlung.

Haverkamp-Begemann war kein Emigrant, sondern ein Immigrant aus Hol-land. Horst Waldemar Janson (1913–1982) wurde berühmt durch seine „History of Art“ von 1962 mit einer Auflage von mehr als vier Millionen Exemplaren, in St. Petersburg geboren, aus einer baltischen, evangelischen, deutschstämmigen Familie, die nach der Oktoberrevolution über Finnland nach Hamburg ging. Jan-son studierte ab 1931 in München und dann in Hamburg bei Erwin Panofsky bis zu dessen Emigration. Aus Protest gegen den Nationalsozialismus verließ Janson selbst 1935 Deutschland, auf Veranlassung Panofskys wurde er von Alfred Barr in den USA unterstützt und schloss 1942 in Harvard in Kunstgeschichte ab, um dann an verschiedenen Universitäten der USA Karriere zu machen. Robert Rosenblum (1927–2006), einer der einflussreichsten amerikanischen Kritiker und Kuratoren, aus jüdischer Familie stammend, promovierte bei Walter Friedlaender, der als

Leopold Ettlinger, Fotografie, um 1940

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außerplanmäßiger Professor für Kunstge-schichte in Freiburg 1933 entlassen worden war und in die Vereinigten Staaten emig-rierte, an der New York University lehrend und zu einer Institution geworden. Victor H. Miesel (1928–2014), jahrzehntelang Pro-fessor für Kunstgeschichte an der Univer-sity of Michigan, war Spezialist für deut-schen Expressionismus. Miesel, womöglich auch aus einer Emigrantenfamilie, war durch ein Fulbright Stipendium in Würz-burg auf sein lebenslanges Thema auf-merksam geworden.

Anders verhält es sich mit Heinrich Schwarz. Wenn man bei Wikipedia den Namen eingibt – tun Sie es besser nicht –, taucht als erster mit Foto der SS-Haupt-

sturmführer Heinrich Schwarz, Lagerkommandant im KZ Auschwitz III Monowitz, auf. Schwarz war zuvor im KZ Mauthausen „tätig“, danach bis November 1943 im Stammlager Auschwitz. Er wurde 1947 hingerichtet. Bald danach findet sich ein Hamburger Kaufmann mit Namen Heinrich Schwarz, Jahrgang 1903, deportiert 1943 nach Theresienstadt, ermordet in Auschwitz 1944. Die sich aufdrängende Vorstellung, die beiden namensgleichen Heinrich Schwarzes könnten sich in Auschwitz begegnet sein, verursacht Magenschmerzen. Der an den Hamburger Schwarz erinnernde Stolperstein befindet sich in Hamburg-Eimsbüttel vor dem Haus Weidenstieg 10.

Schließlich findet sich auch ein dritter Heinrich Schwarz, geboren 1894 in Prag, gestorben 1974 in New York. Er studierte Kunstgeschichte ab 1913 in Wien, unter anderem bei Max Dvořák, diente in der österreichisch-ungarischen Armee und promovierte 1924 über die Anfänge der Lithographie, noch 1988 hat es eine Neuauflage gegeben. Der katholische Heinrich Schwarz wurde als Jude klassifi-ziert und 1938 nach Tätigkeiten an der Albertina und als Kurator an der Österrei-chischen Staatsgalerie entlassen. Er emigrierte im selben Jahr nach Schweden und von dort 1940 in die USA. Er unterrichtete an verschiedenen Universitäten, primär an der Wesleyan University in Middletown, Connecticut. Er gilt als Pionier der Fotografiegeschichte, sein Buch über Octavius Hill von 1931 ist immer noch Standard. Sein Nachlass zur Fotogeschichte mit Belegexemplaren zur frühen Fotografie liegt heute bei Getty.

Nach dem Text von Schwarz folgt im Band von 1972 der Beitrag von Leopold David Ettlinger, zu seiner Person gleich ausführlicher. Und der letzte Aufsatz stammt von Gert Schiff, aus alter jüdischer Familie, dem wir das Werkverzeichnis der Gemälde Füsslis verdanken und eine Deutung Füsslis aus psychoanalytischer Sicht. Schiff, dem Jörg Deuter 2013 eine wichtige Biografie gewidmet hat, ist 1926 geboren, sein Vater David Schiff wurde im Dritten Reich verfolgt. Gert Schiff galt als „Vierteljude“, war über ein Kunststudium 1951 zur Kunstgeschichte gekommen und hatte 1957 über Füsslis Zeichnungen promoviert. 1964 übersiedelte er in die

USA, Horst W. Janson besorgte ihm einen Lehrauftrag am New Yorker Institute of Fine Arts, wo Robert Rosenblum sein Kollege war. Er wohnte im Chelsea Hotel, wie etwa auch Patti Smith oder Robert Mapplethorpe – was auf seine durchaus alter-native Existenz verweist, bedingt unter anderem durch seine Homosexualität. Er war ein großer Verehrer von Carl Sternheims Tochter Dorothea Sternheim, genannt Mopsa, und erbte deren Tagebücher und literarische Versuche. Jahrelang arbeitete er auf der Basis dieser Aufzeichnungen an einem Mopsa-Buch, wobei ihn besonders Mopsa Sternheims Aus-sagen in einem der sieben Ravensbrück-Prozesse interessierten. Sie, die in der Emigration in Paris gegen Hitler agitiert hatte, war selbst neun Monate im KZ Ravensbrück interniert gewesen, hatte über-lebt auf Kosten schwerer nachfolgender psychi-scher Probleme und permanenter Drogensucht. Wenn Schiff, wohl bezeichnenderweise, die Arbeit über Dorothea Sternheim nicht vollenden konnte, so hat er doch ihre eigenen in Ravensbrück heim-lich gefertigten Zeichnungen der Gräuel publiziert.

So ist der Yale-Band zur deutschen Kunst des 19. Jahrhunderts eine Publikation von Autoren, die allesamt von der unseligen deutschen Geschichte entweder unmittelbar betroffen waren und ins Exil gezwungen wurden oder sich aufgrund von Her-kunft auf die eine oder andere Art an diese Traditi-on gebunden sahen. Alle hatten sich intensiv an der deutschen Kunst abgearbeitet.

Zugespitzt kann man sagen, Kunstgeschichte war bis zum Dritten Reich eine Disziplin, die von jüdischen deutschen Gelehrten geprägt war. Ihre Vertreibung hat das Fach um Jahrzehnte zurückge-worfen. Eine wirkliche Anknüpfung an diese Tradition hat es, Ausnahmen bestäti-gen die Regel, erst ab den Sechzigerjahren gegeben. Eine erste Generation von Studenten hat versucht, sich dieses Erbes zu versichern. Ich selbst habe einen ersten flüchtigen Kennenlernbesuch am emigrierten Warburg Institute Ende der Sechzigerjahre unternommen, um dann 1970/71 am Warburg Institute in London meine Dissertation zu schreiben.

Unter seine Fittiche genommen hat mich dort Leopold Ettlinger. Er war gerade noch am Warburg Institute, bevor er einen Ruf nach Berkeley annahm. Ettlinger machte mich mit der berühmten Warburgschen Bücheraufstellung ver-traut, die dazu führte, dass die Benutzer am Regal stehend zu lesen pflegten, da Warburg, der Vor-Leser eines jeden Buches, grundsätzlich geistig und thematisch Verwandtes nebeneinander aufgestellt hatte. Wichtiger noch war für mich, dass sich in den Sommermonaten, den akademischen Ferien, die jüdischen kunsthis-torischen Emigranten aus aller Welt am Warburg Institute trafen. Nach wenigen Tagen wurde nur noch Deutsch gesprochen. Ettlinger hat mich einer Reihe von

Heinrich Schwarz‘ Standardwerk, 1931

Gert Schiff, Fotografie, um 1986

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ihnen vorgestellt. Zudem habe ich versucht, in London lebende kunsthistorische Emigranten zu treffen, indem ich sie anrief. Auf die gelegentliche irritierte Frage, was ich denn wolle, konnte ich nur antworten, das wüsste ich eigentlich auch nicht so genau. Dennoch kam es zu Begegnungen, etwa mit Edmund Schilling, dem ehe-maligen Leiter des Kupferstichkabinetts am Frankfurter Städel, der wegen seiner jüdischen Frau Rosy emigriert war, die selbst Kunsthistorikerin war. Schilling war Spezialist für altdeutsche Zeichnungen. Zu einem weiteren Treffen kam es mit Charles Maison, alias Karl E. Haus, über Paris nach London emigriert, Kunsthändler in der Bond Street und Verfasser des Werkverzeichnisses der Gemälde und der Zeichnungen Daumiers, mit der schönen Handelsadresse „adjoining Sotheby’s“, oder mit Peter Brieger, emigriert 1936 über England nach Kanada, um nach lang-jähriger Professur in Toronto für eine Zeit nach London zurückzukehren. Bei ihm schnitt ich kunsthistorisch nicht gut ab, da ich den großen Esstisch nicht als aus der Produktion des Deutschen Werkbunds stammend erkannte. Auf den ersten Blick mag dieses Kriterium für seine Enttäuschung ein wenig sonderbar anmuten, auf den zweiten weniger. In seinem Elternhaus war Peter Brieger von Möbeln umgeben gewesen, die Hans Poelzig eigens für die Familie Brieger entworfen hat-te, heute aufbewahrt im Fitzwilliam Museum in Cambridge. Und so dürfte für ihn der Tisch, über die verschiedenen Stationen gerettet, ein Stück der verlorenen Heimat bedeutet haben.

Mir wurde bald deutlich, dass es zwei Formen der Emigrantengeschichte gibt. Die eine rekonstruiert aus den Quellen, vollzieht die Stationen nach. Die andere fußt auf den Erzählungen der Emigranten selbst. Die beiden Formen

unterscheiden sich mit Notwendigkeit. Die eine ist (scheinbar) objektiv, die andere subjektiv, erinnerungsbeladen und von Emotionen getragen. Dennoch sollte ver-sucht werden, die beiden Typen zusammenzuführen.

Als Assistent am Bonner Kunsthistorischen Institut konnte ich mithelfen, Leopold Ettlinger 1975/76 zu einem Gastsemester einzuladen. Er war mit seiner dritten Frau Helen unterwegs, mit der er 1976 das Buch über Botticelli publizieren sollte. Die Gespräche waren freundlich, er erzählte vom Warburg Institute, vom Londoner University College und von seinen Amerikaerfahrungen. Die Studenten waren von seiner Lehre höchlichst angetan, der Ruf eines begnadeten Lehrers ging ihm voraus. Die drei Bonner Dozenten mochten zwar nichts sagen, waren aber weniger begeistert, dass ein vierter im Bunde im Dozentenzimmer einquartiert wurde. 1981 hörte ich, dass es Ettlinger nicht gut ginge, gesundheitlich und überhaupt. Seine Lehr-tätigkeit in Berkeley hatte ein Ende gefun-den, seine Frau hatte sich von ihm getrennt und das Haus in Berkeley für sich bean-sprucht, und nun stand er da und wusste nicht so recht wohin – nicht zum ersten Mal. Ich hatte mich gerade habilitiert und lud ihn spontan für ein zweites Gastsemes-ter nach Bonn ein. Meine Eigenmächtigkeit wurde nicht eben gern gesehen. Ich hatte allerdings darauf spekuliert, dass dies ohne grundsätzlichen Einspruch akzeptiert werden würde – und so war es auch. Dies führte dazu, dass Ettlinger und ich uns häufiger auch privat sahen – und nun waren die Erzählungen ganz andere.

Er sprach über seine Familiengeschichte und die Geschichte seiner Emigra-tion. Vorab bemerkte er, dass seine Ablehnung der Deutschen nicht ausgeprägt sei, denn seine ganze Familie habe sich retten können. Der Vater war der Biblio-thekar der Universitätsbibliothek Königsberg gewesen. Die Familie besaß offenbar einiges Vermögen. Ettlinger studierte in Halle und Marburg und schloss in Halle bei dem Archäologen Herbert Koch mit der Promotion ab. Zu seinen kunsthistori-schen Lehrern gehörte Kurt Gerstenberg, überzeugter Nationalsozialist, Partei-mitglied seit 1933, der die Vorlesung in Uniform und mit Hitlergruß abhielt und auch in der Kunstgeschichte der Vorstellung einer rassemäßigen Auswahl anhing. Ettlinger ließ nichts auf ihn kommen. Gerstenberg sei in der Schlussphase seiner Dissertation Dekan der Philosophischen Fakultät gewesen und habe die Weisung, dass Juden nicht mehr promoviert werden dürften, insofern ausgehebelt, als er den Beschluss der Fakultät in dieser Sache immer an den Schluss der Tagesord-nung der Fakultätssitzung gestellt und dafür gesorgt habe, dass es zu diesem Tagesordnungspunkt nie kam, bis auch der letzte jüdische Student abgeschlossen hatte. Mit trauriger Ironie erklärte Ettlinger, ihm gebühre eigentlich ein Denkmal in Deutschland für den letzten im Dritten Reich promovierten jüdischen Kunsthis-toriker. Nach seiner Promotion ging Ettlinger – das makabre Zwischenstück fehlt

Erwin Panofsky mit seinem Schüler Horst Woldemar Janson (links), Fotografie, 1952

Kunstgeschichte war bis zum Dritten Reich eine Disziplin, die von jüdischen deutschen Gelehrten geprägt war. Ihre Vertreibung hat das Fach um Jahrzehnte zurückgeworfen.

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in seiner offiziellen Vita – nach Baden-Baden. Man hatte seiner Familie den Tipp gegeben, Baden-Baden sei eine der wenigen noch halbwegs sicheren Städte – wegen der Spielbank und deren internationalem Flair und auch der Hoffnung, die reichen Juden würden dort ihr Geld lassen. So scheint sich in der Tat eine ganze Reihe wohlhabenderer Juden in den Hotels von Baden-Baden einquartiert zu haben, zumal die französische Grenze nah war. Dieses seltsame Stück der Emigra-tion scheint bisher nicht beschrieben worden zu sein.

Über die französische Grenze ist 1938 auch die Familie Ettlinger gegangen und hat eine Überfahrt nach England erreichen können. In London war es für Ettlin-ger schwer. Er war gerade promoviert worden und hatte an der Universität noch

keine Stelle bekleidet. Andere kunst-historische Emigranten waren weiter; die Stellen am Warburg Institute, auf das Ettlinger mit Notwendigkeit zielte, waren besetzt. In seiner Vita im Netz heißt es, er sei von 1938 bis 1941 als Sozialarbeiter für Flüchtlingskinder tätig gewesen. Ettlinger hat das etwas weniger feierlich ausgedrückt: Er sei Hilfskraft im jüdischen Kinder-garten gewesen. 1940 war er kurz, wie andere Emigranten auch, auf der Isle of Man interniert und dann von 1941 bis 1948 Lehrer an der King Edward´s School of Birmingham. Im Rückblick meinte Ettlinger etwas resignierend, auf diese Weise seien ihm zehn Jahre im Fach Kunstge-schichte verloren gegangen, und dies seien vom Alter her genau die formativen Jahre gewesen, in denen man sammelt, sein Feld und seine Position im Fach findet. So sehr er sich bemüht habe, dies nachzuho-len, wirklich sei dies nicht mehr möglich gewesen. Er hätte sich anderes erträumt.

Von 1948 bis 1956 wurde er Leiter der Fotosammlung am War-burg Institute. Fritz Saxl hatte ihm kurz vor seinem Tod die Stelle ange-boten – bei Saxl, Warburgs Vertrau-tem und eigentlichem Nachfolger aus reicher jüdischer Wiener Familie, hatte Ettlinger zuvor auch wohnen können. Noch im selben Jahr, 1948,

ermöglichte es ihm Erwin Panofsky, für ein halbes Jahr ans Institute for Advanced Studies nach Princeton zu kommen. Damit hatte er den Anschluss an die entscheidende kunsthistorische Tradition der Ikonologie gefunden, man könnte sie fast eine Methode jüdischer Gelehrter nennen. In der Folge war er Lecturer an der University of Reading und am Warburg Institute, und zwar bis 1964, da war Ettlinger bereits 51 Jahre alt. Allerdings übernahm er schon 1959 als Nachfolger von Ernst Gombrich eine Professur an der Slade School am Londoner University College. Von 1966 an, nach einem Buch über die „Sixtinische Kapelle vor Miche-langelo“, hatte er dort den Chair of the Department inne, ehe er 1970 den Ruf nach Berkeley annahm. Das sieht nach einer immer noch erstaunlichen Karriere aus, doch Ettlinger war mit seiner geistigen und fachlichen Entwicklung nicht wirklich zufrieden: Die Lücke, von der er immer wieder sprach, hatte ihm die Zuversicht geraubt.

In der Folge, nach 1981, ging es ihm gesundheitlich schlechter, doch er musste Geld verdienen, und so verschlug es ihn bis nach Australien, wo er noch spät unterrichtete. 1983 hatte er die Genugtuung, dass ihm auf dem 25. Internati-onalen Kunsthistorikerkongress in Wien ein Chair angeboten wurde. Er trug vor über „Wien und die Entwicklung der kunsthistorischen Methode“, 1984 in den Akten des Kongresses publiziert. Dass er zum Schluss auf ein derartiges Thema zurückkam, scheint mir bezeichnend. Es war der Ersatz für einen eigenen metho-dischen Beitrag, den er sich so sehr gewünscht hätte. 1989 ist er gestorben.

1981 in Bonn hat er mir, schon mit sehr zittriger Schrift, einen Sonderdruck aus der Festschrift Horst W. Janson zukommen lassen. Die Festschrift trägt den Titel „Art the Ape of Nature“ und verweist auf Jansons Hauptwerk. Ettlinger steu-erte den Beitrag bei „Winckelmann, or marble boys are better“ – ein wenig ket-zerisch formuliert, aber doch aus der Einsicht heraus, dass die Kunst – und habe sie auch Surrogatfunktion – zu trösten vermag, wenn das Leben selbst es schon nicht tut. Seine Widmung lautet: „Mit vielen [verbessert aus: lieben] guten Wün-schen, Le“.

Werner Busch, emeritierter Professor für Kunstgeschichte an der Freien Universi- tät Berlin, ist mit Margret Stuffmann, ehem. Leiterin der Graphischen Sammlung des Städelschen Kunstinstituts in Frankfurt a.M., und Claude Keisch, ehem. Kurator an der Alten Nationalgalerie Berlin, freundschaftlicher Berater für die Auktionen Sammlung Bernd Schultz zugunsten eines ExilMuseums in Berlin.

Ernst Gombrich, Fotografie, um 1990

Auf der Suche nach der gestohlenen Zeit.

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150 Edvard MunchLøiten 1863 – 1944 Ekely bei Oslo

„Die Brosche. Eva Mudocci“. 1903

Lithografie auf dünnem Japan. 60 × 46,5 cm (90,7 × 64,8 cm) (23 ⅝ × 18 ¼ in. (35 ¾ × 25 ½ in.)). Signiert. Werkverzeichnis: Woll 244 I. 2 (von V.).

Provenienz Claudia von Schilling, München (bis 2003)

EUR 40.000–60.000 USD 45,500–68,200

Literatur und Abbildung Auktion 116: Sammlung Claudia von Schilling. Villa Grisebach Auktionen, Berlin, 11. Juni 2004, Kat.-Nr. 1528

Es gibt Bilder – Gemälde wie Grafiken –, deren Ausstrahlung der Betrachter immer wieder erliegt. Im Allgemeinen werden diese Blätter dann als Hauptwerke oder „Ikonen“ bezeichnet. Edvard Munchs Portrait seiner Geliebten, der britischen Violinvirtuosin Eva Mudocci, gehört zu diesen „Ikonen“ der Druckgrafik.

Die Faszination der großformatigen Lithografie liegt nicht allein in der gekonnten Ausführung oder in der portraitgenauen Erfassung der Dargestellten. Vielmehr liegt dem Bildnis eine mehrschichtige Bedeutung zugrunde, die sich bei genauerer Betrachtung offenbart. Das Weib an sich ist hier dargestellt – die Heilige und die Hure –, ganz von Haar umgeben, das sich lianenhaft um das weiße Gesicht legt. Eine urtümliche Kraft geht von Eva aus (ist der Name ein Zufall?). Leben und Tod, heilige Entrückung und Verführung, Lichtgestalt und Verdammnis – wir kennen diese mehrfach interpretierbaren Dar-stellungen aus Munchs Werk in der Darstellung der Madonna, umge-ben von Totenköpfen und lebensspendenden Spermien. 1903 geschaffen, steht die vorliegende Lithografie noch ganz in der geis-tigen Nachfolge der präraffaelitischen Interpretationen der Urfrauen, deren Schönheit zugleich Seligkeit und Verdammnis verheißt.

Eva Mudocci selbst schrieb in einem Brief zur Entstehung der Lithografie: „Er wollte von mir ein perfektes Ölbild malen. Doch jedes Mal, wenn er ein Ölbild zu malen begann, hat er es zerstört, weil er damit nicht zufrieden war. Es ging besser mit den Lithografien und die Steine, die er dazu brauchte, wurden auf unser Zimmer im Hotel Sanssouci in Berlin gebracht. Mit einem von diesen, der soge-nannten ‚Dame mit Brosche‘ folgte ein Billet: - ‚Das ist der Stein, der von meinem Herzen fiel‘.“ (zitiert nach: Ragna Stang: Edvard Munch – der Mensch und der Künstler. Königstein/Ts., 1979, S. 178).

Karoline von Kügelgen, Hamburg

Munchs schönste Vamp-Madonna war in der Realität eine Konzertgeigerin.

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151 Pablo PicassoMálaga 1881 – 1973 Mougins

Page d'album - „Études“. 1904

Tuschfeder, stellenweise grau laviert, auf Papier. 36,8 × 26,5 cm (14 ½ × 10 ⅜ in.). Unten links mit Bleistift signiert: Picasso. Werkverzeichnis: Zervos, Band I, Nr. 236 („Études“).

Provenienz A. Level, Paris (1932) / Charles und Ruth Lachman, New York (um 1950) / Privatsammlung, Palm Beach (bis 2016)

EUR 90.000–120.000 USD 102,300–136,000

Literatur und Abbildung The Picasso Project (Hg.): Picasso’s Paintings, Watercolors, Drawings and Sculpture: A Comprehensive Illustrated Catalogue 1885–1973. The Blue Period, 1902–1904, Barcelona and Paris. San Francisco, 2011, S. 201, Kat.-Nr. 1904-037 (mit Abbildung; hier betitelt: Studies of a Woman and Hands) / Auktion 12070: Impressionist & Modern Art Works on Paper. Christie’s, New York, 13. Mai 2016, Kat.-Nr. 1003

Dieses Blatt von Pablo Picasso entstand am Ende seiner Blauen Periode und am Anfang der Rosa Periode in einem der wichtigsten Jahre der künstlerischen Entwicklung des Künstlers überhaupt, dem Jahr 1904. Picasso kehrte aus Barcelona zurück nach Paris und zog ins Bateau-Lavoir auf dem Montmartre. Es war die Zeit der Harlekine, die berühmte Radierung „Le repas frugal“, die Gauklerfamilien mit ihren überlängten manieristischen Figuren, sehr viele Aquarelle ent-standen. Es war, wie es scheint, ein Jahr, in dem das Arbeiten auf Papier für Picasso eine besondere Bedeutung hatte, immer wieder zeichnete er sich selbst, allein und gemeinsam mit seiner Geliebten. Es ist nicht einfach, physiognomisch zu entscheiden, ob es sich bei dem Skizzenbuchblatt um eine Annäherung an Madeleine handelt, die er im Frühjahr 1904 kennenlernte, oder um die berühmte Fern-ande Olivier, die im Sommer des gleichen Jahres in sein Leben trat.

Schaut man auf den rechten Rand des Blattes und die beiden unterschiedlichen Profile übereinander, dann scheinen auch beim Künstler selbst sich in dieser Zeit verschiedene Frauenbilder zu überlagern. Was das Blatt so außerordentlich macht, ist nicht nur die Eleganz, die Grazie und die Sinnlichkeit des mittigen Frauenkopfes, der mit unnachahmlicher Leidenschaft und zeichnerischer Sicher-heit erfasst ist. Und wie es ihm gelingt, gerade durch das graue Aquarellieren dieser Partie dessen Eindringlichkeit zu steigern. Fas-zinierend ist vor allem auch, wie Picasso den Frauenkörper vor ihm sprichwörtlich umkreist. Er zeigt die Frau von vorne und daneben als stehende Figur von hinten. Rechts am Rand zweimal im Profil. Und dann im unteren Bereich schaut er wiederum von vorne auf ihre gedrehte Hand. Es scheint, als blitze in diesem Skizzenbuchblatt das erste Mal schon der Leitgedanke des späteren Kubismus Picassos auf, der Versuch der Simultanität, der Glaube daran, dass der Künst-ler in seiner Allmacht versuchen müsse, den Menschen von allen Seiten gleichzeitig sichtbar zu machen. Hier ist es ihm, auf beson-ders zarte Weise, das erste Mal gelungen. Und natürlich ist es zweit-rangig, ob er hier Madeleine umkreist oder Fernande. Picasso umkreiste immer die Frau an sich.

Florian Illies, Berlin

Wie ein Matador den Stier umkreist Picasso diese Frau. Er zeigt sie uns von nah und fern, als zart linearen Rückenakt, im Profil und en détail.

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152 Aristide Maillol1861 – Banyuls-sur-Mer – 1944

Stehende Frau. Um 1930/32

Bleistift auf festem Papier. 37,6 × 27,2 cm (14 ¾ × 10 ¾ in.). Mit einer Fotoexpertise von Dina Vierny, Musée Maillol, Paris, vom 1. Juni 2007.

Provenienz Privatsammlung, Baden-Württemberg (bis 2007)

EUR 5.000–7.000 USD 5,680–7,950

Literatur und Abbildung Auktion 146: Villa Grisebach Auktionen, Berlin, 9. Juni 2007, Kat.-Nr. 147

Sie könnte zu einer Zweiergruppe gehören. Mit insgesamt drei Figuren wäre die geplante Gruppe dagegen nur schwer vorstellbar. Die dicken Konturen rechts im Bild sind abschließend, endgültig, es sind Schlussstriche. Nicht zu vergessen, dass der Zeichner den einen Fuß nicht mehr angemessen unterbringen kann. Und dann ihr rechter Arm, der so skizzenhaft angedeutet bleibt, als hätte der Zeichner irgendwo den Vermerk „später“ hingekritzelt. Angefangen mit seiner Skizze hat Aristide Maillol vermutlich in der oberen Mitte des Mäd-chenkörpers, da, wo er sichtbar auf Schwierigkeiten stieß, die Brüste so zu platzieren, dass sie als gewachsene Teile des Körpers erschei-nen. Wenn nicht gewachsen, dann eben hinzugefügt. Wie der ganze Mädchenkörper letztlich zusammengesetzt scheint aus einzelnen Gliedmaßen, Körperteilen, fast aufdringlich eingefügt, geschraubt, gedrechselt und gedreht, oft ganz leicht gekippt, so dass man bei-spielsweise die Muskelanstrengung in ihren Beinen nur ahnen kann.

Es ist eine radikale Bildhauerzeichnung. Sie lässt uns teilhaben an der Arbeit des Zeichenstifts, an der Mühsal des Verfolgens, des Umkreisens und am Glück des Findens und des Wieder-Findens. Was tut der nur im Hintergrund angedeutete Arm? Er hilft, das Kleid zu raffen, womit der andere Arm ohnehin beschäftigt ist.

Ein junges Mädchen bei der Vorbereitung eines Fußbades. Das wäre eine prosaische, nicht ganz erschöpfende Inhaltsangabe zu dieser Zeichnung, die uns mitnimmt auf alle Abenteuer und manche Irrwege des Zeichenstifts. Ein Fußbad? Aber was soll dann aus den Schuhen werden? Oder sollte das Mädchen aus purer Koketterie –vielleicht auf den Wunsch des Zeichners hin – den schweren Rock etwas in die Höhe heben? Ein Stück stummen Dialogs zwischen Künstler und Modell wäre damit eingefangen und festgehalten, mit allen Zwischenrufen des „Halt“, allen Bitten um ein „Weiter so“.

Wilfried Wiegand, Berlin

Wie gedrechselt wirken die Körperteile – hier zeichnet ein Bildhauer.

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153 August MackeMeschede 1887 – 1914 Perthes-lès-Hurlus

„Bildnis Elisabeth (Die Frau des Künstlers)“. 1913

Bleistift auf glattem Papier. 20,2 × 12 cm (8 × 4 ¾ in.). Rückseitig unten rechts mit dem Nachlassstempel in Schwarz (Lugt 1665b). Rückseitig beschriftet: Lisbeth 1913. Werk- verzeichnis: Heiderich 2038 a (im Nachtrag).

Provenienz Nachlass des Künstlers / Privatsammlung, Berlin (bis 2001)

EUR 20.000–30.000 USD 22,700–34,100

Ausstellung „Mein zweites Ich“ – August und Elisa-beth Macke. Bonn, August Macke Haus, 2009/10

Literatur und Abbildung Auktion 90: Villa Grisebach Auktionen, Berlin, 30. Juni 2001, Kat.-Nr. 189

August Macke, dieser große Maler des glücklichen Lebens, gab eigent-lich allen Frauen, die er malte, die Züge seiner Ehefrau Elisabeth. Macke, der Rheinländer, Genussmensch und Gefühlsmensch, war verliebt in das Leben und in seine Frau, die er viele hundert Male zeichnete und malte. Das Malen war für ihn, wie er einmal sagte, ein „Durchfreuen der Natur“. Auch das macht ihn zu solch einer Aus-nahmefigur innerhalb des deutschen Expressionismus.

Unsere Bleistiftzeichnung stammt aus dem Jahr 1913, jenem Jahr, in dem Macke und Elisabeth die glücklichsten Tage ihrer Ehe verbrachten, als sie im Herbst nach Hilterfingen an den Thuner See zogen. Sehr ruhig schaut Elisabeth ihn an – und er kann nicht anders, als schnell das Papier und den Bleistift in die Hand zu nehmen, um ihr Antlitz festzuhalten. Es ist eine besondere Zeichnung, weil der

Künstler sein Modell so frontal zeigt und sich um eine gewisse Neu-tralität bemüht, ernst, entschlossen schaut Elisabeth. Seine beson-dere Dynamik bezieht das Blatt aus den feiner schraffierten Flächen im Gesicht und auf dem Hals und den mit dem dickeren Stift gezo-genen schwarzen Linien der Haare. Wie oft hat Macke seine Frau gezeichnet und gemalt? Im Jahr 1913 sicher schon viele hundert Male. Und doch sieht er das Gesicht seiner Frau jedes Mal wieder neu, voll Neugier, mit offenem Herzen, mit offenen Augen. Sie selbst schaut sehr ernst auf diesem Blatt. Ob sie schon ahnt, dass dieses Paradies mit geliebtem Mann und den zwei Kindern am sonnenbe-schienen See in der Schweiz bald ein Ende haben wird, dass ihr geliebter August ein Jahr später im Krieg fallen wird?

Macke erfasst diesen Hauch von Melancholie im Paradies mit wenigen Zügen – Elisabeth Macke erzählte später, dass ihr Mann mit-tags die Bilder aus dem Atelier unter dem Dach des Hauses in Hilter-fingen mit in den Garten brachte, der „in leuchtenden Herbstfarben von der Sonne durchflutet war, und stellte sie mitten hinein in dieses Glühen: Sie verblassten keineswegs, sie hatten ihr eigenes Leuchten. Dann frug er mich: ‚Was meinst Du, ist das nun was oder ist das Kitsch, ich kann es wirklich nicht sagen?’, Elisabeth wusste, was es ist. Und wir wissen es auch. Es sind Bilder von solch echter, bezwin-gender Schönheit, dass manche sie nur ertragen können, wenn sie versuchen, sie als Kitsch zu denunzieren. Es macht eben die Einzigar-tigkeit Mackes aus, dass ihm nicht nur das Leben gelang und die Liebe, sondern auch die Kunst. Und wenn man möchte, dann mag man den Schnörkel unterhalb des Halses, den Macke hier in großer Geschwin-digkeit gezeichnet hat, nicht nur als angedeuteten Ausschnitt der Bluse sehen, sondern symbolisch als ein umgedrehtes Herz.

Florian Illies, Berlin

Das Paradies hielt nicht. Ein Jahr später wird Macke an der Westfront fallen, mit nur 27 Jahren.

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154 August MackeMeschede 1887 – 1914 Perthes-lès-Hurlus

„Trabender Reiter“. 1914

Kohle auf Papier. 10,7 × 17,5 cm (4 ¼ × 6 ⅞ in.). Rückseitig beschriftet und datiert: Trabender Reiter, 1914. Werkverzeichnis: Heiderich 2139.

Provenienz Leopold Reidemeister, Berlin (bis 1990)

EUR 15.000–20.000 USD 17,000–22,700

Ausstellung Picasso und Deutschland. Die Samm-lung Würth in Kooperation mit dem Museo Picasso Málaga. Schwäbisch Hall, Kunsthalle Würth, 2016 (nicht im Katalog)

Dressurreiten – das bedeutet Anmut. Losgelöst von jeglichem Umweltgeschehen vollzieht ein so ungleiches Paar einen so wunder-baren Tanz. Es wird in einer eigenen Sprache kommuniziert, einer Sprache, die Außenstehende nie verstehen werden. Kaum zu glauben, dass ein 800 Kilogramm schweres Pferd, so mächtig und prächtig, auf kleinste Veränderungen in der Körpersprache des Menschen reagiert – dieser entsprechen will. Und doch funktioniert das Dres-surreiten nur so. Den Partner auf seine Seite zu bekommen, eine Einheit bilden, die Außenwelt auszublenden mit dem Ziel, maximale Präzision und Harmonie zu erreichen.

Die Zeichnung von August Macke stellt das Pferd im Trab dar, einer Gangart, in der das Tier für einen kurzen und doch so bedeu-tenden Augenblick über dem Boden schwebt. Voller Grazie streckt es das zarte Bein nach vorne und trägt den muskulösen Hals majes-tätisch aufgestellt. „Hier bin ich“, scheint die stolze Botschaft des Pferdes zu sein, ganz der Weisheit Xenophons folgend: „Wenn man das Pferd zu der Haltung bringt, die es selbst annehmen will, wenn es schön sein will, so macht man, dass das Pferd des Reitens froh wird.“ Weiter führt der Dichter aus, was sich in dieser Zeichnung so deutlich widerspiegelt: „Und in der Tat, ein Pferd, das sich stolz trägt, ist etwas so Schönes, Bewunderns- und Staunenswürdiges, dass es aller Zuschauer Augen auf sich zieht. Keiner wird müde, es anzuschauen, solange es sich in seiner Pracht zeigt.“ Diese Wirkung vollbringt auch Mackes Zeichnung. Der Künstler kreiert eine Welt, der man sich nur schwer wieder entziehen kann, nur schwer wieder entziehen möchte.

Janna Jochheim, Berlin

Ein Pferd, das sich stolz trägt, zieht aller Augen auf sich.

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155 Franz MarcMünchen 1880 – 1916 Verdun

„Davidshirsch (Liegender Hirsch)“. 1910

Bleistift auf Papier (aus einem Skizzen-buch). 16 × 21,5 cm (6 ¼ × 8 ½ in.). Oben links bezeichnet: „Davidshirsch China“. Werkverzeichnis: Hoberg/Jansen, Band III, Sketchbook XIX, S. 2 (hier 21 x 21,5 cm). Studie zu dem Gemälde „Hirsche im Walde“ (1911; Lankheit 163). Die Darstellung am oberen Rand mini-mal beschnitten.

Provenienz Maria Marc, Ried / Galerie Otto Stangl, München (Nachlass Franz Marc) / Paul Pfalzer, Laupheim (1965) / Galerie Elfriede Wirnitzer, Baden-Baden (1977 und 1989) / Privatsammlung, Rheinland

EUR 20.000–30.000 USD 22,700–34,100

Ausstellung Franz Marc. Aquarelle und Zeichnungen. München, Moderne Galerie Otto Stangl (Wanderausstellung), 1949/50, Kat.-Nr. 32 / Mit Stift und Pinsel IV. Baden-Baden, Galerie Elfriede Wirnitzer, 1977, Kat.-Nr. 25, mit Abbildung / Mit Stift und Pinsel XI. Baden-Baden, Galerie Elfriede Wirnitzer, 1989, Kat.-Nr. 5, mit Abbildung / Franz Marc und Joseph Beuys. Im Einklang mit der Natur. Kochel am See, Franz Marc Museum, 2011, Kat.-Nr. 13, Abbildung S. 41

Literatur und Abbildung Alois J. Schardt: Franz Marc. Berlin, 1936, Abbildung S. 46 (irrtümlich datiert 1907) / Franz Marc. Tierstudien. Insel-Bücherei Nr. 567, Wiesbaden, o. J., Abbildung S. 1 / Hermann Bünemann: Franz Marc. Zeichnungen - Aquarelle. München, 3. Auflage 1960, S. 41, Abbil-dung 10 / Klaus Lankheit: Franz Marc. Tierstudien, 36 Handzeichnungen. Wiesbaden, 1963, Abbildung I, S. 1 / Auktion 14: Galerie Wolfgang Ketterer, München, 27. Mai 1975, Kat.-Nr. 1189 / Klaus Lankheit: Franz Marc. Köln, 1976, S. 64, mit Abbildung / Andreas Hüneke: Franz Marc. Zitronenpferd und Feuer-ochse. 100 Graphiken. Leipzig, 1990, Kat.-Nr. 23, Abbildung S. 27

Die Bleistiftzeichnung eines liegenden Hirsches von 1910 stammt aus Franz Marcs Skizzenbuch Nr. 19. Es befindet sich im Germanischen Nationalmuseum, Nürnberg, das den umfangreichsten Bestand aus Marcs zeichnerischem Œuvre besitzt. Ihm widmet das Museum 2019 eine Sonderausstellung, bei der die künstlerische Entwicklung von 1904 bis 1914 verfolgt werden soll.

Das vorliegende Blatt zeigt gemäß der handschriftlichen Notiz des Künstlers einen Davidshirsch aus China; die Zeichnung diente als Vorstudie für das Gemälde „Hirsche im Walde“ von 1911. Marc zeigt zwar kein sterbendes, jedoch ein damals äußerst seltenes, in seinem Überleben bedrohtes Tier. Die im Skizzenbuch unmittelbar angren-zenden Tierstudien von Füchsen, Bären, Löwen und Geparden legen nahe, dass die Zeichnung im Zoo entstand. Bereits 1907 hatte Marc erste Tierstudien im Berliner Zoo angefertigt.

Die künstlerische Beschäftigung mit dem Tier, die schließlich zum Markenzeichen von Franz Marc avancierte, begann im Jahr 1905 mit der damals entstandenen kleinformatigen Ölstudie „Der tote Spatz“. In ihrer symbolhaften Aufladung weist die Studie auf die Abgründigkeit späterer Tierbilder voraus, die im sterbenden Tier auch eine Vorahnung auf den Ersten Weltkrieg offenbaren, wie Marc im März 1915 zumindest mit Blick auf sein Ölgemälde der „Tier-schicksale“ bekannte. Marc suchte die „Wesensform“ des Tieres, das Tier als lebendiges Subjekt zu verstehen.

Wie „Sterbendes Reh“ (Kat.-Nr. 159) ist auch diese Zeichnung Dokument eines stilistischen Umbruchs: Im früheren Bild von 1908 klingen noch Jungendstilformen nach, in diesem von 1910 deutet sich bereits die Loslösung von der Naturform zu Reduktion und Abs-traktion, zu rhythmisierter Freisetzung von Form und Farbe behutsam an. Beide Blätter sind nach dem Umschwung der Pariser Reise von 1907 entstanden und verweisen auf Marcs Neuorientierung: vom Abbild zum Sinnbild. Beide Blätter sind Zeugnisse der Suche nach einer inneren Wahrheit und pantheistischer Einfühlung in die Natur.

Klaus-Dieter Lehmann, München und Berlin

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156 Paula Modersohn-BeckerDresden 1876 – 1907 Worpswede

„Selbstbildnis“. 1904/05

Kohle auf Bütten. 21,7 × 17,9 cm (8 ½ × 7 in.). Unten links von fremder Hand monogrammiert (im Oval): PB. Die Arbeit wird aufgenommen in das Werkverzeichnis der Handzeichnungen Paula Modersohn-Beckers von Anne Röver-Kann und Wolfgang Werner, Bremen (in Vorbereitung). Stellenweise, z.B. an den Augen und am Mund, wohl von fremder Hand überarbeitet.

Provenienz Privatsammlung, Norddeutschland (bis 2015)

EUR 20.000–30.000 USD 22,700–34,100

Literatur und Abbildung Auktion 103: Wertvolle Bücher, Manus-kripte und Autographen, alte und moderne Kunst, Dekorative Graphik, Gemälde, Nautica. F. Dörling, Hamburg, 9.–12.12.1981, Kat.-Nr. 5984, Tafel 46 / Auktion 250: Grisebach, Berlin, 26. November 2015, Kat.-Nr. 4

Paula Modersohn-Beckers Selbstbildnisse gehören zum Eindrucks-vollsten ihrer Kunst: Sie zeigt sich nicht, sondern sie vergewissert sich ihrer selbst. Das eigene Antlitz bietet ihr auch die Möglichkeit für künstlerische Experimente. Hier sucht und findet sie ihren eige-nen Stil, der nach Stilisierung und Vereinfachung der Form strebt. Das vorliegende Selbstportrait entstand um 1904/05. Mit wenigen, sicheren Strichen umreißt sie ihre feinen Gesichtszüge und tritt dem Betrachter lebensvoll vor Augen.

Zu Lebzeiten galt die Künstlerin vielen schlicht als die Ehefrau des Malers Otto Modersohn. Nach ihrem frühen Tod mit 31 Jahren 1907 sorgten ihr Mann, der Maler Heinrich Vogeler und der Architekt Bernhard Hoetger durch Ausstellungen ihrer Werke dafür, dass sie einem breiten norddeutschen Publikum bekannt wurde. Es wurde bald deutlich, dass Paula Modersohn-Becker ihre Künstlerfreunde der Worpsweder Künstlerkolonie an Bedeutung weit überragte. Immerhin war sie die erste Malerin weltweit, der man ein eigenes Museum widmete – in Bremen im Jahr 1927, finanziert durch den Kaffeehändler und Mäzen Ludwig Roselius. Während der NS-Zeit galt das Werk von Paula Modersohn-Becker als „entartet“. Erstmals wur-den damals einige ihrer Werke ins Ausland, vor allem in die USA, ver-kauft. Besonders verdienstvoll war hier der Wiener Exilant Otto Kal-lir, der 1939 in New York die Galerie St. Etienne gegründet hatte. Gemeinsam mit seiner Mitarbeiterin und Nachfolgerin Hildegard Bachert machte er deutsche und österreichische Künstlerinnen und Künstler beim amerikanischen Publikum bekannt, neben Paula Modersohn-Becker auch Käthe Kollwitz, Oskar Kokoschka, Gustav Klimt, Egon Schiele und viele andere.

Mit Aufkommen der Gender Studies in den 1980er-Jahren betrachteten viele KunsthistorikerInnen Modersohn-Beckers Werk unter dem Gesichtspunkt ihrer gesellschaftlichen Rolle als Frau. Im National Museum of Women in the Arts, das, 1987 in Washington, D. C. eröffnet, ausschließlich Kunstwerke von Frauen sammelt, ist die Worpsweder Künstlerin durch repräsentative Arbeiten vertreten.

In den letzten Jahren ist Modersohn-Becker immer wieder international gefeiert geworden. Es fanden sehr erfolgreiche Einzel-ausstellungen im renommierten Louisiana Museum bei Kopenhagen (2014/2015) sowie im Musée d’Art moderne de la Ville de Paris (2016) statt. Mehrere Ausstellungen in Bremen (2007/2008 und 2014) und Hamburg (2017) zeigten den Aufbruch der Künstlerin in die Moderne. Uwe M. Schneede betont dazu: „In diesen ersten Jahren des 20. Jahr-hunderts stagnierte die Kunst in Deutschland. So suchte Modersohn-Becker sich die Vorbilder und Anregungen wie zwangsläufig in Paris.“ Hier lernte sie die Werke von Cézanne und Matisse kennen, vielleicht auch von Gauguin und Picasso. Jedenfalls sind die Parallelen zwi-schen ihrem Spätwerk und dem Werk der gleichzeitigen Pariser Avantgarde atemberaubend. Hier wird es in Zukunft sicher weitere spannende Entdeckungen geben.

Wilfried Rogasch, Berlin

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157 Heinrich NauenKrefeld 1880 – 1940 Kalkar

„Studie zu zwei aufsteigenden Pferden; links mit Amazone“ / „Studie zu der reitenden Amazone nach rechts III“ / „Studie zu der reitenden Amazone, aufsteigend; oben links“. 1912 und 1913

3 Blatt: Aquarell und Tuschpinsel bzw. Aquarell, jeweils auf dünnem Skizzen-papier bzw. Aquarell und Deckweiß auf bräunlichem Velin. 2 Blatt jeweils 35,5 × 27,5 cm, 1 Blatt 36,9 × 47,2 cm. Jeweils unten links mit Bleistift signiert und datiert: H. Nauen 0.13 bzw. H. Nauen 0.12 bzw. H. Nauen 0.13. Werkverzeich-nis: Malcomess 109, 97, 116.

Provenienz Edwin Redslob, Berlin (1973 testamentarisch als Legat erhalten)

EUR 3.000–4.000 USD 3,410–4,550

Ausstellung Das Tier in der Kunst des XX. Jahrhun-derts. Berlin, Galerie Pels-Leusden, 1969, Kat.-Nr. 119 / Heinrich Nauen. Kunstmuseum Bonn und Wuppertal, Von der Heydt-Museum, 1996, Kat.-Nr. 81, Abbildung S. 173 und S. 203

Burg Drove, eine rheinische Wasserburg, deren Anfänge bis ins Mittel-alter zurückreichen, wäre vermutlich den wenigsten bekannt, hätte nicht Heinrich Nauen sein Meisterstück für diesen Ort geschaffen!

Doch der Reihe nach: 1910 lernte der bis dahin von bescheide-nem Erfolg zehrende Nauen den Kunsthistoriker Edwin Redslob (1884-1973) kennen, der seit 1909 Direktorialassistent am Suer-mondt-Museum in Aachen war. Im Folgejahr stellte Redslob ihm den jungen Edwin Suermondt, einen Großneffen des berühmten gleich-namigen Sammlers vor, dem Nauen wiederum einen Besuch bei Walter Kaesbach in Berlin empfahl. Beide, Suermondt und Kaesbach, entwickelten, von Nauen überzeugt, die Idee, den Künstler zu beauf-tragen, monumentale Gemälde für einen Saal der Burg Drove, den Wohnsitz der Familie Suermondt in Düren-Kreuzau, zu schaffen. Suermondt hatte sich im Gegensatz zu seinem Großonkel auf das Sammeln zeitgenössischer Kunst spezialisiert und bereits Werke von Nauen erworben. Begeistert schrieb der Sammler im Dezember 1911 an seine Mutter: „Ich hatte an die Ausmalung des jetzigen Apfelzim-mers gedacht, nicht al fresco sondern Leinwände, weil dies klima-tisch besser ist und nicht die Sicherung einer neuen Technik fordert. Stelle Dir vor, wie das wirken würde!“ (Brief von Edwin Suermondt an seine Mutter Anna aus Berlin vom 17. Dezember 1911, zitiert nach: Klara Drenker-Nagels: Heinrich Nauen – Das expressionistische malerische Werk von 1905–1920. In: Heinrich Nauen. Retrospektive. Köln, 1996, S. 48).

Nauen nahm den Großauftrag Anfang 1912 voller Überzeugung an, zumal er wirtschaftliche Sicherheit, aber auch künstlerische Arbeitszimmer von Edwin Redslob, Berlin,

Fotografie, um 1970

Freiheit garantierte. So entstand 1913 in Nauens niederrheinischem Atelier in Dilborn der aus sechs großformatigen Gemälden bestehen-de Drove-Zyklus, der die Werke „Amazonenschlacht“, „Im Garten“, „Badende“, „Interieur“, „Pietà“ und „Die Ernte“ umfasst. Die Bildserie, die sich heute in der Sammlung des Kaiser Wilhelm Museums in Kre-feld befindet, gilt als expressionistisches Hauptwerk des Künstlers.

Nach fast zweijähriger Arbeit berichtete Nauen in einem Brief an Kaesbach am 29. Dezember 1913 von der Vollendung des Werkes. Der antwortete umgehend und beglückt: „Lieber Freund. Die Bilder für Burg Drove vollendet? Das ist eine frohe Neujahrskunde. Ich den-ke zurück an die lange, lange Zeit des Werdens und Erstarkens dieser sechs Geschwister, die ich mit aus der Taufe heben durfte, die dann an Ihnen den allerstrengsten Erzieher hatten. Wie oft wurden Entwürfe, im Kleinen und Großen, geändert und umgemodelt; wie viele Einzel-studien sind entstanden; nie sah ich so viele Hände, gezeichnete, getuschte, gemalte, wie bei meinem letzten Besuche in Dilborn!“ (Brief von Walter Kaesbach an Heinrich Nauen vom 31. Dezember 1913, zitiert nach: Heinr. Nauen. Erste Kollektiv-Ausstellung in der Galerie Alfred Flechtheim Düsseldorf, 1914).

Die drei vorliegenden Studien hat Nauen im Rahmen seiner Arbeit an der aus der griechischen Mythologie überlieferten „Ama-zonenschlacht“ geschaffen. Sie sind beeindruckende Zeugnisse der Entstehung des ersten und großformatigsten Bildes des Zyklus für die Burg Drove, eines Meisterwerks des Künstlers.

Anne Ganteführer-Trier, Köln

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158 Max BeckmannLeipzig 1884 – 1950 New York

„Bildnis Mink“ (Die Frau des Künstlers). 1917

Lithografie auf Bütten. 24,5 × 22,1 cm (40,8 × 33,8 cm) (9 ⅝ × 8 ¾ in. (16 ⅛ × 13 ¼ in.)). Unten bezeichnet und signiert: Portrait meiner Frau Beckmann. Werkverzeichnis: Hofmaier 121 I. (von II). Einziger bekannter Abzug des 1. Zustands.

Provenienz Mathilde Q. Beckmann, New York (in Familienbesitz bis 2013)

EUR 6.000–8.000 USD 6,820–9,090

Literatur und Abbildung Auktion 212: Max Beckmann. Aus dem Atelier des Künstlers. Druckgraphik für Quappi. Villa Grisebach Auktionen, Berlin, 31. Mai 2013, Kat.-Nr. 627

1902, ein Faschingsfest an der Großherzoglichen Kunstschule in Weimar: „Das war also Liebe auf den ersten Blick. Ich hatte ein ungarisches Kostüm an und da mir Ungarn wohl etwas identisch mit Zigeunern war, fühlte ich mich verpflichtet zum Wahrsagen. Zu mei-nem Erstaunen stand sowohl in seiner wie in meiner Hand in gleichen Linien, daß wir uns nie verheiraten würden, worauf ich etwas rasch hinzusetzte, daß wir uns daher zusammen trösten könnten.“ Nach einem gemeinsamen Spaziergang am nächsten Tag „fand ich auf meiner Staffelei eine Zeichnung – zwei kleine Menschen unter den großen Bäumen. Unterschrift Max Beckmann. Von dem Moment an wußte ich, daß ich es mit einem großen Talent zu tun hatte. Und nie mehr in meinem Leben habe ich an dem eigenartig-großen Aus-drucksvermögen gezweifelt“, erinnert sich Minna Tube an die erste Begegnung mit ihrem Mitstudenten Max Beckmann (Minna Beck-mann-Tube: Erinnerungen an Max Beckmann. In: Max Beckmann: Frühe Tagebücher. München und Zürich, 1985, S. 163).

Auch als sie später Karriere als Opernsängerin machte, das Paar auseinandergegangen und Beckmann längst in zweiter Ehe mit Mathilde, gen. Quappi, verheiratet war, hielt ihre enge Verbindung bis zum Tod des Künstlers 1950 an.

Im Sommer 1910 schrieb Beckmann aus Wangerooge an Minna: „Dabei dachte ich an Dich und dachte daß ich Dich liebte. Daß ich Dich immer lieben werde, was auch in meinem Leben vorgehen mag, wohin es mich auch führe. Über alles andere wird stets meine Liebe zu Dir bestehen bleiben. Ob Du mir nicht mehr gehören soll-test oder ich Dir [...] Über Zeit und Raum Du Freundin meiner Seele gehörst Du mir.“ (Max Beckmann: Briefe I 1899–1925. Uwe M. Schneede (Bearb.), München und Zürich, 1993, S. 62)

Und schon drei Jahre zuvor, als Beckmann bei seiner Schwes-ter Margarethe in Berlin-Marienfelde weilte, beschwor er Minna in einem anderen Brief: „Darf ich Dich nur um das eine bitten. Nie bei mir zu bleiben, wenn Du mich nicht mehr liebst. Nicht aus Pflicht-gefühl oder aus dem armseligen Gefühle ‚Was sonst tun’. Bitte ja. Damit ich immer sicher bin, dass Du mich liebst. Nur schon durch Dein Beimirsein.“ (a.a.O., S. 51) Unsere Lithografie „Mink“ aus dem Jahr 1913 ist eines der Bilder dieser großen Liebe.

Elke Ostländer, Berlin

„Über Zeit und Raum Du Freundin meiner Seele gehörst Du mir“, schrieb Beckmann.

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159 Franz MarcMünchen 1880 – 1916 Verdun

„Sterbendes Reh“. 1908

Lithografie mit grauer Tonplatte auf Bütten. 19,2 × 21 cm (39,2 × 45,8 cm) (7 ½ × 8 ¼ in. (15 ⅜ × 18 in.)). Rückseitig mit dem Nachlassstempel in Schwarz (Lugt 1782a) und der handschriftlichen Bestätigung von Maria Marc in Bleistift. Werkverzeichnis: Hoberg/Jansen, Band III, prints 8 (hier datiert 1908). Eine Vorzeichnung in Bleistift befindet sich im Franz Marc Museum in Kochel am See (Lankheit 368).

Provenienz Nachlass des Künstlers / Maria Marc, Ried, Gemeinde Kochel am See / Privatsammlung, Baden-Württemberg (bis 2008)

EUR 3.000–4.000 USD 3,410–4,550

Ausstellung Franz Marc und Joseph Beuys. Im Einklang mit der Natur. Kochel am See, Franz Marc Museum, 2011, Abbildung S. 38

Literatur und Abbildung Auktion 158: Villa Grisebach Auktionen, Berlin, 31. Mai 2008, Kat.-Nr. 7061

Die 1907/08 entstandene Lithografie zeigt auf offener Wiese ein auf alle Viere gesunkenes, den Kopf mit letzter Kraft hochreißendes, in einem Pfeilregen sterbendes Reh. Anregung hierfür war womöglich Gustave Flauberts „Legende von Sankt Julian“ aus dem Jahr 1877. Das Blatt gehört zu den ersten lithografischen Arbeiten, mit denen Marcs druckgrafisches Werk einsetzt. Die Auflagen waren sehr klein, bisweilen blieb es sogar bei Unikaten; vom „Sterbenden Reh“ sind insgesamt 14 Abzüge bekannt.

Den Auftakt zu Marcs Beschäftigung mit dem Tier, das zum Signaturmotiv seiner Kunst werden sollte, führt in das Jahr 1905 und zur damals entstandenen kleinformatigen Ölstudie „Der tote Spatz“. In ihrer symbolhaften Aufladung weist sie auf die Abgründigkeit spä-terer Tierbilder voraus, die in der sterbenden Kreatur auch eine Vorahnung auf den Ersten Weltkrieg offenbaren, wie Marc im März 1915 zumindest hinsichtlich seines Ölgemäldes „Tierschicksale“ bekannte. Franz Marc suchte die „Wesensform“ des Tieres; ein- und mitfühlend verstand er das Tier als lebendiges Subjekt und wollte es entsprechend darstellen. So stammt die etwas jüngere Bleistift-zeichnung eines liegenden Hirsches (Kat.-Nr. 155) aus dem Skizzen-buch Nr. 19, das sich im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg befindet. Dort wird man Franz Marc 2019 eine Sonderausstellung widmen, die seine Entwicklung von 1904 bis 1914 anhand einzigartiger Werkdokumente nachzeichnet. Wie die Zeichnung „Davidshirsch“

verdeutlicht auch die vorliegende Lithografie einen stilistischen Umbruch in Marcs Werk: Während einerseits noch Jungendstilformen nachklingen, bahnt sich seine Loslösung von der Natur an, hin zu Reduktion und Abstraktion.

Für mich selbst sind Franz Marcs Kunstwerke quasi Nachbarn. Als Präsident des Goethe-Instituts, mit Sitz in München, habe ich es nicht weit ins Lenbachhaus und ins Franz Marc Museum in Kochel, als Vorsitzender des Verwaltungsrats des Germanischen National-museums in Nürnberg sind mir Marcs im Museum verwahrte Skizzen-bücher sehr vertraut. Die Kunst Franz Marcs wurde von den National-sozialisten als „entartet“ geächtet. Daher berührt es besonders, dass Arbeiten Marcs mit zur Gründung eines Museums gegen Totalita-rismus und Unmenschlichkeit, des ExilMuseums Berlin, beitragen. Möglich macht es das mäzenatisch-bürgerschaftliche Engagement von Bernd Schultz, der dafür seine Privatsammlung gibt.

Klaus-Dieter Lehmann, München

Es berührt besonders, dass Marcs Werke nun zu einem Museum gegen Totalitarismus beitragen werden.

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160 Wilhelm LehmbruckDuisburg 1881 – 1919 Berlin

„Mädchenakt mit aufgestemmtem linken Bein“. 1914

Tuschfeder und Bleistift auf Papier, auf Japan aufgezogen. 31 × 24,3 cm (12 ¼ × 9 ⅝ in.). Unten rechts mit Bleistift signiert: W Lehmbruck. Werkverzeichnis: Händler 299. Provenienz Galerie Pels-Leusden, Berlin / Galerie Alex Vömel, Düsseldorf / Privatsammlung, Berlin (bis 2007)

EUR 18.000–24.000 USD 20,500–27,300

Literatur und Abbildung Auktion 150: Villa Grisebach Auktionen, Berlin, 30. November 2007, Kat.-Nr. 14

1914, Kriegsbeginn – Wilhelm Lehmbruck muss aus Paris zurück nach Deutschland. Ein Jahr zuvor war er noch zusammen mit Constantin Brancusi gefeierter Stern der gleichsam französischen Bildhauerei in der Armory Show in New York gewesen. 1919 – Lehmbruck, der bis heute nicht hinreichend gewürdigte Große unter den Weltbildhauern des 20. Jahrhunderts, nimmt sich sein Leben.

Ob Lehmbruck ab 1911 zur Entindividualisierung seiner Körper und Gesichter kam, weil er in Paris mit Tänzerinnen aus dem Umkreis von Djagilews Ballets Russes verkehrte und dies aus innerfamiliären Gründen künstlerisch nicht ausdrücken durfte oder aus anderen Gründen, wissen wir (noch) nicht. Lehmbrucks Frau Anita verstand es ab 1919 als junge Witwe und Alleinerziehende von drei Söhnen nachhaltig, die einen biografischen Spuren zu legen und andere zu verwischen. Eindeutig aber ebnete Lehmbruck in Paris parallel zu Brancusi mit seinen phänotypischen Gestalten des Menschenbildes einen zeitläufigen Weg, dessen Früchte anschließend auch die Kunst Giacomettis erntete. Volumina, Schattenrisse, Topoi substituierten das menschlich Einzigartige. Lediglich die gezeichnete Gestalt in Vorahnung einer Skulptur verblieb individualisiert – und so überzeit-lich gültig.

1914: Der Linie der Anmut folgt die Linie des Schmerzes. Zwei-felsfrei ist der „Mädchenakt mit aufgestemmtem linken Bein“ noch dem künstlerischen Wollen im Umkreis von Lehmbrucks „Schreiten-der“ (1913/14) zuzuordnen. Eine Form für „Grace“ zu finden (so der Titel eines Schlüsselwerks schon in der Frühphase 1902/04) war ein Kontinuum in Lehmbrucks Streben bis 1914, bis zur notwendigen Rückflucht aus Paris nach Deutschland. Das Lehmbrucksche „Maß gegen Maß“ bestimmte hier die Annäherung an die überindividuelle Ausdrucksform von weiblicher Schönheit durch die zu findende schöne Linie.

Ebenso zweifelsfrei zeigt „Medea“ (Kat.-Nr. 162) bereits den Bruch mit diesem Streben nach Schönheit und Anmut. Die Kriegs-euphorie kehrte sich schon kurz nach Kriegsausbruch in Depressi-on und Angst um, ähnlich wie Jasons Begeisterung für Medea in die für die Tochter Kreons umschlug. Mord und Vergeltung, Schmerz und Trauer, Flucht, Ohnmacht und Ausweglosigkeit treten als auszu-drückende Abstrakta in die Idealschönen von Theater und Tanz! Die farbliche Betonung des Hintergrunds als Folie für das schreckliche Tun und Fluchtkorridor zugleich scheint hier im doppelten Sinn des Wortes auf.

„Die Sklavin“ (Kat.-Nr. 161) erweist sich in diesem Zusammen-hang gar als tastende Studie zu Lehmbrucks Skulptur „Rückblickende“ (1914). Man merkt, dass sich jemand hinter einem umdreht, erkennt den Riss des Sich-Umdrehenden, nicht aber sein Gesicht. Nur noch strumpfmaskenhaft anonym ist das Gesicht der „Rückblickenden“ skulptural und hier auch zeichnerisch ausgearbeitet. Den Werken Brancusis ähnlich ist die physiognomische Reduktion der auf den ersten Blick koloriert „zugestrichenen“ Radierung. Doch das Zuge-strichene korrespondiert mit dem Strumpfmaskenhaften. Das Indivi-duelle entschwindet, das phänotypische in Form, Volumen und Tor-sion obsiegt.

1919: kurz nach Ende des Ersten Weltkrieges – das Menschen-bild ist der Kunst abhandengekommen. Ein Schwarzes Quadrat, ein Pissoir, flüchtige Abstraktionen und zukünftig Bauhaus-geadelte Ungegenständlichkeit stehen im Fokus der Kunstszene. Lehmbrucks später Torso (1918), in dem die ästhetische Notwendigkeit skulptura-ler Form die anatomische Unversehrtheit des Vorbildlichen über-walmte, kam nicht mehr in den Spot. Der Star der Armory Show stand

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vor dem Scherbenhaufen seines am Menschenbild orientier-ten Kunstwollens. Nicht erwiderte Liebe und die Brutalität, mit der sich die Spartakisten auf den Straßen gerierten, taten das Ihre hinzu. Geschockt von der Realität, verzweifelt im Privaten und scheinbar perspektivlos im Künstlerischen, ging Lehmbruck, wie Alma Mahler-Werfel expressionistisch und metaphernstark Fritz von Unruh zitiert, nach Hause, „öffnete den Gashahn, steckte den Schlauch in den Mund und war in wenigen Minuten dort, wo er sein wollte.“ Er trat so selbstverantwortet ein in sein noch immer dunkles Nach-leben – aber immerhin in eines, das die Flamme bereithält, die er prometheusgleich dem jungen Joseph Beuys lichtend weiterreichte.

Raimund Stecker, Düsseldorf

162 Wilhelm LehmbruckDuisburg 1881 – 1919 Berlin

„Medea“. 1914

Kaltnadel auf Papier, vom Künstler aquarelliert. 29,5 × 23,5 cm 42,2 × 31,8 cm) (11 ⅝ × 9 ¼ in. (16 ⅝ × 12 ½ in.)). Betitelt, bezeichnet, signiert und gewidmet: Aquarell! blau und rot Frau Dr. Stegmann zur freundlichen Erinnerung in Verehrung 11. Juli 15 W. Lehmbruck. Werkverzeichnis: Petermann 97 II (von II). Mit einer schriftlichen Bestätigung von Dietrich Schubert, Heidelberg, vom 18. November 2011 (in Kopie).

Provenienz Anna Margarete Stegmann, Dresden (1915 Geschenk des Künstlers) / Jan A. Ahlers, Herford / Arnoldi-Livie, München (bis 2014)

EUR 10.000–15.000 USD 11,400–17,000

Literatur und Abbildung Auktion 110: Moderne Kunst des Neunzehnten und Zwanzigsten Jahrhunderts: Teile der Sammlung R. L. Mayer und Bestände aus verschiedenen schweizerischen und ausländischen Privatsammlungen, Kornfeld und Klipstein, Bern, 9./10. Mai 1963, Kat.-Nr. 605 / Auktion 206: Hauswedell und Nolte, Hamburg, 5./6. Juni 1975, Kat.-Nr. 1120 / Auktion 232: Karl & Faber, München, 11. Juni 2011, Kat.-Nr. 917 / Auktion 226: Villa Grisebach Auktionen, Berlin, 30. Mai 2014, Kat.-Nr. 440

161 Wilhelm LehmbruckDuisburg 1881 – 1919 Berlin

„Die Sklavin“. 1914

Kaltnadel auf Bütten, vom Künstler aquarelliert. 24,8 × 17,8 cm (37,6 × 31 cm) (9 ¾ × 7 in. (14 ¾ × 12 ¼ in.)). Zweifach signiert. Werkverzeichnis: Petermann 88.

Provenienz Ehemals Kunsthaus Herbert Tannenbaum, Mannheim (erworben 1925, in Familienbesitz bis 2011)

EUR 6.000–8.000 USD 6,820–9,090

Literatur und Abbildung Auktion 190: Villa Grisebach Auktionen, Berlin, 25. November 2011, Kat.-Nr. 243

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163 Ernst Ludwig KirchnerAschaffenburg 1880 – 1938 Davos

Zwei weibliche Akte mit Skulptur. 1910

Bleistift auf festem Papier. 26,8 × 36 cm (10 ½ × 14 ⅛ in.). Rückseitig unten links mit dem Basler Nachlassstempel (Lugt 1570b) und der in Tuschfeder in Schwarz eingetragenen Registriernummer: B Be / Bg 59.

Provenienz Nachlass des Künstlers / Galerie Utermann, Dortmund (bis 2000)

EUR 25.000–35.000 USD 28,400–39,800

Ausstellung Kirchner im KirchnerHAUS. Aschaffen-burg, KirchnerHAUS, 2015, Kat.-Nr. 17, Abbildung S. 26

Literatur und Abbildung Auktion 79: Villa Grisebach Auktionen, Berlin, 26. Mai 2000, Kat.-Nr. 27 / Auktion 218: Villa Grisebach Auktionen, Berlin, 28. November 2013, Kat.-Nr. 12

Wir danken Günther Gercken, Lütjen-see, für freundliche Hinweise.

Kaiserzeit – in Berlin versorgt der Stuckateur Bieber die Hauseigen-tümer mit floralem und anthropomorphem Zierrat. Sex fand unter der Bettdecke statt, auch wenn er in exzentrischen Kreisen schon nicht mehr nur der Fortpflanzung diente. Max Pechstein hatte sein Atelier in Biebers „Bau“. Ernst Ludwig Kirchner folgte ihm 1911. Gemeinsam betrieben sie ihre private Kunstschule, das MUIM-Insti-tut. Sie vertrieben sich die Zeit, indem sie ihren Trieben freien Lauf ließen. Anton von Werner erfuhr von Schamlosigkeiten und behaup-tete sich königlich-akademisch mit zeitgeistig denunziatorischem Eros als Moralwächter.

Kirchners „Zwei weibliche Akte mit Skulptur“, vielleicht aus dem Jahr 1910, womöglich aber auch erst im MUIM-Institut beäugt, zeugt von der gesellschaftlichen Widerständigkeit des Erotomanen und Jahrhundertmalers aus Deutschland. Wieso uns der Titel zwei Akte und die Anwesenheit einer Skulptur suggerieren will, bleibt das Geheimnis der postum agierenden Titelgeber. Denn unzwei-deutig werden drei Frauen beim genüsslich lesbischen Treiben in orgiastischer Atmosphäre gezeigt. Eine liegt rücklings und scheint ruhebedürftig, bereits ein wenig ausgelaugt und nicht mehr lüstern. Die zweite nimmt sich, mit dem Rücken an sie lehnend, einen Drink. Und die dritte kniet offenbar vor einem Serviertablett. Eine Zeichen-spur an ihrer rechten Brust weist sie ikonografisch als Immaculata aus.

Der kunsthistorisch prüde Titel entstammt der Nachlasssich-tung. 1938 hatte sich Kirchner durch Freitod aus dem Leben geschos-sen. Das Baseler Kunstmuseum, vor allem ihr späterer Direktor Georg Schmidt, hatte sich sorgfältigst um die Hinterlassenschaft des Davoser Exilanten gekümmert. Roman Norbert Ketterer sicherte sich schließlich 1954 alle noch vorhandenen Werke für den deut-schen Nachkriegskunsthandel und so für die Sammlungen der alten und neuen Eliten.

Doch all dies ist „nur“ Geschichte. Gegenwärtig hingegen ist die Rasanz, mit der Kirchner hier zu Papier bringt, was nun gezeich-net über Stunden gesehen werden kann. Gegenwärtig ist die Sicher-heit, mit der er aus einer beobachteten Szenerie die Szene reißt, die jetzt gleichsam skulptural ein Nu zur Ewigkeit längt. Gegen-wärtig ist der künstlerische Triumph über die denunziatorische Spießigkeit. Und gegenwärtig bleibt, dass gesellschaftliche Verän-derungen selten im angewärmten Kleinbürgerambiente ihre Ursprünge feiern.

Raimund Stecker, Düsseldorf

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164 Ernst Ludwig KirchnerAschaffenburg 1880 – 1938 Davos

Badende am Strand von Fehmarn. 1912/13

Rohrfeder und Tuschpinsel auf Papier. 46 × 59 cm (18 ⅛ × 23 ¼ in.). Unten rechts signiert und datiert: ELKirchner 12. Rückseitig unten links mit dem Nachlassstempel in Schwarz und der mit Tuschfeder in Schwarz einge-tragenen Registriernummer: F Be/Bf 4.

Provenienz Nachlass des Künstlers / Privatsammlung, Norddeutschland (bis 2003)

EUR 30.000–40.000 USD 34,100–45,500

Ausstellung Kirchner im KirchnerHAUS. Aschaffen-burg, KirchnerHAUS, 2015, Kat.-Nr. 26, Abbildung S. 35

Literatur und Abbildung Auktion 112: Villa Grisebach Auktionen, Berlin, 28. November 2003, Kat.-Nr. 27 / Auktion 210: Villa Grisebach Auktionen, Berlin, 30. Mai 2013, Kat.-Nr. 11 / Kunst und Auktionen, Nr. 17, 16. Oktober 2015, S. 40, www.titel-kulturmagazin.net, Oktober 2015, mit Abbildung

Wir danken Günther Gercken, Lütjen-see, für freundliche Hinweise.

Die Sonne steht hoch und golden, es geht immer ein leichter Wind, Ernst Ludwig Kirchners sehniger Oberkörper ist tief gebräunt. Manchmal trägt er eine leichte Sommerhose und ein aufgeknöpftes Leinenhemd, wenn er am Strand von Fehmarn sitzt und malt, manchmal nicht. Erna Schilling, seine Geliebte, sein Modell, ist meist ganz nackt, sie spielt mit den Füßen im warmen Sand, selbstverges-sen, merkt gar nicht mehr, wenn Kirchner sie zeichnet, weil er das ohnehin die ganze Zeit tut. Kirchner ist in diesem Sommer wieder ganz bei sich. Er hat Berlin hinter sich gelassen. Dieses große, irre, laute, vorwärtsstürmende Berlin. Hier am Strand gibt es nirgendwo das Quietschen der Trambahn, wenn sich in einer Kurve ihre Reifen an den Eisenschienen reiben. Hier gibt es keine Menschen, die über die Bürgersteige eilen, als ginge es um ihr Leben, hier gibt es keine Zeitungen, die dreimal am Tag erscheinen, hier gibt es abends weder Varieté noch eine Uraufführung von Gerhart Hauptmann oder Frank Wedekind oder ein Varieté mit Mata Hari, hier gibt es abends nur ein

Glas Wein, liegend, im Sand, hinten in der Ferne geht die Sonne langsam unter, dann gehen sie schlafen in ihrem Gästezimmer beim Leuchtturmwärter Lühmann in Staberhuk.

Es kommen Erich und Sidi Heckel zu Besuch, vielleicht sieht man auf dieser furiosen Federzeichnung die beiden Freundinnen und vielleicht liegt da auf dem Strand Erich Heckel und liest. Die Bucht ist erfasst in einer wunderbar langgezogenen Schwingung, das Boot ganz links ein einziger Trommelwirbel der Feder. Kirchner liebt es, die Hitze zu spüren und die Nacktheit zu sehen und in Sekunden-schnelle zu erfassen. Er hat seinen Stil gefunden und ist ganz bei sich. „Fleisch, das nackt ging/bis in den Mund gebräunt vom Meer“, so wird Gottfried Benn in genau diesen Sommertagen 1912 dichten über diesen Sommer an der Ostsee. Kirchner zeichnet es. Dann nimmt er ein Blatt Papier und schreibt seinem Freund, ergriffen von sich selbst und dem Erlebten: „Hier lerne ich die letzte Einheit von Mensch und Natur gestalten und vollenden.“

Florian Illies, Berlin, in: 1913 – Was ich unbedingt noch erzählen wollte. Berlin, 2018

Worum geht es? Die Hitze zu spüren und die Nacktheit zu sehen und in Sekundenschnelle zu erfassen.

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165 Ernst Ludwig KirchnerAschaffenburg 1880 – 1938 Davos

Ansprache auf der Straße. 1914

Bleistift auf Papier (aus einem Skizzen-buch). 20,5 × 16,6 cm (8 ⅛ × 6 ½ in.). Werkverzeichnis: Nicht bei Presler. Vorzeichnung zur Radierung Dube R 179.

Provenienz Lise Gujer, Davos / Galerie Nierendorf, Berlin (1971 erworben)

EUR 10.000–15.000 USD 11,400–17,000

Ausstellung Künstler der Brücke in Berlin 1908-1914. Berlin, Brücke-Museum, 1972, Kat.-Nr. 23 (hier betitelt: Ansprachen II) / Berliner Leben - Bilder aus drei Generationen. Ausstellung im Rahmen der 15. Berliner Theaterwoche. Bonn, Godesburg, 1977, Nr. 25 / E.L. Kirchner. Zeichnungen - Pastelle - Graphiken. Museum der Stadt Aschaffenburg, Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, Essen, Museum Folkwang, und Staatliche Kunstsammlungen Kassel, 1980/81, Tafel VI, Kat.-Nr. 61 (hier betitelt: Paar neben Schaufenster), S. 382, Abbildung S. 383

Kaum ein Bereich des künstlerischen Werkes von Ernst Ludwig Kirchner steht so sehr im Mittelpunkt weltweiter Beachtung wie die elf „Straßenszenen“, Gemälde der Jahre 1912 bis 1915. „Bedeu-tendste Werkgruppe“, schrieb Magdalena M. Moeller 1993. Höhe-punkte jeder Ausstellung, kostbarer Besitz führender Museen rund um den Globus: Köln, Berlin, Stuttgart, New York, Madrid. 2006 ver-steigerte das Auktionshaus Christie’s eine „Berliner Straßenszene“ für 38 Millionen Dollar.

„Straßenszenen“: Das Thema „jagte“ der Künstler durch alle Formen künstlerischer Verwirklichung. Herrlich die farbigen Kreide-zeichnungen. Hinreißend, was Kirchner ins Holz stemmte, in die Kupferplatte ritzte, auf den Stein zeichnete. Am Anfang aber und vor aller Gestaltung auf Papier und Leinwand standen jene souveränen Blätter, die Kirchner im Skizzenbuch niederschrieb. Sie konzentrie-ren in schnellem Zugriff die Faszination der Metropole Berlin. Deren Kennzeichen: „Glühende, sinnenberauschende Luft“, so der Dichter Conrad Alberti, lärmende Hast und flüchtige, unverbindliche Begegnungen. Das Spiel der Geschlechter wird zum geschäftlichen Vorgang.

Gerd Presler, Weingarten

Schneller Zugriff auf die Faszination der Metropole, Kirchners berühmte „Straßenszenen“ begannen mit solchen Skizzen.

Originalgröße

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166 Ernst Ludwig KirchnerAschaffenburg 1880 – 1938 Davos

Sich anbietende Kokotten. 1914

Bleistift auf Papier (aus einem Skizzen-buch). 20,5 × 16,6 cm (8 ⅛ × 6 ½ in.). Werkverzeichnis: Nicht bei Presler. Vorzeichnung zur Radierung Dube R 182.

Provenienz Lise Gujer, Davos / Galerie Nierendorf, Berlin (1971 erworben)

EUR 12.000–15.000 USD 13,600–17,000

Ausstellung Künstler der Brücke in Berlin 1908-1914. Berlin, Brücke-Museum, 1972, Kat.-Nr. 24 / Berliner Leben - Bilder aus drei Generationen. Ausstellung im Rahmen der 15. Berliner Theaterwo-che. Bonn, Godesburg, 1977, Nr. 26 / E.L. Kirchner. Zeichnungen - Pastelle - Graphiken. Museum der Stadt Aschaf-fenburg, Staatliche Kunsthalle Karls-ruhe, Essen, Museum Folkwang, und Staatliche Kunstsammlungen Kassel, 1980/81, Tafel VI, Kat.-Nr. 63, S. 382, Abbildung S. 383

Gegen Jahresende 1911 packte Ernst Ludwig Kirchner seine Mal- und Zeichenutensilien zusammen, verließ Dresden, seine Geliebte, sein Atelier in der Berliner Straße 80 und zog – nach Berlin. Ein bitterer Schritt, aber unumgehbar. In der Stadt an der Elbe gab es keine Käufer für seine Bilder, kein Klima, in dem ein aufstrebendes Talent Nahrung, Zuspruch und Anerkennung ernten konnte. Das sei in Berlin anders, hatte ihm Max Pechstein berichtet. Ein Ruf, ein Signal. Und so tauchte Kirchner ein in den Lärm, das Dröhnen und Hämmern der Dampfzüge, Busse und Straßenbahnen, versank in der rund um die Uhr niemals endenden Geschäftigkeit einer Hauptstadt, einer Metropole. Im Gehen füllten sich nun die Blätter seines Skizzenbu-ches, konzentrierten das flüchtige Miteinander, die hastigen Begeg-nungen voller Unverbindlichkeit und das aufreizende Gegeneinander der steten-unsteten Bewegungen.

Harte, spitze Formen umkreisen jene Szene, in der Kokotten am „Potsdamer Platz, Berlin“ ihre Dienste anbieten, Droschken durch die Straßen eilen, Häuser den Horizont verstellen. Das hekti-sche Erlebnis der Großstadt führt Kirchners zeichnende Hand. Für ihren jagenden Rhythmus findet er unvergleichliche Zeichen, bezeugt, geradezu beschworen auf dem schmalen Geviert eines Skizzenbuchblattes mit Rotschnitt und abgerundeten Ecken. Die Situation: Eine Kokotte „spricht“ Kunden „an“. Kirchner fasst diesen Augenblick in der linken größeren Hälfte des Blattes. Aber was geschieht im rechten Teil? Karlheinz Gabler vermutet eine „summa-rische Autodroschke“, andere gehen von der Spiegelung der Szene in einem Schaufenster aus. Unwichtig. Kirchner „comprimiert“, so er selbst, Großstadt zu einem wirbelnden Geschehen, reißt die Wirk-lichkeit aus Lärm und Anonymität bis an den Rand der Abstraktion. Einzigartig. Gerd Presler, Weingarten

Kokotte, Kunde, Kontakt: Das ist die Situation, die Kirchner hier „comprimiert“ hat.

Originalgröße

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167 Ernst Ludwig KirchnerAschaffenburg 1880 – 1938 Davos

Frauenportrait (Erna Schilling). Um 1914/15

Kohle auf Papier. 46,5 × 41 cm (18 ¼ × 16 ⅛ in.). Unten rechts mit dem Nachlassstempel in Violett (Lugt 1570b) und der mit Tuschfeder in Schwarz eingetragenen Registriernummer: K Da/Bg 60. Rückseitig: Sitzende Bauern beim Essen. 1920, Kreide.

Provenienz Nachlass des Künsters / Privatsammlung, Berlin (bis Anfang der 1990er-Jahre)

EUR 30.000–40.000 USD 34,100–45,500

Ausstellung Ernst Ludwig Kirchner. Berlin, Galerie Michael Haas, und Düsseldorf, Galerie Beck & Eggeling, 2010, S. 58, mit Abbildung

Wir danken Günther Gercken, Lütjen-see, für wertvolle Hinweise.

Aller Wahrscheinlichkeit nach ist die Dargestellte auf der Vorderseite dieses Blattes Erna Schilling, Kirchners Lebensgefährtin, wie „der Vergleich mit anderen Arbeiten aus der Zeit nahelegt – und dürfte 1914/15 entstanden sein.“ Die auf der Rückseite dargestellten Bauern „sind die Söhne der Familie Müller, der die Hofgebäude ‚In den Lär-chen‘ gehörten. Die Zeichnung ist die genaue Vorarbeit für den Holzschnitt ‚Mittagessen der Bauern‘, 1920, (Dube H 436) und das wichtige Gemälde ‚Bauernmittag‘, 1920, (Gordon 644), ehemals in der Hamburger Kunsthalle (und als entartet beschlagnahmt). Somit stammt die Zeichnung bestimmt aus dem Jahr 1920.“ (Günther Gercken in einem Brief an Bernd Schultz im Mai 2010).

Ernst Ludwig Kirchner lernte Erna Schilling schon bald nach

seiner Ankunft in Berlin, im Oktober 1911, kennen, als er nach einem Modell suchte: „Ich fand eine kleine Tänzerin. Sie war sehr nett, gut gebaut. Wir hatten Sympathie für einander, und sie ging mit mir und lebte ganz bei mir. Ich vergesse nie die rührende Hingebung, die in der Bewegung lag, als ich ihr helfen wollte, die Bluse auszuziehen.“ Sie war anders als jene Frauen, die er in Dresden kennengelernt hatte: „Stärker und mutiger im Erleben. Sie gab sich vollkommen, innerlich und äußerlich.“ Und dann kam noch etwas hinzu, was für Kirchner entscheidend war: Sie regte ihn „zum Schaffen“ an, trieb ihn zu einer gestalterischen Bestimmtheit, „mit der ich ohne weiteres an die Spitze der damaligen Berliner Moderne treten konnte.“

Die vorliegende Kohlezeichnung nimmt diese feinen Züge einer von Hingabe, erstem Glück und einer leichten weiblichen Her-ausforderung durchwehten Begegnung auf. Erna hat den Kopf gesenkt. Ihr schmales Gesicht spiegelt die Nähe, die sie dem Schaf-fenden entgegenbringt. Der Künstler nimmt das auf, verdichtet es in einer knappen, dichten Zeichnung, fest in der Komposition, unge-heuer sicher im Strich. Das Blatt wird so zum Zeugnis für alles, was sie verband.

Gerd Presler, Weingarten

Sie war anders als jene Frauen, stärker und mutiger im Erleben.

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168 Hermann Max PechsteinZwickau 1881 – 1955 Berlin

„Zwei weibliche Akte im Meer“ (Nidden). Um 1911/12

Schwarze und farbige Kreide auf Papier (aus einem Skizzenbuch). 16,1 × 21 cm (6 ⅜ × 8 ¼ in.). Oben rechts mit Kreide in Schwarz monogrammiert: HMP.

Provenienz Privatsammlung, Bayern (bis 2011)

EUR 10.000–15.000 USD 11,400–17,000

Literatur und Abbildung Auktion 185: Villa Grisebach Auktionen, Berlin, 28. Mai 2011, Kat.-Nr. 272

Mit Kohle und wenigen Farben zwischen Rot, Oliv und Gelb nimmt die Szene Gestalt an. Zwei weibliche Badegäste tummeln sich im Sommer in der Brandung. Die Meister der ostasiatischen Holzschnitt-kunst sind ähnlich lakonisch in ihrer Aussage und vergleichbar aus-drucksstark.

Das Aquarell entstand im Jahr 1911/12, zwei Jahre nachdem Max Pechstein nach den früheren gemeinsamen Aufenthalten an den Moritzburger Seen mit den Brücke-Freunden Ernst Ludwig Kirchner und Erich Heckel – das Thema der Badenden durchzieht ihrer aller Schaffen – Nidden für seine Sommerfrische entdeckt hatte. „Meine Wahl fiel auf Nidden an der Kurischen Nehrung. Wie ich in diese Gegend gelangen würde, wußte mir in Berlin niemand verläßlich zu sagen. [...] Mir selbst war so hoffnungsfroh zumute wie einem Ent-decker, der nach Neuland unterwegs ist. Und ich fand es auch. Eine wundervolle Landschaft mit ihrem harten Menschenschlag, dem der Fischerberuf einen eigenen Typ gegeben hatte. [...] Ich zeichnete und malte die Dünen, das Meer, die Wellenlinien, die Wogenkämme, den schäumenden Gischt, die rudernden Fischer und ihre Frauen und Mädchen beim Bad auf überflutetem Küstensand.“ (Max Pech-stein: Erinnerungen. Stuttgart, 1993, S. 35-37)

Die rasche Umsetzung des Naturerlebnisses führt in der Zeichnung zu einer Vereinfachung der Formen. In den damals geschaffenen Werken erwächst Volumen aus Linien, Schraffuren und Verwischungen. Ornamentale Spiralen schildern die Brandung, sparsame Andeutungen scheiden Wasser und Luft und genügen für ein vollständiges Bild. Die Farbe dient als Leitfaden zum Sehen. Sie erweckt die Landschaft zum Leben.

Elke Ostländer, Berlin

Pechsteins Wahl für die Sommerfrische fiel auf Nidden an der Kurischen Nehrung.

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169 Ernst Ludwig KirchnerAschaffenburg 1880 – 1938 Davos

„Kopf Redslob“. 1924

Kaltnadel auf bräunlichem Papier. 30 × 24,8 cm (48 × 32 cm) (11 ¾ × 9 ¾ in. (18 ⅞ × 12 ⅝ in.)). Bezeichnet, betitelt, signiert und gewidmet. Werkverzeichnis: Nicht bei Dube. Vergleiche Dube 500 (hier betitelt „Porträt Dr. Redslob“). Eigendruck.

Provenienz Edwin Redslob, Berlin (1973 testamentarisch als Legat erhalten)

EUR 6.000–8.000 USD 6,820–9,090

Ausstellung Die Radierung. Berlin, Galerie Pels-Leusden, 1966/67, Kat.-Nr. 46 (hier irrtümlich 1919 datiert) / Von Weimar nach Europa. Edwin Redslob (1884-1973). Berlin, Ephraim-Palais, Stiftung Stadtmuseum Berlin, 1998, Titelabbildung

Die erste Begegnung wäre beinahe die letzte gewesen! Aber wie oft bei großen Persönlichkeiten war es wohl der Wider-spruch, das Nicht-Klein-Beigeben, was dem damals schon achtzigjährigen alten Herrn gefiel und neugierig auf denjeni-gen machte, der ihn mit seinem Anruf in der nachmittägli-chen Ruhe gestört hatte. Es folgte noch für denselben Tag eine Einladung zur Teestunde; unerwartet schloss sich noch ein Abendessen an, bei dem dann Charlotte Redslob auf stil-le, aber sehr eindrucksvolle Weise Regie führte. Erlebtes und Durchdachtes, der Untertitel von Redslobs Erinnerun-gen – daran ließ er mich von da an in reichem Maße immer wieder teilhaben. Darüber hinaus hatte er die wunderbare Gabe, Kritik mit positiver Aufmunterung und Anerkennung zu verbinden.

Inmitten seiner Schätze, die für ihn Gebrauchsgegen-stände des Alltags zu sein schienen, residierte der unge-wöhnlich gastfreundliche Kosmopolit und war stets auf alles neugierig, was in und mit Berlin geschah. Er nahm den jun-gen Werkstudenten und angehenden Kunsthändler aufs herzlichste in seinen Lebenskreis auf und ließ mich den gro-ßen Abstand nie fühlen.

Bernd Schultz, Berlin

170 Ernst Ludwig KirchnerAschaffenburg 1880 – 1938 Davos

„Der Reichskunstwart Edwin Redslob“. 1924

Tuschfeder und -pinsel in Schwarz und Braun auf gelblichem Papier. 50,2 × 37,4 cm (19 ¾ × 14 ¾ in.). Unten rechts signiert und datiert: ELKirchner 24. Oben rechts mit Bleistift bezeichnet und datiert: Der Reichskunstwart Edwin Redslob 24. Rückseitig unten links mit dem Nachlassstempel in Violett (Lugt 1570b) und der mit Tuschfeder in Schwarz eingetragenen Registriernummer: F Da/Ba 2.

Provenienz Nachlass Edwin Redslob, Berlin (bis 2012)

EUR 15.000–20.000 USD 17,000–22,700

Ausstellung Edwin Redslob zum 100. Geburtstag. Berlin, Graphisches Kabinett der Galerie Pels-Leusden, 1984, Klappkarte, Abbildung auf dem Titel / Von Weimar nach Europa. Edwin Redslob (1884-1973). Berlin, Ephraim-Palais, Stiftung Stadt-museum Berlin, 1998, außer Katalog / Kirchner im Kirchner-HAUS. Aschaffenburg, KirchnerHAUS, 2015, Kat.-Nr. 39, Abbildung S. 48

Literatur und Abbildung Auktion 50: Villa Grisebach Auktionen, 7. Juli 1996, Berlin, Kat.-Nr. 18 / Leopold Reidemeister: Der Kopf Redslob. In: Der Tagesspiegel, Berlin, Nr. 10 402, 9. Dezember 1979, S. 4, mit Abbildung / Auktion 196: Villa Grisebach Auktionen, Berlin, 1. Juni 2012, Auktion 196, Kat.-Nr. 328

Wir danken Günther Gercken, Lütjensee, für freundliche Hinweise.

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171 Erich HeckelDöbeln 1883 – 1970 Radolfzell am Bodensee

Orange essendes Mädchen (Sidi Heckel). 1913

Kohle auf der Rückseite eines bedruckten Büttenbogens der Brücke-Chronik (Wasserzeichen: SLG). 51,5 × 38,2 cm (20 ¼ × 15 in.). Unten rechts mit Bleistift signiert und datiert: Erich Heckel 13.

EUR 20.000–30.000 USD 22,700–34,100

Ausstellung Erich Heckel zum 100. Geburtstag. Berlin, Galerie Pels-Leusden, 1983, Kat.-Nr. 31, S. 5/19, Abbildung S. 19 (hier betitelt: Sitzendes Mädchen, eine Orange schälend) / Musen, Maler und Modelle. Kampen, Galerie Pels-Leus-den, 1996, Kat.-Nr. 45, S. 32/72, Abbildung S. 33

Literatur und Abbildung Auktion 139: Karl & Faber, München, November 1974, Kat.-Nr. 1165 (hier betitelt: Halbporträt einer jungen Frau, nach unten blickend) / Auktion 180: Kornfeld und Klipstein, Bern, 23. Juni 1982, Kat.-Nr. 280 (hier betitelt: Sitzen-des Mädchen, eine Orange schälend)

Wir danken Hans Geissler und Renate Ebner, Nachlass Erich Heckel, Hemmenhofen, für freundliche Hinweise.

1913, in dem Jahr, in dem sich die Künstlergemeinschaft „Brücke“ auföste, begann Heckel mit großen, hochformatigen Darstellungen in Holzschnitt und Lithografie. Eine Reihe von sieben Lithografien zeigt seine Partnerin Sidi, die zu dieser Zeit offenbar an einer Krank-heit litt, denn die Darstellungen zeigen ein leidendes, melancholi-sches Mädchen. Der Maler lebte damals in Berlin in recht dürftigen Verhältnissen, das Atelier war ein kaum heizbarer Dachverschlag. Ernst Gosebruch berichtet unter anderem über einen Besuch in Heckels Atelier im Winter und erinnerte sich an die „krank auf einer Kiste“ liegende Sidi.

Der schweigsame Erich Heckel fand 1910 in der Tänzerin Milda Frieda Georgi, die unter dem Künstlernamen Sidi Riha (später Siddi Riha) auftrat, jene Gefährtin, die ihn durch alle Höhen und Tiefen begleitete, unbedingt zu ihm stand und alles, was ihm widerfuhr, auch auf ihre schmalen Schultern lud. Sie war sein „merry Puck“, sein fröhlicher Begleiter, sein „Sommernachtstraum“. Und auch er unterstützte sie: Sein wundervoller Farbholzschnitt im Brücke-Museum Berlin – nur in einem Exemplar bekannt – weist auf eine Wiener Shakespeare-Aufführung hin, für die sie engagiert war. Und sie lohnte es ihm: Ein Leben lang nannte sie den Künstler voller Ach-tung „Herrn Heckel“.

Solche Vertrautheit aus Distanz und Nähe war seinen „Brücke“-Freunden fremd, geradezu unheimlich. Als Heckel die gemeinsam genutzten Ateliers an der Berliner Straße verließ, eine Wohnung An der Falkenbrücke 2A bezog und so unübersehbar Abstand zwischen sich und seine strapaziösen Freunde legte, schrieb Ernst Ludwig Kirchner am 19. Dezember 1910 auf eine Postkarte an Otto Mueller: „Eine kleine Tänzerin nahm ihn uns Armen. ELK.“

Gerd Presler, Weingarten

Heckels Atelier lag unter dem Dach und war kaum heizbar.

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172 Erich HeckelDöbeln 1883 – 1970 Radolfzell am Bodensee

„Hockende“. 1913/14

Holzschnitt auf Velin (Wasserzeichen: Saskia). 41,4 × 30,9 cm (61,1 × 51 cm) (16 ¼ × 12 ⅛ in. (24 × 20 ⅛ in.)). Signiert, datiert und betitelt. Werk-verzeichnis: Dube H 263 II B. Einer von 40 Abzügen für die Mappe: Elf Holz-schnitte, 1912-1919, Erich Heckel bei I.B. Neumann. Berlin, 1921, mit der handschriftlichen Adresse des Druckers Voigt.

Provenienz Galerie Nierendorf, Berlin (Anfang der 1970er-Jahre)

EUR 7.000–9.000 USD 7,950–10,230

Heckels Farbholzschnitte „Fränzi liegend“ und „Stehendes Kind (Fränzi)“ gelten als Meilensteine und Höhepunkte dessen, was sich in expressionistischer Grafik überhaupt „ausdrücken“ lässt. In diesem Umfeld entstand auch die „Hockende“. Versammelte sich in den beiden Arbeiten des Jahres 1910 die inspirierende Bewe-gungsfreude des Kindermodells Franziska Fehrmann (1900–1950), so umgreift der gestalterische Duktus des Holzschnittes von 1913/14 die Weite einer wertvollen menschlichen Begegnung.

Leopold Reidemeister sprach 1983 davon in einem Katalog, als sich der Geburtstag des Künstlers zum hundertsten Mal jährte. Dem Holzschnitt ging eine Wachskreidezeichnung voraus: „Kraft-volle, bildhauerische Manier. Bewundernswert ist die Architektur des Körperbaus“, schrieb dazu Karlheinz Gabler, der große Kenner des Werkes von Erich Heckel.

Gerd Presler, Weingarten

Die inspirierende Bewegungsfreude, der umgreifende gestalterische Duktus des Holzschnittes, die Weite einer wertvollen menschlichen Begegnung.

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173 Erich HeckelDöbeln 1883 – 1970 Radolfzell am Bodensee

„Mädchen“ (Sidi Heckel). 1913

Lithografie auf glattem Papier. 52,4 × 37,8 cm (58 × 40,4 cm) (20 ⅝ × 14 ⅞ in. (22 ⅞ × 15 ⅞ in.)). Signiert und datiert. Werkverzeichnis: Dube L 193. Provenienz Privatsammlung, Norddeutschland / Claudia von Schilling, München (bis 2003)

EUR 30.000–40.000 USD 34,100–45,500

Literatur und Abbildung Auktion 116: Sammlung Claudia von Schilling. Villa Grisebach Auktionen, Berlin, 11. Juni 2004, Kat.-Nr. 1536

1913, in dem Jahr, in dem sich die Künstlergemeinschaft „Brücke“ auföste, begann Heckel mit großen, hochformatigen Darstellungen in Holzschnitt und Lithografie. Eine Reihe von sieben Lithografien zeigt seine Partnerin Sidi, die zu dieser Zeit offenbar an einer Krank-heit litt, denn die Darstellungen zeigen ein leidendes, melancholi-sches Mädchen. Der Maler lebte damals in Berlin in recht dürftigen Verhältnissen, das Atelier war ein kaum heizbarer Dachverschlag. Ernst Gosebruch berichtet unter anderem über einen Besuch in Heckels Atelier im Winter und erinnerte sich an die „krank auf einer Kiste“ liegende Sidi.

Der schweigsame Erich Heckel fand 1910 in der Tänzerin Milda Frieda Georgi, die unter dem Künstlernamen Sidi Riha (später Siddi Riha) auftrat, jene Gefährtin, die ihn durch alle Höhen und Tiefen begleitete, unbedingt zu ihm stand und alles, was ihm widerfuhr, auch auf ihre schmalen Schultern lud. Sie war sein „merry Puck“, sein fröhlicher Begleiter, sein „Sommernachtstraum“. Und auch er unterstützte sie: Sein wundervoller Farbholzschnitt im Brücke-Museum Berlin – nur in einem Exemplar bekannt – weist auf eine Wiener Shakespeare-Aufführung hin, für die sie engagiert war. Und sie lohnte es ihm: Ein Leben lang nannte sie den Künstler voller Ach-tung „Herrn Heckel.“ Solche Vertrautheit aus Distanz und Nähe war seinen „Brücke“-Freunden fremd, geradezu unheimlich. Als Heckel die gemeinsam genutzten Ateliers an der Berliner Straße verließ, eine Wohnung An der Falkenbrücke 2A bezog und so unübersehbar Abstand zwischen sich und seine strapaziösen Freunde legte, schrieb Ernst Ludwig Kirchner am 19. Dezember 1910 auf eine Postkarte an Otto Mueller: „Eine kleine Tänzerin nahm ihn uns Armen. ELK.“

Arbeiten wie die großformatige Lithografie „Mädchen (Sidi Heckel)“ gestalten und verdichten etwas von der Harmonie und Nähe, zu der diese junge Frau bereit war. Dem Künstler gelingt es, sich aus der „bloßen Wiedergabe des Gesehenen“ zu lösen und jene Wirklichkeiten zu fassen, die tiefer liegen.

Gerd Presler, Weingarten

Wie schrieb Kirchner an Otto Mueller: „Eine kleine Tänzerin nahm ihn uns.“

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174 Lovis CorinthTapiau/Ostpreußen 1858 – 1925 Zandvoort

Am Walchensee. 1923

Kreide auf JW Zanders-Velin. 35,5 × 51,1 cm (14 × 20 ⅛ in.). Unten links mit Bleistift signiert, bezeichnet und datiert: Lovis Corinth Urfeld a / Walchen See Juli 1923.

Provenienz Arthur Rosin, Berlin/New York (erworben vom Künstler in den 1920er-Jahren) / Karen Gutmann (geb. Rosin), New York / Privatsammlung, Schweiz (bis 2008)

EUR 15.000–20.000 USD 17,000–22,700

Ausstellung Lovis Corinth am Walchensee. Späte Bilder. Berlin, Galerie Pels-Leusden, 2002, Kat.-Nr. 19, Abbildung S. 25

Literatur und Abbildung Auktion 161: Villa Grisebach Auktionen, Berlin, 28. November 2008, Kat.-Nr. 27

Ein Aufenthalt der Familie Corinth im Sommer 1918 und der darauf folgende Bau des eigenen Hauses in Urfeld oberhalb des Walchen-sees in der Nähe von München bewirkte bei Corinth mit neuen Ein-drücken eine Besinnung und Vertiefung des Themas der Landschaft in zahlreichen Gemälden, Aquarellen und Zeichnungen. Dieses spät entstandene, 1923 datierte Blatt zeigt, wie entscheidend sich der Stil in Zeichnung und Malerei Corinths weiterentwickelt hat.

Hier wird nicht eine bestimmte Topografie naturalistisch geschildert. Sie dient vielmehr als Ausgangspunkt für eine freie Komposition weniger einzelner Elemente, die verschiedene Stufen der Abstraktion aufweisen. Die Landschaft – Abhänge, Gebäude, Ufer – erscheint hier in der Leere, in der Andeutung und in der Konzentration. Die Farbe wird durch die weiche Kreide in das Gewicht von Hell und Dunkel übersetzt. Es geht nicht um die atmo-sphärische Wirkung, sondern um die Suggestion eines Stücks Welt als Ausdruck der Kraft von Natur.

Margret Stuffmann, Frankfurt a.M.

Corinth unternahm am Walchensee eine „Reise ans Ende der Malerei“, für die es in der Kunstgeschichte wenig Parallelen gibt.

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175 Lovis CorinthTapiau/Ostpreußen 1858 – 1925 Zandvoort

Vase mit Blumen. 1925

Aquarell auf festem Velin. 63,5 × 47,6 cm (25 × 18 ¾ in.). Unten mittig mit Feder signiert und datiert: Lovis Corinth 1925. Gegenstück zum Aquarell „Konfirmationsblumen“, das Corinth für seine fünfzehnjährige Tochter Wilhelmine zu ihrer Konfirma-tion am 19. März 1925 malte.

Provenienz Privatsammlung, Rheinland (bis 2008)

EUR 100.000–150.000 USD 114,000–170,000

Ausstellung Lovis Corinth am Walchensee. Späte Bilder. Berlin, Galerie Pels-Leusden, 2002, Kat.-Nr. 16, S. 30/44, Abbildung S. 31 / Lovis Corinth. Aquarelle und späte Gemälde. Emden, Kunsthalle, 2004, Kat.-Nr. 57, Abbildung S. 81 / Von Liebermann bis Nolde. Impressio-nismus in Deutschland auf Papier. Ingelheim am Rhein, Altes Rathaus, und Hamburg, Ernst Barlach Haus, 2014, Abbildung S. 127

Es hat eigene Bedeutung, wenn sich ein Künstler wie Corinth, dessen Werk in so hohem Maß von sinnlichem Erleben und existenzieller Angst geprägt ist, in seinen späten Jahren wieder dem Thema Stillle-ben zuwendet.

Von dem vorliegenden, auf 1925 datierten Aquarell von Ane-monen in einer Vase gibt es eine weitere Fassung, die viel skizzen-hafter ist und eine Widmung anlässlich der Konfirmation der Tochter Wilhemine am 20. März 1925 trägt. In unserer Fassung, die ruhiger und in sich geordnet wirkt, erscheint die Blumenvase in einem Raum vor einem Horizont, der den Eindruck einer Landschaft suggeriert und an die gleichzeitigen Walchensee-Landschaften denken lässt.

Sichere kompositorische Ordnung, farbige Balance – die Ane-monen blühen, leuchten und vermitteln durch die Anmutung von Fließen zugleich die Ahnung des Welkens und von Corinths nahem Tod am 17. Juli desselben Jahres.

Margret Stuffmann, Frankfurt a.M.

„Ich hab mich in dein Atelier gesetzt: da liegen kleine Schachteln mit kleinen Tuben halb ausgedrückter Aquarellfarbe, da steht das Wasser-glas, in das du den Aquarellpinsel getaucht hast, mit dem Bodensatz der für dich so charakteristischen schwarzen Farbe, die etwas ins Blaugrau spielt; am Rand hängen noch Tropfen von der roten Farbe, die tief und feurig in deinen Aquarellen steht. [...] Offenbar sind es die Zeugen von deinen letzten Aquarellen“, schreibt Charlotte Berend-Corinth am 22. September 1925 in ihrem Erinnerungsbuch „Mein Leben mit Lovis Corinth“ zitiert nach Lovis Corinth: Gesam-melte Schriften. Berlin, 1995, S. 180).

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176 Lovis CorinthTapiau/Ostpreußen 1858 – 1925 Zandvoort

Selbstbildnis. 1921

Kreide auf chamoisfarbenem Bütten. 30,5 × 25,5 cm (12 × 10 in.). Oben links signiert und datiert: Lovis Corinth 25 Juni 1921; darunter mit Bleistift beschriftet (und versucht auszu- radieren): 10,000 M Halbportrait.

Provenienz Heinrich Müller, Hamburg (bis 1973)

EUR 30.000–40.000 USD 34,100–45,500

Ausstellung Lovis Corinth. Gemälde, Aquarelle, Handzeichnungen und Grafik. Berlin, Galerie Pels-Leusden, 1973, Kat.-Nr. 26, S. 16, Abbildung S. 2 (Leihgabe) / Lovis Corinth 1858-1925 - Aquarelle, Gemälde, Pastelle, Zeichnungen. Biele-feld, Kunsthalle, 1974, Kat. Nr. Z 63 / Lovis Corinth - Handzeichnungen und Aquarelle 1875-1925. Bremen, Kunst-halle, 1975, Kat.-Nr. 150 / Europäische Meisterzeichnungen und Aquarelle. Berlin, Galerie Pels-Leusden, 1978/79, Kat.-Nr. 23, S. 3, Abbildung S. 31 / Lovis Corinth and his Times. London, Goethe Institut, Abbildung auf der Einladungs-karte / Musen, Maler und Modelle. Kampen, Galerie Pels-Leusden, 1996, Kat.-Nr. 19, S. 28/70, mit Abbildung (Leihgabe) / Lovis Corinth am Walchen-see. Späte Bilder. Berlin, Galerie Pels-Leusden, 2002, Kat.-Nr. 17, S. 10/45, Abbildung S. 11 (Leihgabe)

Das Verständnis der Kunst Corinths ist kaum zu trennen von dem tiefen Konflikt, den die Erfahrung eines im Jahr 1911 erlittenen Schlaganfalls bei diesem außerordentlich vitalen, dem sinnlichen Leben zugewandten Menschen auslösen musste. Aus diesem Umstand heraus mag sich auch die auffallend hohe Zahl von Selbstbildnissen Corinths in Malerei, Zeichnung und Druckgrafik in den folgenden Jah-ren erklären.

Die hier vorliegenden, um 1921/1922 entstandenen Beispiele (Kat.-Nr. 176–178) geben trotz relativ geringer Formate einen ein-dringlichen Einblick in Corinths künstlerisches Naturell. Sie machen, jenseits ihrer unterschiedlichen Entstehungszeiten, Corinths anhal-tende Bewunderung für Rembrandt spürbar.

Das erste Blatt vom 25. Juni 1921 zeigt einen fragenden Blick des Künstlers in den Spiegel aus traurigen Augen, die ihre Richtung verloren haben. Dabei geben die Hände, die Blatt und Stift zu halten scheinen und die dem Körper nahe, doch kaum mit ihm verbunden sind, einen Hinweis auf den nachdenklich schreibenden oder zeich-nenden Künstler.

Ein Jahr später, im Oktober 1922, wiederholt Corinth die gleiche Komposition (Kat.-Nr. 177), allerdings wirkt es so, als ob der Prozess einer mentalen Verdüsterung fortgeschritten sei. Er schreibt und modelliert wiederum in weicher Kreide, aber der Duktus ist schwerer, vehementer geworden, die Gestalt massiver, der Ton tie-fer im Sinne einer schwermütigen Emotionalisierung.

In ähnlichem zeichnerischem Stil, aber noch eindringlicher ist die dritte Version (Kat.-Nr. 178) ausgeführt, die der inhaltlichen Bedeutung des Selbstportraits eine neue Wendung gibt. Die zent-rale Gestalt ist wieder Corinth, der Künstler, der allerdings dem Betrachter so den Rücken kehrt, dass dieser sich fast abgewiesen fühlt. Corinth sitzt mit dem Zeichenblock bei der Arbeit. Er ist und bleibt die Hauptfigur, die nun eine neue Orientierung erfährt. Am lin-ken Bildrand ist eine Zeichnung zu sehen, die dem Betrachter zu bestimmen überlässt, ob es sich hier um ein Bild, eine gerahmte Zeichnung oder einen Blick in den Spiegel handelt. Auf der rechten Seite des Blattes erscheint, nur angedeutet, aber deshalb nicht weniger erschreckend, die Gestalt des Todes. Den Schlüssel zum Verständnis der Zeichnung gibt Corinth selbst. 1922 publizierte er in der grafischen Mappe „Totentanz“ die Radierung „Tod und Künstler“. Dort sitzt er zeichnend am Tisch, hinter ihm erscheint das Skelett und die Uhr an seinem Arm bedeutet: „Es ist Zeit“.

Margret Stuffmann, Frankfurt a.M.

Ein fragender Blick aus traurigen Augen, die ihre Richtung verloren haben.

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177 Lovis CorinthTapiau/Ostpreußen 1858 – 1925 Zandvoort

Selbstbildnis. 1922

Lithografische Kreide auf Velin. 35 × 25,5 cm (13 ¾ × 10 in.). Oben rechts signiert: Lovis Corinth. In der Mitte links datiert: Oktober 1922. Das Blatt diente als Umdruckzeichnung für die gleichnamige Lithografie (Müller L 894 (1. Zustand von Müller L 834)).

Provenienz Wolfgang Gurlitt, München (1957) / Privatsammlung, USA / Privat- sammlung, Schweiz (bis 2008)

EUR 20.000–30.000 USD 22,700–34,100

Ausstellung Lovis Corinth 1858-1925. Handzeich-nungen, Radierungen, Lithographien aus der Sammlung Wolfgang Gurlitt, München. Kaiserslautern, Pfälzische Landesgewerbeanstalt, 1957, Kat.-Nr. 28, mit Abbildung / Lovis Corinth. Zum hundertsten Geburtstag. Bremen, Kunsthalle, 1958, Kat.-Nr. 132 / Lovis Corinth. 1858-1925. Zeichnungen und Aquarelle aus seinen letzten Jahren. Bremen und Berlin, Kunsthandel Wolf-gang Werner in Zusammenarbeit mit Kunsthandel Sabine Helms, München, 1994, Kat.-Nr. 11, mit Abbildung / Ich, Lovis Corinth. Die Selbstbildnisse. Hamburger Kunsthalle, 2004, Kat.-Nr. 46, S. 107

Literatur und Abbildung Auktion 161: Villa Grisebach Auktionen, Berlin, 28. November 2008, Kat.-Nr. 20

Schlüssiger noch als im Gemälde erweist sich der spezifische Stellen-wert des Selbstbildnisses innerhalb von Corinths Œuvre anhand der zahllosen Zeichnungen zu diesem Thema. Die skizzierten Selbst-portraits spiegeln in ihrer Unmittelbarkeit und Spontaneität das Momentane einer Stimmung oder Situation als Reflex der visuellen Wahrnehmung wider. Deutlicher als im gemalten Selbstbildnis kon-zentriert sich die Aufmerksamkeit auf den flüchtig wandelbaren Ausdruck von Mimik und stofflicher Erscheinungsweise der (im Ver-hältnis zum Körper) überproportionierten Kopfform, modelliert durch heftige Kontraste in Licht und Schatten.

Der allmählichen Realisation einer Gesichtslandschaft – fast stets dominiert der bohrende Blick aus großen, tief eingebetteten Augen – werden die technischen Mittel, Kreide, Bleistift, Radiernadel und Aquarellfarbe, untergeordnet. Der Offenlegung des zeichneri-schen Vortrags ohne jeden Schnörkel (stets sucht der Zeichner den kürzesten Weg vom Auge zur Hand) korrespondieren Erregung und Intensität der inneren Vorstellung. Wenn überhaupt jemandem ver-gleichbar, ist die zeichnerische Auffassung, alle Ausdrucksmöglich-keiten des Psychischen zuerst und vor allem an der eigenen Gesichtsoberfläche zu studieren, Rembrandts Art vergleichbar, „durch Wirklichkeitserfahrung Imagination zu gewinnen“.

Corinth sucht die visuelle Verdichtung von der Verformung bis zur Unkenntlichmachung der physiognomischen Züge, der körperli-chen Statur, der Verwischung ihrer Altersmerkmale. Dennoch, auch dort, wo die Gesichtszüge durchmodelliert sind, der Körper indes nur angedeutet ist, erschließt sich aus der Gebärde der Körpermassen der psychische Habitus, die innere Verfassung des Dargestellten.

Alle Möglichkeiten privat-intimer Mitteilung des Mediums werden ausgeschöpft vom raschen Bewegungsstenogramm des sitzenden Aktes (1907) bis zum Selbstbildnis als Schmerzensmann, entstanden im letzten Lebensjahr.

Charlotte Berend Corinths Bemerkungen über die Selbstbild-nisgemälde – „Das waren sehr ernste und kritische Begegnungen mit dem eigenen Ich“, Begegnungen, die sich ins Tragische wendeten, nachdem ein Schlaganfall ihn das „metaphysische Grauen“ erleben ließ und er „das Nichts gesehen“ habe (Tagebuchnotiz) – gelten uneingeschränkt auch für Corinths gezeichnete Selbstbildnisse, die sein Werk kontinuierlich wie ein Schatten begleiten. Sie lenken den Blick auf Konstanten und Zusammenhänge in seinem Werk.

Joachim Heusinger von Waldegg: Tradition und Aktualität – Über Corinths Selbstbildnisse und einige andere Motive, in: Felix Zdenek (Hg.): Lovis Corinth 1858–1925. Köln, 1985, S. 59ff.

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178 Lovis CorinthTapiau/Ostpreußen 1858 – 1925 Zandvoort

Selbstbildnis vor dem Spiegel. Um 1920/25

Kreide auf Velin. 34 × 50,9 cm (13 ⅜ × 20 in.).

Provenienz Nachlass des Künstlers (bis 1960) / Privatsammlung, Baden-Württemberg (bis 2008)

EUR 30.000–40.000 USD 34,100–45,500

Literatur und Abbildung Auktion 35: Stuttgarter Kunstkabinett R.N. Ketterer, Stuttgart, 20. Mai 1960, Kat.-Nr. 88 / Thomas Deecke: Die Zeichnungen von Lovis Corinth. Studien zur Stilentwicklung. Dissertation, Freie Universität Berlin, 1973, Kat.-Nr. 239, S. 313 / Auktion 162: Villa Grisebach Auktionen, Berlin, 9. November 2008, Kat.-Nr. 195

Lovis Corinth: „Tod und Künstler“ aus der Folge „Totentanz“, 1921/22

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179 Lovis CorinthTapiau/Ostpreußen 1858 – 1925 Zandvoort

Brandenburger Tor. Um 1920

Lithografische Kreide auf Velin. 30,8 × 23,5 cm (12 ⅛ × 9 ¼ in.). Unten rechts mit Bleistift signiert: Lovis Corinth.

Provenienz Galerie Kurt Meissner, Zürich (1975) / Graphisches Kabinett, Kunsthandel Wolfgang Werner, Bremen (1994) / Privatsammlung, Schweiz (bis 2008)

EUR 30.000–40.000 USD 34,100–45,500

Ausstellung Lovis Corinth. Handzeichnungen und Aquarelle 1875-1925. Bremen, Kunst-halle, 1975, Kat.-Nr. 146, Abbildung S. 152 / Lovis Corinth 1858-1925. Zeichnungen und Aquarelle aus seinen letzten Jahren. Bremen und Berlin, Kunsthandel Wolfgang Werner in Zusammenarbeit mit Kunsthandel Sabine Helms, München, 1994, Kat.-Nr. 7, mit Abbildung

Literatur und Abbildung Auktion 161: Villa Grisebach Auktionen, Berlin, 28. November 2008, Kat.-Nr. 22

Art und Weise der Darstellung des Brandenburger Tores haben sicher etwas mit dem damals im Umbruch befindlichen Kompositi-onsstil in der Musik zu tun. Arnold Schönberg entwickelte Anfang des Jahrhunderts in Reaktion auf die durch Richard Wagner (und den Tristan-Akkord) hervorgerufene „Auflösung“ der Harmonien die soge-nannte „Freie Tonalität“, die bald in die „Freie Atonalität“ mündete und schließlich zur Zwölftonmusik wurde.

In diesem Zusammenhang ist dieses Blatt klar ein Vertreter der „Freien Tonalität“, bei der man (noch) alles erkennt, bei der die Versatzstücke aber neu geordnet sind (Perspektive) und nicht immer deutlich der Wirklichkeit entsprechen. Corinths Schlaganfall fügte ein Übriges hinzu, Größenverhältnisse leicht zu verwischen und dennoch einen Ausdruck von seltener Intensität zu erreichen.

Christian Thielemann, Berlin und Dresden

Dieses Blatt ist ein Vertreter der „Freien Tonalität“, bei der man (noch) alles erkennt, bei der die Versatzstücke aber neu geordnet sind (Perspektive) und nicht immer deutlich der Wirklichkeit entsprechen.

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Page 40: Moderne und Zeitgenössische Kunst 26. Oktober 2018

180 Willy JaeckelBreslau 1888 – 1944 Berlin

Selbstbildnis. Um 1930

Kohle auf bräunlichem grobem Bütten. 44,5 × 33 cm (17 ½ × 13 in.). Unten links signiert: W. Jaeckel. Rückseite: Skizze eines sitzenden weiblichen Rückenaktes. Kohle.

Provenienz Nachlass des Künsters (in Familienbesitz bis 2013) / Privatsammlung, Süddeutschland (bis 2013)

EUR 2.000–3.000 USD 2,270–3,410

Literatur und Abbildung Auktion 101: Galerie Gerda Bassenge, Berlin, 1. Juni 2013, Kat.-Nr. 8196

Wir danken Marianne Nienaber, Süddeutschland, für freundliche Hinweise.

181 Willy JaeckelBreslau 1888 – 1944 Berlin

Frauenkopf. Um 1930

Kohle auf Japan. 49,7 × 35,5 cm (19 ⅝ × 14 in.). Unten links signiert: W Jaeckel.

Provenienz Nachlass des Künstlers (in Familienbesitz bis 1995)

EUR 2.000–3.000 USD 2,270–3,410

Literatur und Abbildung Auktion 45: Villa Grisebach Auktionen, Berlin, 27. Mai 1995, Kat.-Nr. 590

Wir danken Marianne Nienaber, Süddeutschland, für freundliche Hinweise.

Willy Jaeckel zog sich ab 1925 aus den Zumutungen der Großstadt mehr und mehr auf die Insel Hiddensee zurück. Hier erwarb er 1937 nahe der Steilküste ein noch heute hinter Büschen und Bäumen verstecktes, bescheidenes Haus. Bernd Schultz ist passionierter Sylter und schuf sich auf dieser Insel sein Refugium. Hiddensee oder Sylt, Kloster oder Kam-pen wägt man in Berlin gegeneinander ab. Beide Inseln waren und sind beliebte Rückzugsorte für Künstler, Galeris-ten, Kunstsammler und Kunstliebhaber aus Berlin. Vom Ber-liner Gesellschaftsmenschen wechselt man zum kontempla-tiven Naturgenießer.

Es traf sich gut, dass die Anfrage von Bernd Schultz mich auf Hiddensee erreichte und mir den Anstoss gab, mich erneut mit Jaeckel zu befassen. Willy Jaeckels Lebens-bogen scheint exemplarisch für kritische, unangepasste Künstler seiner Generation. Aus bescheidenen amusischen Verhältnissen stammend, mit Leidenschaft, Können und Wollen zu Ruhm und Würde aufgestiegen, folgten Verfemung, Bedrängnis, Verfolgung seines Werkes und tragische Ver-nichtung großer Teile seiner Arbeit durch Kriegszerstörung.

Margit Bröhan, Berlin

Jaeckel schuf als Maler, Zeichner und Grafiker ein weitgefä-chertes, umfangreiches Werk, das sich in Monumental- und Figurenmalerei, Portraits und beeindruckende Grafikzyklen unterteilt. Portrait und Selbstportrait nehmen bei ihm in Malerei und Zeichnung einen prominenten Platz ein. Sein in Berlin zeitweilig zwischen Mondäne und Bohème schwan-kendes Leben bot Gelegenheit zu exklusiven Bildnissen. Die vorliegende Kohlezeichnung „Frauenkopf“ von um 1930 zeigt innere Konzentration, der gesenkte Blick hat keinen deutba-ren Bezug zur Umgebung oder zu plausiblem Hintergrund. Die vollen Lippen und die Andeutung eines Lächelns verlei-hen dem jungen Mädchen eine Aura von Zärtlichkeit. Richtig und wichtig, an Willy Jaeckel zu erinnern, sein kraftvolles Werk verdiente mehr Präsenz.

Margit Bröhan, Berlin

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182 Karl HoferKarlsruhe 1878 – 1955 Berlin

Sich kämmendes Mädchen. Um 1934/35

Bleistift auf pergamentartigem Papier (aus einem Skizzenblock). 49,4 × 36,7 cm (19 ½ × 14 ½ in.). Unten rechts monogrammiert: CH. Die Zeichnung wird aufgenommen in das Werkverzeichnis der Zeichnungen und Aquarelle Karl Hofers von Karl Bernhard Wohlert, Dortmund (in Vorbereitung). Rückseitig: Skizze eines Frauenkopfes. Bleistift.

Provenienz Nachlass Elisabeth Hofer, Berlin (1968)

EUR 15.000–20.000 USD 17,000–22,700

Ausstellung Karl Hofer. Gemälde - Zeichnungen - Graphik. Berlin, Galerie Pels-Leusden, 1968, Abbildung auf dem Titel der Klappkarte / Europäische Meister-zeichnungen und Aquarelle. Berlin, Galerie Pels-Leusden, 1978/79, Kat.-Nr. 62, S. 5, Abbildung S. 42 / Karl Hofer. Berlin, Galerie Pels-Leusden, 1979, Kat.-Nr. 30, S. 5 / Karl Hofer. Schloss Cappenberg, Unna, 1991, S. 123, mit Abbildung (hier datiert „um 1935“) / Musen, Maler und Modelle. Kampen, Galerie Pels-Leusden, 1996, Kat.-Nr. 56, S. 73 (hier datiert „um 1935“)

Unter den bedeutenden Zeichnern des vergangenen Jahrhunderts nimmt Karl Hofer eine unabhängige Position ein. Obwohl er zeitweise gewisse Elemente expressionistischer und neusachlicher Bildspra-che in seine Arbeit einbezog, blieben die „Ismen“ seiner Zeit ohne Einfluss auf ihn. Zeitlebens hielt er an einer klassischen Bildsprache fest. Ihn beeindruckten und inspirierten Künstler wie Rembrandt, denen die „Welt den Vorwand für eine reiche Malerei lieferte, die aber nicht Selbstzweck war, sondern der Erhöhung des inneren Ausdrucks diente. Die Intensität dieser Darstellungen erreicht einen so hohen Grad von Sinnlichkeit, dass das Dargestellte übersinnlich wirkt.“ (Karl Hofer: Über das Gesetzliche in der bildenden Kunst. Nach einem nachgelassenen Manuskript. Kurt Martin (Hg.): Mono-graphien und Biographien 1, Akademie der Künste, Berlin, 1956, S. 92) Besonders in jenem Part seines zeichnerischen Œuvres, in dem

sich das Medium nicht als Station im Verlauf eines Bildprozesses, sondern als eigenständiges Ausdrucksmittel impressiv und gleich-berechtigt neben dem malerischen behauptet, manifestiert sich Hofers Vorstellung von einem spezifischen Ideal der Schönheit und Perfektion. Dieses Ideal hatte Hofer in Werken der Antike und der Renaissance als gültig formuliert erkannt. Als ihren Kern begriff er die Darstellung des jugendlichen menschlichen Körpers. Dessen variantenreiche Inszenierung im Zentrum eines neutralen Bildrau-mes, in den er seine Sujets „gewichtlos einbettete“ (Benno Reifen-berg: Karl Hofer. Junge Kunst, Band 48, Leipzig, 1924, S. 10), forderte ihn heraus.

Intensiv beobachtet Hofer seine mädchenhaften Modelle, die ihrerseits die Tatsache seiner Anwesenheit völlig ausgeblendet zu haben scheinen, sich unbeobachtet geben und sich ausschließlich auf sich selbst und minimales Tun konzentrieren. Auf diese Weise fängt Hofer intime, atmosphärisch dichte, ja geheimnisvolle Momente ein, vermittelt den Eindruck von Entrücktheit, Kontemp-lation, Zaudern und Melancholie.

Jürgen Schilling, Berlin

Die Inszenierung des Körpers ist im Bildraum gewichtlos eingebettet.

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183 Karl HoferKarlsruhe 1878 – 1955 Berlin

Liegender weiblicher Halbakt. Um 1930/35

Bleistift auf Papier. 48,6 × 64,1 cm (19 ⅛ × 25 ¼ in.). Unten rechts mono-grammiert: CH. Die Zeichnung wird aufgenommen in das Werkverzeichnis der Zeichnungen Karl Hofers von Karl Bernhard Wohlert, Dortmund, in Vor-bereitung). Rückseitig: Kompositions-skizze dreier Figuren. Bleistift.

Provenienz Privatsammlung, Nordrhein-Westfalen (bis 1996) / Privatsammlung, Schleswig-Holstein / Privatsammlung, Schweiz (bis 2015)

EUR 20.000–30.000 USD 22,700–34,100

Literatur und Abbildung Auktion 51: Villa Grisebach Auktionen, Berlin, 8. Juni 1996, Kat.-Nr. 450 / Auktion 250: Grisebach, Berlin, 26. November 2015, Kat.-Nr. 44

... dann schmiegt sich das Linien-gefüge, als seien es liebende Hände.

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184 Henri MatisseLe Cateau-Cambrésis 1869 – 1954 Nizza

„La Persane“. 1929

Bleistift auf Papier. 56,3 × 37,5 cm (22 ⅛ × 14 ¾ in.). Unten rechts signiert: Henri - Matisse. Die Zeichnung ist im Archiv des Künstlers registriert unter der Nr. U II4. Mit einer Bestätigung von Wan-da de Guébriant, Issy-les-Moulineaux, vom 7. Februar 2004.

Provenienz Marguerite Duthuit, Tochter des Künstlers, Paris (Geschenk des Vaters) / Privatsammlung (bis um 2000) / Privatsammlung (bis 2010)

EUR 200.000–300.000 USD 227,000–341,000

Literatur und Abbildung Auktion 10007: Impressionist & Modern Art, Sotheby’s, London, 23. Juni 2010, Kat.-Nr. 293 / Florian Illies: Eine Samm-lung als Lebenswerk. In: Grisebach – Das Journal, Ausgabe 7/2017, S. 40, Abbildung S. 41

1906 besuchte Matisse erstmals Algerien, sechs Jahre später bereis-te er Marokko. Die Eindrücke dieser Reisen blieben wach und tauch-ten noch Jahre später in seinen Zeichnungen und Bildern mit orienta-lischen Motiven auf.

1921 übersiedelte Matisse nach Nizza. In den folgenden Jahren zeichnete und malte er eine so große Anzahl von „Odalisken“, dass zeitgenössische Kritiker von einer „population odalisque“ zu spre-chen begannen. Berühmt geworden sind seine verschiedenen Modelle, die er in einem neuen dekorativen Malstil in seinem Atelier darstellte. Die Werke tragen zwar meist Bezeichnungen, die sie als Marokkanerin, Algerierin oder, wie in der vorliegenden Zeichnung, als Perserin ausweisen. Aber wir wissen mittlerweile, dass die abge-bildeten Modelle keine Orientalinnen waren, sondern Laurette, Antoinette oder Henriette hießen und die Kostüme und Staffage aus dem Atelierfundus von Matisse stammten. Der Orient, der in den Zeichnungen, Lithografien und Gemälden dieser Zeit heraufbe-schworen wurde, war eine von Matisse in Nizza gestaltete, erträumte und imaginierte Welt.

Die Faszination, die von der Persönlichkeit des jeweiligen Modells ausging, bestimmte die Komposition und die künstlerische Gestaltung. Matisse schuf seinen Modellen eine Bühne, auf der sie sich ungekünstelt in der Rolle einer Orientalin zeigen konnten. Die Begegnung mit Henriette Darricarrère 1927 regte ihn zu einer neuen Reihe von Werken an, die er jeweils „Persane“, Perserin, nannte. In einer Lithografie aus diesem Jahr sitzt die junge Frau in persischer Tracht auf einem marokkanischen Stuhl und blickt den Betrachter geheimnisvoll und verführerisch an. Sie ist in ein durchsichtiges Gewand mit langem Schleier gehüllt, das ihre Brust weitgehend frei-lässt. Eine Tätowierung auf Brust und Stirn erhöht den fremdländi-schen Reiz. Die Darstellung dieser Lithografie ist gegenüber den virtuosen, ganz auf einen fließenden Umriss konzentrierten Akt-zeichnungen früherer Jahre auffallend realistisch, ein Umstand, der bereits von Kritikern in der Zeit der Entstehung des Blattes ange-merkt wurde.

Im Umkreis dieser exemplarischen Darstellung einer „Persane“ ist auch die Zeichnung von 1929 aus der Sammlung Schultz anzusie-deln. Offenbar ist das gleiche Modell zu sehen, das auch hier den Betrachter versonnen anblickt. Ihr orientalisches Gewand mit einer Schließe unter der Brust, der Stuhl, auf dem sie sitzt, und sogar die Tätowierung auf der Brust erscheinen in fast identischer Form. Anders sind jedoch die freizügigere Pose und ein kurzer Schleier, der ihr Gesicht umrahmt. Eine Eigenart des Blattes ist zudem sein charakteristischer Zeichenstil. Nicht in einer eindeutigen Linie, son-dern in vielen zarten, immer wieder neu ansetzenden Strichen sucht der Zeichner die Kontur des Modells zu bestimmen.

Matisse bekannte selbst, dass er in seinen Zeichnungen von Orientalinnen und Odalisken, und damit auch für die „Persane“ von 1929, alles Anekdotische ablehnte. Stattdessen wolle er sein Modell in einer Atmosphäre vollkommener Entspannung abbilden. Zugleich ver-suche er, die Spannung und das Wechselspiel einzufangen, das sich beim Prozess des Zeichnens zwischen Künstler und Modell entfalte.

Barbara Gaehtgens, Berlin

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185 Amedeo ModiglianiLivorno 1884 – 1920 Paris

„Portrait d'homme“. 1915

Bleistift auf Papier. 19,9 × 16,5 cm (7 ⅞ × 6 ½ in.). Unten rechts signiert: modigliani. Werkverzeichnis: Parisot Bd. 5, Nr. 209/15. Provenienz Leopold Zborowski, Paris / Emil Frey, Mannheim / Privatsammlung, Bayern (bis 2007)

EUR 30.000–40.000 USD 34,100–45,500

Ausstellung Idee und Wirklichkeit. Handzeichnun-gen und Aquarelle des 20. Jahrhun-derts aus Privatbesitz. Ludwigshafen am Rhein, Städtische Kunstsammlung, 1970, Kat.-Nr. 121, mit Abbildung / Aquarelle, Zeichnungen, Druckgraphik des 20. Jahrhunderts aus der Samm-lung eines Kielers. Kiel, Kunsthalle, und Schleswig-Holsteinischer Kunstverein, 1974, Kat.-Nr. 107, Abbildung S. 98 / Kunst des 20. Jahrhunderts aus der Sammlung F. Kaiserslautern, Pfalz- galerie, 1976, Kat.-Nr. 225

Literatur und Abbildung Heinz Fuchs: Gaben des Augenblicks. Vierundvierzig unveröffentlichte Zeich-nungen und Aquarelle aus einer Privat-sammlung. München, 1964 (= Rainer Zimmermann (Hg.): Private Kunst-sammlungen, Band 2), S. 52, Abbildung S. 53 / Auktion 150: Villa Grisebach Auktionen, Berlin, 30. November 2007, Kat.-Nr. 18

Wie im Werk von Picasso oder Matisse ist der bei Ingres (Auktion 294, Kat.-Nr. 35) beschriebene Nachhall auch im Schaffen Amedeo Modiglianis auszumachen: unverkennbar in einer „Großen Liegen-den“ von 1917 (Privatbesitz), die die „Große Odaliske“ des Louvre in annähernd gleichem Format zitiert, vermittelt er auch im hier vorge-stellten Portrait eines Unbekannten – eines der vielen, die sich den Künstlern des Montparnasse und Montmartre angeschlossen hatten.

Ein mittelloser junger Mann, wie sein kragenloses Hemd anzeigt. Er mag nicht einmal zu jenen gehört haben, denen das „dessin à boire“ gegen eine Flasche Gin überlassen wurde – weshalb das Blatt alsbald in den Besitz von Modiglianis Freund, des Dichters und Kunsthänd-lers Leopold Zborowski, gelangte. Denselben jungen Mann mit dem unverkennbaren Hemd zeigt eine viel größere Zeichnung (Paris, Musée national d’art moderne), die Osvaldo Patani (als Nr. 152 seines Catalogo generale der Zeichnungen von 1994, in dem unsere Zeich-nung fehlt) auf 1915/16 datiert. Eine sitzende Frau in ganz ähnlicher Haltung, jedoch mit dynamischeren Kurvaturen, („Femme au chig-non“, Patani 93) gehört ebenso in diese Periode, in der Modigliani die hermetischen Skulpturen und abstrahierenden Aktzeichnungen hinter sich gelassen hat, um die Individualität seiner Modelle mit dem Formgesetz zu versöhnen.

In träumerischem Halbbewusstsein sitzt der junge Mann sehr aufrecht auf einem einfachen Küchenstuhl. Wenige Wellenlinien über der Stirn genügen, uns zu versichern, er ist blond. Alle anderen Linien, die die Gestalt behutsam konstruieren, wachsen vorzugsweise in der Senkrechten, als weite Schritte in konvexen Kurven, mit Aus-nahme der schwachen Einbiegungen an einer Schulter und entlang der Stuhllehne. Deren dunkle Zwischenräume bereiten den Blick auf die offene Tür hinter der Figur vor. Alle Schattenakzente aber bleiben, Raum mehr ermöglichend als andeutend, an den Außengrenzen der Figur, deren Binnenlinien dünn und, für sich genommen, unkörper-lich bleiben.

Claude Keisch, Berlin

In träumerischem Halbbewusstsein sitzt der junge Mann sehr aufrecht auf einem einfachen Küchenstuhl.

Originalgröße

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186 Fernand LégerArgentan 1881 – 1955 Gif-sur-Yvette

Erster Entwurf zu einer Figurine aus dem Ballett „Créature du monde“. Um 1922/23

Bleistift auf Velin (Wasserzeichen: Canson & Montgolfiers). 31,5 × 24,4 cm (12 ⅜ × 9 ⅝ in.). Rückseitig unten links von Nadja Léger mit Tuschfeder in Schwarz bestätigt: authentique Fernand Léger N. Léger 1956 3/VI. Rückseitig: Ausschnitt aus einer verworfenen Komposition. Tuschpinsel über Bleistift. Kostümentwurf für das Ballett „La Création du monde“, das unter der Regie von Rolf de Maré am 25. Oktober 1923 am Pariser Théâtre des Champs-Elysées seine Uraufführung erlebte. Provenienz Privatsammlung, Norddeutschland

EUR 10.000–15.000 USD 11,400–17,000

Literatur und Abbildung Auktion 227: Hauswedell & Nolte, Hamburg, 1.–3. Juni 1978, Kat.-Nr. 811, Abbildung S. 286 / Auktion 157: Villa Grisebach Auktionen, Berlin, 31. Mai 2008, Kat.-Nr. 328

Ist es noch Ingres?‘ (Auktion 295, Kat.-Nr. 35) durchscheinende Linie, die hier, ihrer Schwanenhalsmusik ganz entfremdet und in eine Ästhetik des Lineals und des Winkelmessers übertragen, eine leucht-ende Schattenkante hervorbringt? Dass Fernand Léger der Vorarbeit zu einer Bühnendekoration die Reinheit einer Architektenzeichnung schenkt, entspricht seinem Programm, die Kunst in einer industriell geprägten Umwelt zu verankern. Neben seiner Malerei hat Léger immer wieder Bau-, Bühnen- und Filmdekorationen geschaffen und als ein „Gesetzloser des Geschmacks“ seine Vorstellung vom volksna-hen „spectacle total“ in manifestartigen Artikeln und Vorträgen pole-misch formuliert.

In seinen Einsatz für das Ballett in der Nachfolge von Pablo Picasso, Jean Cocteau oder Oskar Schlemmer ließ er stärker als sie Motive aus Varieté, Zirkus und Kino einfließen. Seine erste Arbeit für die Compagnie des Ballets suédois, „Skating Rink“ (1922), wurde zu Musik von Arthur Honegger auf Rollschuhen getanzt. Unsere Zeich-nung entstand für die zweite, „La Création du monde“, ein 1922/23 erarbeitetes „ballet nègre“ nach einem Libretto von Légers Freund Blaise Cendrars, den afrikanische Mythologie und Kunst seit länge-rem beschäftigten. Die vom amerikanischen Jazz inspirierte Musik hatte der junge Darius Milhaud komponiert. Von Cendrars beraten, legte Léger seinen Entwürfen originale afrikanische Objekte ebenso zugrunde wie Abbildungen aus Carl Einsteins 1915 erschienenem Buch „Negerplastik“.

Erst in einigen Gouache-Entwürfen zu beweglichen Kulissen-dekorationen – drei totemgleiche Gottheiten beherrschten hier die Bühne – treten afrikanisierende Züge hervor. Die Bleistiftzeich-nung, auf der sie basieren, lässt davon noch nichts erkennen. Noch fordert Légers „Maschinen-Ästhetik“ abstrakte Konstruktion. Manche der feinen Linien, deren Ansatz und Ende stets betont sind, werden von einer körnigen Schattenspur begleitet, wie sie auch andere Zeichner der 1920er-Jahre einsetzen. Es ist ein Schatten, der eine Grenze zwischen Licht und Licht, nicht zwischen Körper und Licht, markiert. Hier gleitet der Blick, über den Altersgenossen Modigliani (Kat.-Nr. 185) hinweg, um hundert Jahre zu Ingres zurück. Auch wenn Léger sich nie zu dessen Tradition bekannt haben würde, tritt die subtile ästhetische Verbindung spätestens in dem Moment zutage, da die drei Zeichnungen – von Ingres, Modigliani und Léger – in einer Sammlung zusammenfinden.

Claude Keisch, Berlin

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187 Raoul HausmannWien 1886 – 1971 Limoges

Hannah Höch mit Hut. 1915

Tuschfeder auf Papier. 33,9 × 26,4 cm (13 ⅜ × 10 ⅜ in.). Rückseitig von Hannah Höch beschriftet: H. Höch gez. v. Hausmann u. von ihm zerrissen. Unten rechts mit dem Stempel in Rot: HANNAH HÖCH NACHLASS SAMMLUNG CARLBERG HÖCH. Das Blatt wurde von Hannah Höch wieder zusammengesetzt und auf ein zweites Blatt geklebt.

Provenienz Hannah Höch, Berlin (bis 1978) / Galerie Remmert und Barth, Düsseldorf (2002)

EUR 3.000–4.000 USD 3,410–4,550

Ausstellung Hannah Höch – Gemälde, Collagen, Aquarelle, Zeichnungen, Dokumente. Düsseldorf, Galerie Remmert und Barth, 1982, Dok.-Nr. 5, S. 14 und S. 145, mit Abbildung / Künstlerpaare – Liebe, Kunst und Leidenschaft. Köln, Wallraf-Richartz-Museum & Fondation Corboud, 2008/09, Kat.-Nr. 51, S. 206/07, mit Abbildung / Die fantastische Welt der Hannah Höch. Die Puppe Balsamine und der Zauberbusch. Düsseldorf, Galerie Remmert und Barth, 2008, Kat.-Nr. 121, S. 10 und S. 141, mit Abbildung / DADA Afrika. Zürich, Museum Rietberg, und Berlin, Berlinische Galerie, 2016, S. 9, Abbildung 2, Kat. 1.1

Dass Bernd Schultz ausgerechnet diese Arbeit seiner Privatsamm-lung zugefügt hat, ist bezeichnend: Beweist dies doch neben seinem Gespür für die Qualität dieser Zeichnung seinen ausgeprägten Sinn für das Urkomische, Hochdramatische, Biografische und Anekdoti-sche im realen Leben. Denn Raoul Hausmann hat dieses Portrait von Hannah Höch noch vor der Gründung des Berliner DADA zu Beginn seiner siebenjährigen leidenschaftlichen und in vielerlei Hinsicht komplizierten und zerstörerischen Liebesbeziehung zu ihr 1915 gezeichnet und nach Hannah Höchs Bekunden später eigenhändig zerrissen.

Irgendwann hat Hannah Höch die Teile auf einem neuen Blatt sorgfältig, ja nachgerade liebevoll wieder zusammengefügt und der Nachwelt hinterlassen. Diese Geschichte wirft viele Fragen auf, wie sie Bernd Schultz so sehr liebt: Warum hat Raoul Hausmann das Blatt zerrissen? Aus Wut oder Verzweiflung, etwa darüber, dass Han-nah Höch ihm vorwarf, ihr seine Ehe und seine Tochter über lange Zeit verheimlicht zu haben? Oder weil sie stets seinen sehnlichsten Wunsch, einen Sohn von ihr zu haben, mit der Begründung verwei-gerte, dass er sich nicht von seiner Frau scheiden ließ? Oder gar im Streit darüber, dass Hannah deswegen sogar ein gemeinsames Kind hat abtreiben lassen? Oder geschah es im Zwist darüber, dass Hannah die Beziehung zu ihren – bürgerlichen – Eltern nicht abbrach und sie dort sogar verschiedentlich für längere Zeit Zuflucht suchte? Oder weil Hannah es sich nicht gefallen ließ, dass die „Machos“ des Berli-ner DADA das kleine „Hannchen“ als eigenständige Künstlerin nicht ernst nahmen?

Und warum hat Hannah Höch die zerrissenen Teile wieder zusammengefügt? Ja, wie kam sie überhaupt in den Besitz der Teile? Hat er sie ihr vor die Füße geworfen? Ist der Vorgang des Zerreißens bei ihr oder bei ihm oder im Beisein beider geschehen? War das Zusammenfügen doch ein Akt bleibender zärtlicher Liebe, nachdem beide auch nach der Trennung im Jahr 1922 freundschaftlich ver-bunden blieben, obwohl Hannah später eine Zeit lang eine lesbi-sche Beziehung einging und 1938 erneut heiratete, während Raoul sich nach der Trennung (!) scheiden ließ, um sich 1923 wieder zu verheiraten?

Fragen über Fragen, die sich alle nicht beantworten lassen, aber im Kopf Bilder von emotional aufgeheizten Szenen des Streits und der Sehnsucht nach Wiederversöhnung erzeugen, wie sie nur das Leben schreibt. Jedenfalls gehört es zur Ironie der Geschichte, dass beider Protagonisten größte Tat ausgerechnet die gemeinsame DADA-Erfindung der Fotocollage ist, wobei ungeklärt ist, wer von beiden den größeren Anteil daran hatte. Diesbezüglich hat Hannah immer Raoul den Vortritt gelassen.

Dass die Zeichnung nun unter dem Titel „Abschied und Neu-beginn“ versteigert wird, erscheint besonders passend. Denn dass sich Bernd Schultz so ganz von der Villa Grisebach verabschiedet, das glauben wir alle nicht – ein wenig zusammenfügen wird er dort vermutlich immer! Für den Neubeginn mit dem ExilMuseum Berlin (auch Raoul Hausmann lebte übrigens seit 1933 im Exil auf Ibiza und in Frankreich) wünschen wir ihm jedenfalls von Herzen und voller Dankbarkeit viel Glück und Erfolg.

Hans-Heinrich Grosse-Brockhoff, Düsseldorf

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188 Ludwig MeidnerBernstadt 1884 – 1966 Darmstadt

Neue Brücke in Heidelberg. 1912

Tusche über Kreide, weiß gehöht, auf Velin. 39,5 × 46,2 cm (15 ½ × 18 ¼ in.). Unten rechts monogrammiert, datiert und mit Bleistift betitelt: LM 1912 Neue Brücke in Heidelberg.

Provenienz Hans Koch, Düsseldorf und Randegg / Galerie Remmert und Barth, Düsseldorf (bis 2015)

EUR 10.000–15.000 USD 11,400–17,000

Ausstellung 1914 und die Folgen. Düsseldorf, Galerie Remmert und Barth, 2014, Kat.-Nr. 26, Abbildung S. 21 Wir danken Winfried Flammann, Karlsruhe, für freundliche Hinweise.

Für meinen Vater, den traditionsversponnenen Kunsthistoriker August Grisebach, existierte die Neue Brücke in Heidelberg nicht. Er wohnte an der Alten mit Schlossblick. Für uns Kinder war sie nützlich beim Radeln zum Tennisplatz oder als ersehntes Ziel beim Schwim-men: von der Alten zur Neuen Brücke, genau einen Kilometer. Und für die Stadt Heidelberg war die Neue Brücke schon seit 1875 der wichtigste Verbindungsweg über den Neckar, nördlich in Richtung Frankfurt und südlich zum Bismarckplatz ins noch heute lärmende Verkehrszentrum der Stadt.

Für Ludwig Meidner aber wurde die Neue Brücke 1912 zum Objekt der sein Werk beherrschenden Katastrophenbilder: apoka-lyptische Landschaften, brennende und einstürzende Städte, kubis-tisch verzerrt, Blitze und Feuer über die Himmel, Warnungen, Angst und Ekel vor Großstadt und Lebenszerstörung, Prophetie der Kriege. Themen, die in der gleichzeitigen Malerei und Dichtung expressio-nistisch laut, aber sehr spärlich die Kunst bestimmten.

Meidner hingegen war der Visionär, der in die Zukunft sah: Er sah die Heidelberger Neue Brücke auseinanderbrechen, er führte Zeichenstift und Tuschpinsel mit wütenden Bewegungen und einer zittrigen Qualmschrift über den Himmel – droht mittig gar ein Got-tesauge? Zwar schwimmt der zarte gondelähnliche Kahn noch in einem hellen Umfeld, aber schon bedroht unter der Bruchstelle. Dazu passend vermittelt der allen Heidelbergern vertraute Schlepp-kahn am Ufer etwas friedliches Lokalkolorit, obschon der handähnlich aufragende Kranbaum bereits das Unheil verheißt.

Meidners angestammte und ihn lebenslang leitende jüdische Religion bot genügend apokalyptische Szenarien, und so kann es nicht ausbleiben, dass auch wir die phantastische Tuschzeichnung als Menetekel verstehen, fürs Heute und Zukünftige.

Manon Grisebach, Glanz-Ferndorf

Die Neue Brücke in Heidelberg wurde für Meidner zum Objekt seiner Katastrophenbilder.

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189 Ludwig MeidnerBernstadt 1884 – 1966 Darmstadt

Straße bei Nacht II. 1913

Tuschfeder und -pinsel und Deckweiß auf Karton. 55,5 × 43,6 cm (21 ⅞ × 17 ⅛ in.). Unten rechts inner-halb der Darstellung signiert und datiert: L. Meidner 1913. Mit einer Bestätigung von Winfried Flammann, Karlsruhe, vom 10. Februar 2006.

Provenienz Privatsammlung, Hessen (bis 2006) / Kunsthandel, Schweiz / Jörg Maaß Kunsthandel, Berlin (2013)

EUR 60.000–90.000 USD 68,200–102,300

Ausstellung Meisterzeichnungen aus 100 Jahren. Berlin, Galerie Pels-Leusden, 1966, Kat.-Nr. 41, S. 5 / 1913: Bilder vor der Apokalypse. Kochel am See, Franz Marc Museum, Oktober 2013/14, Abbildung S. 46

Literatur und Abbildung Auktion 134: Villa Grisebach Auktionen, Berlin, 26. Mai 2006, Kat.-Nr. 38

„[...] aber wenn ihr Berlin malt, so verwendet nur Weiß und Schwarz“. Der Expressionist Ludwig Meidner, eingegangen in die Mythenge-schichte der deutschen Avantgarde durch seine prophetischen Bilder, in denen er lange vor 1914 den Untergang der alten europäischen Welt in einer Kriegsapokalypse weissagte, war seit seiner Ankunft 1906 der „preußisch-amerikanischen“ (Thomas Mann) Metropole Berlin verfallen. Die Stadt, ihr fieberhaftes Lebenstempo, ihre dämonischen Sozialkräfte, ihre faszinierenden Panoramen — hier war das große Thema für die junge Generation: „Wir müssen endlich anfangen unsere Heimat zu malen, die Großstadt, die wir unendlich lieben. Auf unzähligen, freskengroßen Leinwänden sollten unsere fiebernden Hände all das Herrliche und Seltsame, das Monströse und Dramatische ... hinkritzeln. [...] Eine Strasse [...] ist ein Bombar-dement von zischenden Fensterreihen, sausenden Lichtkegeln zwi-schen Fuhrwerken aller Art und tausend hüpfenden Kugeln, Men-schenfetzen, Reklameschildern und dröhnenden, gestaltlosen Farbmassen. [...] Das Licht scheint zu fließen. Es zerfetzt die Dinge. Wir fühlen deutlich Lichtfetzen, Lichtbündel. Ganze Komplexe wogen im Licht und scheinen durchsichtig zu sein — doch dazwi-schen wieder Starrheit, Undurchsichtigkeit in breiten Massen. Zwi-schen hohen Häuserreihen blendet uns ein Tumult von Hell und Dunkel. Lichtflächen liegen breit auf Wänden. Mitten im Gewühl von Köpfen zerplatzt eine Lichtrakete. [...] Sind nicht unsre Großstadt-landschaften alle Schlachten der Mathematik! Was für Dreiecke, Vier-ecke, Vielecke und Kreise stürmen auf den Straßen auf uns ein. Line-ale sausen nach allen Seiten. Viel Spitzes sticht uns. Selbst die herumtrabenden Menschen und Viecher scheinen geometrische Kon-struktionen zu sein.“

Meidner, aus einer jüdischen Bürgerfamilie Breslaus stam-mend, wurde gegen den Willen der Eltern Künstler, freundete sich in Paris mit Amedeo Modigliani an und erfuhr sein entscheidendes Bil-dungserlebnis in der Begegnung mit dem italienischen Futurismus, der in Berlin 1912 durch Herwarth Walden ausgestellt wurde. Meid-ners entfesseltes Großstadtgefühl ist ein direktes Echo der futuris-tischen Manifeste, die Walden in seiner Zeitschrift „Der Sturm“ für Deutschland publizierte. Meidner gehörte folgerichtig zum Zirkel der literarischen Expressionisten, war mit Kurt Hiller und Johannes R. Becher gut bekannt. Er wanderte 1912/13 immer wieder mit sei-nem Freund, dem später von den Nationalsozialisten ermordeten Dichter Jakob van Hoddis, durch das nächtliche Berlin: „Diese Welt-stadt Berlin war damals das grosse Erlebnis [...] Wir verließen nach Mitternacht das ‚Cafe des Westens‘ und marschierten stramm, ziemlich rasch geradeaus durch die Strassen, immer der Nase nach. Während ich als Maler herumspähte und das belebte Hell-Dunkel genoß, schien van Hoddis die Umwelt gar nicht zu betrachten [...] Wir waren damals achtundzwanzig Jahre alt und bewiesen große Ausdauer im Marschieren, das nicht aufhörte, als der Morgen graute [...] so verliebt waren wir in diese Stadt.“

Christoph Stölzl, Weimar

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190 Ludwig MeidnerBernstadt 1884 – 1966 Darmstadt

Selbstbildnis mit herausgestreckter Zunge. 1914

Bleistift auf Papier. 35,1 × 32,7 cm (13 ⅞ × 12 ⅞ in.). Unten rechts signiert und datiert: LMeidner 1914. Rückseitig unten rechts mit dem silberfarbenen Nachlassstempel und der mit Bleistift eingetragenen Registriernummer: II/112.

Provenienz Nachlass des Künstlers, Wilhelm Loth, Darmstadt / Rolf Deyhle, Stuttgart (bis 2006)

EUR 20.000–30.000 USD 22,700–34,100

Literatur und Abbildung Auktion 146: Villa Grisebach Auktionen, Berlin, 9. Juni 2006, Kat.-Nr. 165

Wir danken Winfried Flammann, Karlsruhe, für freundliche Hinweise.

Zwei Selbstportraits Ludwig Meidners. Das eine entstand 1914, das andere 1925 (Kat.-Nr. 194). Sie könnten unterschiedlicher nicht sein. War hier derselbe Künstler am Werk? Wurde derselbe Mensch gezeichnet? Faktisch ja, im Wesen(tlichen) nein und doch wiederum ja, denn es ist derselbe Künstler, und es ist dieselbe Person, die dar-gestellt wird. Das wiederum heißt nichts, denn jeder von uns ist der-selbe und zugleich ein anderer. Viele andere. „I am not what I am“, lässt Shakespeare im „Othello“ (I, 3) den Intriganten Jago sagen, der eben nicht nur und letztlich doch Bösewicht war.

Wie gute, gar große Literatur oder zutreffende Analysen, hat auch große bildende Kunst mindestens einen doppelten Boden. Auch das machen diese beiden Selbstportraits Meidners sichtbar. Was Shakespeare uns durch Worte, Wortbilder oder die Psychologie gedanklich einsehen lässt, macht Meidner bildnerisch sichtbar.

Hochkonzentriert, erkennbar skeptisch, misstrauisch, erschreckt, fast alarmiert, beunruhigt, bisweilen erbost betrachtet Meidner 1914 sein Draußen. War es vor oder nach Kriegsbeginn? Einerlei, denn geradezu Apokalyptisches zeigten seine Städtebilder bereits deutlich früher. Der Kriegsausbruch dürfte diese Befürch-tungen nur bestätigt haben. Gerne wird die Vorhersagekraft von Künstlern „prophetisch“ genannt. Das ist viel zu hoch gegriffen, denn – was Wunder? – Künstler sind auch nur Menschen und ihre politische Durchschau- und Vorschaukraft ist nicht selten naiv. Auch Meidner war kein Prophet, aber er spürte beunruhigt die „Kommen-den Dinge“ (Walther Rathenau). Hierin war er wahrlich nicht einzig. Künstlerisch hat er es auf seine Weise, zeichnerisch, wenngleich nicht einzigartig, so doch großartig dargestellt.

Michael Wolffsohn, München

Hochkonzentriert, erkennbar skeptisch, misstrauisch, erschreckt, fast alarmiert betrachtet Meidner 1914 sein Draußen.

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Page 50: Moderne und Zeitgenössische Kunst 26. Oktober 2018

191 Otto DixGera-Untermhaus 1891 – 1969 Singen

„Liegender weiblicher Akt“. 1913

Kreide auf Papier. 18,4 × 28 cm (7 ¼ × 11 in.). Oben rechts mit Bleistift datiert und signiert: 1913 DIX. Rücksei-tig bezeichnet: Rücksichtnehmen ist Schwäche. Die Dirne ist der interes-santeste und ausgesprochenste Typ des Weibs. Ruhe. Werkverzeichnis: Nicht bei Lorenz. Die Zeichnung wird unter der Nummer FW 6.1.40 aufge-nommen in das Werkverzeichnis der Zeichnungen und Pastelle von Otto Dix von der Otto Dix Stiftung, Vaduz (in Vorbereitung).

Provenienz Privatsammlung, Berlin (bis 2012)

EUR 14.000–18.000 USD 15,900–20,500

Literatur und Abbildung Auktion 196: Villa Grisebach Auktionen, Berlin, 1. Juni 2012, Kat.-Nr. 361

In Dix’ „Bestiarium humanum“, seinem menschlichen Tiergarten, wie Otto Conzelmann dessen Menschendarstellungen einmal genannt hat, nimmt das „Weib“ einen zentralen Rang ein. „Weib“, so Conzel-mann weiter, „bezeichnete für ihn im Allgemeinen: das erotische Bestimmtsein der Frau, im Besonderen: die Dirne.“

Das deckt sich mit Dix’ Bemerkung auf der Rückseite unserer Dirnendarstellung von 1913: „Rücksichtnehmen ist Schwäche. Die Dirne ist der interessanteste und ausgesprochenste Typ des Weibs. Ruhe.“ Das Wort „Ruhe“ wirkt hier allenfalls ironisch. Vor uns liegt in expressivem Zeichenstrich seitlich hingebettet eine Prostituierte, jung und prall, mit frontal für den Betrachter einsehbarer Becken-partie, welche ein gigantesk-erotisches Hinterteil erahnen lässt. Ebenso gegen den Betrachter gerichtet der Oberkörper: über mäch-tigen Brüsten ein katzenartiges, freches Antlitz, von durchtriebenem Ausdruck, der Wirkung der eigenen erotischen Erscheinung bewusst. Hier handelt es sich allenfalls um die „Ruhe“ vor dem ‚Angriff’.

Während Dix vor dem Ersten Weltkrieg für seine Dirnendar-stellungen nur jugendlich anmutende, attraktive Körper auswählt, ändert sich dies nach den Erfahrungen des Krieges grundlegend. Der Bogen seiner darstellenden Beobachtung reicht jetzt vom auf-blühenden über das reife bis hin zum welken Fleisch, alles markante Aspekte eines Kreislaufs und doch jeder Zustand in sich wahr im Sin-ne der jeweiligen stadiumbezogenen, spezifischen Lebenssituation. Dabei sind Dix’ Darstellungen bei aller Realistik und Abbildhaftigkeit selten frei von intuitiv auf Basis seiner Anschauungen vorgenomme-nen Veränderungen, indem er Merkmale seines Gegenübers, die er für sich als besonders charakteristisch und hervorstechend erkannt hat, überbetont, dadurch dessen natürliche Erscheinung verfrem-det - hin zu einem überindividuellen Typus der ‚Spezies Mensch’, so, wie er sie begreift. Entsprechend hat Dix auch auf der vorliegenden Zeichnung von 1913 das Becken der Prostituierten zu einem mächti-gen Lustgewölbe übersteigert, das jeglicher nur denkbaren anato-mischen Möglichkeit widerspricht.

Rainer Beck, Coswig-Sörnewitz

Rückseite

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192 George Grosz1893 – Berlin – 1959

Schlägerei. 1913

Tuschfeder in Schwarz und Braun auf dünnem Papier. 26,5 × 23 cm (10 ⅜ × 9 in.). Unten rechts mit Bleistift signiert: GROSZ. Rückseitig unten links mit dem Nachlassstempel [stark ver-blasst] und der mit Tuschfeder in Schwarz eingetragenen Registriernum-mer: 3 32 10. Die Zeichnung wird auf-genommen in das Werkverzeichnis der Arbeiten auf Papier von George Grosz von Ralph Jentsch, Rom (in Vorberei-tung).

Provenienz Nachlass des Künstlers / Galerie Pels-Leusden, Berlin (bis 2002) / Privat-sammlung, Baden-Württemberg / Privatsammlung, Berlin (bis 2012)

EUR 15.000–20.000 USD 17,000–22,700

Ausstellung Deutsche Meisterzeichnungen der letz-ten hundert Jahre. Berlin, Graphisches Kabinett der Galerie Pels-Leusden, 1973, Kat.-Nr. 16, S. 4, Abbildung S. 24 (hier betitelt: Prügelei in der Kneipe) / Europäische Meisterzeichnungen und Aquarelle. Berlin, Galerie Pels-Leusden, 1978/79, Kat.-Nr. 41, S. 4, Abbildung S. 26 (hier betitelt: Prügelei in der Kneipe) / The Berlin of George Grosz: Drawings, Watercolours and Prints 1912–1930. London, Royal Academy of Arts, 1997, Kat.-Nr. 10, S. 49, mit Abbil-dung / George Grosz. Der große Zeit-vertreib. Düsseldorf, Stiftung Museum Kunstpalast, 2014, S. 178, zusätzliche Abbildung S. 22

Literatur und Abbildung Auktion 99: Villa Grisebach Auktionen, 7. Juni 2002, Kat.-Nr. 1641 / Auktion 196: Villa Grisebach Auktionen, Berlin, 1. Juni 2012, Kat.-Nr. 358

Mein Großvater Ernst Basch, Jude, geboren 1909 und aufgewachsen in München, „Assessor Jur.“, hatte früh erkannt, was die Nazis im Schilde führten. Schon 1933 emigrierte er in die USA. Seine Eltern lehnten es trotz seiner dringenden Bitten ab, ihre Heimat zu verlas-sen. Sie starben beide in Nazi-Deutschland, der Vater 1940, krank und entkräftet nach der Vertreibung aus der Wohnung, die Mutter wurde am 18. Juni 1942 im KZ Theresienstadt ermordet.

1937 erschien in den USA das Buch meines Großvaters, der sich im Exil in „E.B. Ashton“ umbenannt hatte: „The Fascist: His State and His Mind“. Scharfsichtig beschrieb er darin, wes Geistes Kind die Nazis waren. Nicht zuletzt dieses Buch verhalf ihm dazu, in die ehrenvolle Liste der im Dritten Reich verfemten und verbotenen Autoren aufgenommen zu werden.

Nach dem Ende des Krieges kehrte mein Großvater nie mehr nach Deutschland zurück. Zunächst lebte er in New York. Dann zog er nach Huntington, N.Y. Dort arbeitete er fortan als Übersetzer von Adorno, Kant und Jaspers.

1947 zog ebenfalls von New York nach Huntington, N.Y., ein gewisser Georg Ehrenfried Groß, geboren 1893 in Berlin. Auch er war Anfang 1933 in die USA emigriert, auch er hatte sich umbenannt, allerdings schon 1916, aus Protest gegen das Grauen des Ersten Weltkrieges, das er als Infanterist selbst erlebt hatte. So wurde aus Georg Ehrenfried Groß „George Grosz“. So wie im gleichen Jahr und aus dem gleichen Grund aus seinem Freund Helmut Herzfeld „John Heartfield“ wurde.

E.B. Ashton und George Grosz wurden in den USA nicht nur Nachbarn, sondern enge Freunde, wie sich aus vielen Briefen und aus kleinen Zeichnungen ergibt, die unter anderem mit „To My Dea-rest Friend Ernest“ meinem Großvater gewidmet sind. So begleitet mich George Grosz schon ein Leben lang in Erzählungen als Freund meines Großvaters.

Nun stellt mein so sehr geschätzter Freund Bernd Schultz seine gesamte Sammlung, darunter zwei Zeichnungen des Exilanten George Grosz, zur Gründung eines ExilMuseums zur Verfügung, die ich als Enkel meines ins Exil geflohenen und mit Grosz eng verbundenen Großvaters, kommentieren darf. So schließen sich ebenso unerwartet wie glücklich Kreise.

„Schlägerei“ entstand im Jahr 1913. Grosz lebte in diesem Jahr für acht Monate in Paris. Berlin und Paris waren damals die beiden großen Weltmetropolen. Die Schrecken des Krieges schienen zu der Zeit noch fern. Mit leichter Hand gezeichnet, zeigt sich ein feucht-fröhliches Gelage, eine Kneipenschlägerei, Ausdruck von Sorglosig-keit und einer gewissen Lebensfreude. Grosz heißt damals noch Groß, im nächsten Jahr wird er den 2. Preis der Unterrichtsanstalt der Königlichen Museen in Berlin erhalten. Alles scheint gut. Aber es ist ein Tanz auf dem Vulkan.

Robert Unger, Berlin

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193 Ludwig MeidnerBernstadt 1884 – 1966 Darmstadt

Portrait des Schauspielers Paul Graetz. 1919

Kreide, laviert, auf Velin. 60,5 × 46,2 cm (23 ⅞ × 18 ¼ in.). Unten in der Mitte monogrammiert und datiert: LM 1919.

Provenienz Hans Koch, Düsseldorf und Randegg / Galerie Remmert und Barth, Düssel-dorf (bis 2015)

EUR 5.000–7.000 USD 5,680–7,950

Ausstellung 1914 und die Folgen. Düsseldorf, Galerie Remmert und Barth, 2014, Kat.-Nr. 27, Abbildung S. 21

Wir danken Winfried Flammann, Karlsruhe, für freundliche Hinweise.

„Die Geschichte meiner Generation ist die Geschichte eines Irrtums, oft mit tödlichem Ausgang.“ (Hans Sahl, Das Exil im Exil)

„Der Riß ging mitten durch das Elternhaus und führte zu öffentlichen Konfrontationen, wie an jenem Sonntag, da in den Straßen Berlins die Parteien demonstrierten. Ich marschierte mit den Kommunisten, mein Vater mit den Demokraten. Sie trugen Zylinderhüte und schwarze Gehröcke. Die Unversöhnlichkeit von Berg und Tal. Höhen-luft auf den Gipfeln, Fortschrittsoptimismus und ein bewölktes Pan-orama, das keine Fernsicht zuließ. Unten Auflehnung gegen das Bestehende, ‚Untergang des Abendlandes‘, und eine Kunst, die sich ganz im Geistigen verlor: Wilhelm Lehmbrucks wunderbare Plastik ‚Die Betende‘, Ludwig Meidners flammende Prophetenköpfe“ (Hans Sahl, Memoiren eines Moralisten).

Vielleicht sind Hans Sahl und Paul Graetz zusammen auf der Straße gewesen, an jenem Sonntag in Berlin. Paul Graetz war zwölf Jahre älter. Er kam vom Neuen Theater in Frankfurt am Main und wechselte 1916 zu Max Reinhardt ans Deutsche Theater in Berlin. Hans Sahl schrieb über Schauspieler und Kabarettisten, über Theater und Literatur. Beide aus wohlhabenden jüdischen Familien, beide auf der Seite des Widerspruchs und gegen den Nationalsozialismus kämpfend.

Paul Graetz habe ich nie kennengelernt, nie spielen gesehen. Er starb vor Beginn des zweiten großen Krieges, lange vor meiner Geburt, nach seiner Flucht aus Deutschland 1937 in New York, nur 46 Jahre alt. Für ihn war der Ausgang tödlich, viel zu früh.

Wie immer man Ludwig Meidners Portrait von Paul Graetz ein-zuordnen wünscht, es ist ein „flammender Prophetenkopf“. Zeigt die Zeichnung doch sehr eindrücklich ein stolz blickendes Gesicht, würdig, ja vornehm, in sich gekehrt, doch leicht verschmitzt spä-hend auf ein Gegenüber. Den Nacken aufrecht, gestreckt. Wissend. Ein wenig weise auch. Um Mund und Nase gewitzt, ein wenig spöt-tisch und frech. Ein Schauspieler. Ich denke: ein guter.

In seinem ersten Exil, in England, spielte er 1935, noch kurz bevor er nach Amerika emigrierte, seine einzige Hauptrolle in einem Film: Mr. Cohen Takes a Walk.

Udo Samel, Berlin

Den Nacken aufrecht gestreckt. Wissend ... Mr. Cohen Takes a Walk.

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194 Ludwig MeidnerBernstadt 1884 – 1966 Darmstadt

Selbstbildnis nach rechts. 1925

Kreide auf Papier. 30,5 × 26,2 cm (76,5 × 55 cm) (12 × 10 ⅜ in. (30 ⅛ × 21 ⅝ in.)). Unten mittig mono-grammiert und datiert: L.M. 1925. Rückseitig unten rechts mit dem Nachlassstempel in Blau sowie der mit Bleistift eingetragenen Inventarnummer: II 424. Vorlage für die Reproduktion in Lichtdruck für die Mappe: Gang in die Stille, Berlin, Euphorion Verlag, 1929. Rückseitig: Männerkopf mit Hand. Kreide, 28 x 20 cm. Bezeichnet: ungültig.

Provenienz Nachlass des Künsters / Privatsamm-lung, Berlin / Galerie Pels-Leusden, Berlin (1970er-Jahre)

EUR 8.000–12.000 USD 9,090–13,600

Ausstellung Ludwig Meidner. Zeichnungen von 1902 bis 1927. Frankfurt a.M., Frankfurter Kunstkabinett Hanna Bekker vom Rath, 1970, Kat.-Nr. 48, mit Abbildung

Literatur und Abbildung Auktion 32: Villa Grisebach Auktionen, Berlin, 5. Juni 1993, Kat.-Nr. 336

Wir danken Winfried Flammann, Karlsruhe, für freundliche Hinweise.

Auch in Meidners Selbstportrait aus dem Jahr 1925 ist der (Augen-)Blick zentrales Ausdrucksmittel. Der Selbstportraitierte schaut auch hier nicht gerade beglückt auf die Welt, aber ausgeglichener als 1914 (Kat.-Nr. 190), abgeklärt, jedenfalls nicht alarmiert. Das überrascht nicht, denn inzwischen hatte Meidner zumindest einen Teil seines Selbst näher er- und gekannt: sein Jüdisch-sein.

Im Künstlermilieu der Weimarer Republik, anders als „draußen vor der Tür“, war das noch kein Grund zu existenzieller Sorge. Erst recht nicht 1925, zu Beginn der „Goldenen Zwanziger“.

Ganz sorglos freilich konnte ein sensibler deutschjüdischer Künstler die Welt auch 1925 nicht betrachten. Deshalb das Wachsame im Blick.

Zu Recht, denn die Nationalsozialisten verhängten 1933 über ihn Mal- und Ausstellungsverbot, 1936 wurde er als „führender Kunstjude“ beschimpft, 1937 in der „Entarteten Kunst“ an den Pranger gestellt. Auswanderung 1939 nach England. Dort 1940/41 als „feindli-cher Ausländer“ (!) interniert. Trotz und nach allem 1953 Rückkehr nach Deutschland. Sein Es hat es – ohne Prophetie – gesehen. Wir sehen es hier.

Michael Wolffsohn, München

Sein Es hat es – ohne Prophetie – gesehen. Wir sehen es hier.

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195 Wilhelm MorgnerSoest 1891 – 1917 Langemarck/Flandern

Bauer auf dem Feld. 1910

Kohle auf grauem Papier. 46,8 × 49,5 cm (18 ⅜ × 19 ½ in.). Rechts in der Darstellung mit Bleistift signiert und datiert: W. Morgner 1910. Oben links mit Bleistift monogrammiert und nummeriert: WM IV. Rückseitig unten links mit dem Nachlassstempel in Grün von Georg Tappert (Lugt 1824a) und der mit Kreide in Orange eingetragenen Nummer: 182.

Provenienz Nachlass des Künstlers / Privatsammlung, Rheinland (bis 2013)

EUR 4.000–6.000 USD 4,550–6,820

Literatur und Abbildung Auktion 127: Venator & Hanstein, Köln, 23. März 2013, Kat.-Nr. 1316

Vor mehr als hundert Jahren verlor die deutsche Kunst im Ersten Weltkrieg ihre größten Hoffnungen: Franz Marc, August Macke aber auch Wilhelm Morgner ließen auf Frank-reichs und Belgiens Schlachtfeldern ihr Leben.

Fünfzig Jahre später musste der spätere Direktor der Neuen Nationalgalerie in Berlin, Dieter Honisch, im Wilhelm Morgner-Ausstellungskatalog des Stuttgarter Kunstvereins feststellen: „Morgner ist als Maler und Zeichner fünfzig Jahre nach seinem Tod deswegen noch so unbekannt, weil kaum etwas von ihm oder über ihn publiziert wurde. Außerhalb von Nordrhein-Westfalen bekommt man seine Arbeiten in keinem bedeutenden Museum zu Gesicht, auf kaum einer wichtigen Ausstellung des deutschen Expressionismus nach dem letzten Krieg war er repräsentativ vertreten und zu einer wirklich umfassenden Einzelausstellung mochte sich

196 Wilhelm MorgnerSoest 1891 – 1917 Langemarck/Flandern

Bäuerin auf dem Feld. 1910

Kohle auf grauem Papier. 44,3 × 48,4 cm (17 ½ × 19 in.). Rechts in der Darstellung mit Bleistift signiert und datiert: W. Morgner. 1910. Rückseitig unten links mit dem Nachlass-stempel in Grün von Georg Tappert (Lugt 1824a) und der mit Kreide in Orange eingetragenen Nummer: 183.

Provenienz Nachlass des Künstlers / Privatsammlung, Rheinland (bis 2013)

EUR 4.000–6.000 USD 4,550–6,820

Literatur und Abbildung Auktion 127: Venator & Hanstein, Köln, 23. März 2013, Kat.-Nr. 1317

niemand so recht entschließen. Dabei ist das Werk Morgners in vieler Hinsicht ungewöhnlich, sowohl was den Umfang als auch seine Eigenart und Qualität betrifft. Als Morgner 1917, gerade sechsundzwanzigjährig, nach einem Sturmangriff bei Langemark vermisst wurde, hinterließ er fast 2000 Zeich-nungen und Aquarelle, rund 240 Ölbilder und über 60 Druck-stöcke. Georg Tappert, sein Lehrer, Förderer und väterlicher Freund, hielt dieses Werk 1919/20 in einem Kontobuch fest, und dabei ist es im Wesentlichen geblieben.“

Auch wenn in der Zwischenzeit die Rezeption von Wilhelm Morgner deutliche Fortschritte gemacht hat, gilt Honischs Befund von 1968 immer noch, denn zu den wirklich bekannten Namen gehört Morgner auch heute nicht.

Elke Ostländer, Berlin

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197 Wilhelm MorgnerSoest 1891 – 1917 Langemarck/Flandern

Bergpredigt. 1915

Tuschfeder in Schwarz und Braun auf Papier. 22 × 17,8 cm (8 ⅝ × 7 in.). Unten rechts datiert und monogrammiert: 15 MW.

Provenienz Ehemals Galerie Glöckner, Köln

EUR 1.500–2.000 USD 1,700–2,270

Scharf gezeichnet ist der Kontrast zwischen dem Bergprediger und seiner Hörerschaft. Ein dunkler Hintergrund lässt Jesus in seinem hellen Gewand umso deutlicher hervortreten, im Halbkreis scharen sich die Lauschenden um ihn. Die himmelwärts gereckte Hand fordert ungeteilte Aufmerksamkeit.

Die konzentrierte Tuschfederzeichnung stammt aus dem Jahr 1915. Mitten im Krieg ist sie entstanden. Der Künstler war noch keine fünfundzwanzig Jahre alt und doch schon dem Ende seines Lebens nahe. Als Halbwaise war er aufgewachsen, schon früh seiner künst-lerischen Berufung gewiss. Otto Modersohn, wie er in Soest geboren, zog ihn nach Worpswede, wo für eine kurze Zeit Georg Tappert sein Lehrer war. Schon von 1911 an war der gerade Zwanzigjährige in wichtigen Berliner Ausstellungen vertreten, auch in Budapest und Tokio wurden seine Bilder gezeigt. In der Fülle der Arbeiten aus die-sen Jahren spiegelt sich das Wissen, dass er keine Zeit zu verlieren hatte. 1913 schon wurde er, da er als „Einjähriger“ von der Schule gegangen war, zum „freiwilligen“ Wehrdienst eingezogen, an den sich der Kriegsdienst mit der Waffe unmittelbar anschloss. Mit Ölfarbe oder Tempera konnte der Soldat nicht mehr malen, nur Grafiken und Aquarelle entstanden auch noch während des Krieges. Als er sich am 16. August 1917 der Gefangennahme durch britische Soldaten widersetzte, war sein Schicksal besiegelt.

Die „Bergpredigt“ steht unter Morgners Werken der Kriegszeit nicht allein. Der „Barmherzige Samariter“ geht ihr 1914 voran. Im Todesjahr des Künstlers folgt die „Große Kreuzigung“. Existenzielle Dichte verbindet sich mit expressiver Darstellung. Es scheint so, als hatte der Maler einen ganz bestimmten Teil der Bergpredigt im Sinn, nämlich die Antithesen, mit denen Jesus das alttestamentliche Gesetz radikalisiert, um den Hörern die Wahrheit über ihr Leben vorzuhalten. Der Bergprediger verwendet rhetorische Übertreibun-gen; so nötigt er die Zuhörer, sich der Wahrheit über ihr Leben zu stellen. Der Künstler tut es ihm auf seine Weise gleich.

Wolfgang Huber, Berlin

Der Bergprediger verwendet rhetorische Übertreibungen. Der Künstler tut es ihm auf seine Weise gleich.

Originalgröße

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198 Karl Schmidt- RottluffRottluff 1884 – 1976 Berlin

„9 Holzschnitte“. 1918

Halbpergamentmappe mit 10 Holz-schnitten (inklusive Deckblatt), jeweils auf Van Gelder-Bütten. Jeweils 68,5 × 53,5 cm (27 × 21 ⅛ in.). Jeweils signiert. Werkverzeichnis: Schapire 40 (Gebrauchsblätter), 206, 208, 211-216, 218. Jeweils einer von insgesamt 75 nummerierten Abzügen, in den Origi-nal-Passepartouts. Leipzig, Verlag Kurt Wolff, 1918.

Provenienz Galerie Nierendorf, Berlin / Privatsammlung, Berlin (bis 2011)

EUR 40.000–60.000 USD 45,500–68,200

Der „Kristus-Zyklus“ von Karl Schmidt-Rottluff, in einer Auflage von 75 Exemplaren mit je 9 Holzschnitten und einem ebenfalls in Holz geschnittenen Titelblatt erschienen, zählt zu den intensivsten Werken deutscher Grafik. Er ist ein aufwühlender Aufschrei der Verzweiflung und der Angst. Er zeigt aber auch die Verheißung von Hoffnung, Ver-söhnung und Liebe. Liebe ist Leben – verlorene Liebe bleibt lange Schmerz. Der Tod kommt meist ungerufen. Hass, Gewalt, Mord und Unmenschlichkeit dagegen sind Menschenwerk: Am 30. Januar 1933 endete für Deutschland die Demokratie, die Herrschaft des Rechts. An diesem Tag begann die Zerstörung des Staates, der Gesellschaft, und des Geistes. Was in Vielfalt geleuchtet hatte, endete in uner-messlichem Leid und Sterben. Wer dem entkommen konnte, wählte das Leben in einem fernen Land, dessen Sprache, Gebräuche und Abläufe fremd waren und wo im bisherigen Leben Geleistetes sich nicht immer wieder neu entfalten konnte. Die Liebe zur verlorenen Heimat verkümmerte zu einer vagen Hoffnung auf Rückkehr. Im Osten gab es auch nach dem Ende des Schreckens keine Befreiung – eine Diktatur ging in eine andere über. Wieder suchten viele den Weg in ein anderes Land, bis auch dieses Unrecht stürzte. Auch heu-te hat sich nichts geändert. Noch immer machen sich Tausende in vielen Teilen der Erde auf den Weg ins Irgendwo. Aber die Liebe überkommt den Schmerz. Wenn das Fundament wegbricht, wenn der Krieg zum sinnlosen Abschlachten verkommt, wenn nichts mehr ist, was war, dann ist da immer noch die Liebe.

Es ist diese Liebe, die Karl Schmidt-Rottluff im Angesicht des Grauens des Ersten Weltkrieges in seinem Kristus-Zyklus festgehalten hat. Schmidt-Rottluff zeigt in seinen zutiefst ausdruckstarken Holz-schnitten Christus als Revolutionär der Liebe. Die in starkem Wech-selspiel von Hell und Dunkel dramatisierten biblischen Erzählungen sind ein „Kuss der Liebe“. Das „Kristus-Bild“ ist Ruhe und Anklage zugleich. 1918 ist der Stirn des Gekreuzigten eingraviert, seine Augen, sein Gesicht atmen Trauer und Entsetzen. „Ist euch nicht Kristus erschienen“, fragt er. Wo ist die Heilsbotschaft von der unendlichen Liebe Gottes geblieben? Aber so dunkel der Kopf Christi, so schwarz die Wangen und das Haar auch sind, so hell schimmern die Strahlen des Göttlichen um sein Haupt. Sie weisen den Weg der Hoffnung! Der Holzschnitt „Kristus und Judas“ zeigt einen liebenden Christus, der weiß, dass er verraten wird, damit sich die Schrift erfülle. Die Augen Christi sind ohne Hass. Gott vergibt. Das zeigt auch der Holzschnitt „Kristus und die Ehebrecherin“. Aus dem Wechselspiel von Dunkel und Licht erstrahlt das Gesicht der Sünderin in verklärendem Licht vor dem großen Weiß mitten im Bild. Ihre Angst ist spürbar. Christus aber ist Ruhe und Trost: „Wer ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein!“ Hier kann er allein bestehen. Er wirft nicht. Das beschämt. Umsonst ist die teuflische Häme der Menge. Es bleibt der Segen der Liebe. Tief bewegend ist auch der

Liebe darf auch verschwenden. Liebe ist keine Buchhaltung für die Not der Welt.

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Holzschnitt „Maria“. Wessen Haupt steht hier dem Kopf Christi gegenüber? Welche Maria? Maria, die lebenspenden-de Mutter, Maria von Magdala, die Sünderin und Weggefähr-tin, oder Maria, die Schwester der Martha? Sie alle handelten aus unanfechtbarer Liebe zu Christus. Maria, die Schwester der Martha, gab viel Geld aus –nicht für die Armen, sondern für Spezereien, um Christi Füße zu waschen und zu salben. Das brachte ihr den Zorn der anderen ein. Das Bildnis „Maria“ lebt von Augen und Mund – sie sind fragend, ängst-lich und trotzig zugleich. Und doch ist das Gesicht von der Gewissheit gekennzeichnet, das Richtige zu tun. Liebe darf auch verschwenden. Liebe ist keine Buchhaltung für die Not der Welt.

Kann Liebe auch sinnlos strafen? Wenn Christus „dem „Feigenbaum flucht“, weil er, außerhalb der Reifezeit, keine Früchte bringt, die Christi Hunger hätten stillen können, dann erscheint dieses Strafwunder als Eigensucht und Unge-rechtigkeit. Der Feigenbaum steht im Schwarz-Weiß des Holzschnitts in vollem Lichterglanz, die erstaunten Gesichter der Jünger und der im Profil kraftvoll geprägte Christus geben Antwort – es geht nicht um Strafe, es ist eine Ermun-terung des Glaubens: Wer glaubt und nicht zweifelt, erhält unmenschliche Kraft, die Feigenbäume verdorren lässt und die sogar Berge versetzen kann. Diesen Glauben, dass auch Tod und Enttäuschung nicht siegen, mussten auch die Jün-ger auf dem Gang nach Emmaus lernen, als sie den mit ihnen wandernden auferstandenen Christus nicht erkannten.

Dieser Holzschnitt ist heller und friedvoller als die anderen, der weiß gehaltene Weg verliert sich in der Ferne und lässt die Distanz ahnen, den die Wanderer schon gegan-gen sind – ohne Hoffnung in die Zukunft. Ihnen werden die Augen geöffnet und mit dem neuen Glauben gehen sie dann hinaus in die Welt. Denn dazu waren sie berufen. Der Holz-schnitt „Petri Fischzug“ fesselt durch die zu Christus gereck-ten Hände. Die Fischer, die bisher nichts gefangen hatten, waren auf das Geheiß Christi noch einmal hinausgefahren und hatten so viele Fische gefangen, dass die Netze rissen und die Schiffe sanken. Dieser Fischzug hatte die Männer erschreckt und sie dann zu Jüngern Christi gemacht, zu Menschenfängern. Christus brauchte dazu keine Arme. Zu seinen Gliedern wurden die Jünger im Glauben. Der Holz-schnitt „Jünger“ ist das in den Zügen des Künstlers gehalte-ne Portrait des von Christus Ausgesandten: Er soll Christus verkünden und Friedensbote sein. Es ist der Mund des Jün-gers, der das Bild beherrscht. Der Mund ist die Erfüllung der Botschaft. Die Botschaft ist die Liebe. Der Holzschnitt „Kuss der Liebe“ umrahmt den Zyklus. Es ist nicht der Kuss des Verrats, sondern der heilige Kuss des Friedens. Und es ist der Kuss zwischen Liebenden. Die Linien erscheinen unend-lich zart, einander hingegeben mit Blick und Gefühl. Leid und Krieg sind weit entfernt. Der Kreis schließt sich.

Karl Schmidt- Rottluff hat nach den schrecklichen Erfahrungen des ersten Krieges Verfolgung und Unrecht unter der Nazi-Herrschaft erleben müssen. Seine Kunst wurde als „entartet“ diffamiert, seine Werke wurden aus deutschen Museen beschlagnahmt und in der Ausstellung „Entartete Kunst“ gezeigt. Er wurde aus der Berliner Akade-mie der Künste ausgeschlossen und mit Ausstellungs- und

Malverbot belegt. Seiner Kunst entsagte er nicht. Seine Pro-fessur an der Hochschule für Bildende Künste in Berlin nach dem Ende der Schreckenszeit, seine erfolgreiche Initiative zur Wiedereröffnung des Brücke-Museum in Berlin und die Verleihung des Ordens „Pour le Mérite“ bezeugen die Kraft seines Wirkens. Es ist ein Schaffen, das in seiner Expressivi-tät immer neu begeistert.

Die Freude an der Kunst ist ein köstlicher Segen. Bernd Schulz hat den größten Teil seines Lebens der Kunst gewidmet. Mit der Versteigerung nun trennt er sich von ganz besonderen Schätzen. Er tut dies in dem unerschütterlichen Glauben, seinen Weg zu gehen. Das Ziel ist ein Museum auch für Künstler im Exil. Zweifel gibt es nicht. Man könnte sicher auch vielen bedürftigen Künstlern helfen. Aber ein Muse-um, welches das Schicksal all der verfolgten Künstler in Erinnerung ruft, gibt es so nicht. Die digitale Darstellung „Künstler im Exil“ an der Deutschen Nationalbibliothek kann wegen ihrer Präsentationsform viele der heute auf der gan-zen Welt verstreuten Werke der Künstler sichtbar und lesbar machen. Die tiefgehende Auseinandersetzung mit den Schicksalen der Verfolgten und Heimatlosen an einem Ort der Gemeinsamkeit und des Gefühls muss und kann das geplante neue Museum leisten. Beide Orte zusammen brin-gen uns diejenigen zurück, denen wir so unendlich viel ver-danken – die Künstler im Exil.

Schmidt-Rottluff hat den Glauben an die Kunst nie verloren. Wenn Glaube, Liebe und Hoffnung das Wertvollste sind, dann weist Schmidt-Rottluff mit seinem Kristus-Zyklus den Weg für alle, die Unrecht, Verfolgung und Exil erleiden müssen. Dass Bernd Schultz diese Leidenschaft jetzt auf ein Museum für Menschen im Exil überträgt, ehrt ihn.

Ingeborg Berggreen-Merkel, Berlin

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Page 58: Moderne und Zeitgenössische Kunst 26. Oktober 2018

199 Karl Schmidt- RottluffRottluff 1884 – 1976 Berlin

„Dämmerung“. 1914

Holzschnitt auf Velin. 39,6 × 50 cm (47 × 64 cm) (15 ⅝ × 19 ⅝ in. (18 ⅝ × 25 ¼ in.)). Signiert und datiert. Werkverzeichnis: Schapire 146.

EUR 10.000–15.000 USD 11,400–17,000

Literatur und Abbildung Auktion 437: Hauswedell & Nolte, Hamburg, 6. Juni 2012, Kat.-Nr. 44

In der „Dämmerung“ konfrontiert uns Schmidt-Rottluff mit einer Figur, die wir aus „Die Sonne“ (Kat.-Nr. 200) kennen, die uns dort aber mit verschränkten Armen und in kecker Standbein-Spielbein-Pose geradeheraus fixiert. Er platziert sie vor einer Brücke, deren eine Hälfte vom Kopf der Figur verdeckt ist und sich darüber hinaus im (Gegen-)Licht der untergehenden Sonne und des sich spiegelnden Wassers auflöst. Unausgesprochen scheint sie uns ihre Frage aufzu-drängen: „Tja, und was jetzt?“ Silke Bräuer, Berlin

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Page 59: Moderne und Zeitgenössische Kunst 26. Oktober 2018

200 Karl Schmidt- RottluffRottluff 1884 – 1976 Berlin

„Die Sonne“. 1914

Holzschnitt auf Japan. 39,6 × 49,5 cm (44,5 × 56,2 cm) (15 ⅝ × 19 ½ in. (17 ½ × 22 ⅛ in.)). Signiert und bezeich-net: Für F. Voigt. Werkverzeichnis: Schapire 152. Widmungsexemplar für den Drucker außerhalb der Auflage für die Mappe: Zehn Holzschnitte von Schmidt-Rottluff. I.B. Neumann, Berlin 1919.

Provenienz Fritz Voigt, Berlin (Geschenk des Künstlers) / Privatsammlung, Berlin (bis 1994) / Claudia von Schilling, München (1994–2003)

EUR 8.000–12.000 USD 9,090–13,600

Literatur und Abbildung Auktion 41: Villa Grisebach Auktionen, Berlin, 26. November 1994, Kat.-Nr. 185 / Auktion 116: Villa Grisebach Auktionen, Berlin, 11. Juni 2004, Kat.-Nr. 1538 / Auktion 166: Villa Grisebach Auktionen, Berlin, 6. Juni 2009, Kat.-Nr. 165

Zwei von hinten dargestellte Frauen, die in ausladender Gestik am Strand die aufgehende – oder die untergehende – Sonne im Hinter-grund anbeten? begrüßen? betrauern? Dieses Motiv hatte sich mir eingeprägt. „Die Sonne“ habe ich das erste Mal 1998 bei der auf die „Brücke“-Kunst spezialisierten Baden-Badener Galeristin Elfriede Wirnitzer gesehen, für die ich während meines Studiums gearbeitet habe. In der Tat war es eine bis heute nachwirkende, schicksalhafte Begegnung, denn sie empfahl mir seinerzeit, unbedingt in die Aukti-onshäuser zu gehen, um, wie sie sagte, „meine Augen an all den Ori-ginalen zu trainieren“. So entdeckte ich damals als Studentin auch die Villa Grisebach.

Der Holzschnitt zeigt die seit 1912 unter dem Einfluss des fran-zösischen Kubismus entwickelte kantige Formensprache Schmidt-Rottluffs – nichts Weiches mehr, keine zarten Rundungen. Trotz Strandszenerie werden keine Badenden gezeigt, sondern zwei ele-gant gekleidete Damen mit modischer Frisur: zwei Städterinnen am Meer, die völlig unbefangen ihre Emotionen ausdrücken. Das Medium, ein mit Messern und Hohleisen bearbeiteter Holzstock, verstärkt das expressive Element zusätzlich. Möglich, dass diese beiden Frauen den Ausdruckstanz oder die Bewegungskunst beherrschen, die zur Jahrhundertwende Trend werden. Der Ausdruckstanz wurde auf der Grundlage eines an der Natur orientierten Ideals entwickelt und bestenfalls auch in der Natur ausgeführt, die Bewegungskunst ver-steht sich als eigene, anthroposophische Kunstform des Expressio-nismus, in der Sprache und Musik durch Bewegungen sichtbar gemacht werden.

Schmidt-Rottluff lässt offen – und es ist auch nicht relevant –, ob es sich um einen Sonnenauf- oder Sonnenuntergang handelt und ob die Gesten der beiden Frauen, deren Gesichter wir nicht sehen, Freude, Trauer oder Anbetung ausdrücken. In diesem Blatt mag für ihn die Magie der Sonne am Meer und ihr Hervorrufen solchen Körper-ausdrucks Thema gewesen sein. Und der Betrachter darf sich, anders als bei der „Dämmerung“ (Kat.-Nr. 199), jeden Tag neu entscheiden, wie er „Die Sonne“ interpretiert!

Silke Bräuer, Berlin

Grisebach — Herbst 2018

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201 Jussuf AbboSafed/Palästina 1890 – 1953 London

Mädchenkopf im Profil nach rechts. 1916

Kohle auf bräunlichem Papier. 31,9 × 26,7 cm (12 ½ × 10 ½ in.). Unten rechts von der Mitte signiert und datiert: J. Abbo 16.

EUR 1.000–1.500 USD 1,140–1,700

Literatur und Abbildung Auktion 81: Villa Grisebach Auktionen, Berlin, 27. Mai 2000, Kat.-Nr. 500

„Meine Zeichnungen sind meist Studien, Notizen, Fragmente, die ich fest halte zu meinen eigenen Zwecken. [...] Das Fragment ist meist sehr wahr, aus dem Impuls heraus, ungeglättet, ungeschmei-chelt.“ Mit diesen Worten beschreibt Jussuf Abbo seine Zeichnungen anlässlich einer Ausstellung in Hamburg 1923. Zu diesem Zeitpunkt war er bereits anerkannter Repräsentant der Avantgarde in Deutsch-land. 1911 war der in Safed/Palästina geborene Künstler nach Berlin gekommen, studierte an der Hochschule und wurde rasch von füh-renden Kunsthändlern entdeckt. Keine Geringeren als Paul Cassirer,

Alfred Flechtheim und Ferdinand Möller stellten ihn aus. Er war Gast der Novembergruppe und der Berliner Secession. Grund für solche Anerkennung war nicht nur sein großes künstlerisches Talent, er wusste sich auch zu inszenieren – in seinem Atelier baute er ein Beduinenzelt auf und gerierte sich als Sohn der Wüstenvölker. Mit Else Lasker-Schüler verband ihn zeitweilig eine enge Freund-schaft. Die temperamentvolle Poetin widmete ihm ein Gedicht und veröffentlichte es in der Berliner Tagespresse.

Als der „Mädchenkopf im Profil“ 1916 entstand, war von schwärmerischen Oden und Ehrerbietungen an den Künstler noch nicht die Rede. Seit 1913 studierte Abbo an der Berliner Hochschule für bildende Künste, fertigte zahlreiche Studien, Zeichnungen und erste bildhauerische Werke an. So auch das anmutige Profil einer weiblichen Gestalt. Abbo studierte Gesichtszüge und Ausdruck genau und nutzte bei der Schraffierung der Wangenpartie auch gleich die Gelegenheit, Proportionen und Flächengliederung fest-zuhalten. Nur wenige Jahre später wird er für sein bildhauerisches, aber auch sein zeichnerisches Können von der Kunstkritik gefeiert werden.

Die Machtübernahme der Nationalsozialisten bereitete der aufstrebenden Karriere dann aber ein abruptes Ende. Als Jude floh Abbo 1935 nach England. Seine nachgeschickten Werke kamen 1937 nahezu gänzlich zerstört in London an. Abbo starb 1953 vollkommen verarmt im Exil.

Dorothea Schöne, Berlin

Alfred Flechtheim, Paul Cassirer und Ferdinand Möller stellten ihn aus.

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202 Rudolf Grossmann1882 – Freiburg – 1941

„Prof. Adolf Goldschmidt“.

Rötel und Bleistift auf Bütten. 48,1 × 37,3 cm (18 ⅞ × 14 ⅝ in.). Unten links mit Bleistift bezeichnet: Prof Adolf [sic!] Goldschmidt. Unten rechts mit dem Nachlassstempel in Grün und der mit Feder in Grün einge-tragenen Registriernummer: Z 184.

Provenienz Nachlass des Künstlers / Galerie Pels-Leusden, Zürich

EUR 1.000–1.500 USD 1,140–1,700

Ausstellung Meister der Zeichnung in der deutschen Kunst des XX. Jahrhunderts. Hamburg, Kunstverein, 1967, Kat.-Nr. 61

Literatur und Abbildung Auktion 227, Teil II: Galerie Kornfeld, Bern, 21. Juni 2001, Kat.-Nr. 390

Apropos Goldschmidt-Bildnis. Gerade lese ich das faszinierende Buch von Gerda Panofsky: Erwin Panofsky von Zehn bis Dreißig und seine jüdischen Wurzeln, Dietmar Klinger Verlag, Passau, 2017. Panofsky war ja Goldschmidt-Schüler. Auf den Seiten 148, 155 und 177 im Buch findet man die perfekte fotografische und künstlerische Darstellung von Goldschmidts Physiognomie, mit Ausnahme natür-lich des Schlüsselwerks, der vorliegenden Zeichnung von Grossmann. Im Rahmen der Abbildungen bei Gerda Panofsky macht die Gross-mann-Zeichnung eine hervorragende Figur, eine höchst beachtens-werte, expressionistische Interpretation. Im Vergleich wirkt Lieber-manns Radierung fast fade und konventionell.

Goldschmidt hatte, würde ich sagen, ein „morgenländisches“ Antlitz. Es macht mich immer an die Gedichte von Else Lasker-Schüler denken, obwohl sie sicherlich durch Welten vom Kunstge-schichtsprofessor Goldschmidt entfernt war. Und doch waren Gold-schmidt und Lasker-Schüler durch das „Morgenländische“ auf rätselhafte Weise miteinander verbunden. Vielleicht auch durch die menschliche Güte, die Goldschmidt als Pädagoge ausstrahlte, und auch die Lasker-Schüler war ja eine Heilige, wenn auch im Sinne der Magdalena – in ihren Poesien wird das ganz deutlich. Hingegen träumte der alte Goldschmidt davon, die Kunstgeschichte in eine „exakte“ Wissenschaft zu verwandeln. Und war zugleich für seinen Humor mit metaphysischer Tiefsinnigkeit bekannt. Erwin Panofsky widmete dem Thema „Goldschmidts Humor“ gar einen eigenen Auf-satz (in: Adolph Goldschmidt. Carl Georg Heise (Hg.), Hamburg, 1963, S. 25-32).

Und wenn ich mir Goldschmidt so anschaue: Übrigens finde ich es höchst bedauerlich, dass man nicht mehr die gestärkten Vatermörderkragen tragen kann, so wie Goldschmidt sie benutzte. Man befestigte dieses Attribut mit einem Knopf im Nacken und einem an der Gurgel.

Detlef Heikamp, Florenz

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203 Egon SchieleTulln 1890 – 1918 Wien

„Portrait Edith Schiele (Gattin des Künstlers)“. 1918

Ölkreide auf Papier. 46,7 × 29,5 cm (18 ⅜ × 11 ⅝ in.). Unten rechts signiert und datiert: EGON SCHIELE 1918. Werkverzeichnis: Kallir D 2226.

Provenienz Barbara Farrell (bis 1981) / Privatsamm-lung, USA (1981) / Galerie St. Etienne, New York (bis 1991)

EUR 200.000–300.000 USD 227,000–341,000

Ausstellung Katalog der Orangerie 1991 – Internati-onaler Kunsthandel im Martin-Gropius-Bau, Berlin, 1991, S. 290, mit Abbildung / Musen, Maler und Modelle. Kampen, Galerie Pels-Leusden, 1996, Kat.-Nr. 107, S. 20/78, Abbildung S. 21 / Egon Schiele, Women. London, Richard Nagy Ltd., 2011, Kat.-Nr. 53, mit Abbildung

Literatur und Abbildung Auktion 4723: Impressionist and Modern Drawings. Sotheby’s, New York, 6. November 1981, Kat.-Nr. 527

Sein Atelier lag genau vis-à-vis ihres Wohnhauses in der Hietzinger Hauptstraße im gutbürgerlichen Wiener Westen. Als Egon Schiele sie und ihre ältere Schwester Adele erspähte, kontaktierte er sie mittels rasch beschrifteter Zeichenblätter, die er durchs offene Fenster hielt.

Wer also war Edith Harms, die im Juni 1915 dem berüchtigten Bohemien Schiele das Jawort gab, während rundum Stefan Zweigs „Welt von gestern“ im Weltkrieg versank? Ernst und intensiv schaut sie uns entgegen unter den aufgetürmten Locken. Aber so schauen bei Schiele eigentlich alle, ob Frau oder Mann. Das war das eigentli-che Skandalon seiner Kunst im patriarchalischen Altösterreich: Er zeichnete Frauen, also auch die eigene, als Menschen – statt als Engel, Muttertier oder Vamp.

Ediths Handschrift (zu studieren auf dem Testament, das sie anlässlich ihrer Hochzeit zu verfassen hatte) verrät Intelligenz und ein in sich ruhendes Selbstbewusstsein. Sie war gebildet, konnte Englisch und Französisch. Und sie mochte Mode, auch das verband sie mit ihrem exaltierten Ehemann. Voll zur Geltung kommt ihr stiller Chic auf dem berühmten ganzfigurigen Portrait im bunt gestreiften Zweiteiler mit Spitzenkragen, das heute in Den Haag hängt. Es wirkt wie Schieles stolzer Gruß an seinen Mentor Gustav Klimt: Sieh her, das ist meine Edith!

Schieles Strich hat 1918 jene sensationelle Ökonomie und per-formative Eleganz erreicht, die ihm einen Ehrenplatz im Pantheon der Zeichenkunst sichern. Auch finanziell wendete sich in diesem Jahr das Blatt für ihn: Bei der 49. Wiener Secessionsausstellung im Frühjahr 1918 fanden fast alle der 29 Schiele-Zeichnungen begeis-terte Käufer, ebenso seine 19 gezeigten Gemälde. Sogar die Staats-galerie erwarb ein Großformat. Und Edith war mit dem ersten Kind schwanger. Es war, als hätte Fortuna beschlossen, Egon Schiele aus-giebig zuzulächeln.

Und dann lächelt sie plötzlich nicht mehr. Im Herbst 1918 bricht auch in Wien die Spanische Grippe aus, die innerhalb weniger Monate weltweit so viele Menschen töten sollte wie die Pest inner-halb eines Jahrhunderts. Die Schieles meiden volle Straßenbahnen und Lokale, aber es hilft nichts: Am 28. Oktober 1918 erliegt Edith einer vom Virus ausgelösten Lungenentzündung, mit ihr stirbt das Kind in ihrem Bauch. Man will sich Schieles Schmerz nicht vorstellen, es muss entsetzlich gewesen sein. Als er am 30. Oktober von Ediths Begräbnis zurückkehrt, fröstelt ihn und er legt sich hin. In der Nacht des 31. Oktober stirbt auch Egon Schiele an der Spanischen Grippe. Sein Sterbebett steht in der Wohnung der Familie Harms, aus der ihm einst das bürgerliche Glück entgegenwinkte.

Margit J. Mayer, Berlin

Sie mochte Mode, auch das verband sie mit ihrem exaltierten Ehemann.

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204 Oskar KokoschkaPöchlarn 1886 – 1980 Montreux

„Selbstbildnis“. 1920

Kreide auf gelblichem Umdruckpapier. 67,8 × 46,8 cm (26 ¾ × 18 ⅜ in.). Oben datiert, gewidmet und signiert: Zu Weihnachten 1920 in unserem Familien-haus, dem Herzbruder Bohuslav und lieben Beistand will ich so vor Augen sein, nicht als der Bösewicht, der ich wirklich bin. Oskar. Rückseitig mit Tuschfeder in Braun beschriftet: Unverkäufliches Eigentum von Bohuslav Kokoschka. Werkverzeichnis: Rathenau, Band V, 49.

Provenienz Bohuslav Kokoschka (Bruder des Künstlers), Wien (bis 1975)

EUR 200.000–300.000 USD 227,000–341,000

Ausstellung Europäische Meisterzeichnungen und Aquarelle. Berlin, Galerie Pels-Leusden, 1978/79, Kat.-Nr. 97, S. 7, Abbildung S. 30 / Oskar Kokoschka 1886-1980. Wanderausstellung 1986/87. London, Tate Gallery, Kat.-Nr. 174, Abbildung S. 332, und Zürich, Kunsthaus Zürich, Kat.-Nr. 177, Abbildung S. 330, und New York, Solomon R. Guggenheim Museum, Kat.-Nr. 142, Abbildung S. 215 / Oskar Kokoschka. Krakau und Katowice, 1994/95, Serge Sabarsky Gallery New York, 1994, Kat.-Nr. 48, mit Abbildung (Leihgabe) / Musen, Maler und Modelle. Kampen, Galerie Pels-Leusden, 1996, Kat.-Nr. 74, S. 38/75, Abbildung S. 39

Literatur und Abbildung Auktion 206: Hauswedell & Nolte, Hamburg, 5.-7. Juni 1975, Kat.-Nr. 992 / Stefan Körner: Lebenslinien. In: Grise-bach – Das Journal, Ausgabe 8/2018, S. 42, Abbildung S. 43

Eine meiner großen Lieben sind die großformatigen Zeichnungen von Oskar Kokoschka. Gleich zweimal tauchten bei unserem Kollegen Hauswedell bedeutende Blätter auf. Das eine aus der Sammlung sei-nes Bruders mit der außergewöhnlichen Widmung, das andere aus der Sammlung von Hans Bethge. Ich wusste, dass ich viele Jahre warten musste, um etwas Vergleichbares zu bekommen. So habe ich mit der Rückendeckung des Bankhauses Lampe, wo ich meine Lehre gemacht habe, beide Zeichnungen in einem Parforceritt erwerben können und das „in offener Feldschlacht“ gegen den größten Kokoschka-Sammler, Willy Hahn.

Seitdem gehören sie zu den Blättern, die ich damals gegen den großen Sammler Rudolf Leopold verteidigt habe. Das „Selbstbildnis“ hatte es ihm bei mir zu Hause besonders angetan. Er lud sich zu einem Frühstück ein, mit listigen Hintergedanken. Es begann mit: „Wissen Sie, Herr Schultz, wir kennen uns doch schon so lange. Wir könnten uns duzen.“ Mich geehrt fühlend, habe ich mich trotz mei-ner hanseatischen Vorbehalte dem nicht entzogen. Auf dieser neuen Ebene fragte er: „Jetzt, wo wir Freunde sind, kannst Du mir das Kokoschka-Blatt doch verkaufen.“ Meine Antwort war: „Nur über meine Leiche.“

Bernd Schultz, Berlin

Das Blatt gehört zu einer Gruppe von gezeichneten Selbstbildnis-sen, die in ihrem Ausdruck vergleichbar und alle um 1920 entstan-den sind, als Kokoschka 34 Jahre alt war. Die Werkgruppe mag sich dadurch erklären, dass der Künstler damals an einem Wendepunkt stand. Sein Leben davor war ereignisreich, erfolgreich, aber auch unglücklich verlaufen.

In Wien zum bildenden Künstler ausgebildet, war Kokoschka stark auch in Literatur und Musik engagiert, hatte Zugang zu führen-den Kreisen dort, deren Anerkennung er sich bald erwarb. Die leiden-schaftliche, aber unglückliche Beziehung zu Alma Mahler, der Beginn des Ersten Weltkriegs, an dem er als Soldat teilnahm, die schwere Verwundung und ein psychischer Zusammenbruch, den er in der Folge erlitt, prägten die Jahre ab 1913.

Ein Neuanfang bot sich Kokoschka 1919 mit seiner Berufung zum Professor an die Dresdner Akademie. Der konkrete Anlass für unser Blatt ist der Inschrift zufolge ein familiärer Zwist, nach dem Kokoschka mit einer Selbstdarstellung um Versöhnung bat.

Geschildert wird ein Mann von alterslos scheinender Jugend. Staunen, Trauer und Schrecken prägen sein schmales Gesicht mit den weit geöffneten Augen und dem geöffneten Mund. Der dunkle Kreidestrich ist nicht beschreibend, sondern frei gestaltend, ener-gisch, kraftvoll und dicht, als ob es eine Malerei sei. Dafür spricht auch das außergewöhnlich große Format. Dieses Blatt ist keine Bild-niszeichnung im üblichen Sinn, weniger die Beschreibung einer indi-viduellen Physiognomie, sondern ein allgemein gültiger Ausdruck des Erlebens einer traumatisch erfahrenen Zeit.

Margret Stuffmann, Frankfurt a.M.

Grisebach — Herbst 2018

Page 64: Moderne und Zeitgenössische Kunst 26. Oktober 2018

205 Oskar KokoschkaPöchlarn 1886 – 1980 Montreux

„Frauenkopf en face“. 1920/21

Kreide auf Velin. 59,5 × 46 cm (69,8 × 49,5 cm) (23 ⅜ × 18 ⅛ in. (27 ½ × 19 ½ in.)). Unten rechts signiert: O Kokoschka. Unten links mit dem Sammlerstempel in Violett: Hans Bethge. Werkverzeichnis: Rathenau, Band I, 113. Rückseitig: „Mädchenbildnis en face“. Um 1920. Kreide. Rathenau, Band I, 112.

Provenienz Hans Bethge, Berlin / Galerie Pels-Leusden, Berlin (ab 1970)

EUR 100.000–150.000 USD 114,000–170,000

Ausstellung Deutsche Meisterzeichnungen der letz-ten hundert Jahre. Berlin, Graphisches Kabinett der Galerie Pels-Leusden, 1973, Kat.-Nr. 54, S. 5, Abbildung S. 23 / Oskar Kokoschka. Krakau und Katowice, 1994/95, Serge Sabarsky Gallery, New York, 1994, Kat.-Nr. 53 (Leihgabe) / Musen, Maler und Modelle. Kampen, Galerie Pels-Leusden, 1996, Kat.-Nr. 75, S. 40/75, Abbildung S. 41

Literatur und Abbildung E. Rathenau: Kokoschka Handzeich-nungen. Berlin, 1935, Tafeln 112 und 113 / Hans Maria Wingler: Kokoschka-Fibel. Salzburg, 1957, S. 58/59, mit Abbildung / Auktion 3: Galerie Wolfgang Ketterer, München, Juni 1970, Kat.-Nr. 744 / Auktion 6: Villa Grisebach Auktionen, Berlin, 3. Juni 1988, Kat.-Nr. 148

Die Zeichnung ist beispielhaft für Kokoschkas sich nun in voller Reife entfaltende Fähigkeit, im Physiognomischen das immanent Seeli-sche, im Individuellen das Allgemeine durchscheinen zu lassen – zu charakterisieren und zu idealisieren, beides zugleich. Ähnlich wie dieses Mädchenantlitz hat Kokoschka um diese Zeit einige Idealbild-nisse alttestamentlicher Frauengestalten gezeichnet, die zweifellos das Modell, das vor ihm im Atelier gesessen hat, getreu wiedergeben,

und in die dennoch das metaphysische Erlebnis der Bibel einge-schlossen ist. Sinnliches wird, wie Thomas Mann gesagt hat, transpa-rent für Geistiges, und das Geistige wird Natur. Was sich in den weit geöffneten Augen dieses Mädchens abspielt, ist ein ganzes Mysterium; sie strahlen nach außen und innen und werden zu Mittlern zwischen zwei Wundern: dem, das sie erschauen, und dem, das sich hinter ihnen in der Erlebnissphäre vollzieht.

Hans Maria Wingler, in: Kokoschka-Fibel. Salzburg, 1957, S. 58

Vorderseite, mit Signatur

Was sich in den weit geöffneten Augen dieses Mädchens abspielt, ist ein ganzes Mysterium.

RückseiteGrisebach — Herbst 2018

Page 65: Moderne und Zeitgenössische Kunst 26. Oktober 2018

206 Max BeckmannLeipzig 1884 – 1950 New York

„Selbstbildnis“. 1914

Kaltnadel auf Velin. 24 × 17,8 cm (42,6 × 31,8 cm) (9 ½ × 7 in. (16 ¾ × 12 ½ in.)). Signiert. Werkver-zeichnis: Hofmaier 74 B a (von c). Einer von insgesamt 50 Abzügen. Berlin, I.B. Neumann.

Provenienz Privatsammlung, Nordrhein-Westfalen / Privatsammlung, Schweiz (bis 2007)

EUR 15.000–20.000 USD 17,000–22,700

Ausstellung Max Beckmann. Gemälde, Papier-arbeiten, Graphiken. München, Galerie Thomas, 2013 (Leihgabe, außer Katalog)

Literatur und Abbildung Auktion 151: Villa Grisebach Auktionen, Berlin, 30. November 2007, Kat.-Nr. 53

Der Kopf ist groß ins Bild gerückt. Nah, bedrängend nah schaut Beckmann uns ins Auge – und wir ihm. Tiefernst, ja finster sein Blick. Was bedrückt ihn, was hat er gesehen, das zu solcher Melancholie führt? Bei Bildern, die im Jahr 1914 entstanden sind, wäre eine genaue Datierung auf Monat und Tag von großer kunsthistorischer Bedeutung. Aber wir wissen leider nicht, ob sich Beckmann vor oder nach dem 1. August portraitiert hat.

Als Zuschauer unter den jubelnden Berliner Massen soll Beck-mann am Tag der Mobilmachung geäußert haben, dies sei die „größte nationale Katastrophe“. Ein Pazifist ist er dennoch in den ersten Kriegsmonaten nicht gewesen. In einem Kraftakt, der sich bei sei-nem Nervenzusammenbruch von 1915 als fataler Irrweg erwies, bemühte sich Beckmann, den Krieg in einen grandiosen Stoff für die Bereicherung seiner Kunst umzudeuten. An seine Frau schrieb er am 24. Mai 1915: „Es handelt sich ja auch nicht darum, daß ich gewisser-maßen als Historiker diese Angelegenheit mitmache, sondern, daß ich mich selbst in dieser Sache einlebe, die an sich eine Erschei-nungsform des Lebens ist, wie Krankheit, Liebe oder Wollust. Und genau so, wie ich ungewollt und gewollt der Angst der Krankheit und der Wollust, Liebe und Haß bis zu ihren äußersten Grenzen nachge-he – nun, so versuche ich es eben jetzt mit dem Kriege. Alles ist Leben, wunderbar abwechslungsvoll und überreich an Einfällen. Überall finde ich tiefe Linien der Schönheit im Leiden und Ertragen dieses schaurigen Schicksals.“ (Max Beckmann: Briefe 1899-1925. Band I, München, 1993, S. 136/137)

Beckmanns Seele war jedoch weniger robust als die von Otto Dix, der, mit ähnlichen Intentionen, den ganzen Krieg als MG-Schütze mitmachte. Aus der Hölle des Stellungskriegs im Westen brachte Dix jene apokalyptischen Visionen vom Ende aller Humanität mit, die er dann in erschütternden Grafiken zum bedeutendsten Memento seiner Zeit machte. Beckmanns Augen von 1914 wissen, dass sein verschleierndes Wort von „dieser Angelegenheit“ ein Selbstbetrug ist. Sie werden schon bald Szenen sehen, denen sie nicht standhalten können.

Christoph Stölzl, Weimar

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Page 66: Moderne und Zeitgenössische Kunst 26. Oktober 2018

207 Max BeckmannLeipzig 1884 – 1950 New York

„Liegende Frau“. Um 1929/33

Kaltnadel auf Velin. 35 × 21,1 cm (50 × 40 cm) (13 ¾ × 8 ¼ in. (19 ⅝ × 15 ¾ in.)). Werkverzeichnis: Hofmaier 322. Wohl der einzige bekannte Abzug.

Provenienz Mathilde Q. Beckmann, New York (in Familienbesitz bis 2013)

EUR 12.000–18.000 USD 13,600–20,500

Literatur und Abbildung Auktion 212: Max Beckmann. Aus dem Atelier des Künstlers. Druckgraphik für Quappi. Villa Grisebach Auktionen, Berlin, 31. Mai 2013, Kat.-Nr. 680

Die „Liegende Frau“ ist vom Motiv her dem Gemälde „Siesta“ von 1924/31 (Göpel 353) wie auch der gleichnamigen Radierung von 1923 (H 280) verwandt. Dargestellt ist eine junge Frau mit entblößter Brust und schwarzen Strümpfen auf einem Ruhelager. Sinnend geht ihr Blick ins Weite, ihr rechter Arm stützt im Gestus der Melancholie den Kopf (vgl. „Sinnende Frau am Meer“, um 1936/37, Kunsthalle Bremen (Göpel 460)). Auf dem ihrer Linken entglittenen Buch ist das Wortfragment „frank“ zu entziffern, vielleicht ein Hinweis auf den Entstehungsort des Blattes. Die Dargestellte könnte eine von Beck-manns Schülerinnen an der Städelschule in Frankfurt gewesen sein, möglicherweise dieselbe, die in „Liegender Akt“ (1929, Chicago Art Institute (Göpel 308)) erscheint.

Im März 1930 schrieb Curt Glaser im Berliner Börsen-Kurier: „Beckmann hat selten Bedeutenderes geschaffen als den großen liegenden Akt, der eine unheimliche Kraft der Formvorstellung offenbart und zugleich alle Gewaltsamkeit in blühender Schönheit löst.“ (zitiert nach: Max Beckmann. Frankfurt 1915-1933. Städtische Galerie im Städelschen Kunstinstitut, Frankfurt, 1983/84, S. 152) Auch die Radierung vibriert förmlich unter der erotischen Span-nung, die von ihr ausgeht. Julius Meier-Graefe, der Beckmann einmal einen „Lebensgräber“ nannte, konstatierte zu den Werken des künstlerischen Neubeginns nach dem Ersten Weltkrieg: „Beckmann steht mitten unter uns, von jetzt an fähig, [...] das zündende Erlebnis wiederzufinden” (zitiert nach: Max Beckmann in Frankfurt. Klaus Gallwitz (Hg.), Frankfurt a.M., 1984, S. 153).

Dies ist wohl der einzige bekannte Abzug.

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Page 67: Moderne und Zeitgenössische Kunst 26. Oktober 2018

208 Max BeckmannLeipzig 1884 – 1950 New York

„Gruppenbildnis Edenbar“ („Kafé couvert“). 1923

Holzschnitt auf Velin. 49,5 × 49,5 cm (65,2 × 55,8 cm) (19 ½ × 19 ½ in. (25 ⅝ × 22 in.)). Signiert, betitelt und mit einer datierten Widmung: „Kafé couvert“ für Quappi Frankfurt a/M 27.7.29 Beckmann. Werkverzeichnis: Hofmaier 277, 3. Zustand. Einziger bekannter Abzug des bei Hofmaier nicht beschriebenen 3. Zustands nach der Auflage von 40 Exemplaren. Berlin, I.B. Neumann.

Provenienz Mathilde Q. Beckmann, New York (in Familienbesitz bis 2013)

EUR 50.000–70.000 USD 56,800–79,500

Ausstellung Max Beckmann. Gemälde, Papierar-beiten, Graphiken. München, Galerie Thomas, 2013, S. 27, mit Abbildung (Leihgabe)

Literatur und Abbildung Auktion 212: Max Beckmann. Aus dem Atelier des Künstlers. Druckgraphik für Quappi. Villa Grisebach Auktionen, Berlin, 31. Mai 2013, Kat.-Nr. 665

Das Hotel Eden in der Budapester Straße 35 war in den 1920er-Jah-ren für Künstler aller Couleur ein beliebter Treffpunkt im Berliner Westen. Das Hotel war Max Beckmann vertraut, auf seinen Reisen von Frankfurt nach Berlin übernachtete er gewöhnlich in dem nob-len Etablissement, in dem sich die eleganteste Bar der Metropole befand. Sie war kein gewöhnlicher Ort im Berlin der 1920er-Jahre, sondern Meetingpoint der mondänen Gesellschaft. Zu den Dauer-gästen zählten unter anderem Marlene Dietrich, Gustaf Gründgens, die Schriftsteller Heinrich Mann, Erich Maria Remarque und Jacob Wassermann. Gelegentlich arbeitete hier der später in Hollywood erfolgreiche Regisseur Billy (Samuel) Wilder als Eintänzer.

Für Beckmanns Menschenstudien bot das schillernde Leben des Lokals die ideale Bühne. Dass an diesem Ort 1919 Karl Lieb-knecht und Rosa Luxemburg verschleppt und misshandelt worden waren und man Rosa Luxemburg an der nächsten Ecke erschossen hatte, war in den „Goldenen Zwanzigern“ fast vergessen. Beckmann hat „Das Martyrium“ der linken Revolutionärin vor dem Portal des Hotels in einer der großformatigen Lithografien seiner Folge „Die Hölle“ festgehalten.

Auf unserem Holzschnitt hat Beckmann seine Bekannten Johanna Loeb, die er um 1913 kennengelernt hatte, und Elsita Lutz verewigt, eine Sängerin aus Argentinien, die in Berlin Gesang stu-dierte. Beide Frauen hatte er im Jahr zuvor auch schon in einem Doppelbildnis dargestellt. Bei dem Herrn handelt es sich wahr-scheinlich um den Mann von Elsita Lutz. Die Auflage wurde von Fritz Voigt in Berlin gedruckt, dem einzigen Drucker, den Beckmann aus-drücklich lobend erwähnt hat, so in einem Brief an Julius Meier-Graefe vom 26. Juli 1923: „Der Drucker ist der beste in ganz Berlin. Ich habe es ausprobiert.”

1923, im Entstehungsjahr des Holzschnitts, interessierten Beckmann die Dramen zwischenmenschlicher Beziehungen. Bereits die schiere Größe konkurriert mit seinen Gemälden und weist das Blatt als ein bedeutendes Werk aus. Nirgends hat Max Beckmann die Einsamkeit des Individuums besser erfasst als in seinen Gruppenbil-dern. Obwohl die drei Menschen, Johanna Loeb, die befreundete Sängerin Elsita Lutz und deren Mann Wilhelm, einander vertraut sind, bestimmt Distanz und eine gewisse Verlegenheit die Szene. Alle drei erwehren sich der bedrängenden Nähe, der Mann starrt in die Ferne, die Frauen schauen aneinander vorbei, die Hand mit der Zigarette ist Schild gegen den zu nahen Ellenbogen. Über der Bezie-hung liegen die Signale eines erotischen Geheimnisses, vielleicht sogar das einer Ménage-à-trois.

Beckmann erweist sich in den Details als raffinierter Analytiker. Die freie Rückenpartie der dunkelhaarigen Johanna, der verrutschte Träger ihres Kleides, der „unschuldig“ auf die Tanzfläche blickende Wilhelm mit seiner verwegenen argentinischen Bartmode, Elsita, die in die Luft starrende Sängerin, die offenbar alle Zeichen ignoriert. Ein Mann zwischen zwei Frauen, ein alter Topos. Wie aufgesteckte Lichter blinkt der Liebesverrat noch in den aus den Köpfen aufstei-genden weißen Kragen der Musiker. Wie kein anderer Künstler legte Beckmann die verborgenen Kräfte frei, die unter den Geschlechtern für andauernde Unruhe sorgen.

Eugen Blume, Ribnitz-Damgarten

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209 George Grosz1893 – Berlin – 1959

„Baul Ball“. 1920

Tuschfeder auf Papier (aus einem Skizzenblock). 53 × 43,3 cm (20 ⅞ × 17 in.). Unten rechts mit Bleistift signiert: GROSZ. Mit einer Bestätigung von Ralph Jentsch, Rom, vom 23. September 2011. Rückseitig: Arbeiter. Tuschfeder, sowie zwei Blei-stiftskizzen. Das Werk steht in engem Zusammenhang mit der Zeichnung zu dem Kapitel „Baul Ball“ in Hans Reimanns Buch „Sächsische Miniatu-ren“, das im Verlag Der Drache in Leipzig 1921 erschienen ist (Abbildung S. 20).

Provenienz Privatsammlung, Berlin (bis 2011)

EUR 15.000–20.000 USD 17,000–22,700

Ausstellung George Grosz. Der große Zeitvertreib. Düsseldorf, Stiftung Museum Kunstpa-last, 2014, S. 180, zusätzliche Abbildung S. 45 (beidseitig)

Literatur und Abbildung Auktion 190: Villa Grisebach Auktionen, Berlin, 25. November 2011, Kat.-Nr. 298

„Baul Ball“ stammt aus dem Jahr 1920. Der Erste Weltkrieg ist vor-bei, die Schrecken des Krieges haben George Grosz zutiefst erschüt-tert, sein Werk massiv beeinflusst. Die Zeichnung ist nicht mehr leicht hingeworfen, nunmehr bestimmen wenige harte Linien das Bild. Ein einsamer Mensch geht langsamen Schrittes eine menschen-leere Straße entlang, ungepflegt, arm, scheinbar ziellos. Die Zeich-nung drückt Einsamkeit und Hoffnungslosigkeit in bedrückender Weise aus. Welch ein Gegensatz zwischen dieser Zeichnung und der von 1913 (Kat.-Nr. 192), zwischen denen nur sieben Jahre, aber die Erfahrungen eines grausamen Weltkriegs liegen.

Wie kaum ein anderer Künstler fing Grosz die jeweilige Zeit auch mit einem jeweils neuen Mal- und Zeichenstil ein, die Lebens-lust der Metropolen vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges, das Elend nach Ende des Krieges, dann den Wahnsinn und Militarismus, die ins Dritte Reich führten.

1959 kehrte George Grosz aus dem Exil nach Deutschland zurück, wenige Wochen später starb er am 6. Juli in seiner Geburts-stadt Berlin bei einem tragischen Unfall.

Jetzt, im Jahr 2018, tragen zwei seiner Zeichnungen dazu bei, an das Schicksal der Exilanten zu erinnern, an Schicksale wie das von George Grosz.

Robert Unger, Berlin

Das Elend nach Ende des Krieges, der Wahnsinn und Militarismus, die ins Dritte Reich führten.

Rückseite

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210 George Grosz1893 – Berlin – 1959

Portrait Max Herrmann-Neiße. 1925/26

Kreide auf Papier (aus einem Skizzen-block). 38,1 × 31 cm (15 × 12 ¼ in.).

Provenienz Nachlass des Künstlers / Privatsammlung, Berlin (bis 2010) Hinweis zur Provenienz: Die Zeichnung stammt aus einem Konvolut von Papierarbeiten von George Grosz, die in den 1980er-Jahren von der Groß-nichte des Künstlers in einer Kiste im Keller des ehemaligen Berliner Wohn-hauses von Grosz gefunden wurden. Zu diesem Konvolut gehörten auch 24 Portraitskizzen von Max Herrmann-Neiße, von denen sich heute 23 im Eigentum der Akademie der Künste, Berlin, befinden. Dieses Portrait, das die Finderin als Geschenk von Peter Grosz, dem Sohn des Künstlers, erhalten hat, ist das letzte aus dieser Gruppe, das in Privatbesitz geblieben ist.

EUR 20.000–30.000 USD 22,700–34,100

Ausstellung George Grosz – Gegen den Strich. Aquarelle, Zeichnungen, Grafiken. Heilbronn, Städtische Museen, 2008, Abbildung S. 93

Literatur und Abbildung Auktion 179: Villa Grisebach Auktionen, Berlin, 26. November 2010, Kat-Nr. 41

In unserer Arbeit offenbart Grosz seine große Zeichenkunst. Mit sicherem, festem Kreidestrich umreißt er sein Gegenüber. Das Revers eines Jacketts bleibt Andeutung, Grosz konzentriert sich auf den Kopf und die Physiognomie. Die Binnenstruktur ist von einem weicheren Strich gekennzeichnet. Grosz tastet unnachgiebig und doch mitfühlend die charakteristischen Züge des knapp vierzigjähri-gen Schriftstellers ab, der körperlich angegriffen war.

Mit dem Portrait von Herrmann-Neiße aus dem Jahr 1925 (Kunsthalle Mannheim) wandte sich Grosz wieder der Malerei zu, nachdem er in den Jahren zuvor fast ausschließlich gezeichnet hatte. Der Dichter wirkt hier wie gefangen in seinem Sessel und im kahlen Raum. Selbstkritisch bemerkte Grosz, das Bild sei ihm „zu trocken“ geraten. Im zweiten Portrait von 1927 (Museum of Modern Art, New York) löst er den Dargestellten aus der Isolation, indem er ihn im Ausschnitt ganz nah zeigt und das Umfeld mit Attributen des Bohe-miens belebt. Unsere Arbeit ist ein entscheidender Schritt in Vorbe-reitung dieses zweiten Gemäldes, da hier die Neigung des Kopfes festgelegt wird. Diese Kopfhaltung offenbart das Wesen des Schrift-stellers als eines konzentriert aufnehmenden und dabei skeptischen Menschen.

Oliver Hell, Berlin

Der aus der schlesischen Kleinstadt Neiße stammende frühexpressi-onistische Dichter, Schriftsteller und Theaterkritiker Max Herrmann (1886–1941) zog 1917 nach Berlin. Als Mitarbeiter von Franz Pfemferts Zeitschrift „Die Aktion“ hatte er schon seit 1911 Kontakte zur Avant-garde in der Reichshauptstadt. Grosz kannte er seit Herbst 1917. Die Duzfreunde waren leidenschaftliche Kneipengänger und beide Sammler erotischer Bildpostkarten. „Ganz zu Hause“, schrieb Herr-mann-Neiße 1929, „fühlte ich mich stets auch bei George Grosz. Wir hatten ungefähr dieselbe Gesinnung und Stimmung, dieselbe Samm-lerneigung. [..] Wir waren beide sowohl Lyriker als Zyniker, korrekt und anarchisch! Ich saß ihm unzählige Male herzlich gerne, war in seinem Atelier selig geborgen. [...] Er arbeitete an meinem Portrait mit einer Sorgfalt, die das Schaffen ganz ernst nahm.“ (Max Herr-mann-Neiße: Meine Erlebnisse mit der bildenden Kunst. In: Das Kunstblatt, 1929, S. 80, zitiert nach: George Grosz. Berlin – New York. Neue Nationalgalerie, Berlin, 1994, S. 65 und S. 339/340)

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211 Christian SchadMiesbach 1894 – 1982 Stuttgart

„Lesbisches“. 1930

Tuschfeder und -pinsel auf Japan. 21,7 × 16 cm (8 ½ × 6 ¼ in.). Unten rechts signiert: SCHAD. Die Zeichnung wird aufgenommen in das Werkver-zeichnis der Zeichnungen von Christian Schad von Alexandra von dem Knese-beck (in Vorbereitung als Band 4 des Gesamtwerks, hg. von der Christian-Schad-Stiftung, Aschaffenburg).

Provenienz Galerie Werner Kunze, Berlin (1971 direkt vom Künstler erworben) / Privatsammlung, Berlin (bis 1989) / Galerie Pels-Leusden, Berlin (1989 erworben)

EUR 6.000–8.000 USD 6,820–9,090

Ausstellung Christian Schad, 1894-1982. Zürich, Kunsthaus, München, Städtische Galerie im Lenbachhaus, und Emden, Kunsthalle, 1997/98, Kat.-Nr. 114, Abbildung S. 185 / Kunst - Handel - Leidenschaft. 50 Jahre Galerie Pels-Leusden. Berlin, Kampen, Zürich, Galerie Pels-Leusden, 2000, S. 165, mit Abbildung

Literatur und Abbildung Auktion 9: Kunst des 19. und 20. Jahr-hunderts. Villa Grisebach Auktionen, Berlin, 2. Juni 1989, Kat.-Nr. 168, mit Abbildung / Thomas Dietz: Freche, naive und drastische Momente. In: Die Welt, 10. Juli 1996 / Jill Lloyd u.a.: Christian Schad. Das Frühwerk 1915–1935. München, 2002 (zugleich Ausst.-Kat. Paris, Musée Maillol, und New York, Neue Galerie, 2002/03), Abbildung S. 174

Michel Würthle, Berlin

Originalgröße

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212 George Grosz1893 – Berlin – 1959

Stille Nacht, heilige Nacht. Um 1922

Tuschfeder auf chamoisfarbenem festem Velin. 58,6 × 40 cm (23 ⅛ × 15 ¾ in.). Rechts signiert: GROSZ. Rückseitig unten links mit dem Nachlassstempel und der mit Tusch-feder in Schwarz eingetragenen Nummer: 3-10-2. Mit Farbstift in Blau bezeichnet: Arbeitsskizze [durchgestri-chen]. Vorzeichnung zu der Lithografie „Gottes sichtbarer Segen ist bei mir“ von 1922 aus der Mappe: George Grosz. Die Räuber. Berlin, Malik Verlag, 1922/23 (Dückers M V 6).

Provenienz Nachlass des Künstlers

EUR 8.000–12.000 USD 9,090–13,600

Literatur und Abbildung Auktion: American & European paintings & prints. Skinner, Boston, 29. Januar 2010, Kat.-Nr. 572 / Auktion: American & European paintings & prints. Skinner, Boston, 21. Mai 2010, Kat.-Nr. 522 / Auktion: Swann Galle-ries, New York, 22. September 2011, Kat.-Nr. 474 / Auktion 100: Galerie Gerda Bassenge, Berlin, 1. Dezember 2012, Kat.-Nr. 8143

Es bedarf keines Tannenbaums auf dieser Zeichnung, um die Heilig-abend-Atmosphäre zu erfassen, die George Grosz in dieser Vorstudie zur Lithografie „Gottes sichtbarer Segen ist bei mir“ übermitteln will: Da sitzt die erwachsene Tochter, schon etwas altjüngferlich und noch immer bei den Eltern wohnend, am Klavier und klimpert mit-singend „Stille Nacht“. Die füllige Mutter, stehend, andächtig streng und etwas verbittert dreinblickend, mit über der Brust gefalteten Händen, als wolle sie sich selbst an Heiligabend nur um das Wohler-gehen der Familie sorgen. Der Gatte thront daneben, mit lustvoll gespitztem Mund eine dicke Zigarre schmauchend, die Beine unter dem Spitzbauch lässig übereinandergeschlagen, sichtbar seine Selbstzufriedenheit und seine Dominanz an der Seite „seiner“ Frauen genießend. Deutsche Weihnacht einer typischen Spießerfamilie, betrachtet mit den verachtenden Augen von George Grosz.

Die Tuschfederkarikatur entstand um Weihnachten 1922, in einer Zeit, in der der gerade dreißigjährige George Grosz vorüberge-hend die Ölmalerei aufgegeben hatte, während der vier folgenden Jahren fast nur Zeichner und Illustrator war und einen ersten Höhe-punkt seines jungen Schaffens erreicht hatte. Die bissigen Karikatu-ren jener Phase waren Ausdruck seiner Wut auf die Gesellschaft, in der er lebte, und die er verachtete. Seine Kunst war die Waffe für seine Kritik an der Hässlichkeit deutschen Spießertums. Er zeichne-te mit fanatischem Hass bösartige Karikaturen gegen Militarismus und das konservativ-reaktionäre Bürgertum mit seiner Kleinlichkeit und Doppelmoral. Es waren künstlerisch hochpolitische Jahre. Die Definition vom Kunstwerk als Angriffsmittel für gesellschaftskriti-sche Auseinandersetzungen war zu jener Zeit dem Dadaismus in Berlin entlehnt und prägte den Klassenkampf. George Grosz stand künstlerisch an vorderster Front.

Wehmut ist, weiß Gott, kein erkennbares Ausdruckselement von George Grosz. Betrachtet man aber die Zeichnungen des Künst-lers im vorliegenden Katalog, fühlt man dennoch einen Hauch von Wehmut, wenn man weiß, das Bernd Schultz, der sie in langen Jah-ren gesammelt hat, sich von ihnen trennt, um mit dem Erlös sein Herzensprojekt, das in Berlin am Anhalter Bahnhof geplante Exil-Museum, zu verwirklichen. Für Bernd Schultz zum Trost: Ich denke, der einstige Emigrant George Grosz wäre begeistert!

Axel Ganz, Paris

Die bissigen Karikaturen jener Phase waren Ausdruck seiner Wut auf die Gesellschaft.

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213 Karl Hubbuch1891 – Karlsruhe – 1979

„Lissy“. Um 1930/32

Tuschfeder auf Papier (aus einem Skizzenbuch). 31,7 × 22,3 cm (12 ½ × 8 ¾ in.). Unten rechts mit dem Signaturstempel in Schwarz. Rückseitig unten rechts mit schwarzer Kreide betitelt: Lissy.

Provenienz Privatsammlung, Nordrhein-Westfalen (bis 2001) / Privatsammlung, Berlin

EUR 4.000–6.000 USD 4,550–6,820

Ausstellung Karl Hubbuch. Zeichnungen und Skizzen. München, Galerie Michael Hasenclever, 1981, Kat.-Nr. 53, mit Abbildung (hier datiert 1928)

Literatur und Abbildung Karl Hubbuch 1891–1979. Badischer Kunstverein Karlsruhe, Neue Gesell-schaft für Bildende Kunst, Berlin, und Kunstverein in Hamburg, 1981, Kat.-Nr. 215, S. 316 und Kat.-Nr. 307, S. 319, Abbildung S. 231 / Auktion 90: Villa Grisebach Auktionen, Berlin, 30. Juni 2001, Kat.-Nr. 237

Diese Skizze ist eine Vorstudie zum Gemälde „Lissy im Café“, ent-standen in den Jahren 1930/32, heute im Besitz der Städtischen Galerie im Prinz-Max-Palais, Karlsruhe.

Etwa Mitte der 1960er-Jahre sah ich zum ersten Mal Arbeiten des Künstlers, die mich durch ihre suggestive Auffassung von „Reali-tät“ faszinierten. Im Jahr 1973, inzwischen mit einer eigenen Galerie selbständig geworden, bat ich in einem höflichen Brief den Künst-ler, ob ich ihn besuchen dürfe. So wurde ich eingeladen, und es entwickelte sich ein Gespräch über Kunst und Politik in der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland, in der Hubbuch seine Professur verlor und aus der Akademie ausgeschlossen wurde. Er meinte, ich sei jung und er setze Vertrauen in mich, seine realistische Kunst von der des Dritten Reiches zu unterscheiden.

Er zeigte mir einige faszinierende Zeichnungen und das unge-heuer eindrückliche Gemälde auf Leinwand „Lissy im Cafe“, mit der förmlich aus dem Bild heraus nach vorne gesetzten Figur einer Lebedame, mit breitem Lächeln und gewitztem Blick dem Betrachter zugewandt. Ob es verkäuflich sei, fragte ich. Er überlegte eine Weile und sagte im Akzent der Region: „8000.- Mark mindeschtens“. Michael Hasenclever, München

Er meinte, ich sei jung und setzte Vertrauen in mich.

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214 Otto DixGera-Untermhaus 1891 – 1969 Singen

„Frau Dix“ („Mutzli“) / Selbstbildnis. 1923

Aquarell, Deckweiß und Bleistift auf Papier. 58,3 × 48,3 cm (23 × 19 in.). Unten links signiert: DIX. Rückseitig bezeichnet: Mutzli. Oben rechts mit dem Stempel in Violett der Galerie Nierendorf, Köln. Werkverzeichnis: Pfäffle 1923/94. Rückseitig: Verworfe-nes Selbstbildnis des Künstlers in Ganzfigur. Bleistift.

Provenienz Privatsammlung, Süddeutschland (bis 2014)

EUR 30.000–40.000 USD 34,100–45,500

Ausstellung Otto Dix. Handzeichnungen. Stuttgart, Galerie Valentien, 1973, Kat.-Nr. 1, Abbildung auf dem Titel

Literatur und Abbildung Auktion 233: Villa Grisebach Auktionen, Berlin, 28. November 2014, Kat.-Nr. 485

Eine Sonderstellung im Dix-Werk nehmen die Portraits seiner Frau Martha, genannt Mutzli, ein. Sämtlich – ausgenommen eine ‚Nach-zügler-Zeichnung’ aus dem Jahre 1933 - zwischen 1921 und 1929 entstanden, sind sie bis auf wenige Ausnahmen eher spontane Augenblicksaufnahmen aus dem gemeinsamen Leben denn sorg-fältig geplante künstlerische Vorhaben. Insofern sind sie gleichsam Protokolle einer ein knappes Jahrzehnt dauernden Liebesbezie-hung, die nach und nach erkaltete. Unsere aquarellierte Zeichnung fällt insofern aus dem Rahmen, als Dix Gesicht und Körperpartie seiner Frau später nochmals überarbeitet, mithin veredelt hat und dieses nicht ohne ein gewisses Gaudium. Aus ihren Zügen spricht freche Unternehmungslust, die Dix noch unterstreicht, indem er ihr Auge ins Katzenhafte umformt. Die Zeichnung stammt aus dem Jahre 1923, fällt also in die wilde Düsseldorfer Zeit des „Jungen Rheinland“.

Wir erinnern uns: Bereits im Sommer 1920 hatte Dix eine erste Sendung mit Radierungen an die Galerie Ey in Düsseldorf geschickt. Während seines ersten dortigen Besuchs im Oktober 1921 festigt sich sein schon in Dresden geknüpfter Kontakt zu dem Sammler Dr. Hans Koch, bei dem er auch seine spätere Frau Martha Koch geb. Lindner kennenlernt, deren Ehe mit Hans Koch damals praktisch schon gescheitert war. Bereits mit ihr kehrt Dix nach Dresden zurück. Das folgende Jahr 1922 bedeutet für Dix einen großen Ein-schnitt: Über einen Alleinvertretungsvertrag mit der Berliner Galerie Karl Nierendorf vermag er sich endgültig am Kunstmarkt zu etablie-ren und im Oktober zieht er nach Düsseldorf um, um an der dortigen Akademie weiter zu studieren. Er wird Mitglied in der Künstlergruppe „Das Junge Rheinland“, deren hervorstechendste Künstlerpersön-lichkeit Gert Wollheim in der Akademie sein Ateliernachbar wird. Noch im selben Jahr tauchte Hans Koch dort auf, fragte nach Otto Dix und verschwand in dessen Atelier. Das daraufhin dort einsetzen-de laute Gebrüll war offenbar unüberhörbar, auch für Gert Wollheim. Nachdem Koch wieder gegangen war, schaute Dix bei Wollheim im Atelier vorbei. Auf dessen Frage, was denn um Gottes Willen gewe-sen sei, kam von Dix die kurze Antwort: „Heiraten muss ich se.“ Im Februar 1923 war es dann so weit. Dix und Martha waren jetzt nicht nur ein Paar, sondern ein Ehepaar. Kurz nach diesem Ereignis ent-stand unsere aquarellierte Zeichnung.

Der Mann ist für Dix der naturgegebene Gegenspieler zum Weibe. Als solchen generiert auch er sich im Selbstbildnis: Kinn und Unterlippe willensstark nach vorn geschoben, darüber der sezierende Blick aus zusammengekniffenen Augen. In Anlehnung an Nietzsches „Übermenschen“ inszeniert er sich als vom übrigen Geschehen abgehobener, analysierender, kritische Distanz wahrender Typus. Die uns vorliegende Selbstbildnis-Zeichnung von 1923 ist dazu der Prototyp und insofern bedeutsam.

Trotz ihrer offensichtlichen Gültigkeit in der Portrait-Auffas-sung hat Dix die Zeichnung verworfen. Warum? Zwei Gründe schei-nen hier ausschlaggebend: Zum Einen steht die Zeichnung proporti-onal falsch im Bild und lässt deshalb keine ausgewogene Komposition mehr zu, zum Andern wirkt der Kopf auf der Zeichnung etwas kantig und gedrungen, während er auf den Gemälden deutlich ovaler und schlanker, mithin eleganter daherkommt, was dem eitlen Otto Dix sicherlich mehr entsprach.

Reiner Beck, Coswig-Sörnewitz

Rückseite

Grisebach — Herbst 2018

Page 74: Moderne und Zeitgenössische Kunst 26. Oktober 2018

215 Otto DixGera-Untermhaus 1891 – 1969 Singen

Portrait I.B. Neumann. 1922

Bleistift auf Papier. 51 × 41,1 cm (20 ⅛ × 16 ⅛ in.). Unten rechts signiert und datiert: Dix 22. Werkverzeichnis: Nicht bei Lorenz. Die Zeichnung wird unter der Nummer EDV 9.1.30 aufge-nommen in das Werkverzeichnis der Zeichnungen und Pastelle von Otto Dix von der Otto Dix Stiftung, Vaduz (in Vorbereitung).

Provenienz Galerie Nierendorf, Neue Kunst, Köln / Nierendorf Gallery, New York / Privatsammlung, USA (bis 2013)

EUR 30.000–40.000 USD 34,100–45,500

Literatur und Abbildung Auktion 218: Villa Grisebach Auktionen, Berlin, 28. November 2013, Kat.-Nr. 31

Im Werkverzeichnis der Zeichnungen von Otto Dix sind zwei Portraits von I.B. Neumann aus demselben Jahr auf-geführt, von denen sich eins im Busch Reisinger Museum, Cambridge, Massa-chusetts, befindet (Lorenz EDV 9.1.4. u. EDV 9.1.5.).

Israel Ber Neumann war im Bereich der modernen Kunst einer der angesehensten Kunsthändler Deutschlands. Er betrieb Grafische Kabinette in Berlin, Bremen, Düsseldorf und München. Als er 1923 nach New York emigrierte, um dort mit seiner neuen Galerie zu einem der bedeutendsten Vermittler moderner deutscher Kunst zu werden, übernahmen mit Karl Nierendorf und Günther Franke zwei der später führenden deutschen Kunsthändler seine Filialen in Ber-lin und München. Nierendorf wurde der Impresario von Otto Dix, Günther Franke jener von Max Beckmann.

Die uns vorliegende Zeichnung ist die Endfassung einer Dreier-serie (vgl. Lorenz EDV 9.1.4. und 9.1.5). In deren Verlauf wird deut-lich, wie schwer es Dix fiel, sich angesichts dieser Portraitaufgabe zu bändigen und zurückzunehmen. Die erste Fassung zeigt I.B. Neu-mann mit einem Gesichtsausdruck zwischen unsicher und ver-schreckt, die Lippen leicht zusammengezogen, die Augen weit geöffnet mit intensivem Blick ins Leere. Seiner Gestalt eignet etwas Geisterhaftes, transparent und durchsichtig mit Auflösungstenden-zen in den Bildgrund. Die zweite Fassung hingegen zeigt I.B. Neu-mann in fast plastisch anmutender Vordergrundpräsenz, deutlich vom Bildgrund abgehoben. Dix führt uns jetzt einen Händler-Typus von unangenehmer Geschmeidigkeit vor: Professionell lauernder Small Talk, begleitet von einem jovialen Lächeln und einem treuher-zigen Blick voller Berechnung: Gezielte Herzlichkeit. Nichts von all dem in der Endfassung. Über einem in wenigen Strichen hingewor-fenen Oberkörper formt Dix in atemberaubend feiner Zeichentech-nik das Kopfportrait I.B. Neumanns in einer Einfühlsamkeit, die man dem „Übermenschen“ Dix auf Anhieb gar nicht zutrauen würde. In seiner Darstellung hat Dix den Focus auf die Augenpartie gelegt. Unter buschigen Brauen und leicht hängenden Lidern erleben wir ein Augenpaar von intensiv meditativer Ausstrahlung, dessen Blick man gleichzeitig als ins Weite und nach Innen gerichtet empfindet. Die übrigen Gesichtszüge, insbesondere die leicht gekrümmte, charakteristische Nase und der starklippige Mund, sind weich modelliert und vollenden eine Gesichtslandschaft, die gleicher-maßen Nachdenklichkeit und innere Sicherheit ausstrahlt. Das Por-trät I.B. Neumanns zählt zweifellos im Bereich der Zeichnungen zu den Meisterwerken der Dix’schen Portraitkunst.

Reiner Beck, Coswig-Sörnewitz

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Page 75: Moderne und Zeitgenössische Kunst 26. Oktober 2018

216 Otto DixGera-Untermhaus 1891 – 1969 Singen

„Akt auf Stuhl“. Um 1923

Bleistift auf Papier. 41,4 × 31 cm (16 ¼ × 12 ¼ in.). Unten rechts signiert: DIX. Werkverzeichnis: Lorenz EDV 9.3.32.

Provenienz Galerie Günther Franke, München / Sammlung Cortinovis, Bologna (bis 1995) / Privatsammlung, Hessen (bis 2010)

EUR 18.000–24.000 USD 20,500–27,300

Ausstellung Otto Dix. Zeichnungen der Zwanziger Jahre. München, Galerie Günther Franke, 1971, Nr. 16

Literatur und Abbildung Brigid S. Barton: Otto Dix and Die neue Sachlichkeit 1918-1925. Ann Arbor (Michigan), 1981, III. C. Drawings 4, S. 136 / Auktion 179: Villa Grisebach Auktionen, Berlin, 26. Novem-ber 2010, Kat.-Nr. 43

In „Akt auf Stuhl“ (um 1923) erblicken wir gigantische Brüste und eine schamverdeckende, zum Zupacken bereite, krallen-artige linke Hand, die ins Überwirkliche gesteigert werden: ein durch Erfahrung gezeichnetes, illusionslos selbstbe-wusstes Weib, um dessen Mundwinkel ein Anflug ironischen Lächelns spielt, das genau weiß, was es zu bieten hat und was es will.

Reiner Beck, Coswig-Sörnewitz

217 Georg Tappert1880 – Berlin – 1957

Frau im Unterkleid. Um 1925/33

Kohle auf braunem Papier (aus einem Zeichenblock). 44,3 × 35,5 cm (17 ½ × 14 in.). Unten links signiert: Tappert.

EUR 800–1.200 USD 909–1,360

Literatur und Abbildung Auktion 344: Ketterer Kunst, München, April 2009, Kat.-Nr. 597

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Page 76: Moderne und Zeitgenössische Kunst 26. Oktober 2018

218 Paul BuschBurschen 1889 – 1974 Cottbus

„Parade der Clowns“. 1920

6 Blatt: Jeweils Aquarell, Bleistift und Tuschfeder, jeweils auf bräunlichem Papier, jeweils vom Künstler aufgelegt. 31 × 41 cm (Blatt) / 35,8 × 46,6 cm (Bogen) (12 ¼ × 16 ⅛ in. / 14 ⅛ × 18 ⅜ in.) Jeweils signiert, teilweise datiert und betitelt: Paul Busch [Jan] 20, bzw.: Paul Busch Jan 20 Burschen.

Provenienz 1973 vom Künstler erworben

EUR 3.000–4.000 USD 3,410–4,550

Ausstellung Hamburg, Galerie Commeter, 1971 (Leihgabe des Künstlers) / Varieté, Zirkus und fahrende Leute. Berlin, Galerie Pels-Leusden, 1971, Kat.-Nr. 16, Abbildung S. 14

Literatur und Abbildung Galerie Pels-Leusden, Berlin, 1971, Kat.-Nr. 16, Abbildung S. 14

Paul Busch lernten meine damalige Frau Johanna und ich Anfang der 1960er-Jahre über Hans Pels-Leusden kennen. Paul war zu der Zeit Kunsterzieher im Rang eines Studienrats in Cottbus und kam einmal im Jahr für vier Wochen als Gast der Akademie der Künste nach Ber-lin, in den Westen. Seine Beziehung zur Stadt und zur Akademie ging

auf seine Zeit als freischaffender Künstler in den frühen 1920er-Jahren zurück. Damals stellte er in Herwarth Waldens Galerie „Der Sturm“ in der Potsdamer Straße aus – der Wiege des Expressionis-mus – und seine Werke erschienen in der gleichnamigen Zeitschrift. Für die „Sturm“–Bälle besorgte er die expressionistische Ausstat-tung der Säle und Kostüme. Auch in der Novembergruppe war Busch vertreten.

Schon um 1920 hatte sich Paul Busch für die Kunsterziehung als Brotberuf entschieden, um den Lebensunterhalt seiner Familie zu sichern. Diese Entscheidung sei wohl seine bitterste gewesen, sagte er rückblickend, und deswegen habe man ihn in Berlin vergessen.

Seine lebendige Art zu erzählen und seine Werke aus der Zeit der Weimarer Republik beeindruckten uns sehr. Seine Zeichnungen, Grafiken und Collagen waren so authentisch und strotzten derart vor Lebensfreude, dass wir, wie auch Bernd Schultz, seine Werke erwarben. Im Besonderen waren es die farbenfrohen Zirkusmotive wie Clowns und Marionetten, die uns faszinierten.

Und durch Paul Busch kam es, dass wir zu einem Fest der Aka-demie der Künste eingeladen waren. Paul hatte für Johannas Garde-robe eine feste Vorstellung. Nach den Entwürfen eines seiner Kostü-

me aus den 1920er-Jahren bemalte er kurzerhand ein schwarzes Chiffonkleid mit einer goldenen, kubistischen Stadtansicht (Abbildung links). Nach seiner Vorstellung sollte es Johanna so wie damals üblich – barbusig unter dem transparenten Chiffon – zum Tanz tragen. Wie das im Einzelnen nachher gewesen ist, weiß ich nicht mehr – aber das Kleid zieht meine Tochter heute noch hin und wieder einmal an.

Olaf Lemke, Berlin

Damals stellte er in Herwarth Waldens Galerie „Der Sturm“ aus.

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Page 77: Moderne und Zeitgenössische Kunst 26. Oktober 2018

219 William WauerOberwiesenthal 1866 – 1962 Berlin

„Zwei Körper“. Um 1918/1923

Tuschfeder auf leichtem Karton. 32,6 × 24,7 cm (12 ⅞ × 9 ¾ in.). Unten rechts monogrammiert: WW. Rücksei-tig mit Tuschfeder in Rosa betitelt: Zwei Körper. Rückseitig ein Etikett der Galerie Der Sturm, Berlin. Titelblatt-rückseite vom Textband der Mappe: Paul Schumann (Hg.): Das Königreich Sachsen in Farbenphotographie. Berlin, Verlagsanstalt für Farben- photographien Carl Weller, 1916.

EUR 1.000–1.500 USD 1,140–1,700

Literatur und Abbildung Auktion 167: Villa Grisebach Auktionen, Berlin, 6. Juni 2009, Kat.-Nr. 754

„Die Stichworte der Menschheitserneuerung heissen, wie ich glaube, Verinnerlichung, Vergeistigung und Verantwortung, also Tiefwerden, Echtwerden und Aktivwerden in Gesinnung und Verhalten. Der Expressionismus will diesen Vorgang auf dem Gebiet der bildenden Kunst aufzeigen. Er offenbart deshalb den geistigen Bau der Dinge durch ihre eigene Idee. Die er zu erfüllen sucht, indem er aus ihr formend schafft. Seine Werke machen sichtbar, wie Inhalte sich gestalten; wie in Inhalt, Form und wesenhaftes Wollen tatsächlich wird. Dieser organische Vorgang unterliegt Gesetzen, die aus sich selbst unaufhörlich neues Werden in neuen Formen entstehen las-sen. [...]

Meine Bilder und Gebilde sind Mitteilungen. Mitteilungen müs-sen verstanden werden. Menschen können sich durch Mitteilungen nur verständigen, wenn sie die gleiche Sprache sprechen. Wird die vom Mitteiler gesprochene Sprache nicht erkannt, kann auch die Mitteilung kein Verstehen finden. Die Sprache der Bildner, der Maler und Plastiker, wird nur von einer kleinen Schicht Menschen verstan-den. [...]

Durch die Anpassung unserer Überlegungen an die durch Betrachtung empfangenen Eindrücke können die Beschauer an den Erlebnissen der Künstler teilnehmen, die in ihrem Werk lebendig geworden sind durch die betätige Gestaltung. Zu ihr hat ja das schöp-ferische Künstlererlebnis geführt.“

William Wauer, zitiert nach: William Wauer. Skulpturen und Gemälde. Marl, Skulpturenmuseum Glaskasten, 1980, S. 18

Meine Bilder und Gebilde sind Mitteilungen. Mitteilungen müssen verstanden werden. William Wauer

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Page 78: Moderne und Zeitgenössische Kunst 26. Oktober 2018

220 Walter GramattéBerlin 1897 – 1929 Hamburg

Selbst in Barcelona. 1924

Aquarell über Bleistift auf gelblichem Papier (aus einem Zeichenblock). 47,9 × 37,3 cm (18 ⅞ × 14 ⅝ in.). Unten links mit Tuschfeder signiert, bezeich-net und datiert: Gramatté Barcelona 1924.

Provenienz Privatsammlung, Berlin (bis 1990)

EUR 10.000–15.000 USD 11,400–17,000

Ausstellung Walter Gramatté 1897-1929. 71 x selbst. Aquarelle, Zeichnungen, Druckgraphik. Berlin, Brücke-Museum, 1982, Kat.-Nr. 39, Tafel 26

Literatur und Abbildung Auktion 16: Villa Grisebach Auktionen, Berlin, 24. November 1990, Kat.-Nr, 159

1924, im Jahr der Entstehung des Aquarells „Selbst in Barcelona“, hat sich der junge Berliner Künstler Walter Gramatté in sein freiwilliges Exil nach Spanien begeben. Der gerade 27 Jahre alt gewordene Künstler verließ Berlin wegen seiner beengten Wohnsituation, der wirtschaftlichen Notlage und wegen seines schlechten Gesundheits-zustandes. Er versprach sich einen Neuanfang in der katalanischen Stadt. Am 8. Februar 1924 machte sich darum das Ehepaar Walter und Sonja Gramatté auf die Reise per Schiff von Hamburg aus in Richtung Süden. Auf der Überfahrt, an der Biskaya, erlebten sie einen Sturm, den Gramatté in einem Brief vom 8. April 1924 an Rosa Scha-pire eindrücklich beschreibt: „So stand ich, angeklammert an der Stahldrosse, sauste in den Himmel, stürzte herab, Welle über mich, ein Wind, der das Trommelfell zerdrücken wollte und mich kaum atmen ließ ... Ich mußte die Augen schließen und tief Luft holen und mir war, als müßte ich die Hände freilassen, mich nicht halten und müßte mich hinabziehen lassen.“ Glück und Todessehnsucht liegen da nah beieinander, wie so oft im Werk Walter Gramattés.

In Barcelona angekommen mieteten Walter und Sonja Gra-matté am Tibidabo die Villa Enriquetta mit Blick aufs Meer. Auf der dortigen Terrasse mag wohl das Aquarell „Selbst in Barcelona“ ent-standen sein, das nach überstandener Überfahrt den erwartungs-vollen Künstler zeigt. Zwischen mit Pinien bestandenen Hügeln hat Gramatté sich selbst dargestellt, frontal, hinter ihm das Mittelmeer und über ihm der große, freie, blaue südliche Himmel. Walter Gra-matté scheint am Ziel angekommen zu sein. Ganz wie er es sich gewünscht hat, glücklich und nahe dem Meer, beginnt seine Zeit in Spanien. Er blieb dort, mit einigen Unterbrechungen, bis zu seiner Rückkehr nach Berlin im Dezember 1926. In diesen zweieinhalb, sehr produktiven Jahren war er von der iberischen Halbinsel fasziniert. Er besuchte Madrid und Andalusien sowie Sóller auf Mallorca. An all diesen Orten zeichnete, aquarellierte und malte er südliche Land-schaften, Stadtansichten, portraitierte oft seine Sonja und immer wieder sich selbst.

Es spricht für die kenntnisreiche Sammelleidenschaft von Bernd Schultz, dass er gerade das Aquarell „Selbst in Barcelona“ für seine Sammlung erworben hat, spiegelt doch dieses Bildnis das Schicksal des jungen Walter Gramatté auf besonders eindrückliche und faszinierende Art und Weise wider.

Herbert Remmert, Düsseldorf

Glück und Todessehnsucht liegen da nah beieinander, wie so oft im Werk Walter Gramattés.

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221 Karl HoferKarlsruhe 1878 – 1955 Berlin

„Würfelspieler“. Um 1928/30

Kohle auf Velin. 36,5 × 28,7 cm (14 ⅜ × 11 ¼ in.). Unten links mit Bleistift monogrammiert: CH. Rückseitig: Verworfene Skizze eines würfelnden Mannes. Bleistift. Die Zeichnung wird unter der Nr. 2721 aufgenommen in den Nachtrag des Werkverzeichnisses der Zeichnungen und Aquarelle Karl Hofers von Karl Bernhard Wohlert, Dortmund (in Vorbereitung).

EUR 4.000–6.000 USD 4,550–6,820

Literatur und Abbildung Auktion 171: Villa Grisebach Auktionen, Berlin, 28. November 2009, Kat.-Nr. 664

Berlin, die Stadt, der Karl Hofer Zeit seines Lebens aufs engste ver-bunden war, hat auch ihre dunklen Seiten. Und Hofer, dem das Dunkle nicht fremd war, kannte offensichtlich auch die Orte, die man dafür aufsuchen musste. Es sind streng genommen nur wenige Striche und Linien, aus denen der Maler seine „Würfelspieler“ von 1928/30 geschaffen hat. Aber sie genügten ihm, um daraus ein Meis-terwerk von ambivalenter psychologischer Einfühlung zu machen. Betrachtet man die beiden Männer dabei, wie der eine dem anderen an die Schultern fasst und ihm seine falsche, von bösen Absichten vergiftete Zuwendung zuteil werden lässt, denkt man unwillkürlich an den bedauernswerten Franz Biberkopf aus Alfred Döblins Roman „Berlin Alexanderplatz“.

Auch Biberkopf scheiterte - an der eigenen Gutgläubigkeit, seinen Dummheiten und an der Niedertracht einiger Menschen in seiner nächsten Nähe. Dieselbe toxische Atmosphäre geht von die-ser grandiosen Zeichnung Karl Hofers aus. Und es ist sicher auch kein Zufall, dass sie auf das Jahr genau zur selben Zeit entstand wie Döblins Roman.

Dies waren die Szenen, die ein hellsichtiger Künstler wie Hofer und auch ein Autor wie Alfred Döblin im Berlin der Zwanzigerjahre erleben konnte: Situationen, bei denen sich auf Anhieb schwer sagen ließ, wo die Grenze zwischen Gut und Böse verlief. Und wo Gewinner im Handumdrehen zu Verlierern werden können - und Verlierer zu Gewinnern.

Und es ist auch gar nicht unwahrscheinlich, dass Döblin und Hofer damals dieselben versteckten Lokale und Hinterhofkneipen aufgesucht hatten: die Speakeasies und Spielhöllen in den Arbeiter-bezirken, im Wedding und den dunklen, engen Straßen rund um den Alexanderplatz und den Hackeschen Markt. Allerdings gibt es auch Unterschiede. Wofür Döblin hunderte von Seiten benötigte, genügte Hofer ein Blatt Papier und ein Stück Zeichenkohle.

Ulrich Clewing, Berlin

Eine toxische Atmosphäre geht von dieser grandiosen Zeichnung Karl Hofers aus.

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222 Max BurchartzElberfeld 1887 – 1961 Essen

Trinker mit Fischen. 1919

Aquarell auf Bütten. 29,5 × 22,3 cm (11 ⅝ × 8 ¾ in.). Auf dem Passepartout mit Bleistift signiert, datiert und bezeichnet: 1919 Nr. 68 Max Burchartz.

Provenienz Hans Koch, Düsseldorf und Randegg / Galerie Remmert und Barth, Düsseldorf (bis 2015)

EUR 4.000–6.000 USD 4,550–6,820

Ausstellung Max Burchartz. Bildwerke von Rudolf Belling. Düsseldorf, Galerie Alfred Flechtheim, 1920, Kat.-Nr. 18 (hier als Leihgabe von Dr. Koch bezeichnet) / Malen – Naß in naß. Aquarelle von Emil Nolde bis Otto Dix. Düsseldorf, Galerie Remmert und Barth, 2015, Kat.-Nr. 14, Abbildung S. 23

Drei Menschen befinden sich in einem Raum. Eine Frau und zwei Männer. Oder vielleicht zwei Frauen und ein Mann? Oder drei Männer!

Es spielt keine Rolle. Die drei Menschen sind einander nicht zugewandt. Einer von ihnen hat den Kopf in den Nacken gelegt und blickt in die Nacht zum leuchtenden Mond. Träumt er – denkt er vielleicht über das Leben nach? Der Mond gilt als Spiegel der Seele. Was fühlt dieser Mensch? Was empfindet er? Der Mond symbolisiert Wandel und Wechsel. Die Augen des Mondguckers blicken sehn-suchtsvoll. Er steht im Dialog mit dem kosmischen Nachbarn. Die halbleere Flasche hält er sicher in der Hand. Nichts bleibt wie es war. Jetzt ist immer anders.

Weniger assentiert scheinen die beiden anderen Menschen zu sein. Sie blicken nach vorn, gebannt – wenn nicht überrascht. Was sehen sie? Einer hat die Hand erhoben, zum Gruß oder zur Abwehr. Einer hält das Trinkglas vor seine rot angemalten Lippen. Sie sind sich nah. Ein Paar? Sie teilen sich die Flasche, die Gläser sind in Reichweite, sie schweigen. Ist das Gespräch gerade verstummt, gab es Streit? Sinnieren sie, sind sie traurig?

Dann sind da noch zwei Fische! Klein, zierlich und mager liegen sie direkt vor dem Paar. Sind die Sprotten zum späteren Verzehr als karge Speise gedacht, sind es Reste eines gemeinsamen Mahls? Sind sie ein Zeichen? Der Fisch ist das älteste christliche Symbol. Das Erkennungszeichne für Jesus, für die Zugehörigkeit zum Christentum. Ein Symbol des Lebens und der Hoffnung?

Leben ist Veränderung, nichts bleibt, wie es war. Raus aus der Routine, Sehnsüchte, Gefühle und Träume sind gestattet und brin-gen voran! Hoffentlich ist diese Interpretation nicht zu weit herge-holt. Wie auch immer – in jedem Fall erlaubt sie mir, Ihnen, lieber Bernd Schultz, viele schöne Träume bei einem guten Glas Wein zu wünschen. Vielleicht lehnen Sie dann auch mit dem Glas in der Hand am Fenster und blicken zum Mond, während in Ihrem Kopf gute Ideen für das neue ExilMuseum reifen. Ich wünsche Ihnen eine erfüllte Zeit und jeden Erfolg für den Neuanfang. Auf ein häufiges Wiedersehen in Berlin!

Eske Nannen, Emden

Leben ist Veränderung, nichts bleibt, wie es war. Raus aus der Routine, Sehnsüchte, Gefühle und Träume sind gestattet und bringen voran!

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223 Alexej von JawlenskyTorschok 1864 – 1941 Wiesbaden

„Geneigter Kopf“. 1930

Aquarell und Tuschpinsel in Braun auf bläulichem Papier. 11,8 × 13,5 cm (4 ⅝ × 5 ⅜ in.). Unten links mit Tusch-feder in Braun monogrammiert: A. J. Werkverzeichnis: Jawlensky, Band IV, Nr. 638.

Provenienz Mela Escherich, Wiesbaden / Lisa Kümmel, Wiesbaden / Privatsammlung, Hessen (bis 2011)

EUR 15.000–20.000 USD 17,000–22,700

Literatur und Abbildung Auktion 185: Villa Grisebach Auktionen, Berlin, 28. Mai 2011, Kat.-Nr. 415

Es gibt bekanntlich Menschen, die es sich nicht nehmen lassen, sich vor einem Werk der europäischen Moderne aufzubauen und laut auszurufen: „Also, das. Das kann ich doch auch malen!“ Welches andere Bild als dieses eignete sich besser, diesen Dilettantismus zu widerlegen? Wie viel kann auf einem Blatt Papier erzählt werden? Nun, Alexej von Jawlensky vermag es, trotz zunehmender Lähmungs-erscheinungen, mit nur wenigen Strichen ein ganzes Leben zu erzäh-len. Obwohl die Augen dieser Figur geschlossen sind, ist der Blick in ihr Inneres unverstellt. Jawlensky erschafft ein Meer aus Emotionen, Assoziationen und Launen, die sofort auf den Betrachter oder die Betrachterin überspringen.

Man kann sich in dieses stark vereinfacht gezeichnete Gesicht hineinträumen und verbleiben, denn es ist ein wunderschöner, her-ausfordernder Ort, um zu bleiben. Diese Zeichnung gleicht einem Romanzyklus, vielleicht „Min Kamp“ von Knausgård, vielleicht aber auch „Der Suche nach der verlorenen Zeit“ von Proust.

Zugleich ist das Aquarell verschlossen, melancholisch. So wie das Leben selbst und jede große Kunst. Eine Offenbarung, die nicht näher präzisiert wird. Womöglich erzählt Jawlensky hier von seinem Leben, seinen Lieben, seiner Krankheit, womöglich interpretieren wir unsere Probleme, Dispositionen und Erfahrungen hinein. Nicht umsonst war Jawlensky von der Darstellung unterschiedlichster Gesichter besessen. Man wird es auch, je länger man dieses klein-formatige Aquarell betrachtet.

Olga Grjasnowa, Berlin

Zugleich ist das Aquarell verschlossen, melancholisch. So wie das Leben selbst und jede große Kunst. Eine Offenbarung, die nicht näher präzisiert wird.

Originalgröße

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224 Willi Baumeister1889 – Stuttgart – 1955

„Maler und Modell“. 1913

Kohle auf Papier. 61,1 × 43 cm (24 × 16 ⅞ in.). Unten rechts mit Blei-stift nachträglich signiert: Baumeister.Werkverzeichnis: Ponert 37.

Provenienz Privatsammlung, Baden-Württemberg (bis 2013)

EUR 6.000–8.000 USD 6,820–9,090

Literatur und Abbildung Auktion 211: Villa Grisebach Auktionen, Berlin, 31. Mai 2013, Kat.-Nr. 350

Der junge Stuttgarter Kunststudent Willi Baumeister – seinerzeit in der Meisterklasse von Adolf Hölzel an der Stuttgarter Akademie – entwarf 1913 die recht großformatige Kohlezeichnung mit dem Titel „Maler und Modell“. Damals hielt er sich für ein Jahr in Amden am Walensee im Kanton St. Gallen in der Nachbarschaft seines Studien-freundes Otto Meyer auf, der sich dort in einem Bauernhaus nieder-gelassen hatte.

Das Aktzeichnen gehörte zu den wichtigsten Fertigkeiten, die man am Ende des Studiums beherrschen sollte. Für Baumeister war die vorliegende Zeichnung eine Initialübung für eine Reihe von rund dreißig Variationen zum Thema „Badende“ sowie „Maler und Modell“. Da ergaben sich viele Szenarien: „Badende am Wasserfall“ oder im Innenraum – sitzend, stehend oder größere Gruppen bildend. Das Motiv „Badende“ verdankte Baumeister dem Einfluss von Cézanne

und den Kubisten, deren Bilder er schon 1912 in Paris gesehen hatte. Aufgegrif-fen worden war Cézanne auch von Otto Meyer, der seine Freunde aus der Höl-zel-Klasse wie Johannes Itten, Oskar Schlemmer und Hermann Stenner dar-an teilhaben ließ.

Dass sich gerade bei dieser Zeichnung von Bau-meister ein kubistischer Ansatz erkennen lässt, zei-gen die begradigten Umris-se wie auch die rechtwink-lige Armgeste, mit der die Zentralfigur ihre rechte Brust mit einem Handtuch kaschiert, während die lin-ke Brust durch eine kleine Rundung angedeutet ist. Auffallend ist zudem, dass alle drei Gestalten trotz ihrer räumlichen Nähe jeg-lichen Blickkontakt vermei-

den. Eine Erklärung dafür wäre, dass es zu jener Zeit noch nicht ohne Weiteres üblich war, sich entblößt voreinander zu zeigen. So wahren alle drei Akteure unwillkürlich eine Schamdistanz. Insgesamt ergibt sich eine nahezu klassische Dreierkonfiguration, bei der die größere Mittelfigur, die alle Blicke auf sich zieht, zu beiden Seiten von etwa gleichwertigen Randmotiven begleitet wird – auf der (aus Sicht der Frontalgestalt) rechten Seite vom nur teilweise hereinbli-ckenden Maler, auf der linken Seite von der zierlichen Rückenfigur einer jungen Frau, die bereits auf den Heimweg zu entschwinden scheint.

Das Besondere an der Mittelfigur ist die überkreuzte Stellung der Unterbeine, die von den Knien abwärts in die aufgerichteten Fußspitzen mündet. Erotische Motive sind, wenn überhaupt sicht-bar, unterkühlt behandelt. Insofern ist etwa die Scham der großen Schönen lediglich durch eine simple V-Form gekennzeichnet. Zehn Jahre später wird sich die legere Überkreuzstellung von Stand- und Spielbein bei einigen betont neusachlich gehaltenen Bildern wie-derfinden. Im Gegensatz zu den Expressionisten der „Brücke“ wie

Willi Baumeister: Maler und Modell, 1913, ehem. Dr. Helmut Beck, Stuttgart

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225 Richard Ziegler1891 – Pforzheim – 1992

Frau hinter dem Vorhang. 1920er-JahrePastell über Opaldruck auf Japanbüt-ten. 32,5 × 21 cm (44,5 × 30,5 cm) (12 ¾ × 8 ¼ in. (17 ½ × 12 in.)). Unten rechts mit Bleistift signiert: RZiegler. Einer von 5 Abzügen.

EUR 800–1.200 USD 909–1,360

Literatur und Abbildung Auktion 96: Galerie Gerda Bassenge, Berlin, 27. November 2010, Kat.-Nr. 7509

Heckel oder Kirchner, die ja ihrerseits an den Moritzburger Seen und am Ostseestrand vielfach Szenen mit Badenden gestalteten, führte die von Cézanne hergeleitete Richtung zu einer eher beruhigten und stärker strukturierten Mal- und Ausdrucksweise.

Letztlich entschied sich Baumeister dann jedoch für eine Auf-lösung der klassischen Symmetrie, als er die mädchenhafte Rücken-figur gehen ließ und sich der Raum dadurch erweiterte. Durch die-sen radikalen Verzicht klärte sich die Szene im gleichzeitigen Gemälde „Maler und Modell“ (WV 67), wo der Maler nun wesentlich prägnanter mit seiner Leinwand ins Bild gesetzt wurde und sich nur auf ein Modell konzentrieren konnte.

Noch ein persönliches Wort, da der Sammler und ich uns so lange kennen: Ich bin voller Bewunderung für seinen kühnen Unter-nehmergeist, ein so anspruchsvolles Projekt wie das geplante Exil-Museum zu schultern und auf den Weg zu bringen – wohlan denn und viel Erfolg! Das Exil war ja nicht für alle Betroffenen nur ein Abstieg oder Unglück, denn so mancher hat auch erst in der Fremde sein Glück und seine Fähigkeiten ganz ausschöpfen können.

Karin von Maur, Stuttgart

Erotische Motive sind, wenn überhaupt sichtbar, unterkühlt behandelt. Insofern ist etwa die Scham der großen Schönen lediglich durch eine simple V-Form gekennzeichnet.

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226 Otto FreundlichStolp/Pommern 1878 – 1943 Sobibor/Polen

Petite Composition. Um 1937

Tempera auf Holz. 14,5 × 9,5 cm (5 ¾ × 3 ¾ in.). Unten links monogram-miert: O.F. Rückseitig eine Bleistift-skizze auf Papier mit Notizen zur Farbgebung. Werkverzeichnis: Nicht bei Heusinger von Waldegg. Mit einem Zertifikat von Edda Maillet, Paris, vom 20. Mai 2006.

Provenienz Galerie Antoine Laurentin, Paris (bis 2006)

EUR 20.000–30.000 USD 22,700–34,100

Otto Freundlich, dieser noble deutsche Abstrakte der ersten Gene-ration, war Teil all der großen modernen Strömungen der Kunst der ersten Jahrhunderthälfte und doch immer ganz bei sich, wie diese zauberhafte „Kleine Komposition“ zeigt. Die Farbfelder fügen sich wie von einer unsichtbaren Hand geführt zusammen, wie Felder, wenn man vom Himmel blickt, oder wie die Glasfenster einer Kirche. Es leuchtet, es dunkelt sich ab, es fließt, alles ist in Bewegung und doch in gelassener Ruhe. Wenn man dieses kleine Blatt wendet, kann man eintreten in eins der größten Geheimnisse der Kunst: Auf der Rückseite nämlich sieht man die Vorzeichnung von Freundlich, alle Felder sind genau markiert, mit Farbangaben minutiös geplant. Das Bild ist also wie auf dem Reißbrett entworfen – und wirkt doch,

und das ist das Wunder, auf der Vorderseite von größter Lebendig-keit und Spontaneität. Ja, uns Heutigen mit unseren geschulten Augen erscheinen die Vorder- und die Rückseite fast wie zwei Kunst-werke, wie ein Positiv und ein Negativ bei einer Fotografie, das eine unabdingbar notwendig für das andere, kalt und warm, linke und rechte Gehirnhälfte, Yin und Yang.

Es ist von großer Konsequenz, dass diese doppelseitige Ab-straktion von Otto Freundlich nun für das ExilMuseum versteigert wird – denn auf tragische Weise misslang es dem jüdischen Künstler, in den frühen 1940er-Jahren aus Frankreich ins Exil zu gehen und er wurde, welch Ironie des Schicksals, viele tausend Kilometer zurück-geschickt nach Polen, wo er nahe seines Geburtsortes Stolp 1943 im Vernichtungslager Sobibor ermordet wurde.

Florian Illies, Berlin

Wie die Glasfenster einer Kirche: Es leuchtet, es dunkelt sich ab, es fließt, alles ist in Bewegung und doch in gelassener Ruhe.

Rückseite

Originalgröße

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227 Lyonel Feininger1871 – New York – 1956

„Lüneburg“. 1925

Tuschfeder, laviert, auf chamoisfarbe-nem Bütten. 34 × 27 cm (41,1 × 31,7 cm) (13 ⅜ × 10 ⅝ in. (16 ⅛ × 12 ½ in.)). Unter der Darstellung signiert, betitelt und datiert: Feininger Lüneburg 12 7 25. Unten links mit der Widmung des Künstlers an seine Frau: Julia Dear 24

Provenienz Julia Feininger / Privatsammlung, Nordrhein-Westfalen

EUR 30.000–40.000 USD 34,100–45,500

Ausstellung Lyonel Feininger. Lübeck – Lüneburg. Lübeck, Museum Behnhaus Dräger-haus, 2013/14, Kat.-Nr. 36, S. 86, mit Abbildung

Literatur und Abbildung Auktion 36: Stuttgarter Kunstkabinett R.N. Ketterer, Stuttgart, 3. Mai 1961, Kat.-Nr. 81 / Auktion 150: Villa Grise-bach Auktionen, Berlin, 30. November 2007, Kat.-Nr. 72

Die Betrachtung dieses Blattes erinnert mich an Stefan Zweigs Novelle „Die unsichtbare Sammlung“. An ihrem Schluss wird das Goethe-Wort „Sammler sind glückliche Menschen“ zitiert. Erst kam mir das Zitat in den Sinn, dann wurde die ganze Geschichte eines Feininger-Erwerbs um 1980 herum wieder lebendig.

Es begann damit, dass bei mir eines Tages der von mir hoch geschätzte Bürgermeister Lübecks, Dr. Robert Knüppel, erschien und sagte, er habe vor einigen Tagen einen Anruf bekommen von Herrn Lux Feininger. Seine Familie habe endlich ihr Eigentum an einer kleinen Feininger-Sammlung wiedererlangt, die sein Vater seiner-zeit, als er Deutschland verließ, bei einem Freund in Quedlinburg im Harz deponiert hatte. Eines der Hauptstücke dieser Sammlung sei ein Gemälde, das Feininger selbst immer als „Lübeck“ bezeichnet habe. Er als Bürgermeister finde, dass dieses Bild nach Lübeck gehöre. Deshalb suchte er mich auf, um zu fragen, ob ich einen Rat wisse, denn der Stadt fehlten die nötigen Mittel, um es ankaufen zu können. Daraufhin machte ich Herrn Knüppel den Vorschlag, mir bei Gelegenheit das Bild in New York anzusehen und es bei Gefallen selbst zu erwerben.

Die Sache war mir wichtig genug, nach New York zu reisen, denn der sogenannte „Quedlinburger Bestand“ kam jetzt bei Aqua-vella Galleries in eine große Ausstellung. Es bestand die Gefahr, dass mir jemand zuvorkam. Also bin ich hingefahren, habe es ange-guckt, fand es schön und habe es gekauft. Es hing dann eine Zeit-lang bei uns zu Hause, ein viel besserer Platz war dann aber doch im Lübecker Museum Behnhaus Drägerhaus als Leihgabe.

Ein Glücksfall war, dass sich hier in Lübeck eine Kunsthistori-kerin der Problematik des Namens „Lübeck“ oder „Lüneburg“ bei Feininger angenommen hatte und nachweisen konnte, dass es sich in der Tat um eine Ansicht von Lübeck handelte. Heute gibt es keinen Zweifel mehr: Das Gemälde wurde vom Künstler selbst „Alte Häuser Lübeck – Lüneburg“ genannt. Unter diesem Namen hängt es seitdem im Behnhaus Drägerhaus und ist eine Zierde der dortigen Sammlung.

Es ging mir dabei wie meinem Großvater, der ein großer Jäger war. Unter einigen seiner Prachtstücke sind wir als Kinder aufgewachsen. Wir wussten, für ihn waren die Geschichten, wie er diese Stücke erlegen konnte, am wichtigsten! So ähnlich ist es mit meinen Bildern. Es ist schön, wenn sie an der Wand hängen, aber das Wesentliche bei allen Werken ist – jedes hat seine Geschichte.

Genau so geht es mir beim Ansehen des schönen Blattes, das mir jetzt aus der Sammlung von Bernd Schultz zur Betrachtung übergeben wurde. Es erinnert mich an die vielen Begegnungen, die ich mit Bernd Schultz in der Vergangenheit hatte.

Christian Dräger, Lübeck

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228 Hermann GlöcknerCotta bei Dresden 1889 – 1987 Berlin

„Schwarzer Keil über weißem vor dunklem Graublau mit Konstruktionslinien“. Um 1936

Tempera und Kohle auf Karton. 49,6 × 35,1 cm (19 ½ × 13 ⅞ in.). Rückseitig mit Bleistift bezeichnet: schwarzer Keil ü. weiß Keil er T.V.# 18. Werkverzeichnis: Dittrich (Tafeln) 129.

Provenienz Privatsammlung, Sachsen (bis 2010)

EUR 30.000–40.000 USD 34,100–45,500

Ausstellung Hermann Glöckner. Dächer – Giebel – Dreiecke. Formwandlungen von 1927 bis 1977. Berlin (Ost), Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin, 1977, Kat.-Nr. 24

Literatur und Abbildung Auktion 175: Villa Grisebach Auktionen, Berlin, 4. Juni 2010, Kat.-Nr. 55

Hermann Glöckner berichtet in seinen Lebenserinnerungen, dass er sich um 1930 entschloss, die konstruktiven Grundlagen seiner Malerei zu untersuchen, um elementare Zusammenhänge zu erkennen. Folge dieses Forschens und Suchens war das „Tafelwerk“, eine konstruktiv-abstrakte Gruppe von Objekten, mit denen er den mathematischen und geometrischen Ursprüngen seiner Arbeiten nachging.

Die Bezeichnung „Tafel“ weist auf die tiefe Bedeutung der Werke für den Künstler hin. Auf Tafeln werden Gebote und Ordnungen fixiert, sie verweisen auf Gesetze und Bleibendes. Finden sich in sei-nem gegenständlichen Schaffen oft Wegweiser oder Schilder, faszi-nierte Glöckner dabei der Gegensatz zwischen der fließenden Natur

und der geometrischen Form des Schildermotivs. In einem nächsten Schritt wurde diese Form nicht mehr abgebildet, sondern war selbst Objekt. Den Auftakt des Tafelwerks bilden zwei monochrome Objekte, eins schwarz, das andere weiß. Hier schon wird ein elementarer Ansatz sichtbar, die Einfachheit, mit der Glöckner versuchte, über universale Dinge und Ordnungsprinzipien nachzudenken.

Ausgangspunkt des Künstlers ist die Flächenteilung. Bei unse-rem Werk bleibt sie sichtbar – man erkennt die mit Kohle gezogenen Teilungen der beiden Bildachsen und die Diagonale. In ihrer mathe-matischen Orientierung vermittelt sie Gesetzmäßigkeit. Die beiden ineinander verschränkten Keile gehören ebenfalls zu den Grundele-menten von Glöckners Kompositionen. In ihrer Dreiecksform und der kontrastierenden Farbigkeit verweisen auch sie auf allgemein-gültige Gesetze, denen alles andere untergeordnet ist.

Uwe Tellkamp, Dresden

In ihrer mathematischen Orientierung vermittelt sie Gesetzmäßigkeit.

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Page 87: Moderne und Zeitgenössische Kunst 26. Oktober 2018

229 Hermann GlöcknerCotta bei Dresden 1889 – 1987 Berlin

„Konstruktion mit Überlagerungen von Keil und Sternformen in Rot und Grün über Ocker“. Um 1933/35

Tempera auf Papier, geritzt, darüber Relief von Spachtelzügen, deren Höhen abgeschliffen; aufgezogen auf beidseitig mit braunem Papier beschichteter Sperrholzplatte. 38,5 × 57,5 cm (15 ⅛ × 22 ⅝ in.). Rückseitig Mono-gramm mit Collage in Weiß: G. Werkverzeichnis: Dittrich G 114.

Provenienz Privatsammlung, Sachsen (bis 2012) / Galerie Döbele, Dresden (2012)

EUR 30.000–40.000 USD 34,100–45,500

Ausstellung Hermann Glöckner zum 100. Geburts-tag. Gemälde, Zeichnungen, Tafeln, Collagen [...]. Dresden, Kupferstich-Kabinett und Albertinum, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, und Halle, Staatliche Galerie Moritzburg, 1989, S. 35 / Hermann Glöckner. Werke aus acht Jahrzehnten. Dessau, Stadt Dessau und Anhaltischer Kunstverein, 2004, Kat.-Nr. 9, S. 32, mit Abbildung

Hermann Glöckner war „der große alte Mann“ des Dresdner Elbhangs. Es leben noch Zeitzeugen, die ihn gekannt haben. Der Dresdner Fotograf Werner Lieberknecht hat kurz nach Glöckners Tod dessen Atelier im sogenannten Künstlerhaus an der Pillnitzer Landstraße fotografiert, ein Album der Stille, der Konzentration, der Klarheit wie Glöckners Arbeiten selbst. Glöckner war ein Außenseiter in der Dresdner Kunst seiner Zeit, die vom Ton-in-Ton der Akademie, der Landschaft allgemein und von einem mehr oder weniger noblen Realismus lebte. Zwar kann man Glöckner ungefähr einordnen: Informel und Kubismus sind verwandt, die Abstrakten Expressionis-ten, von den Deutschen etwa Baumeister, Nay, Winter, Götz. Doch wie immer bei bedeutenden künstlerischen Aussagen sind sie durch Vergleiche und Ahnentafeln nicht restlos erklär- und auflösbar.

Vielleicht kommt man Glöckners Eigenart näher, wenn man ihn mit einem Antipoden ver-gleicht: Otto Dix, von dem das Chemnitzer Muse-um Gunzenhauser jetzt eine reichhaltige Ausstel-lung bietet. Dix ist rabiat, er scheint auf Wahrheit aus zu sein, auf Erkenntnis jedenfalls – ohne Rücksicht auf Verluste, und ohne jede Pietät. Man könnte nun sagen: Das Leben war damals so. Nur: Auch Glöckner, Zeitgenosse von Dix, hat es gelebt. Es ist ein alter Konflikt in der Kunstgeschichte, der sich zwischen den Auffassungen der beiden auftut: Verismus gegen eine Kunst, die ihre Bedeutung nicht aus dem von Sozialwelt, Zeitung und Politik zum Bedeutsamen erklärten Gegen-stand zieht, sondern auf ihrer Eigenständigkeit besteht – und das bedeutet eben Eigenständigkeit auch gegenüber dem sogenannten Bedeutenden.

Dix stellt das Krasse dar, Gewalt, Geschlecht, Säufer, Krieg, das sogenannte ehrliche, rohe Leben. Stimmt das? Und wenn ja, stimmt es so und insgesamt? Dix hängt in gewissem Sinne vom Aktuellen ab, seine Kunst folgt dem, was Politik und Alltagsleben vorher miteinander besprachen und in der Folge dieser Besprechung tatsächlich inszenierten. Dix’ Kunst folgt also (nicht immer, aber in dem, was heute meist unter dem Label „Dix“ zusammengefasst wird) dem Tatsächlichen. Anders scheint es mir bei Glöckner zu sein: Wel-cher Tatsächlichkeit folgen Kreise, die ineinander wandern, „Schwünge“, die Skalen seiner Farbta-feln? Auch sie stellen dar, abseits der rein geome-trischen Abbildung Strukturen, Harmonien, Ver-läufe, man kann sagen: kein Ab-, sondern ein Zu-Bild des Lebens.

Uwe Tellkamp, Dresden

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230 Fritz WinterAltenbögge 1905 – 1976 Herrsching/Ammersee

Ohne Titel. 1935

Öl und Collage auf Papier. 16,1 × 22,4 cm (6 ⅜ × 8 ⅞ in.). Unten rechts mit Bleistift monogrammiert und datiert: FW 35. Werkverzeichnis: Nicht bei Lohberg.

Provenienz Fritz-Winter-Haus, Ahlen (bis 2012)

EUR 10.000–15.000 USD 11,400–17,000

Ausstellung Fritz Winter. Formwerdend. Malerei und Zeichnung. Niebüll, Richard- Haizmann-Museum, Sønderborg, Sønderjyllands Kunstmuseum, Lands-hut, Rathauskeller, Ahlen, Fritz-Winter-Haus, und Diessen/Ammersee, Fritz-Winter-Atelier, 2001/02, Kat.-Nr. 15, S. 52, Abbildung S. 53

Fritz Winter war Bergmann, und das Erleben von Dunkelheit und Licht prägte sein frühes künstlerisches Werk. Lichtreflexe in dunklen kosmischen Räumen, Lichtsäulen, kristalline, Licht reflektierende Formen sind seine Themen. Die elementaren Kräfte in der Natur beschäftigten ihn. Seine wichtigste Werkgruppe, die „Triebkräfte der Erde“, stammt von 1944.

Noch am Beginn der Jahre leidvoller Prüfungen unter den Nationalsozialisten und vor den Schrecknissen des Zweiten Welt-krieges, im Jahr 1935, ist vorliegendes Bild entstanden. In ihm ist schon so viel von dem angelegt, was sich später weiter ausformen sollte. Hier sind es kubistische, kristalline, dicht zu einem Ganzen zusammengewachsene Formen. Von irgendwoher fällt auf sie ein geheimnisvolles Leuchten. Es ist eine in sich stimmige Komposition, die nichts formal Erkennbares zeigt und dennoch, wie Kandinsky schreibt, die kompositorische Gestaltung eines Bildwerkes ist, erwachsen aus dem Künstler selbst, so wie es bei Kompositionen in der Musik seit jeher war.

Christian Ratjen, Königstein

1935 hatte Fritz Winter in diesem Bild schon so viel von dem angelegt, was sich später weiter ausformen sollte.

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Page 89: Moderne und Zeitgenössische Kunst 26. Oktober 2018

231N Paul KleeMünchenbuchsee 1879 – 1940 Muralto/Locarno

„Dein Ahn?“. 1933

Kleisterfarbe auf Papier, vom Künstler auf Karton aufgelegt. 48,4 × 35,3 cm (58,8 × 42,6 cm) (19 × 13 ⅞ in. (23 ⅛ × 16 ¾ in.)). Unten links signiert: Klee. Unterhalb der Darstellung auf dem Unterlagekarton mit Tuschfeder in Braun datiert, bezeichnet und betitelt: 1933 Y 16 dein ahn?. Werkverzeichnis: Paul-Klee-Stiftung 6322. Provenienz Hans und Erika Meyer-Benteli, Bern (bis 1956) / Berggruen & Cie, Paris (1956-1959) / James Wise, Genf, New York und Nizza (1959-1970) / Galerie Nierendorf, Berlin (1970) / Sammlung Hermann, La Paz / Privatsammlung, Zürich

EUR 150.000–200.000 USD 170,000–227,000

Ausstellung 1920 – 1970, Fünfzig Jahre Galerie Nierendorf. Rückblick, Dokumentation, Jubiläumsausstellung. Berlin, Galerie Nierendorf, 1970, Kat.-Nr. 17, Abbildung S. 42 / Paul Klee 1933. München, Städ-tische Galerie im Lenbachhaus, Bern, Kunstmuseum, Frankfurt a.M., Schirn, und Hamburger Kunsthalle, 2003/04, S. 320, Abbildung S. 250

Literatur und Abbildung Auktion: Galerie Motte, Genf, 28. Juni 1969, Kat.-Nr. 354, mit Abbildung / Auktion 137: Kornfeld und Klipstein, Bern, Auktion 137, 18. Juni 1970, Kat.-Nr. 678, Abb. Tafel 60 / Auktion 117: Villa Grisebach Auktionen, Berlin, 11. Juni 2004, Kat.-Nr. 51 / Daniel Kehl-mann: Der Affe der Geschichte. In: Grisebach – Das Journal, Ausgabe 8/2018, S. 36-38, Abbildung S. 37 und 39

Wer ist er? Aus welcher zeitlichen Tiefe stammt er, und was mag er sehen, wenn er mich ansieht? Ich frage mich, wer er ist, aber je länger ich ihn betrachte, desto fraglicher wird mir, wer denn eigentlich ich bin, der ich doch von ihm abstamme und so frech die Gegenwart in Anspruch nehme, die einst seine war.

Er ist wahrscheinlich ein Affe, noch, oder schon ein Früh-mensch. Der Gedanke drängt sich allein schon deshalb auf, weil er haarig ist. Ein Affe müsste aber auch am Baum hängen oder auf dem Boden hocken, und schon das trifft auf ihn nicht mehr zu, denn er sitzt durchaus gesittet da, und er blickt wach, spöttisch und auf-merksam, durchaus modern. Zwar hat er seine Zähne gebleckt, aber keineswegs zum Angriff. Sein Lachen ist das eines wachen Geistes. Er verkörpert beide Stufen: Haarig ist er wie ein Affe, aber er scheint zu denken wie einer von uns.

Wir blicken ihn also an, den Ahnen, und in ihm sehen wir, was einst war, und zugleich auch, was jetzt ist, wir sehen Anfangs- und Endpunkt einer Entwicklung, die sich über Jahrmillionen erstreckt hat. Und vielleicht dachte Klee ja auch an Nietzsches Zarathustra: „Was ist der Affe für den Menschen? Ein Gelächter oder eine schmerzliche Scham. Und ebendas soll der Mensch für den Über-menschen sein: ein Gelächter oder eine schmerzliche Scham.“ Klees Bild dreht diese Zeilen auf hinterlistige Weise um. Hier lacht nicht der Mensch beschämt über den Affen (oder der Übermensch über den Menschen), sondern hier lacht der Affe den Menschen aus, und ein Übermensch ist nirgendwo in Sicht. Und es ist wahrscheinlich kein Zufall, dass dieser lachende Kerl so schwarz-rot-golden schim-mert. Das Bild entstand 1933, und sein Spott ist wohl auch einer über jene, die sich gern auf die deutschen Ahnen beriefen. Aller-dings ist unser wahrer Ahnherr eben nicht irgendein blonder Krieger alten und reinen Blutes, sondern ein haariger Geselle in einer Höhle. Wer aber dieser Ahn ist, vermag man nicht recht zu beantworten. Man begreift auch kaum, was Klee mit dem Fragezeichen hinter dem Titel ausdrücken wollte – das Bild heißt ja nicht „Dein Ahn“, sondern „Dein Ahn?“, als wollte es fragen: Stimmt das wirklich, ist er das ohne Zweifel? Wer möchte, könnte in ihm ja auch das Gegenstück zu einer anderen eschatologischen Figur Klees sehen, nämlich jenem Engel, über den Walter Benjamin seine schönste Prosaminiatur schrieb. Den Angelus Novus weht es laut Benjamin vom Garten Eden her in die Zukunft – mit ausgebreiteten Flügeln starrt er voll machtlosem Entsetzen auf die Leichenhaufen der Menschheitsgeschichte. Auch der Ahn blickt aus ferner Vergangenheit herüber. Aber er tut es mit weitem, zahngelbem Grinsen. Ihn entsetzt nichts. Er sieht uns klar, und er ist nicht beeindruckt – denn wir sind noch er. Im Laufe eines langen, unendlich mühevollen Zivilisationsprozesses sind wir nur geworden, was er doch immer schon gewesen ist. Keinen Schritt haben wir uns von ihm entfernt. Der Engel der Geschichte wäre fas-sungslos. Der Affe der Geschichte aber kann darüber lachen.

Daniel Kehlmann, New York und Berlin

Wer ist er? Aus welcher zeitlichen Tiefe stammt er?

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232 Georges Rouault1871 – Paris – 1958

„La mort l'a pris comme il sortait du lit d'orties“. 1922

Aquatinta, Roulette und Kaltnadel auf Arches-Bütten (Wasserzeichen: Ambroise Vollard). 53,7 × 33,2 cm (65,5 × 50,5 cm) (21 ⅛ × 13 ⅛ in. (25 ¾ × 19 ⅞ in.)). Werkverzeichnis: Rouault 98 f (von f). Einer von 425 Abzügen aus einer Gesamtauflage von 450 Exemplaren. Blatt 45 (von 58) der Folge: Miserere. Paris, Sociéte d’Édition L’Étoile Filante, 1948.

EUR 400–600 USD 455–682

Vor einem düsteren, nicht definierten Raum steht hier ein Toter vor uns, der auf wackligen Beinen und mit halb erhobenem Arm gleich-zeitig recht lebendig wirkt, ganz als wolle er mit dem Betrachter des Bildes Kontakt aufnehmen. Handelt es sich um einen Verstorbenen, der sich am Übergang zum Jenseits befindet, oder vielleicht sogar um den Tod persönlich, der den Menschen in seine Welt ziehen möchte?

Fest steht jedenfalls, dass Georges Rouault mit diesem Blatt aus dem Grafikzyklus „Miserere“ ein zeitloses Memento mori geschaffen hat, das auf einzigartige Weise verschiedenen religiösen Fragen nachspürt als auch die Schrecken des modernen irdischen Lebens thematisiert.

Die Motive der „Miserere“ sind in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg entstanden und als sie 1948 veröffentlicht wurden, waren sie vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkrieges erneut von höchs-ter Aktualität. Die Folge von 58 in vielfältigen Abstufungen von Schwarz und Grau gehaltenen Aquatinta-Radierungen führt uns menschliches Leid in verschiedenen Ausprägungen vor Augen: Von der Einsamkeit des Individuums über die Not der Bedürftigen bis hin zum unvermeidlichen Nahen des Todes. Auch Christus selbst ist auf verschiedenen Blättern dargestellt: als Verspotteter und Gekreuzig-ter, aber auch als Überwinder und Erlöser – ein christliches Leitmo-tiv, das die gesamte Folge durchzieht.

Religiöse Themen hatten Georges Rouault von Beginn seines künstlerischen Schaffens an fasziniert. In seiner Jugend hatte er eine Lehre als Glasmaler absolviert und im Anschluss an der École des Beaux-Arts in Paris studiert. Er entwickelte einen Malstil, der mit dunkel-leuchtendem Kolorit und breitem schwarzen Kontur stark an die transzendente Mystik von Kirchenfenstern erinnert. In den Jah-ren ab 1917 arbeitete Rouault eng mit dem Kunsthändler und Verle-ger Ambroise Vollard zusammen und machte in dieser Zeit die Druckgrafik zum Schwerpunkt seines Schaffens. Welch hohen Grad künstlerischer Meisterschaft er auch in diesem Bereich erlangte, wird in den „Miserere“ auf eindrückliche Weise deutlich.

Nina Barge, Berlin

Handelt es sich um einen Verstorbenen, der sich am Übergang zum Jenseits befindet, oder vielleicht sogar um den Tod persönlich?

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233 Georges Rouault1871 – Paris – 1958

„Celui qui croit en moi fût-il mort vivra“. 1923

Aquatinta auf Arches-Bütten (Wasserzeichen: Ambroise Vollard). 57,5 × 43,5 cm (65,3 × 50,3 cm) (22 ⅝ × 17 ⅛ (25 ¾ × 19 ¾ in.)). Werkverzeichnis: Rouault 81 e (von e). Einer von 425 Abzügen aus einer Gesamtauflage von 450 Exemplaren. Blatt 28 (von 58) der Folge: Miserere. Paris, Sociéte d’Édition L’Étoile Filante, 1948.

EUR 400–600 USD 455–682

234 Georges Rouault1871 – Paris – 1958

„Christ imposant les mains“. 1923

Aquatinta auf Arches-Bütten (Wasserzeichen: Ambroise Vollard). 61,2 × 46 cm (65 × 50,1 cm) (24 ⅛ × 18 ⅛ in. (25 ⅝ × 19 ¾ in.)). Werkverzeichnis: Rouault 133. Nicht verwendete Komposition zu der Folge: Miserere. Paris, Sociéte d’Édition L’Étoile Filante, 1948.

EUR 600–800 USD 682–909

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235 Käthe KollwitzKönigsberg 1867 – 1945 Moritzburg

„Tod wird als Freund erkannt“. Um 1934

Kohle auf Papier. 48,3 × 40,7 cm (19 × 16 in.). Rückseitig mit der hand-schriftlichen Bestätigung von Hans Kollwitz, dem Sohn der Künstlerin: Aus dem Nachlaß Käthe Kollwitz Hans Kollwitz Eigentum von Ottilie Kollwitz Hans Kollwitz 40/37 18. Werkverzeich-nis: Nagel/Timm 1256. Gegenseitiger Entwurf zu der gleichnamigen Litho-grafie um 1937. Blatt 6 der Folge: Tod (von dem Knesebeck 271).

Provenienz Nachlass Käthe Kollwitz / Ottilie Kollwitz, Berlin / Privatsammlung, Deutschland

EUR 40.000–60.000 USD 45,500–68,200

Ausstellung Käthe Kollwitz. Der Mensch – kreatür-lich, existentiell, sozial. Peking, Natio-nal Art Museum of China, 2015 (ohne Katalog)

Literatur und Abbildung Auktion 91: Galerie Gerda Bassenge, Berlin, Sonderkatalog: Käthe Kollwitz, 31. Mai 2008, Kat.-Nr. 8150

Seit Bernd Schultz mir dieses Bild aus seiner in fünfzig Jahren zusam-mengetragenen Sammlung zeigte, begleitet es mich. Mit kräftigen Kohlestrichen schildert Käthe Kollwitz um 1934 jenen Moment: „Tod wird als Freund erkannt“. Der Kranke mit verzweifelt angstvollem Blick aus tiefen Augenhöhlen im ausgemergelten Gesicht erfasst mit der letzten Kraft seiner suchenden Hand das Haupt mit langem Haar – und erkennt den Tod, in der Darstellung des Erlösers, als Freund.

Diese Zeichnung in Händen werde ich mir des Ursprungs meiner Entscheidung, Arzt zu werden, bewusst: die Pflege eines 89-Jährigen während zweier Ferienmonate. Später machten uns die Lektüre von Hauptmanns „Die Weber“ in der Abiturklasse in Rom und die Schilderungen von Armut, Krankheit und Tod in „Ein Weber-aufstand“ von Käthe Kollwitz fast zu Revolutionären.

2009 wurde Käthe Kollwitz mir wieder besonders nah, als ich mit der Alexander und Renata Camaro Stiftung das herrliche Back-steinhaus mit Ateliers und Aktsaal in der Potsdamer Straße erwer-ben konnte. Dies war das Zeichen- und Malhaus, das 1893 vom Ver-ein der Künstlerinnen zu Berlin errichtet wurde, denn Frauen war damals der Zugang zu den Akademien verwehrt. Käthe Kollwitz unterrichtete dort von 1897 bis 1903. Ihre bekannteste Schülerin war Paula Modersohn-Becker.

Not, Leid und Tod hat Käthe Kollwitz mit ihrem Mann, dem engagierten Arzt, erfahren. Dank ihrer Empathie und Liebe zum gequälten Menschen berührt ihre Darstellung, ohne verschlossen zu machen. Ihre Blätter mobilisieren Kräfte. Den Studenten, den Krankenpfleger, den Arzt lehrt und stärkt ihr Blick. Ob der Kranke gläubig ist oder nicht, er wünscht, in friedlicher Krankheitser-schöpfung ohne Qual oder Schmerz loslassen zu dürfen. Seinen Weg mitwissend, mittragend, beruhigend, erleichternd zum doch fast immer friedvollen Ende zu bringen, ist unser wichtigstes Ver-sprechen als Arzt.

Wir können nicht ermessen, wie furchtbar der Weg der Vielen ins Exil war, gar der Tod dort oder auf dem Weg dorthin. Käthe Koll-witz und ihr Mann fassten im Juli 1936 den Entschluss, sich „dem KZ, wenn es unvermeidlich scheint, durch Selbsttod uns zu entziehen“.

Der Zeichnung wünsche ich, dass sie in wissenden Händen zum kraftvollen Fundament des so notwendigen ExilMuseums beiträgt.

Thomas von Brück, Berlin

Diese Zeichnung in den Händen werde ich mir des Ursprungs meiner Entscheidung, Arzt zu werden, bewusst.

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236 Käthe KollwitzKönigsberg 1867 – 1945 Moritzburg

„Selbstbildnis im Profil nach links“. 1923

Kohle auf Ingres-Bütten. 36,7 × 30 cm (14 ½ × 11 ¾ in.). Unten links mit Blei-stift signiert und datiert: Käthe Kollwitz 1923. Werkverzeichnis: Nagel/Timm 989.

Provenienz Louise Diel, Berlin / Gustav Stein, Köln (1951) / Ehemals Privatsammlung, Berlin (bis 1986)

EUR 100.000–150.000 USD 114,000–170,000

Ausstellung Deutsche Aquarelle und Zeichnungen seit 1900. Köln, Kulturkreis im Bundes-verband der Deutschen Industrie e.V., 1957, Kat.-Nr. 62, mit Abbildung / Gunther Thiem: Die Zeichnerin Käthe Kollwitz. Ausstellung zum 100. Geburtstag. Stuttgart, Staatsgale-rie, Graphische Sammlung, 1967, mit Abbildung (eigentlich Kat.-Nr. 67) / Käthe Kollwitz. Die Zeichnerin. Kunst-verein in Hamburg, und Kunsthaus Zürich, 1980/81, Kat.-Nr. 93, Abbildung S. 144 / Käthe Kollwitz. Zeichnungen, Graphiken, Skulpturen. Berlin, Galerie Pels-Leusden, 1990, Kat.-Nr. 9, S. 46/47, mit Abbildung / Käthe Koll-witz. Der Mensch – kreatürlich, exis-tentiell, sozial. Peking, National Art Museum of China, November 2015 (ohne Katalog)

Literatur und Abbildung Luise Diel: Käthe Kollwitz. Ein Ruf ertönt. Berlin, 1927, Abbildung S. 23 / Auktion 66: Gutekunst und Klipstein, Bern, 25. Oktober 1951, Kat.-Nr. 14, Tafel 1 / Otto Nagel: Die Selbstbildnisse der Käthe Kollwitz. Berlin, 1965, S. 38, Textabbildung Nr. 17 / Hans Kollwitz (Hg.): Ich sah die Welt mit liebevollen Blicken. Käthe Kollwitz. Ein Leben in Selbstzeugnissen. Hannover, 1968/70, Abbildung S. 361 / Auktion 1: Villa Gri-sebach Auktionen, Berlin, 21. Novem-ber 1986, Kat.-Nr. 75

Die Lebensumstände in Deutschland waren im Jahr 1923, in dem die vorliegende Zeichnung entstand, außerordentlich schwer. Die Infla-tion wütete. Ende November vermerkte Käthe Kollwitz in ihrem Tagebuch: „Alles verschärft sich. Hier Plünderungen und versuchte Pogrome, Bayern im Kriegszustand gegen Norddeutschland. Hunger! Ein Brot 140 Milliarden! Dann wieder runtergesetzt auf 80 Milliarden ... Hunger Hunger überall. Auf den Straßen schwärmen die Arbeitslo-sen.“ (Käthe Kollwitz. Die Tagebücher. Jutta Bohnke-Kollwitz (Hg.). Berlin, 1989, S. 563) Auch wenn das persönliche Leben der Künstle-rin 1923 zeitweise sehr schwierig war, geschah aber doch auch Posi-tives: Im Mai wurden die Enkelinnen Jördis und Jutta geboren und waren eine Quelle der Freude. Im Oktober fand in der Akademie eine Kollwitz-Ausstellung innerhalb der großen Grafikschau statt, in der erstmalig der Zyklus „Krieg“ gezeigt wurde, den die Künstlerin 1922/23 geschaffen hatte. „Mit Glück und Dank empfinde ich, daß ein großer Nachhall da ist“, schrieb Kollwitz am 14. Oktober 1923 in ihr Tagebuch (a.a.O., S. 560).

Käthe Kollwitz hat ihr Leben lang – wie viele Künstler seit Dürer und Rembrandt – Selbstbildnisse geschaffen. August Klipstein dokumentiert 36 druckgrafische Selbstportraits, Nagel/Timm weisen über hundert entsprechende Zeichnungen nach. Dazu kommen zahlreiche Selbstdarstellungen, die nicht als solche ausgewiesen sind. In der vorliegenden Zeichnung zeigt sich die Künstlerin im scharfen Profil, vom Beschauer abgewendet, den Blick in sich selbst und eine ungewisse Weite gerichtet, ein Spiegelbild der schweren Zeit, in der dieses Portrait entstand.

In all ihren Arbeiten wollte Käthe Kollwitz Inhalt und innere Bedeutung der Darstellung in möglichst vollendeter Form gestalten. Im Laufe der Zeit legte sie dabei immer weniger Wert auf Staffage, und in späteren Jahren ist, wie in diesem Selbstbildnis, nur noch die bare Gestalt zu sehen. Ob Portrait oder Selbstportrait, die Ähnlich-keit mit dem Sujet war hier stets dem verinnerlichten und gleichzeitig universellen Ausdruck, der das Werk erfüllt, untergeordnet.

Hildegard Bachert, New York

„Mit Glück und Dank empfinde ich, daß ein großer Nachhall da ist.“Käthe Kollwitz

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237 Käthe KollwitzKönigsberg 1867 – 1945 Moritzburg

„Abschied“. 1910

Kohle und Bleistift auf Bütten (Wasser-zeichen: MBM France). 63 × 48,2 cm (24 ¾ × 19 in. ). Rückseitig mit der handschriftlichen Bestätigung von Hans Kollwitz, dem Sohn der Künstle-rin: 48/50 Aus dem Nachlaß Käthe Kollwitz Hans Kollwitz Eigentum von Ottilie Kollwitz 78. Werkverzeichnis: Nagel/Timm 604. Das Gesicht der Frau (Selbstbildnis) noch einmal wiederholt. Vorzeichnung zu der Radierung: Tod, Frau und Kind. 1910 (von dem Knese-beck 108).

Provenienz Nachlass Käthe Kollwitz / Ottilie Koll-witz, Berlin (in Familienbesitz bis 1978)

EUR 200.000–300.000 USD 227,000–341,000

Ausstellung Käthe Kollwitz. Berlin, Galerie Pels-Leusden, 1978, Kat.-Nr. 18, S. 4 / Käthe Kollwitz. Die Zeichnerin. Kunstverein Hamburg, 1980, und Kunsthaus Zürich, 1981, Kat.-Nr. 60, Abbildung S. 97 / Käthe Kollwitz. Zeichnungen, Druck-graphik, Skulpturen aus dem Besitz der Galerie Pels-Leusden, Berlin und anderen Sammlungen. Frankfurt a.M., Jahrhunderthalle Hoechst, 1985, Kat.-Nr. 17, S.150, mit Abbildung

Es bewegt mich immer sehr, wenn ich meinen Blick auf die große Ausnahmekünstlerin Käthe Kollwitz lenken darf. Schaut man auf die-ses Blatt „Abschied“, fällt es nicht leicht, Worte zu finden für die großen Gefühle, die es bei mir auszulösen vermag. Das Motiv prägt sich sofort tief in die Seele eines jeden Menschen ein, der auch nur ein wenig sein Herz geöffnet hat. Also eines jeden, der sich mit sei-nem Herzen auf den Weg durchs Leben macht, der Mitgefühl spürt und eben dann auch zeigt, wenn er der Not seines Nächsten begeg-net – um schließlich auch danach zu handeln.

Es scheint mir, dass das Bild „Abschied“ in einem symboli-schen Sinn für das steht, was Bernd Schultz als Sammler nun tut: Er nimmt selbst Abschied von einer jahrzehntelang leidenschaftlich aufgebauten Sammlung, weil er es nicht zulassen wollte, dass es bis zum heutigen Tag am Entstehungsort eines der brutalsten Verbre-chen der Menschheit, in Berlin, kein Museum gibt, das daran erin-nert, wie viele Menschen von hier den Weg ins Exil und in den Tod gehen mussten. Für wie viele Menschen war Berlin Stadt des Abschieds. Kann es etwas Sinnstiftenderes geben, als das Blatt „Abschied“ von Käthe Kollwitz, dieser Ur-Berliner Künstlerin, genau für diesen Zweck in neue Hände zu geben?

Aber natürlich geht es der Künstlerin in ihrer Darstellung eigentlich um einen ganz persönlichen, intimen Schmerz: den Abschied von den eigenen Kindern. Ohne Tränen in den Augen kann man dieses Bild nicht in sich aufnehmen. Was sagen uns die über-starken Arme und großen Hände von Käthe Kollwitz in diesem Blatt? Sie erzählen von der übergroßen, unendlich starken Liebe: zu beschützen und zu bewahren, was man selbst in die Welt gebracht hat. Auch um die Liebe zu bewahren, muss man kämpfen. Und wenn man dieses Bild von Käthe Kollwitz sieht, dann spürt man, wie wich-tig ihre Botschaft auch für die heutige Zeit ist. Denn man fragt sich leider immer wieder in Deutschland in diesen Tagen: Wo ist die Koll-witzsche Menschlichkeit nur geblieben? Das ist der stille Appell, der von diesem großen Kunstwerk ausgeht.

Carmen Würth, Künzelsau

Ohne Tränen in den Augen kann man dieses Bild nicht in sich aufnehmen.

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238 Käthe KollwitzKönigsberg 1867 – 1945 Moritzburg

„Der Tod greift nach den Kindern“. Um 1921/22

Kreide auf gelblichem Papier. 58,2 × 45,2 cm (22 ⅞ × 17 ¾ in.). Unten rechts signiert: Käthe Kollwitz. Werkverzeichnis: Nagel/Timm 889. Vorzeichnung zu der Lithografie „Tod packt eine Frau“ von 1934. Blatt 8 aus der Folge: Tod (von dem Knesebeck 267 (hier als Blatt 4 der Folge bezeichnet)).

Provenienz Privatsammlung, Köln (1990er-Jahre)

EUR 100.000–150.000 USD 114,000–170,000

Ausstellung Meisterwerke der klassischen Moderne. Kampen, Galerie Pels-Leusden, 1998, Kat.-Nr. 50, S. 24/58, Abbildung S. 25 / Kunst - Handel - Leidenschaft. 50 Jahre Galerie Pels-Leusden. Berlin, Kampen, Zürich, 2000, S. 70/156, Abbildung S. 71/156

Literatur und Abbildung Auktion 14: Stuttgarter Kunstkabinett, R. N. Ketterer, Stuttgart, 9. November 1951, Kat.-Nr. 1668

Es ist mehr als siebzig Jahre her. Ich war gerade sechzehn Jahre alt. Mein Onkel steht auf der Straße vor seinem Haus, starrt regungslos auf die Stelle, an der wenige Stunden zuvor, wenige Tage vor Heilig-abend, seine fünfjährige Tochter, meine Cousine Ilse, von einem Auto tödlich verletzt worden war. Noch heute spüre ich das kalte Entsetzen von damals, wenn ich die Zeichnung von Käthe Kollwitz „Der Tod greift nach den Kindern“, entstanden 1921/22, anschaue.

Käthe Kollwitz hat sich mit dem Erlebnis Tod in ihrem Schaffen vielfältig auseinandergesetzt und regt damit, wie etwa auch die Gäste- bücher des Kölner Käthe-Kollwitz-Museums belegen, noch immer zum Nachdenken an. Schon in ihren frühen Zyklen „Ein Weberauf-stand“ und „Bauernkrieg“ nahm das Thema Tod einen entscheiden-den Platz ein. 1909/10 entstand dann eine Serie von Zeichnungen, in denen der personifizierte Tod der Mutter das bereits leblose Kind entzieht. Gemeinsam ist diesen Blättern der Ausdruck letzter, inniger Nähe von Mutter und Sohn. In ihnen teilt sich wohl eine für die Mutter Käthe Kollwitz elementare Erfahrung mit: die Angst um den damals schwer erkrankten Sohn Hans. In einem Brief aus dieser Zeit an ihre Freundin Beate Bonus-Jeep beschreibt Kollwitz ihre Gefühle: „dieses kalte Entsetzen, das einen anfaßt, wenn man fühlt, weiß, in den nächsten Minuten ist dieses junge Leben vielleicht abgeschnitten und das Kind ist weg.“

Was Käthe Kollwitz in diesem Brief zum Ausdruck bringt, schlug sich jedoch künstlerisch nicht in der Bildkonzeption von 1909 nieder, sondern erst viele Jahre später in Zeichnungen, die sie für die geplante Mappe „Abschied und Tod“ anfertigte. Den Kampf der Mutter mit dem Tod um das Kind schildert Käthe Kollwitz hier in einer äußerst bewegten Szene, die sie mit fahrigen Kreidestrichen umreißt: Die Frau schaut dem Knochenmann mit dem von Kollwitz beschriebenen kalten Entsetzen in die Augen, beide umklammern das Kind.

Hans-Joachim Möhle, Köln

„Dieses kalte Entsetzen, das einen anfaßt, wenn man fühlt, weiß, in den nächsten Minuten ist dieses junge Leben vielleicht abgeschnitten und das Kind ist weg.“Käthe Kollwitz

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239 Käthe KollwitzKönigsberg 1867 – 1945 Moritzburg

„Märzfriedhof“. 1913

Kohle und blauer Farbstift auf Ingres-Bütten. 31 × 25 cm (63,1 × 47,5 cm) (12 ¼ × 9 ⅞ in. (24 ⅞ × 18 ¾ in.)). Unten rechts mit Bleistift signiert: Käthe Kollwitz. Rückseitig: Skizze des gleichen Motivs. Kohle. Werkverzeichnis: Nagel/Timm 713. Studie zur gleichnamigen Litho-grafie von 1913 (von dem Knese-beck 127) bzw. Detailstudien zur zwei-ten und dritten Fassung (von dem Knese-beck 128 bzw. 129).

Provenienz Salman Schocken, Jerusalem (bis 1967) / Galerie Pels-Leusden, Berlin (1967) / Privatsammlung, Nordrhein-Westfalen (bis 1998) / Privatsammlung, Süd-deutschland

EUR 30.000–40.000 USD 34,100–45,500

Ausstellung Käthe Kollwitz zum 100. Geburtstag. Graphik, Handzeichnungen, Plastik. Berlin, Galerie Pels-Leusden, 1967, Kat.-Nr. 114

Literatur und Abbildung Auktion 152: Dr. Ernst Hauswedell, Hamburg, 5. Juni 1967, Kat.-Nr. 776 / Auktion 63: Villa Grisebach Auktionen, Berlin, 5. Juni 1998, Kat.-Nr. 57

Wer sich mit deutscher Geschichte beschäftigt, denkt nicht sofort an ein Land der Revolutionen. Und doch hat es sie gegeben. Immer-hin fand in der DDR der – allerdings erfolglose – Volksaufstand am 17. Juni 1953 statt, den ich als sechzehnjähriger Schüler in Bitterfeld intensiv miterlebte. Nachdem die revolutionären Ereignisse im November 1989 inzwischen häufig zu einer friedlichen Wiedervereini-gung beider deutschen Staaten herabgestuft werden, steht als Quel-le der Demokratie die Revolution von 1848 in bleibender Erinnerung.

Ob einer der zahlreichen Berlin-Besucher den „Platz des 18. März“ hinter dem Brandenburger Tor mit den revolutionären his-torischen Ereignissen von 1848 in Verbindung bringt, bleibt zweifel-haft. Während meiner Amtszeit als Präsident der Akademie der Künste habe ich am Pariser Platz jedes Jahr aufs Neue am 18. März anlässlich der Verleihung des Großen Berliner Kunstpreises im Auf-trag des Landes Berlin versucht, diese revolutionäre Bewegung in Erinnerung zu rufen.

Die Zeichnung „Märzfriedhof“ von Käthe Kollwitz aus dem Jahr 1913 dokumentiert zunächst, wie auch in einem Text der Künstlerin von 1933 zu lesen ist, den „Tag, den die ganze rote Arbeiterschaft einmütig feierte ... Die Arbeiter zogen in langsamem Zug vom Morgen bis zum Abend in langen Reihen an den Gräbern vorbei“ (zitiert nach: Käthe Kollwitz, Die Handzeichnungen. Otto Nagel (Hg.), Berlin, 1972, S. 328). Der Marsch verdeutlichte die ganze Breite des Auf-bruchs, an dem sich im März 1848 alle Schichten der Bevölkerung beteiligten.

Die Energie und Entschlossenheit der Demonstranten faszi-nieren heute noch. Seit langer Zeit kämpft eine Bürgerinitiative, der ich auch angehöre, dafür, dass der 18. März zum Nationalen Gedenk-tag erhoben wird. Der Kampf geht weiter.

Klaus Staeck, Heidelberg

Käthe Kollwitz ist – und das auf alle Jahrhunderte bezogen – eine der ungewöhnlichsten Künstlerinnen, die die Welt je hervorgebracht hat. Bernd Schultz, Berlin

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Page 97: Moderne und Zeitgenössische Kunst 26. Oktober 2018

240 Werner HeldtBerlin 1904 – 1954 Sant’Angelo d’Ischia

„Interieur in Mallorca“. 1935

Kohle auf Bütten (Wasserzeichen: Guarro). 62,6 × 47 cm (24 ⅝ × 18 ½ in.). Unten rechts mit Bleistift monogram-miert und datiert: WH. 35. Werkver-zeichnis: Seel 293.

Provenienz Galerie Gerd Rosen, Berlin / Privatsammlung, Nordrhein-Westfalen (1997 bis 2008)

EUR 12.000–15.000 USD 13,600–17,000

Ausstellung Werner Heldt. Gemälde, Aquarelle, Zeichnungen (Gedächtnis-Ausstellung). Berlin, Haus am Waldsee, 1954, Kat.-Nr. 117, mit Abbildung

Literatur und Abbildung Auktion 56: Villa Grisebach Auktionen, Berlin, 30. Mai 1997, Kat.-Nr. 56 / Auktion 157: Villa Grisebach Auktionen, Berlin, 31. Mai 2008, Kat.-Nr. 339

Bestandsaufnahme eines leeren Zimmers nach durchzechter Nacht: Die Weinflasche vorn auf dem Tisch neben der Petroleumlampe, das geöffnete Fenster künden davon. Das ist nicht alles. Die Anordnung der drei Stühle im Zickzack und die offene Tür lassen den plötzlichen Abbruch des Gesprächs erraten. War die Betrachtung der Bilder, die da lehnen und hängen, in das Gespräch einbezogen?Die Erinnerung an eine verlorene Situation ist festgehalten, ein „Raum am Rande der Verzweiflung“ (Bildtitel einer früheren Zeich-nung). Stillleben mit den Resten eines Mahls sind so seit langem als Mahnungen der Vergänglichkeit dargestellt worden. Die Vorgabe von Menzels Balkonzimmer könnte für Heldt, den Berliner, eine Rolle

gespielt haben. Bei Menzel ist offensichtlich nur ein Moment dar-gestellt, hier eher ein Dauerzustand. Das Bild ist ein Monument der Verlassenheit. Auf die Bilder dieses Atelierraumes, aus dem Fenster hat jemand geblickt, man hat gesessen, getrunken und den Platz verlassen, ohne Aussicht auf Rückkehr zu Stunden des gemeinsamen Beisammenseins Die Gegenwart ist als schal empfunden, und zu den leeren Fensterhöhlen des Malers ist die Trostlosigkeit des leeren Lebensrahmens gefügt. Die Kohlezeichnung lässt im großen Format das Aufleuchten des Lichtes als Tröstung nachhaltig empfinden.

Werner Schade, Berlin

Die Vorgabe von Menzels Balkonzimmer könnte für Heldt, den Berliner, eine Rolle gespielt haben.

Grisebach — Herbst 2018

Page 98: Moderne und Zeitgenössische Kunst 26. Oktober 2018

241 Max Kaus1891 – Berlin – 1977

Schlafende Turu. 1933

Rötel und Kohle auf Velin. 41 × 55,9 cm (16 ⅛ × 22 in.). Unten rechts mit Rötel über Bleistift signiert und datiert: MKaus 33.

Provenienz Geschenk des Künstlers 1973

EUR 8.000–12.000 USD 9,090–13,600

Welch ein Geschenk! Max Kaus war 82 Jahre alt, bekam in der Galerie Pels-Leusden am Kurfürstendamm eine Einzelausstellung und über-reichte Bernd Schultz zum Dank für die dortige Präsentation diese Zeichnung. Turu. Die schlafende Turu. Schon der Klang des Namens – weckt er nicht Vorstellungen von Nähe, von Zärtlichkeit, von Sehn-sucht? Turu, eigentlich Gertrud, ist über Jahrzehnte die große Liebe

und die intime Begleiterin seiner Kunst gewesen. In all diesen Jahren war sie überhaupt das einzige weibliche Modell von Kaus – besonders intensiv ab 1924, als Max und Turu heirateten und eine gemeinsame Atelierwohnung in der Mommsenstraße in Charlottenburg bezogen. Hier veränderte sich seine Bildsprache. Der anfängliche expressio-nistische Aufruhr der Gefühle mündete in ruhigere, gefasste Bahnen.

Neben vielen hervorragenden Landschaften, die in diesen Jahren entstanden, sind es besonders Szenen aus dem gemeinsa-men Leben, die damals für Kaus eine große Rolle spielten. Kaus selbst ist nur selten auf ihnen zu sehen, und wenn, dann meist als stiller Beobachter. Wen wir aber sehen, ist Turu, immer wieder Turu. Wir sehen sie am Frühstückstisch, wir sehen sie nähend, beim Sch-reiben und auch beim Musizieren. Fast immer scheint sie allein, hat sie die Augen geschlossen oder wendet leicht den Blick. Am intims-ten sind die zärtlichen Bilder der Schlafenden. Es gibt sie gemalt, gezeichnet und auch auf vielen wunderbaren Lithografien. Diese Bil-der gehören zum Schönsten, was Max Kaus überhaupt geschaffen hat. Wie nah erscheint uns die Geliebte auf diesem 1933 entstande-nen Blatt. Wie nah ist sie dem Betrachter und wie entrückt zugleich. In tiefen Schlaf ist sie versunken, die Lippen leicht geöffnet. Kaus hat sich vor ihr niedergekniet, sitzt mit ihr auf einer Höhe auf dem Boden, schaut dieses wundervolle Wesen an, hört leise ihren Atem – und hält beim Zeichnen den eigenen Atem an.

Markus Krause, Berlin

Am intimsten sind die zärtlichen Bilder der Schlafenden.

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242 Hans Kuhn1905 – Baden-Baden – 1991

„Rosa Tauben“. 1939

Aquarell auf Velin. 48,5 × 66,5 cm (19 ⅛ × 26 ⅛ in.). Unten rechts mit Bleistift signiert und datiert: HKuhn 39. Rückseitig mit Bleistift bezeichnet, signiert, datiert und betitelt: Tauben Hans Kuhn „Rosa Tauben“ 1939. Provenienz 1976 vom Künstler erworben

EUR 1.500–2.000 USD 1,700–2,270

Im Jahr 1939, als die Nazis keine abstrakte Kunst wollten, überlebte Hans Kuhn künstlerisch in Florenz, in der Nähe von Hans Purrmann, der dort Direktor der Villa Massimo war. Geheimer Sehnsuchtsort wurde später Ischia, wo man sich vor allem nach dem Krieg traf mit Werner Heldt, Werner Gilles, Eduard Bargheer. Auch der junge Kom-ponist Hans Werner Henze war dabei. Den Süden als Thema hat auch das große Ölbild, das bei Burda in Offenburg hängt und, wenn ich es richtig entziffern kann, auf 1948 datiert ist. Nach dem Krieg bedeu-teten Italien und Ischia einen neuen Beginn, sehr schön auf einem Linolschnitt von 1953, der meinem Vater gewidmet ist. Und dann begann Hans Kuhn mit seinen Lackbildern, von denen viele auch den Süden als Thema haben.

Hans Kuhn war ein Freund meiner Eltern und mit ihm kamen viele Künstler nach Offenburg. So auch Erich Heckel, Karl Schmidt-Rottluff, Hans Purrmann, Werner Heldt, Werner Gilles. Aber vor allem war Kuhn in der Jury des Künstlerbundes und beriet meine Mutter beim Kauf wichtiger Bilder, die noch heute in unserer Samm-lung sind, darunter Werke von Karl Hofer, Willi Baumeister, Emil Nolde, Hans Purrmann. Im Künstlerbund prallte der Realismus von Hofer mit der neuen deutschen Abstraktion von Winter, Nay und Theodor Werner aufeinander. Dieser Gegensatz setzte sich an der Berliner Kunstakademie fort, wobei es dem Badener Hans Kuhn immer wieder gelang, den Konflikt zu entschärfen.

Ich verdanke ihm und seinem Meisterschüler Werner Kunkel, der zwei Jahre in Offenburg lebte und ein Deckengemälde für die Stadtkirche anfertigen sollte, viel. Zu Kunkel bin ich jeden Mittag nach der Schule gegangen und habe eine richtige Lehre als ange-hender Künstler bekommen: das Grundieren der Leinwand, das Ver-reiben der Pigmente und das Mischen mit den Malmitteln und vor allem das Malen südlicher Landschaften. Wobei er meinen aufge-regten Zeichnungen Kontur und Perspektive verlieh. Ich glaube auch, dass mein Bruder Frieder durch Hans Kuhn Baden-Baden, wo er geboren war, lieben gelernt hat und seinen traumhaften Standort in der Lichtentaler Allee vielen Spaziergängen mit Hans verdankt.

Hubert Burda, München

Hans Kuhn war ein Freund meiner Eltern und mit ihm kamen viele Künstler nach Offenburg. Ich verdanke ihm viel.

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243 Karl HoferKarlsruhe 1878 – 1955 Berlin

Drei Frauen im Gemach.

Bleistift auf Bütten. 29,2 × 39,6 cm (11 ½ × 15 ⅝ in.). Rückseitig unten rechts mit dem Nachlassstempel in Violett. Gebräuntes Fixativ.

Provenienz Nachlass des Künstlers

EUR 4.000–6.000 USD 4,550–6,820

Literatur und Abbildung Auktion 166: Villa Grisebach Auktionen, Berlin, 6. Juni 2009, Kat.-Nr. 227

Mit frappierendem Können, altmeisterlich präzise, ja penibel, zugleich flüssig die Binnenformen umreißend und Partien um der angestrebten Plastizität willen sanft schattierend, resümiert der Zeichner mit Grafit und Tuschfeder, seltener mit Aquarellfarben und Gouache, souverän die sich ihm dar-bietenden Situationen. Er registriert verhaltene Posen, deu-tet Gebärden und vage Bewegungsabläufe an, wobei selbst vermeintlich nebensächliche Details der Bekleidung oder in der zeichnerischen Nachbildung immateriell anmutender Draperien seiner Aufmerksamkeit nicht entgehen. Meist konzentriert auf die Abbildung von Einzelpersonen oder Paaren, schuf er zudem Mehrfigurenkompositionen wie jene „Drei Frauen im Gemach“, die er vor der Kulisse eines Interi-eurs in Szene setzt. Die gestaffelte Aufreihung statuarischer, sich würdevoll präsentierender Gestalten unterstreicht dabei die räumliche Wirkung der sie hinterfangenden Architekturelemente. Ein das reduzierte Geschehen farbig überlagernder, mit der Fixativspritze aufgetragener transpa-renter Schleier prononciert das mystische Milieu dieser außerordentlichen Zeichnung.

244 Karl HoferKarlsruhe 1878 – 1955 Berlin

Mädchenbildnis. 1930er-Jahre

Bleistift auf Papier. 60 × 44,7 cm (23 ⅝ × 17 ⅝ in.). Unten rechts monogrammiert: CH. Die Zeichnung wird aufgenommen in das Werkverzeichnis der Aquarelle und Zeichnungen Karl Hofers von Karl Bernhard Wohlert, Dortmund (in Vorbereitung).

Provenienz Privatsammlung, Berlin (bis 2006)

EUR 7.000–9.000 USD 7,950–10,230

Literatur und Abbildung Auktion 142: Villa Grisebach Auktionen, Berlin, 2. Dezember 2006, Kat.-Nr. 662

Seit mehr als einem halben Jahrhundert setzt sich Bernd Schultz nachhaltig mit dem Schaffen Karl Hofers aus-einander und engagiert sich mit der ihm eigenen Begeiste-rungsfähigkeit dafür, die Rezeption von Hofers Kunst zu for-cieren. Dank seiner Unterstützung gelangen nicht nur wichtige, den Künstler würdigende Ausstellungen. Anlässlich des fünfzigsten Todestags von Hofer zeigte die Galerie Pels-Leusden eine imposante Präsentation seiner Gemälde unter dem Titel „Anmut, Elegie und äußerste Härte“, die museale Werke aus allen Schaffensperioden vereinte. Die vom Samm-ler Bernd Schultz mit sicherem Auge und profunder Kenner-schaft treffsicher zusammengetragenen Blätter von der Hand Karl Hofers zeichnen sich durch ihre exzeptionelle Qualität aus und demonstrieren exemplarisch Hofers rigo-rose, brillante Leistung als Zeichner.

Jürgen Schilling, Berlin

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245 Max Kaus1891 – Berlin – 1977

„Die Kranke“. 1943/47

Aquarell und Bleistift auf Velin. 53,3 × 68,4 cm (21 × 68, 1 ⅝ in.). Unten rechts mit Bleistift signiert und datiert: MKaus 43. Rückseitig mit Bleistift nochmals signiert, datiert und betitelt: Max Kaus 43 Die Kranke 12.

Provenienz Galerie Pels-Leusden, Berlin (1970er-Jahre)

EUR 8.000–12.000 USD 9,090–13,600

Ausstellung Max Kaus: Turu. Ein Zyklus. Aquarelle und Zeichnungen. Berlin, Käthe-Koll-witz-Museum Berlin, 1997, Kat.-Nr. 20, mit Abbildung

Kann ein Portrait eindringlicher und noch berührender sein als dieses Bildnis? Es sind tiefstes Leid, der reine Schmerz, die Nähe des Unfassbaren, die uns hier aus großen dunklen Augen anschauen. Das Aquarell zeigt Turu Kaus, und es gehört zu einem insgesamt sechzig-teiligen Zyklus aus Zeichnungen, Aquarellen und Gouachen, in denen der Künstler das Sterben seiner geliebten Frau zu bewältigen suchte. Bilder zwischen Leben und Tod, ein Zyklus, der so in seiner Intensität in der deutschen Kunst einmalig ist. Vergleichbar mit dieser Serie sind einzig die zahlreichen Portraits, die Ferdinand Hodler zwischen 1913 und 1915 von seiner sterbenskranken Lebensgefährtin Valentine Godé-Darel geschaffen hat (die Kaus kaum gekannt haben kann, da diese Bilder erst 1976 einem breiten Publikum zugänglich gemacht wurden).

Die ersten Zeichnungen von Kaus dürften noch im Kranken-haus entstanden sein, aus dem Turu im Sommer 1943 nach mehrmo-natiger Behandlung als unheilbar entlassen wurde. Da die gemeinsa-me Wohnung gerade durch Bomben zerstört worden war, bezogen die beiden eine winzige Wohnung in Potsdam, wo sie die folgenden fünf Monate bis zu Turus Tod im Januar 1944 auf engstem Raum weit-gehend abgeschirmt von der Außenwelt verbrachten. Wie der Künst-ler später bekannte, war es seine Frau selbst gewesen, die ihn auf-gefordert hatte, sie im Krankenbett zu zeichnen. Tatsächlich sind es auch nur Bleistift- und Rötelzeichnungen, die unmittelbar während des langen Leidensweges entstanden. Die Aquarelle und Gouachen, die heute den größten Teil des Zyklus’ einnehmen, hat Kaus erst 1947, drei Jahre nach dem Tod von Turu, geschaffen. Dazu gehört auch unser Blatt, das er wie alle anderen Werke in die Phase der Krankheit datierte – vermutlich, weil die zugrundeliegende Bleistift-zeichnung tatsächlich aus dieser Zeit stammte. Im September 1947 schrieb Kaus an seinen Freund Erich Heckel: „Von der Turu auf dem Krankenbett habe ich etwa 40 Aquarelle gemacht, jetzt im Frühjahr, nach alten Zeichnungen, die ich damals machte.“ Und weiter: „Sie sehen, ich lebe immer noch im Mädchen“ (so nannte er Turu biswei-len). Immer wieder aufs Neue griff Kaus 1947 zu den Farben, näherte sich immer wieder dem vertrauten Antlitz an, machte mit den Farben das Schwarzweiß der Zeichnungen lebendig – und nahm auf diese Weise endgültig von der geliebten Turu Abschied.

Markus Krause, Berlin

Kann ein Portrait eindringlicher und noch berührender sein als dieses Bildnis?

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246 Max BeckmannLeipzig 1884 – 1950 New York

„Frau mit Hut“. 1936

Bleistift auf kariertem Notizblock- papier. 21 × 14,8 cm (8 ¼ × 5 ⅞ in.). Unten links mit Tuschfeder signiert, bezeichnet und datiert: Beckmann B. B. 36. Werkverzeichnis: Zeiller 53.1. Provenienz Mathilde Q. Beckmann, New York / Galerie Pels-Leusden, Kampen/Sylt (bis 1997)

EUR 15.000–20.000 USD 17,000–22,700

Ausstellung Max Beckmann. Zeichnungen und Aquarelle aus dem Nachlass Mathilde Q. Beckmann und anderen Sammlun-gen. Berlin und Kampen, Galerie Pels-Leusden, 1997, Kat.-Nr. 40, S. 56, Abbildung S. 30 / Max Beckmann. Die Skizzenbücher. Ostfildern, 2010, Band II, Skizzenbuch Nr. 53, S. 928, Abbil-dung 1 / Max Beckmann. Gemälde, Papierarbeiten, Graphiken. Galerie Thomas, München 2013 (Leihgabe, außer Katalog)

1936 weilte Max Beckmann, dem die Stadt bereits von zwei vorher-gehenden Aufenthalten vertraut war, erneut zur Erholung im Sana-torium Dr. Dengler in Baden-Baden. Von seinem Domizil in der Kapuzinerstraße wird er täglich in die Stadt hinabgestiegen sein, um in den Anlagen an der Oos zu flanieren, eins der Cafés aufzusuchen oder sich am Kurpark mit Lektüre zu versorgen. Einen kleinformati-gen Skizzenblock, auf dem er seine Beobachtungen festhielt, hatte er immer bei sich. Beckmann zeichnete viel und sammelte auf diese Weise auch Motive für spätere Gemälde. So enthält der Block, von dem das Profil einer Frau mit kessem Hütchen stammt, möglicher-weise auch eine Vorstudie zu Beckmanns Gemälde „Waldweg im Schwarzwald“ (Göpel 440), die an der Lichtentaler Allee entstanden sein mag.

Vielleicht ist ihm die attraktive Dame auf einer seiner Prome-naden, in Brenners Parkhotel oder im Casino begegnet. Wie emp-fänglich Beckmann – ähnlich wie der derzeitige Eigentümer – für weibliche Schönheit war, belegt sein gesamtes malerisches Werk, bezeugen viele Stellen in seinen Briefen und Tagebüchern. Eben diese Fähigkeit, animierende wie inspirierende Begebenheiten wahrzunehmen und zu speichern, führte zu der schier unendlichen Vielfalt menschlicher Erscheinungsformen in Beckmanns Werk. Der sichere Strich auf dem karierten Grund unseres Blattes und der genaue Blick auf die Passantin mit dem gleichfalls scharfen Auge ermöglichen dabei viele Phantasien, ob und wie die Geschichte der beiden Kurgäste weitergegangen sein könnte. In einem Brief an seine Frau Quappi vom 20. April 1936 erwähnt der Künstler „Gruppen der jetzigen Zeit aus Deutschland, bei denen man etwas mehr lawiren und aufpassen [muß] weil überall verschiedene Gesinnungen leicht aufeinander platzen“, befand aber auch: „sehr amüsant sind die verschiedenen Nuancen der Menschen zu studiren in Ihrem Ver-hältnis zur Zeit.“ (Max Beckmann, Briefe, Band II 1935-1937. Stephan von Wiese (Bearb.), München und Zürich, 1994, S. 256/257)

Elke Ostländer, Berlin

Wie empfänglich Beckmann für weibliche Schönheit war, belegt sein gesamtes Werk.

Originalgröße

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247 Max BeckmannLeipzig 1884 – 1950 New York

„Butchy“. 1945

Tuschfeder über Bleistift auf schwach geriffeltem Papier. 49,7 × 28,5 cm (19 ⅝ × 11 ¼ in.). Unten rechts in der Darstellung mit Tuschfeder signiert, bezeichnet und datiert: Beckmann A. 45. Die Zeichnung wird aufgenom-men in das erweiterte Werkverzeichnis der Zeichnungen Max Beckmanns von Stephan von Wiese, Berlin (in Vorbe-reitung).

Provenienz Mathilde Q. Beckmann, New York (seitdem in Familienbesitz) / Elizabeth Abbot Copeland, Sherbourne, Massachusetts (um 1999) / Richard L. Feigen & Co, New York (2014)

EUR 60.000–80.000 USD 68,200–90,900

Ausstellung Max Beckmann. Gemälde Aquarelle Zeichnungen. Frankfurt, Kunstverein, und Kunstverein in Hamburg, 1965, Kat.-Nr. 65

Literatur und Abbildung Auktion: American & European Works of Art. Skinner, New York, 20. September 2013, Kat.-Nr. 768

Wir danken Stephan von Wiese, Berlin, für freundliche Hinweise.

Die Zeichnung „Butchy“ aus dem Jahr 1945 ist ein Portrait im besten Sinne. Mit der Feder, seiner bevorzugten Zeichentechnik, hält der Künstler die Besonderheiten des im Hause Beckmann lebenden Hundes fest, den er für die Sitzung einfach auf dem Tisch postiert hat: das dichte lockige Fell, die aufmerksamen Augen und das wie lauschend erhobene Köpfchen. Lange wird der Hund vermutlich nicht Modell gesessen haben, so dass es sich wahrlich um eine spontane, lebensnahe Aufnahme handelt. Einer Korrektur bedurfte es bei dem vertrauten Haustier kaum, das Blatt steht wie aus einem Guss vor uns, wobei insbesondere der souveräne Umgang des Künstlers mit dem Papiergrund fasziniert. Den Hintergrund des weitgehend leer belassenen Raumes bezeichnet allein ein hohes Rechteck, ein Spiegel womöglich, und auch die Tischplatte weist kaum Binnenzeichnung auf.

Zur Familie Beckmann gehörten immer auch Hunde. Mathilde Kaulbach, gen. Quappi, brachte 1925 einen japanischen Spaniel (Chilly) mit in die Ehe, ein Pekinese (Majong) kam bald hinzu. Beide hat ihr Mann in einem eleganten Ovalgemälde 1930 in Paris auch in Öl dargestellt (Göpel 331). Nach Majongs Tod 1940 im holländischen Exil in Amsterdam tröstete sich das Ehepaar mit einem neuen Haus-genossen. Das Tagebuch dokumentiert am 25. November 1940: „Butsh – ist erstanden!!“ „Max taufte ihn Butschi; vom ersten Tag lief der kleine Hund Max nach.“ (zitiert nach: Mathilde Q. Beckmann: Mein Leben mit Max Beckmann. München und Zürich, 1983, S. 118)

Mehrfach hat der Künstler das neue Familienmitglied gezeich-net wie auch gemalt. 1942/43 erscheint der Hund in zwei Stillleben, 1943 in einem Bildnis von Quappi. 1946 schließlich entstand ein Bild-nis des sitzenden Butchy, wie bei unserer Zeichnung eine Einzeldar-stellung (Göpel 729). Die Zeichnung befand sich lange im Besitz von Quappi Beckmann. Sie übereignete sie einer Freundin ihrer letzten Lebensjahre, ein sehr persönliches und zu Herzen gehendes Geschenk, weiß man um die enge Verbindung der Beckmanns mit ihren Hunden.

Elke Ostländer, Berlin

Mehrfach hat der Künstler das neue Familienmitglied gezeichnet wie auch gemalt.

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248 Max BeckmannLeipzig 1884 – 1950 New York

„Die Windmühlen“. 1946

Tuschfeder über Bleistift auf Bütten. 33 × 24 cm (13 × 9 ½ in.). Rückseitig von Mathilde Q. Beckmann mit Bleistift betitelt, datiert und gewidmet: „die Mühlen“ 3. Dezember 1946 Zeichnung von Max Beckmann für Doris Schmidt von Mathilde Q. Beckmann Sept. 4. 1981*. Die Zeichnung wird aufgenommen in das erweiterte Werkverzeichnis der Zeichnungen Max Beckmanns von Stephan von Wiese, Berlin (in Vorbe-reitung).

Provenienz Mathilde Q. Beckmann, New York / Doris Schmidt, München (1981 als Geschenk erhalten) / Privatsammlung, Nordrhein-Westfalen (bis 2011)

EUR 35.000–45.000 USD 39,800–51,100

Ausstellung Max Beckmann. Drawings, Sculpture. New York, Carus Gallery, 1975, Kat.-Nr. 15, mit Abbildung („The Windmills“) / Max Beckmann. Gemälde, Papierar-beiten, Graphiken. München, Galerie Thomas, 2013, S. 47, mit Abbildung (Leihgabe)

Literatur und Abbildung Auktion 184: Villa Grisebach Auktionen, Berlin, 27. Mai 2011, Kat.-Nr. 47 / Lynet-te Roth: Max Beckmann at the Saint Louis Art Museum: The Paintings. Saint Louis Art Museum, 2015, Kat.-Nr. 25, S. 164-167, Abbildung 25/1 (hier betitelt: „Large Laren Landscape with Windmills“)

Wir danken Stephan von Wiese, Berlin, für freundliche Hinweise.

Die Windmühle war und ist stets – wenn auch immer seltener – ein reizvoller Anziehungspunkt in der Landschaft. Gerade auch im „Plättbrettland“, wie Max Beckmann sein Exilland Holland liebevoll nannte. Doch in dieser Federzeichnung mit ihrem kraftvollen Strichduktus steht dem scheinbar „harmlosen“ Motiv etwas entge-gen: Dicht gedrängt als Gruppe kommen die Mühlen aus der Tiefe des Raumes auf den Betrachter zu, und tatsächlich geht etwas Bedrohliches von dem „Aufmarsch“ der Mühlen aus, die es in solch enger Formation in der Realität nicht gibt. Menschliche Wesenhaf-tigkeit vermitteln dabei ein in den Mühlenkörper eingezeichnetes,

weit aufgerissenes Auge hier und ein aufgesperrter Mund mit dunk-lem Schlund dort. Einziges landschaftliches Element ist ein merk-würdiges Gebilde im Vordergrund, halb Natur, halb gebaut, das sich nach Ausweis von einer weiteren Beckmann-Zeichnung und einer Skizze als ein in die Dünen gesetzter Bunker entpuppt, als Teil des Atlantikwalls.

In dieser Kombination und eingedenk des Entstehungsjahres 1946 scheint mir hier ein verschlüsseltes Erinnerungsbild vor Augen zu stehen, eine Erinnerung an gerade erst überwundene monströse Zeiten voller Ängste, Sorgen und vermeintlicher Ausweglosigkeit. Das Thema des dem Schicksal Ausgeliefertseins vertieft der Künstler in dem Ölbild „Luftballon mit Windmühle“ aus den Jahren 1946/47 (Göpel 749), auf dem Menschen an Mühlenflügel gefesselt sind. Die Mühle wird hier zum Symbol für fortwährende und unerbittliche Bedrohung des Menschen durch das Schicksal.

Komplexe Vielschichtigkeit charakterisiert viele der Arbeiten Beckmanns. Sie betrifft das menschliche Leben schlechthin. In die-sem Sinne berührt auch diese Federzeichnung.

Wilhelm Hornbostel, Berlin

Die Mühle wird hier zum Symbol für fortwährende und unerbittliche Bedrohung des Menschen durch das Schicksal.

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249 Pablo PicassoMálaga 1881 – 1973 Mougins

„La Grande corrida, avec femme torero“. 1934

Kaltnadel auf Montval-Bütten. 49,7 × 69,7 cm (56,7 × 77,5 cm) (19 ⅝ × 27 ½ in. (22 ⅓ × 30 ½ in.). Werkverzeichnis: Geiser/Baer 433 c (von d). Einer der 50 unsignierten Abzüge aus einer Auflage von mindes-tens 61 Exemplaren. Paris, Ambroise Vollard.

Provenienz Privatsammlung, Schweiz

EUR 12.000–15.000 USD 13,600–17,000

Ausstellung Pablo Picasso. Frauen – Stiere – Alte Meister. Berlin, Kupferstichkabinett, Staatliche Museen zu Berlin, 2013/14, Kat.-Nr. L 23, Abbildung S. 113

Literatur und Abbildung Anita Beloubek-Hammer: Pablo Picasso: Der große Stierkampf, mit Stierkämp-ferin, 1934. In: Die Weltkunst, KUNST-STÜCK No. 36, Januar 2014, S. 106/107, mit Abbildung

Es war, glaube ich, im September 1960, als ich – ich war Student – in der römischen Arena von Arles, zum ersten Mal einen Stierkampf sah. Bis dahin war Arles für mich die Stadt van Goghs gewesen. Van Gogh war der Grund, warum ich in meinen Ferien Arles besuchte. Die Corrida war nur eine Gelegenheit, die ich ergriff, natürlich mit schlechtem Gewissen, da in Hamburg, meiner Heimatstadt, keine Stiere zur blutigen Unterhaltung umgebracht wurden. Einer der Toreros in Arles war ein berühmter spanischer Matador, an dessen Namen ich mich nicht erinnern kann. An wen ich mich aber stark erinnere, ist ein anderer Spanier. Beim Verlassen der Arena hörte ich plötzlich ein Murmeln: „Picasso! Cocteau!“ Sie kamen direkt auf mich zu. Meine erste Corrida hatte ich in der Gegenwart des Malers gesehen, der, von seinen Kindertagen an, immer wieder zum Stier-kampf als Motiv zurückgekehrt war. Jahrzehnte später, in San Fran-cisco, konnte ich einen Picasso-Druck erwerben, datiert 1961, der, jedenfalls für mich, „meinen“ Stierkampf wiedergab. Dieser Druck deutet eine weite Arena mit Zuschauern an. In der Mitte des Bildes lockt ein Banderillero den Stier mit einem Tuch. Im rechten unteren Drittel wartet ein Picador mit seiner Lanze auf den Ritt in die Arena.

„La Grande Corrida, avec Femme Torero“ von 1934 ist dieser Darstellung völlig entgegengesetzt. Während mein Druck von 1961 das Ritual des Stierkampfs zeigt, ist der Gegenstand auf der „Grande Corrida“ die Vehemenz des Kampfes, die fast dämonische Wut des bereits von der Lanze verwundeten Stiers, die Verrenkungen der Beteiligten, einschließlich der Stierkämpferin, in einer hochange-spannten Vermischung. Die Technik der Kaltnadel ermöglicht eine

Feinheit der Linien, die die Intensität der Darstellung verstärkt. Ohne Frage hat das Ganze etwas Erotisches, das durch das Portrait der Geliebten Picassos, Marie-Thérèse Walter, als einer entfernten Zuschauerin erhöht wird. 1934, schreibt John Richardson, Picassos Biograf, waren die eifersüchtigen Wutanfälle von Olga Koklova, Picassos Frau, so heftig geworden, dass Ärzte die Trennung von ihrem Mann arrangierten. Ist „La Grande Corrida“ auch eine Allegorie, die es offen lässt, wer die Rolle des Stiers und wer die Rolle der Stierkämp-ferin spielt?

Gerhard Casper, Stanford

Beim Verlassen der Arena hörte ich plötzlich ein Murmeln: „Picasso! Cocteau!“ Sie kamen direkt auf mich zu.

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250 Pablo PicassoMálaga 1881 – 1973 Mougins

„Femme au col à Rubens“. 1939

Aquatinta auf Montval-Bütten. 28,2 × 23,3 cm (44,2 × 33,5 cm) (11 ⅛ × 9 ⅛ in. (17 ⅜ × 13 ¼ in.)). Gewidmet, signiert und datiert: pour Fulland Picasso PARIS le 27 Avril 1942. Werkverzeichnis: Baer 671 b (von c). Einer von mindestens 58 teilweise nummerierten Abzügen nach der Verstählung der Platte. Paris, Galerie Louise Leiris.

Provenienz Fulland, Paris (1942 als Geschenk des Künstlers erhalten) / Galerie Schöne-wald Fine Arts, Düsseldorf / Galerie Leu, München (2012)

Verkauft

Ausstellung Pablo Picasso. Frauen – Stiere – Alte Meister. Berlin, Kupferstichkabinett, Staatliche Museen zu Berlin, 2014, Kat.-Nr. L 25, Abbildung S. 83 / Picasso und Deutschland. Die Sammlung Würth in Kooperation mit dem Museo Picasso Málaga. Schwäbisch Hall, Kunsthalle Würth, 2016 (Leihgabe, außer Katalog)

„Ich weiß nicht, ob ich ein großer Maler bin, aber ich bin ein großer Zeichner.“ Ja, das hat Picasso gesagt, zu seinem Dichterfreund Max Jacob, in den frühen Pariser Jahren. Picasso war da noch recht jung und im Rückblick darf man feststellen, dass seine Selbsteinschätzung nicht ganz richtig war, aber dennoch zutrifft. Denn zum Sinnbild des modernen Künstlers, den man in einem Atemzug nur mit den Aller-größten nennt, mit Leonardo, Michelangelo, Raffael, Rembrandt und Dürer, ist Picasso gerade auch durch seine Grafik geworden.

Dabei ist er ein fanatischer Frauen-Zeichner, manchmal Erotiker, manchmal Erforscher der geliebten Seele, so wie bei diesem Por-trait von Marie-Thérèse Walter, die er 1927 kennen- und dann lieben lernte. Picasso hat sich mit seinem Blick in „die biomorph-vegetati-ve Passivität der Marie-Thérèse“ (Werner Spies) hineinmeditiert, die in dieser Zeit, um 1939, schon eine Konkurrentin bei Pablo hatte, nämlich Dora Maar. Mit den Frauen zusammenzuleben, sie zu kennen und zu lieben, war für Picasso die Bedingung allen Portraitierens. Einmal lehnte er sogar einen Portrait-Auftrag der Sammlerin Helena Rubinstein ab mit dem Argument, sie ja nicht zu kennen. Aber wir sind doch seit Jahren befreundet, beschwerte sich Rubinstein. Picassos Antwort: „Kennen. Ich meine damit: bevor ich das Portrait einer Frau mache, möchte ich ein oder zwei Jahre mit ihr leben.“

Mit seiner kubistischen Methode, die immer verschiedene Perspektiven vereint, gliedert Picasso das Gesicht in Profil- und Frontalansicht. Er versetzt sich in ihr Antlitz und Wesen hinein, schichtend, immer eine neue Ebene auf die Aquatinta-Druckplatte auftragend, damit die verschiedenen Helligkeitsstufen entstehen. Wir, die Betrachter, versinken in den malerisch weichen Spuren von Marie-Thérèses Kleid, in ihren weiten Augen und dem freundlichen Mund. Wir rätseln: Wie mag diese stille Frau Picasso angeschaut haben, wie hat sie ihn gesehen, diesen Modernisten, der sein privates Leben so radikal öffentlich gemacht hat?

Simon Elson, Berlin

„Kennen. Ich meine damit: bevor ich das Portrait einer Frau mache, möchte ich ein oder zwei Jahre mit ihr leben.“Pablo Picasso zu Helena Rubinstein

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251 Pablo PicassoMálaga 1881 – 1973 Mougins

„Femme au fauteuil no. 1“. 1949

Lithografie auf Arches-Bütten. 69,7 × 54,4 cm (76 × 56 cm) (27 ½ × 21 ⅜ in. (29 ⅞ × 22 in.)). Rück-seitig vom Drucker Fernand Mourlot mit Bleistift monogrammiert, bezeich-net und nummeriert: FM / 134, définitif / 6/6 verso. Werkverzeichnis: Mourlot 134 / nicht bei Bloch. Einer von 6 Abzü-gen für den Künstler und den Drucker (neben der Auflage von 50 Exemplaren).

Provenienz Privatsammlung, Schweiz

Verkauft

Ausstellung Pablo Picasso. Frauen – Stiere – Alte Meister. Berlin, Kupferstichkabinett, Staatliche Museen zu Berlin, 2014, Kat.-Nr. L 28, Abbildung S. 63 / Picasso und Deutschland. Die Sammlung Würth in Kooperation mit dem Museo Picasso Málaga. Schwäbisch Hall, Kunsthalle Würth, 2016 (außer Katalog)

Die Sammlung meines Mannes besteht zu 90 Prozent aus Arbeiten auf Papier – also hochempfindlich. Wie Bernd immer sagt: „Wir sind eigentlich nur temporäre Eigentümer von Kunstwerken, sondern auch Treuhänder für die nächsten Generationen.“ Da einige seiner Lieblingsblätter in den Räumen mit großen Südfenstern bei uns hän-gen, haben wir als Lichtschutz kleine Stoffbahnen über die Rahmen gehängt. Oft bei spontanem Besuch kam die Frage auf: „Was verbirgt sich hinter den vielen Vorhängen?“ Da musste ich die Bilder schnell befreien und entschuldigte mich dabei: „Ah, ich weiß, was dahinter ist, und deswegen merke ich gar nicht mehr, dass es versteckt ist.“

Den wichtigsten Platz im Wohnzimmer bekam das Picasso-Blatt „Le Manteau Polonai“. Für Bernd ist es eines der schönsten weiblichen Portraits in der Weltkunstgeschichte. Die Grazie, Anmut und Schönheit dieses herrlichen, auch „Femme au Fauteuil“ genann-ten Portraits von Françoise Gilot habe ich immer bewundert und genossen. Manchmal fragten Freunde: „Wie hältst Du es mit all der weiblichen Konkurrenz aus?“ – „Oh, they’re just paper tigers!“ war stets meine Antwort.

Mary Ellen von Schacky-Schultz, Berlin

„Wie hältst Du es mit all der weiblichen Konkurrenz bei Euch zu Hause aus?“ – „Oh, they’re just paper tigers!“

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252 Pablo PicassoMálaga 1881 – 1973 Mougins

„Femme au fauteuil no.1“. 1948

Lithografie auf Arches-Bütten. 69,7 × 54,5 cm (76,2 × 56 cm) (27 ½ × 21 ½ in. (30 × 22 in.)). Rückseitig vom Drucker Fernand Mourlot mono-grammiert, bezeichnet und numme-riert: FM / 134, 3e ètat / 6/6 verso. Werkverzeichnis: Mourlot 134 / nicht bei Bloch. 3. Zustand (von 6). Einer von 6 Abzügen für den Künstler und den Drucker (keine öffentliche Auflage dieses Zustands).

Provenienz Fernand Mourlot, Paris / Privatsammlung, Schweden (bis 1987) /Privatsammlung, Japan (bis 2002) /Privatsammlung, Schweiz (bis 2010)

Verkauft

Ausstellung Pablo Picasso. Frauen – Stiere – Alte Meister. Berlin, Kupferstichkabinett, Staatliche Museen zu Berlin, 2014, Kat.-Nr. L 27, Abbildung S. 62 / Picasso und Deutschland. Die Sammlung Würth in Kooperation mit dem Museo Picasso Málaga. Schwäbisch Hall, Kunsthalle Würth, 2016 (Leihgabe, außer Katalog)

Was wir hier vor uns sehen, erinnert an eine der großen Sternstun-den im Leben der Villa Grisebach und von mir als Kunsthändler: Grisebach steckte noch in den Kinderschuhen, also vor über dreißig Jahren, als den Partnern aus einer schwedischen Sammlung plötz-lich das komplette lithografische Werk von Picasso angeboten wurde. Es stammte aus der über 500 Blätter umfassenden Sammlung des legendären Druckers Mourlot. Von jedem einzelnen Blatt hatte ihm Picasso einen Abzug überlassen – mit der Bemerkung „Une garde pour toi“.

Und wie kam das Konvolut dann von Mourlot zu uns? Die Bör-senkrise von 1987 löste bei dem Eigentümer eine spürbare Unruhe aus. Und so wurde aus einer am Anfang astronomischen Preisvor-stellung am Ende mithilfe der Unterstützung der Deutschen Bank ein für uns gerade noch darstellbarer Kaufpreis. Keiner von uns wird je den magischen Moment vergessen, als wir ehrfürchtig Teile der Sammlung nacheinander auf dem Fußboden meines gesamten Büros ausbreiteten. Ein Kupferstichkabinett auf Zeit. Wir waren uns bewusst, dass wir einen solchen Schatz nie wieder unser Eigen nen-nen dürfen. Wir gingen vor Picasso buchstäblich in die Knie. In dem Konvolut waren auch alle 28 Zustände der „Femme au fauteuil“ vor-handen. Dies hatte sich in Windeseile bei allen Kennern rumgespro-chen. Mein Büro wurde zum Wallfahrtsort von Grafikkennern und Picasso-Liebhabern. Es war beglückend, das Leuchten in den Augen der Besucher zu sehen — und ihr Begehren. Damals kamen die wich-tigsten und potentesten Sammler der Klassischen Moderne aus Japan, so wie es heute die Chinesen und Araber sind. Und so kam es nicht überraschend, dass einer der großen japanischen Sammler auf uns aufmerksam wurde. Der Interessent plante, mit dieser Erwer-bung den Grundstock für ein großes Picasso-Museum in seiner Hei-mat zu legen, was dann aber nie realisiert werden konnte. Im Zuge der Wirtschaftskrise zerplatzten in Japan dann rasch viele Träume, auch die kulturellen. Deshalb habe ich selbst dann aus dieser Samm-lung Jahre später im Auftrage eines großen Schweizer Sammlers den dritten Zustand aus der Serie „Femme au fauteuil“ – allerdings zu einem erheblich höheren Preis – erwerben können. Aus dessen Nachlass gelangte das Werk – dieses Mal privat – an mich. Nun wird es zum zweiten Mal den Weg von Berlin in die Welt hinaus antreten.

Bernd Schultz, Berlin

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253 Pablo PicassoMálaga 1881 – 1973 Mougins

„La femme à la fenêtre“. 1952

Aquatinta auf Arches-Velin. 83,2 × 47,4 cm (90,8 × 63,7 cm) (32 ¾ × 18 ⅝ in. (35 ¾ × 25 ⅛ in.)). Sig-niert. Werkverzeichnis: Baer 891 II B.b.1 (von C). Einer von 50 nummerierten Abzügen. Paris, Galerie Louise Leiris, 1952.

Provenienz Nachlass Michael Hertz, Bremen, 1987

EUR 150.000–200.000 USD 170,000–227,000

Ausstellung Pablo Picasso. Frauen – Stiere – Alte Meister. Berlin, Kupferstichkabinett, Staatliche Museen zu Berlin, 2014, Kat.-Nr. L 30, Abbildung S. 64 / Kunst - Handel - Leidenschaft. 50 Jahre Gale-rie Pels-Leusden. Berlin, Kampen, Zürich, 2000, Abbildung S. 180 (in der Fotografie oben links)

Kaum ein Künstler hat sich selbst ein so reiches Universum geschaf-fen wie Pablo Picasso – ein Universum, in dem er völlig frei über seine gestalterischen Mittel verfügt. Spielerisch und scheinbar mühelos bewegt er sich zwischen den Medien, überprüft immer wieder seine Themen und Materialien, interpretiert sie neu, erwei-tert die Grenzen des Möglichen. Dabei greifen künstlerische Aus-drucksformen und persönliche Lebensumstände so eng ineinander wie bei kaum einem anderen.

„La femme à la fenêtre“ ist Françoise Gilot, Picassos Lebens-gefährtin der Jahre 1943-1953. In Paris während der Zeit der deut-schen Besatzung hatte er die junge selbstbewusste Malerin kennen-gelernt und war mit ihr nach Kriegsende an die Côte d’Azur gezogen. Die Lebensfreude der gemeinsamen Jahre in Antibes und Vallauris, in denen auch die Kinder Claude und Paloma geboren wurden, spie-gelt sich in Picassos Motiven tanzender Mänaden, Flöte spielender Faune und den Bildnissen von Françoise als eleganter „Blumenfrau“ – stets en face und in üppigen organischen Formen dargestellt.

Für sein eindringliches, die Geliebte geradezu sezierendes Bildnis wählt Picasso das druckgraphische Verfahren der Aquatinta, bei dem malerische und grafische Gestaltung ineinander überge-hen, sowie erstmals die Profilansicht – anknüpfend an die Dora Maar Portraits der 1930er-Jahre. Kubistische Formanalyse und geo-metrische Stilisierung stehen sinnbildlich für eine drastische Ver-änderung der Liebesbeziehung. Trotz aller Deformation bleibt die Individualität der Dargestellten gewahrt. Ihr ist eine große Formen-vielfalt aus stilllebenhaften Elementen, pflanzlich ornamentalen und zart hingetupften Strukturen gewidmet, die sich zu einer viel-schichtigen Portraitstudie fügen. Ein besonderer Akzent liegt auf den ausdrucksvollen Händen, die sich wie große Blätter an die Wand des gläsernen Kerkers pressen, in den der Maler seine Blu-menfrau gesperrt hat.

Susanne Schmid, Berlin

Ich hatte das große Glück, dass die Wohnung meiner Mutter in Bremen nur fünfzig Meter vom großen Kunsthändler Michael Hertz entfernt lag, dem Repräsentanten von Daniel Kahnweiler in Deutschland. So habe ich schon früh immer wieder Werke von Bau-meister, Nay, Oelze und natürlich Picasso in seiner Galerie gesehen. Dort entdeckte ich erstmals auch die beiden Picasso-Blätter „L’Égyptienne“ (Kat.-Nr. 254) und „La Femme à la fenêtre“, die zu meinen ersten großen Kunsterlebnissen gehören. Beide Werke haben mich mitten ins Herz getroffen. Leisten konnte ich sie mir danach natürlich nicht, was zu verschmerzen war, weil beide Blätter zur Privatsammlung des Kunsthändlers gehörten. Als Michael Hertz dann 1987 starb, habe ich als erste „La Femme à la fenêtre“ erwor-ben und zwei Jahrzehnte später dann auch „Torse de femme“.

Bernd Schultz, Berlin

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254 Pablo PicassoMálaga 1881 – 1973 Mougins

„L’Égyptienne“. 1953

Aquatinta auf Arches-Velin. 83,5 × 47,4 cm (91 × 63,4 cm) (32 ⅞ × 18 ⅝ in. (35 ⅞ × 25 in.)). Signiert. Werkverzeichnis: Baer 906 II B.b.1 (von C). Zweiter endgültiger Zustand. Eines von insgesamt 50 Exemplaren der nummerierten Auflage (ca. 15 Künstlerexemplare). Paris, Galerie Louise Leiris, 1954.

Provenienz Marguerite Maud Savary (bis 1969) / Privatsammlung, Nordrhein-Westfalen (seit 1969) / Kunstkontor Dr. Doris Möllers, Münster (bis 2012)

EUR 150.000–200.000 USD 170,000–227,000

Ausstellung Pablo Picasso. Frauen – Stiere – Alte Meister. Berlin, Kupferstichkabinett, Staatliche Museen zu Berlin, 2014, Kat.-Nr. L 31, Abbildung S. 65 / Kunst - Handel - Leidenschaft. 50 Jahre Galerie Pels-Leusden. Berlin, Kampen, Zürich, 2000, Abbildung S. 180 (in der Foto-grafie oben links)

Literatur und Abbildung Auktion: Succession de Madame Marguerite Maud Savary. Ensemble Exceptionnel d’estampes de P. Picasso. Palais Galliera, Paris, März 1969, Kat.-Nr. 102

Das monumentale Portrait ist eines der letzten Bildnisse, das Pablo Picasso von Françoise Gilot fertigte, bevor diese den Künstler im Herbst 1953 endgültig verließ. Die bildfüllende Frontalität verleiht der Darstellung ikonenhafte Präsenz. Doch von den ebenmäßigen Gesichtszügen, den fließenden, organischen Formen, die für Picas-sos Darstellungen von Gilot so kennzeichnend waren, ist nichts geblieben. In einem furiosen expressiven Geschehen wird alles Wiedererkennbare zerschlagen und neu zusammengesetzt. In den Gesichtszügen prallen die Fragmente aufeinander, werden in mikro-

benartige Urzellen zerlegt, rechts hat sich ein Nagel ins Antlitz gebohrt. Die ausgeprägten Schwarzweiß-Kontraste, die sich wir-kungsvoll von der körnigen Bildoberfläche abheben, unterstreichen die Dynamik der Komposition, ebenso die großflächigen Schraffuren der an einen ägyptischen Kopfschmuck erinnernden Haarpracht – umgeben von einem Kranz aus Stacheln.

In einer seiner kraftvollsten Grafiken verbildlicht Picasso einen gewaltigen Akt der Zerstörung wie der Neuschöpfung. „L’Égyptienne“ ist Ausdruck seines Bestrebens, mittels der Kunst die Macht über die Natur zu gewinnen, aber auch die Macht über die Frau, die es wagte, Nein zu sagen.

Susanne Schmid, Berlin

Das monumentale Portrait ist eines der letzten Bildnisse Picassos von Françoise Gilot.

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255 Marino MariniPistoia 1901 – 1980 Viareggio

Alla Giostra. 1948

Gouache, Tuschfeder und -pinsel auf bräunlichem Papier. 49,5 × 33,5 cm (19 ½ × 13 ¼ in.). Unten links mit Blei-stift signiert und datiert: Marini 1948.

Provenienz Galerie Romeo Toninelli, Rom (1976)

EUR 8.000–12.000 USD 9,090–13,600

Ausstellung Europäische Meisterzeichnungen und Aquarelle. Berlin, Galerie Pels-Leus-den, 1978/79, Kat.-Nr. 119a, S. 8, Abbil-dung S. 47 / 30 Jahre Kunsthandlung Pels-Leusden. Berlin, Galerie Pels-Leusden, 1980, Kat.-Nr. 100a, S. 9

Literatur und Abbildung Franco Russoli: Marino Marini. Bilder und Zeichnungen. Stuttgart, Hatje Cantz, 1963, S. 143, Abbildung Nr. 134 / Abraham Marie Hammacher: Marino Marini. Sculpture, Painting, Drawing. New York, 1969, Kat.-Nr. 116, S. 116, mit Abbildung (hier betitelt: As in a Joust)

Mein erstes Kunstwerk war das Portrait von Thomas Mann von Mari-no Marini. Es muss Ende der Fünfzigerjahre gewesen sein, als mir dieses Blatt in einem Harzburger Antiquariat begegnete. Da wir im Landschulheim die „Buddenbrooks“ wie auch den „Zauberberg“ gelesen hatten und ich dem Dichter verfallen war, habe ich Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, dass mein Vater mir den Erwerb ermöglichte. So habe ich zu Marino Marini, der neben seinen Pfer-dedarstellungen zu den größten Portraitisten gehört, immer eine besondere Beziehung gehabt.

Bernd Schultz, Berlin

Obwohl Toninelli Arte Moderna 1963 in Mailand ein ganzes Buch über Marinis Malerei und Zeichnungen herausgegeben hat, waren darin nur drei Zeichnungen, alte Geschenke des Künstlers, vertreten. Nach dem Tod meines Vaters 1976 habe ich dieses Werk gerne an die verdienstvolle Sammlung Bernd Schultz in Berlin abgetreten, als ein reifes Beispiel des Schaffens des Bildhauers. Marino Marini ist einer der bedeutendsten Bildhauer und Portraitisten des vergangenen Jahrhunderts. Darüber hinaus hat er das Thema „Pferd und Reiter“, das seit der Antike und vor allem in der italienischen Renaissance bedeutende Schöpfungen hervorgebracht hat, für die Moderne ent-deckt. So spannt sich der Bogen von den Reiterstandbildern Marc Aurels, des „Gattamelata“ von Donatello, des „Colleoni“ von Verroc-chio, des „Cosimo de‘ Medici“ von Giambologna, des Großen Kur-fürsten von Andreas Schlüter, Peters des Großen von Etienne Mau-rice Falconet und Friedrichs des Großen von Christian Daniel Rauch bis hin zu Marinis mehrmals gestalteten „Cavallo e Cavaliere“ ein-drucksvoll durch die Kunstgeschichte Europas.

Luigi Toninelli, Monte-Carlo

Er hat das Thema „Pferd und Reiter“ für die Moderne entdeckt.

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256 Alberto GiacomettiBergell 1901 – 1966 Chur

Nu. 1959

Bleistift auf festem Velin. 50,3 × 32,8 cm (19 ¾ × 12 ⅞ in.). Unten signiert und datiert: Alberto Giaco-metti 1959. Werkverzeichnis: Online Giacometti Database AGD Nr. 2280 (bestätigt von Nicolas Descharnes).

Provenienz Galerie Kornfeld und Klipstein, Bern / Privatsammlung, Schweiz (ab 1959) / Leonard Hutton Galleries, New York (bis 2014)

EUR 100.000–150.000 USD 114,000–170,000

Ausstellung Alberto Giacometti. Bern, Galerie Kornfeld und Klipstein, 1959 (?)

Literatur und AbbildungAuktion 1132: Impresssionist. Modern Works on Paper. Christie’s, London, 19. Juni 2013, Kat.-Nr. 138

Welch eine Frau! Wer könnte sich diesem Blick entziehen, der den Betrachter fesselt, ihn bedrängt, ihn zur Rede stellt. Würde und Autorität lassen die Figur monumental erscheinen. Das Blatt müsste noch viel größer sein, um den Raum zu fassen, den diese Frau als Distanz um sich schafft. Alberto Giacometti, der Plastiker, hat in die Zweidimensionalität seiner Zeichnung eine raumgreifende Skulptur gestellt. Ein dichtes Netz von Linien modelliert den Körper mit üppi-gen Brüsten und die fast endlos langen Beine. Die Gestalt scheint sich vom Hintergrund zu lösen, der mit wenigen Strichen angedeutet ist. Sie steht nicht starr, sondern drängt, dem Blick folgend, in laten-

ter Dynamik nach vorn – wie die Bronzeskulpturen „femmes de Venise“, wenige Jahre vor der Zeichnung entstanden, die auf großen, einen virtuellen Raum umschreibenden Basisplatten stehen. Giaco-metti hatte eine Skulptur vor Augen, als er dieses Blatt zeichnete. Das für den Künstler so typische plastische Sehen hat wohl eine sei-ner Wurzeln in der Faszination, die die altägyptische Skulptur lebenslang auf ihn ausübte.

Trotz der großen Zahl seiner Zeichnungen nach ägyptischen Skulpturen hat Giacometti in seinem plastischen Œuvre keinerlei ägyptische Motive verwendet. Dennoch sind seine Skulpturen von einer Aura pharaonischer Plastik umgeben. Sie stehen auf recht-eckigen Basisplatten oder kubischen Sockeln, einem Strukturele-ment, das sich außer bei Giacometti nur in den Statuen der alten Ägypter konsequent umgesetzt findet. Dieses formale Prinzip gibt auch der Bleistiftzeichnung mit der kleinen Basis ihre Monumentali-tät und stellt sie in einen Raum, in dem und aus dem heraus sie sich zu bewegen scheint, „im Gehen stehend und gehend im Stehen“, wie es Thomas Mann so meisterlich beschrieben hat.

Lässt sich die Dargestellte namentlich benennen? Die Gesichtszüge und die Frisur lassen an die vielen Porträts denken, die Giacometti von seiner Frau Annette geschaffen hat. Drückt sich in diesem strengen, konzentriert selbstbewussten Bildnis aus dem Jahr 1959 die Entfremdung von seiner Gemahlin aus, die der Künst-ler durch seine Liaison mit der blutjungen Caroline provozierte? Es bleibt offen. Der überlebensgroßen Bronzeskulptur „femme debout“ von 1960 hat der Künstler ebenso wie der Bleistiftzeichnung keinen Namen gegeben.

Dietrich Wildung, München

Ein dichtes Netz von Linien modelliert den Körper mit üppigen Brüsten und die fast endlos langen Beine.

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257 Karl HartungHamburg 1908 – 1967 Berlin

Ohne Titel. 1944

Kohle auf Bütten. 62,3 × 48 cm (24 ½ × 18 ⅞ in.). Unten rechts mono-grammiert und datiert: H-10-XII-44.

Provenienz Nachlass des Künstlers (bis 1987)

EUR 4.000–6.000 USD 4,550–6,820

Man fragt sich oft, welche Musik der Dichter oder der Maler gern gehört hat im Atelier, am Schreibtisch, während seines schöpferi-schen Aktes. Um die inneren Bremsklötze zu lösen, wie das Arno Schmidt einmal formuliert hat (wobei er damit eher Schnaps statt schöne Klänge meinte). Sei‘s drum. Seltener gibt es eine Empfehlung, welche Musik beim Betrachten eines Kunstwerks gewählt werden könnte – zu groß die unterstellte Gefahr, zwei widerstreitende Genüsse könnten sich neutralisieren.

Im Fall Karl Hartungs würde ich eine Ausnahme machen und vorschlagen, eine Platte von Philip Glass aufzulegen. „Einstein on the Beach“ von 1976, mit dem hypnotisch-repetitiven Eingangschor – one, two, three, four –, und sich erst dann über eine möglichst umfängliche Folge von Kohlezeichnungen des 1967 verstorbenen Berliner Bildhauers zu beugen. Es wird das Erlebnis dieser Blätter noch vertiefen. Nein, erhöhen.

Der besondere Reiz der vornehmlich abstrakten Arbeiten liegt nicht nur in ihrem intensiven Linienspiel, das sich wuchtig in der Wiederholung zu immer neuen Formfindungen fügt. Richtig süchtig nach Hartungs beherztem Kohlestrich wird erst, wer nicht ein Blatt, sondern am besten gleich hundert Blätter auf einmal studiert, one, two, three, four.

Es liegt eine ungeheuer starke Musikalität in diesen Bildhauer-zeichnungen, eine Schwingungsenergie, die der in Hamburg aufge-wachsene Künstler in den 1940er-Jahren in Paris in den Ateliers von Brancusi, Laurens oder Picasso aufnehmen und in seine eigene Handschrift transponieren konnte.

Sein Werk kennt aber auch beklemmende Momente. Die Zeit-zeugenschaft des Wehrmachtssoldaten, der erlebte Gewalt in bedrohlichen surrealistischen Chimären aufscheinen lässt – wie hier im vorliegenden Blatt aus dem Kriegsjahr 1944, auf dem ein gesichts-loses Wesen von einem Dorn gerammt wird und zugleich mit scharfem Spieß selbst Körperhaftes durchstößt.

Oliver Jahn, München

Sein Werk kennt aber auch beklemmende Momente des Wehrmachtssoldaten, der erlebte Gewalt in bedrohlichen Chimären aufscheinen lässt.

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258 Richard OelzeMagdeburg 1900 – 1980 Posteholz

„Z 140“. 1962

Kreide auf Velin. 60 × 75 cm (23 ⅝ × 29 ½ in.). Unten links mit Blei-stift signiert: Oelze. Werkverzeichnis: Damsch-Wiehager/Schmied Z 140.

Provenienz Privatsammlung, Norddeutschland (bis 2010)

EUR 10.000–15.000 USD 11,400–17,000

Ausstellung Richard Oelze. Hannover, Kestner-Gesellschaft; Braunschweig, Herzog-Anton-Ulrich-Museum; Stuttgart, Württembergischer Kunstverein; Hei-delberg, Kunstverein, und Düsseldorf, Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen, 1964/65, Kat.-Nr. 294 / Richard Oelze 1900-1980. Gemälde und Zeichnungen. Berlin, Akademie der Künste, Bielefeld, Kunsthalle, Kunstverein in Hamburg und München, Museum Villa Stuck, 1987/88, Kat.-Nr. Z 140, Abbildung S. 258

Literatur und Abbildung Auktion 180: Villa Grisebach Auktionen, Berlin, 27. November 2010, Kat.-Nr. 310

Aus der Kriegsgefangenschaft entlassen, ließ sich Richard Oelze 1946 wieder in Worpswede nieder. Nach Studien am Bauhaus hatte er sich zunächst von der Malerei der Neuen Sachlichkeit anregen lassen.

Hinter dem Alltäglichen die Überwirklichkeit aufzuspüren, war bald Oelzes Intention und ließ ihn in den 1930er-Jahren magische und rätselhafte Bilder malen: Landschaften und Figurenszenen, deren Ebenen sich verschränken, überblenden und durchdringen. Diese Formen nahm der Künstler nun wieder auf. Zuerst hält die

Natur seinem wandelnden Blick stand. Allmählich aber geben mini-male Details Anlass zum Staunen. Die Konturen zerzauster Baumwip-fel etwa, wie erstarrt zu surrealen Formationen und unter eingehen-der Betrachtung wie ein Vexierbild zu ganz anderen Inhalten mutierend. Der Grund, trügerisch wie das Moor und das Gewicht nicht haltend, tut sich womöglich auf und lässt untergehen, was fest erscheint. Und nicht zuletzt die Himmelszone, sie ist weder sturm-gepeitscht noch mit segelnden Wolken belebt wie auf den Bildern Modersohns oder Overbecks, die Worpswede zu Beginn des Jahr-hunderts bekannt gemacht hatten.

Sie kommt im späteren Schaffen Oelzes fast gar nicht mehr vor, auch nicht in der Formation abgestufter Schichten aus unter-schiedlich intensiven Grautönen von „Z 140“. In sie sind augenähn-liche Öffnungen eingeschrieben. Aber ihr Blick geht am Betrachter vorbei, der den Weg allein finden muss, im Bewusstsein, dass jenseits der Realität ein magisch-mythisches Unbekanntes existiert.

Elke Ostländer, Berlin

Wie erstarrt zu surrealen Formationen und doch wie ein Vexierbild zu anderen Inhalten mutierend.

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259 Fritz Köthe1916 – Berlin – 2005

Zu: Medea. 1951

2 Blatt: Jeweils Tuschfeder auf Bütten (eines auf Hahnemühle-Bütten). 31 × 24 cm bzw. 31,3 × 24,5 cm (12 ¼ × 9 ½ in. bzw. 12 ⅜ × 9 ⅝ in.). Ein Blatt unten rechts datiert und monogrammiert: 1951 FK. Werkverzeichnis: Nicht bei Ohff.

260 Heinz TrökesDuisburg-Hamborn 1913 – 1997 Berlin

„o.T. (Surreale Landschaft)“. 1948

Tuschfeder auf Bütten. 27,1 × 19,1 cm (10 ⅝ × 7 ½ in.). Unten rechts signiert und datiert: Trökes 48. Die Zeichnung wird unter der vorläufigen Nummer 153/1948 aufgenommen in das Online-Werkverzeichnis des Gesamtwerkes Heinz Trökes’ von Manuel Trökes, Berlin.

Provenienz Privatsammlung, Berlin (bis 2000)

EUR 900–1.200 USD 1,023–1,360

Literatur und Abbildung Auktion 81: Villa Grisebach Auktionen, Berlin, 27. Mai 2000, Kat.-Nr. 734

EUR 500–700 USD 568–795

Literatur und Abbildung Auktion 206: Villa Grisebach Auktionen, Berlin, 1. Dezember 2012, Kat.-Nr. 1435

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261 Hans Uhlmann1900 – Berlin – 1975

„Ohne Titel“. 1936

Tuschfeder, laviert, auf bräunlichem Papier, vom Künstler unter Passepartout geklebt. 14,9 × 13,3 cm (31,7 × 24,7 cm) (5 ⅞ × 5 ¼ in. (12 ½ × 9 ¾ in.)). Unten rechts mit Bleistift monogrammiert und datiert: U. 36. Auf dem Passepartout monogrammiert und datiert: H.U. 36. Werkverzeichnis: Thiele 81.

262 Hans Uhlmann1900 – Berlin – 1975

„Ohne Titel“. 1947

Tuschpinsel, -feder und Aquarell auf Velin. 58,5 × 41 cm (23 × 16 ⅛ in.). Unten rechts signiert und datiert: H. Uhlmann 1947. Werkverzeichnis: Thiele 242. Rückseitig: Verworfene Komposition. Tuschpinsel und -feder.

Provenienz Privatsammlung, Berlin (bis 2010)

EUR 1.500–2.000 USD 1,700–2,270

Literatur und Abbildung Auktion 174: Villa Grisebach Auktionen, Berlin, 5. Juni 2010, Kat.-Nr. 924

Provenienz Galerie Pels-Leusden, Berlin / Privatsammlung, Norddeutschland (bis 2011)

EUR 1.500–2.000 USD 1,700–2,270

Literatur und Abbildung Auktion 186: Villa Grisebach Auktionen, Berlin, 28. Mai 2011, Kat.-Nr. 1218

Originalgröße

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263 Hans Uhlmann1900 – Berlin – 1975

„Ohne Titel (Gruppe)“. 1947

Tuschpinsel und Aquarell auf genarbtem Papier. 57,5 × 32,2 cm (22 ⅝ × 12 ⅝ in.). Unten rechts signiert und datiert: H. Uhlmann 47. Werkverzeichnis: Thiele 204. Rück-seitig: Verworfene Komposition. Tuschpinsel und Aquarell.

Provenienz Galerie Michael Hertz, Bremen / Galerie Fred Jahn, München (2013)

EUR 1.500–2.000 USD 1,700–2,270

Ausstellung Hans Uhlmann. Berlin, Akademie der Künste, 1968, Kat.-Nr. 156, S. 31, mit Abbildung / Hans Uhlmann. Die Aquarelle und Zeichnungen. Duisburg, Wilhelm-Lehmbruck-Museum, und Berlin, Berlinische Galerie, 1990/91, Kat.-Nr. 33, S. 135, Abb. 16, S. 69 / Hans Uhlmann. Arbeiten auf Papier 1947-1965. München, Galerie Fred Jahn, 2013 (außer Katalog)

Literatur und Abbildung Fritz Baumgart: Uhlmann: Handzeichnungen. Frankfurt a.M., 1960, Abbildung 6 (hier betitelt: Stele)

264 Hans Uhlmann1900 – Berlin – 1975

„Ohne Titel“. 1948

Tuschpinsel und Aquarell auf bräunlichem Papier. 60,7 × 39 cm (23 ⅞ × 15 ⅜ in.). Unten rechts signiert und datiert: Uhlmann 48. Rückseitig signiert, datiert und bezeichnet: Uhlmann 1948 farbige Tuschzeichnung 60,5 x 39 cm. Werkverzeichnis: Thiele 317.

EUR 1.500–2.000 USD 1,700–2,270

Ausstellung Henry Moore: Impuls für Europa. Münster, LWL-Museum für Kunst und Kultur, 2016/17, Kat.-Nr. 111, Abbildung S. 207

Literatur und Abbildung Auktion 171: Villa Grisebach Auktionen, Berlin, 28. November 2009, Kat.-Nr. 1063

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265 Ernst Wilhelm NayBerlin 1902 – 1968 Köln

„Ostseefischer“. 1936

Rohr- und Tuschfeder in Schwarz auf Ingres-Bütten, umlaufend auf Papier montiert. 47 × 63 cm (57,2 × 72,7 cm) (18 ½ × 24 ¾ in. (22 ½ × 28 ⅝ in.)). Unten rechts mit Bleistift signiert und datiert: EW Nay 36. Werkverzeichnis: Claesges 36-076.

Provenienz Privatsammlung, Berlin (bis 2011)

EUR 4.000–6.000 USD 4,550–6,820

Literatur und Abbildung Auktion 191: Villa Grisebach Auktionen, Berlin, 25. November 2011, Kat.-Nr. 430

Sommeraufenthalte in Vietzkerstrand/Pommern inspirierten Ernst Wilhelm Nay Mitte der 1930er-Jahre zu Darstellungen von Strand, See und Fischern. „Sehr interessante Fischerzeichnungen entstan-den, mit Rohrfedern, die er sich selbst zurechtschnitzte. Bei Wind und Wetter und oft bei grellem Sonnenschein saß er stundenlang zeichnend in den Dünen. [...] Wenn spät abends die Fischer ihre Boote zum Fang aufs Meer lenkten, nahmen sie Nay oft mit.“ (Elly Nay, zitiert nach: E.W. Nay: Bilder und Dokumente. München, 1980, S. 60) Nay selbst sagte: „Nun es tut mir und auch meiner Frau sehr

gut, hier in der Natur zu leben und teilzunehmen an dem elementa-ren Leben der Fischer, das ich täglich von neuem in geistiges Leben zu verwandeln mich bemühe – einem roten Faden folgend.“ (a.a.O., S. 62)

Diese Erfahrung setzte sich in den Lofotenbildern der nach-folgenden Jahre fort, die gleichfalls bestrebt waren, die der Natur innewohnenden Kräfte ins Bild zu fassen. Mit seinem Ansatz stand Nay in der Nähe jener Künstler, die sich für die Mächte innerhalb des Kosmos interessierten, wie Franz Marc oder Fritz Winter. Ihm selbst sollte die originäre Energie dauernde Reibungsfläche sein und noch Jahrzehnte später trieb sie seine völlig gegenstandslosen Farbkom-positionen an und füllte sie mit Inhalt.

Elke Ostländer, Berlin

„Bei Wind und Wetter und oft bei grellem Sonnenschein saß er stundenlang zeichnend in den Dünen.“Elly Nay

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266 Ernst Wilhelm NayBerlin 1902 – 1968 Köln

„Blaue Sitzende mit Spiegel“. 1947

Gouache auf genarbtem Papier. 40 × 27 cm (15 ¾ × 10 ⅝ in.). Oben links mit Bleistift signiert und datiert: NAY 47-4. Werkverzeichnis: Claesges 47-035.

Provenienz Kunstverein, Hamburg (1947) / Erich Wendt, Hannover (1947) / Privatsammlung (1997) / Galerie Margret Heuser, Düsseldorf (1999) / Privatsammlung, Nordrhein-Westfalen

EUR 25.000–35.000 USD 28,400–39,800

Ausstellung Kunstverein Hamburg, Lübeck, 1947, Kat.-Nr. 49 (hier betitelt: Komposition c) / E.W. Nay. Hannover, Kestner-Gesell-schaft, 1950, Kat.-Nr. 90 / Düsseldorf, Galerie Margret Heuser, 1999, mit Abbil-dung

Literatur und Abbildung Auktion: German & Austrian Art. Christie’s, London, 9. Oktober 1997, Kat.-Nr. 254 / Auktion 165: Villa Grise-bach Auktionen, Berlin, 5. Juni 2009, Kat.-Nr. 43

Die 1940er-Jahre waren im Schaffen von Ernst Wilhelm Nay von den so benannten „Hekatebildern“ bestimmt. Nach Nays Rückkehr aus dem amerikanischen Sammellager in Eger verband sich seit 1945 glückhaft Figürliches und Ornamentales zu einem Neubeginn in sei-nem Werk. Nay begann, sein Bestreben zu verwirklichen, ein Bild frei aus der Farbe heraus zu gestalten. War bereits seinen frühen Werken ein schwingender, rhythmischer Farbverlauf zu eigen, so gelingt es ihm jetzt, den Raum in die flächige Erscheinung des Bildes einzu-führen. Aus der Spannung der Farbe heraus entwickelt sich über

Gegensätzliches die Tiefe. Um 1946/47 schreibt Nay seine Gedanken zu dieser Fragestellung nieder: „Was geschieht nun? Wie ist es mög-lich, die als grundlegende Gesetze der Malerei erkannten Formprin-zipien zu einem neuen, aus der Farbe gebauten Bild zu verwenden? Erkannt ist nunmehr, daß es ohne diese Gesetzmäßigkeiten nicht geht, denn sie sind nicht erfundene sondern der physischen wie geistigen Natur des Menschen analoge Gesetze, es sind kosmische Gesetze. Die Primitivierung, die Zurückführung dieser Gesetze auf Fläche und Linie, ist als ungenügend erkannt. Mithin muß also das organische Bild entstehen.“ (zitiert nach: E.W. Nay, Lesebuch. Selbstzeugnisse und Schriften 1931-1968. Köln, 2002, S. 38)

Die Gouache des Jahres 1947 variiert die „Frau vor dem Spie-gel“, klassisches Thema der Malerei seit Jahrhunderten. Am rechten Bildrand erhebt sich in einem in Grün, Schwarz und Ocker konstru-ierten Raum eine Gestalt. Sie ist von lichtem Blau mit weißen Höhun-gen umfangen. Das zeichenhafte Gesicht der in das Blau einge-schlossenen Figur schaut in den leeren Spiegel. Zu den Seiten der Sitzenden lockert Nay die Oberflächenstruktur mit grafischen Mus-tern und Linien auf. Unter ihnen ist auch das für Nay charakteristi-sche und in zahlreichen Arbeiten anzutreffende rautierte Muster mit Innenzeichnung zu entdecken, es gibt das Gewand der Sitzenden wieder.

Dynamische Linien und kraftvolle Formgebilde fügen sich kon-zentriert zu einem – trotz der kleinen Dimensionen – fast monumen-talen Gesamteindruck, den ein innerer Rhythmus bestimmt. Er wird den Künstler über die „Fugalen Bilder“ und die „Scheibenbilder“ bis in die späten 1960er-Jahre hinein auf dem Weg zum absoluten Bild begleiten.

Elke Ostländer, Berlin

Aus der Spannung der Farbe heraus entwickelt sich über Gegensätzliches die Tiefe.

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267 Karl HartungHamburg 1908 – 1967 Berlin

Liegende. Um 1948/49

Kohle auf Velin. 44 × 62 cm (17 ⅜ × 24 ⅜ in.). Rückseitig von der Tochter des Künstlers beschriftet: Nachlass Karl Hartung Hanne Hartung.

Provenienz Nachlass des Künstlers (bis 1987)

EUR 3.000–4.000 USD 3,410–4,550

Ausstellung Henry Moore: Impuls für Europa. Müns-ter, LWL-Museum für Kunst und Kultur, 2016/17, Kat.-Nr. 2, Abbildung S. 93

Man fragt sich oft, welche Musik der Dichter oder der Maler gern gehört hat im Atelier, am Schreibtisch, während seines schöpferi-schen Aktes. Um die inneren Bremsklötze zu lösen, wie das Arno Schmidt einmal formuliert hat (wobei er damit eher Schnaps statt schöne Klänge meinte). Sei’s drum. Seltener gibt es eine Empfeh-lung, welche Musik beim Betrachten eines Kunstwerks gewählt wer-den könnte – zu groß die unterstellte Gefahr, zwei widerstreitende Genüsse könnten sich neutralisieren.

Im Fall Karl Hartungs würde ich eine Ausnahme machen und vorschlagen, eine Platte von Philip Glass aufzulegen. „Einstein on the Beach“ von 1976, mit dem hypnotisch repetitiven Eingangschor – one, two, three, four –, und sich erst dann über eine möglichst umfängliche Folge von Kohlezeichnungen des 1967 verstorbenen Berliner Bildhauers zu beugen. Es wird das Erlebnis dieser Blätter noch vertiefen. Nein, erhöhen.

Der besondere Reiz dieser vornehmlich abstrakten Arbeiten liegt nicht nur in ihrem intensiven Linienspiel, das sich wuchtig in der Wiederholung zu immer neuen Formfindungen fügt. Richtig süchtig nach Hartungs beherztem Kohlestrich wird erst, wer nicht eines, sondern am besten gleich hundert auf einmal studiert, one, two, three, four.

Es liegt eine ungeheuer starke Musikalität in diesen Bildhauer-zeichnungen, eine Schwingungsenergie, die der in Hamburg aufge-wachsene Künstler in den 1940er-Jahren in Paris in den Ateliers von Brancusi, Laurens oder Picasso aufnehmen und in seine eigene Handschrift transponieren konnte.

Hartungs Werk kennt auch beklemmende Momente. Die Zeit-zeugenschaft des Wehrmachtssoldaten, der erlebte Gewalt in bedrohlichen surrealistischen Chimären aufscheinen lässt (Kat.-Nr. 257). Die Akte und Figuren der Nachkriegszeit jedoch streifen solche Düsternis ab, verdichten sich dafür noch mehr in der meditativen Repetition des Pigmentauftrags. In der totalen Konzentration auf den Ausdruck der Form – vollends dann in den Kompositionen der 1950er-Jahre, handhabt Hartung sein Kohlestück wirklich wie ein Instrument, moduliert mit Spitze und Breitkante seine Melodie, die Härte und Weichheit übereinander schmiegt.

Bleibt die Liegende (um 1948/49) noch figurativ, löst sich das etwa 1950 entstandene Figurenpaar (Kat.-Nr. 268) schon vehement in seinen Umrisslinien, kantig gesetzt vom gelernten Holzbildhauer, als der Hartung einst angefangen hatte. Die Mitte der 1950er-Jahre entstandenen Kompositionen (Kat.-Nr. 269) dann lassen Gegenständ-liches ganz hinter sich und sind nur noch Linie, Fläche, Abriebs-Attraktionen. Minimal Music. In diesen Bildfolgen werden Motive variiert wie ein musikalisches Thema, one, two, three, four.

Man kann sich den Fortlauf der Stränge und Krisselflächen außerhalb des Blattes denken, endlos schwingende Möbiusbänder, erhaben und hypnotisch. Das Papier wird zum Andachtsraum, in dem das Vibrato der Linien an- und abschwillt wie ein Sakralchorus. Karl Hartung übrigens hörte beim Zeichnen gern jüdische Gebetsge-sänge, immer Freitagnachmittag zum Sabbat auf RIAS Berlin.

Oliver Jahn, München

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268 Karl HartungHamburg 1908 – 1967 Berlin

Zwei Figuren. Um 1950

Kreide auf gelblichem Papier, auf Japan aufgezogen. 42,8 × 60,8 cm (16 ⅞ × 23 ⅞ in.). Unten rechts signiert: Hartung.

EUR 3.000–4.000 USD 3,410–4,550

Literatur und Abbildung Auktion 132: Villa Grisebach Auktionen, Berlin, 26. November 2005, Kat.-Nr. 772

269 Karl HartungHamburg 1908 – 1967 Berlin

Ohne Titel. Um 1955

Kohle, auf Papier. 65 × 42,9 cm (25 ⅝ × 16 ⅞ in.). Unten rechts signiert und bezeichnet: Hartung Berlin.

Provenienz Nachlass des Künstlers

EUR 3.000–4.000 USD 3,410–4,550

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270 Eduard BargheerFinkenwerder 1901 – 1979 Hamburg

Häuser auf Ischia. 1965

Aquarell auf Bütten. 23 × 31,5 cm (9 × 12 ⅜ in.). Unten mittig mit Bleistift signiert und datiert: Bargheer 65 Provenienz Privatsammlung, Rheinland / Galerie Alex Vömel, Düsseldorf (2012)

EUR 1.500–2.000 USD 1,700–2,270

In den frühen 1950er-Jahren entwickelte sich Ischia zu einem Treffpunkt der deutschen Künstlerszene. Während der Sommermonate begegneten sich dort Werner Gilles, Hans Purrmann, Werner Heldt, der Musiker Hans Werner Henze – und Eduard Bargheer, der mit diesen Persönlichkei-ten inspirierende Bekanntschaften schloss. Bargheer war begeistert von der prägnanten Landschaft, besonders aber faszinierte ihn das hellstrahlende Licht des Südens, das ideale Voraussetzungen für seine künstlerische Arbeit bot. Seit seiner ersten Italienreise im Jahr 1925 wurde ihm der Stiefel im Mittelmeer ein Sehnsuchtsort, als er 1939 Deutsch-land verließ, schließlich auch Zuflucht. Nach seiner Rück-kehr nach Hamburg ließ ihn die Insel nicht los und er lebte abwechselnd in Blankenese und in Forio. Dort entstanden auch die „Häuser auf Ischia“. Alles erscheint in einem unge-heuer vielfältigen Kolorit: Gedämpfte dunkle Töne, gleich der vom späten Sonnenlicht beschienenen Natur, wechseln sich ab mit frischem Türkisgrün, Violett und Altrosa und erzeugen eine zauberhafte Magie. Helle Stege bilden ein ver-bindendes Geflecht, das die kalkgetünchten Mauern herauf-beschwört, die in Forio die engen Gärten und Höfe umge-ben. Wie kaum ein anderer Künstler wusste Bargheer hier die Möglichkeiten des Aquarells zu nutzen. Seine Blätter sind

271 Eduard BargheerFinkenwerder 1901 – 1979 Hamburg

Ohne Titel (Häuser). Um 1965

Tuschfeder auf Bütten. 22 × 28 cm (8 ⅝ × 11 in.). Unten links mit Bleistift signiert: Bargheer.

Provenienz Privatsammlung, Baden-Württemberg (bis 2011)

EUR 400–600 USD 455–682

Literatur und Abbildung Auktion 198: Villa Grisebach Auktionen, Berlin, 2. Juni 2012, Kat.-Nr. 1186

allein Licht und Farbe und entwickeln ihren Reiz durch das lebendige Spannungsverhältnis, gleichzeitig Abbild und autonomes Bild zu sein.

Eine motivisch ähnliche Impression begegnet uns in der mit feiner Tuschfeder gezeichneten Arbeit Ohne Titel (Häuser). Ganz auf die wesentliche Struktur reduziert, wie ein Netz, das alles verbindet und zusammenhält, legt der Künstler die vielschichtigen runden und mehreckigen Gebäude- und Pflanzenchiffren über die gesamte Papierflä-che. Natur und Architektur verschmelzen dabei zu einer organischen Einheit.

Der Künstler vermag in dieser komplexen Zeichnung auszudrücken, was in anderen Techniken nicht möglich wäre. Sie animiert geradezu, in den Rhythmus und das Eigenleben der Bildstruktur einzutauchen und Assoziationen zu vertiefen. Bargheer übersetzt die erlebte Natur in die universelle Sprache der Abstraktion – und befreit sie damit von Raum und Zeit. Form und Farbe werden zu einem eigen-ständigen Ereignis, das sich in der Betrachtung immer wieder aufs Neue erleben lässt.

Thole Rotermund, Hamburg

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272 Werner HeldtBerlin 1904 – 1954 Sant’Angelo d’Ischia

Berliner Häuser. Um 1947/48

Kohle auf Bütten. 47,8 × 36,4 cm (18 ⅞ × 14 ⅜ in.). Werkverzeichnis: Nicht bei Seel.

Provenienz Privatsammlung, Berlin (bis 2002) / Privatsammlung, Schweiz (bis 2009)

EUR 10.000–15.000 USD 11,400–17,000

Literatur und Abbildung Auktion 100: Villa Grisebach Auktionen, Berlin, 7. Juni 2002, Kat.-Nr. 88 / Auktion 170: Villa Grisebach Auktionen, Berlin, 28. November 2009, Kat.-Nr. 283

Wir müssen über das Leben von Werner Heldt nicht viel wissen, wenn wir seine besten Bilder sehen. Denn mit ihnen steht dann nahezu unverdeckt und entschlüsselt vor unseren Augen: ein Leben der Ein-samkeit und ungelöster Rätsel. Immer wieder diese menschenleere Heimatstadt Berlin, gähnende Fenster, Träume einer zum Wider-stand entschlossenen Angst. Abgewandt vom Leben, von freudlosen, schwarz-weißen Häuserwänden und Winkeln, eine unbewohnte Stadt in einer unbewohnbaren Welt.

Zeichnungen, schreibt Matisse, sind ein „Ausdruck vom Ursprung her, der ohne Schwere unmittelbar in den Geist des Betrachters eingeht“. Oder, vielleicht für den Zeichner Werner Heldt noch treffender, Paul Klee: Zeichnen ist ein „denkerischer Vorgang“, eine „psychische Improvisation“. Für mich sind es wohl deswegen immer die Zeichnungen, mit denen große Maler ihren tiefsten Aus-druck erreichen.

Werner Heldt war durch sein rastlos ruheloses Denken wohl auch in seiner bildnerischen Arbeit ein oft behinderter Künstler. Niemals mit sich einig, immer auf der Suche nach Sinn und Bedeu-tung seines Tuns. Ein glänzender und gnadenloser Beobachter seiner dramatischen Zeit (geboren 1904, gestorben 1954), eindrucksvoller Stilist seiner Essays, eher Männern zugeneigt, missverstanden von an ihm verzweifelnden Frauen. Und immer der Alkohol ein zerstöre-rischer Trost.

Heldt hatte sein Künstlerleben mit Musik begonnen. Man kann das in seinen Bildern spüren: trotzige Trauermärsche in Schwarz-Weiß. So auch die Zeichnung „Berliner Häuser“ von 1947/48. Für mich eines der ergreifendsten Städtebilder überhaupt: Hier gibt es kein Pardon! Edward Hopper schaut zu.

Und dann diese Bilderfolge „Berlin am Meer“, diese Sehnsucht nach Freiheit, Ruhe und Ewigkeit einer in steinerner Enge gefangenen Stadt. „Mit toten Augen träumen sie vom fernen Meer“, schreibt er selbst.

Betroffen schauen wir heute auf so viel Ratlosigkeit, Verzweif-lung und Resignation dieses großen Malers – und schöpfen dann doch Kraft und Hoffnung aus der Schönheit seines Werkes.

Klaus von Dohnanyi, Hamburg

Betroffen schauen wir heute auf so viel Resignation und Ratlosigkeit bei diesem großen Maler. Um dann doch Kraft und Hoffnung aus der Schönheit seines Werkes zu schöpfen.

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273 Werner HeldtBerlin 1904 – 1954 Sant’Angelo d’Ischia

„Berliner Stadtbild, vorn Stilleben mit Mandoline“. 1950

Aquarell, Gouache und Kohle auf Papier, auf Japanpapier aufgezogen. 61,3 × 83,5 cm (24 ⅛ × 32 ⅞ in.). Unten rechts mit Bleistift monogrammiert und datiert: WH 50. Werkverzeichnis: Seel 656.

Provenienz Eberhard Seel, Köln und Berlin / Privatsammlung, Rheinland / Privat-sammlung, Mecklenburg-Vorpommern (bis 2010)

EUR 60.000–80.000 USD 68,200–90,900

Ausstellung Werner Heldt. Hannover, Kestner-Gesellschaft, 1957, Kat.-Nr. 79

Literatur und Abbildung Auktion 179: Villa Grisebach Auktionen, Berlin, 26. November 2010, Kat.-Nr. 59

Die bildhafte Papierarbeit „Berliner Stadtbild, vorn Stillleben mit Mandoline“ aus dem Jahr 1950 ist eine typische Bernd Schultz-Arbeit. Sie ist von einem typischen Bernd Schultz-Künstler, um es präziser auszudrücken. Heldt ist vielleicht der typischste deutsche Nach-kriegsmaler. Die Zeitspanne des „Nachkriegs“ ist schwer einzuordnen, jenseits des unmittel-baren Neubeginns von 1945. Aber bildlich gesprochen ist es Werner Heldt, der genau diese Zeit visualisiert und dadurch auch als Künstler verkörpert. Irgendwie modern das Blatt, trotz der Ruinen im Hintergrund und der demonstrativ durchgespielten Melancholie.

Nach kurzer britischer Gefangenschaft kehrte Heldt Ende Dezember 1945 nach Berlin zurück und widmete sich sofort wieder seiner Malerei. Der Erfolg seiner Bilder und seiner malerischen Herangehensweise hatte erst nach dem Krieg 1946 eine größere Öffentlich-keit. Es hätte auch vorher gar nicht sein kön-nen – Stil und Thematik seiner späten Bilder und Zeichnungen erschlossen sich erst aus dem Zustand Berlins und den Umständen, die dazu führten.

Die Mandoline prägend und dominant in Szene gesetzt, spielte bei Heldt die Rolle eines gern gesehenen Gastes. Sie wurde generell in der Kunstgeschichte vielseitig verwendet. Picasso, Braque – aber auch Heldts Wegge-fährte und Malerfreund Werner Gilles – waren zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Protago-nisten, die die Mandoline aus der Mottenkiste der Genremalerei in ihre Stillleben oder Mili-eustudien zurückholten.

Frei hinter der Mandoline thront auf angedeutetem sandigem Untergrund eine lie-gende Volute und verkörpert den Untergang des alten historischen und kulturellen Berlin in Heldts gezeichnetem Stadtensemble. Der Betrachter des Bildes dreht sich noch einmal um und schaut auf die Trümmer von Berlin. Über den hohlen schwarzen Fassadenaugen allerdings blitzt verschmitzt eine blaue Kirch-turmspitze hervor und leuchtet den Weg in die Ferne. „Berlin am Meer“ etwa? Eine Einführungsrede, die Heldt 1946 oder 1947 für sich selbst geschrieben hatte und die so etwas wie eine Wegweisung an ihn selbst sein sollte. Das blaue Dreieck könnte ein Hinweis darauf sein. Wer Heldt kennt, der weiß, es muss aber vielleicht auch genau nicht so sein!

Schultz und Heldt verbindet objektiv keine intime Seelenver-wandtschaft, aber das getriebene, verschmitzt aus der Hüfte geschos-sene Argument, das erst nach einer gewissen Zeit seine Wirkung ent-faltet, ist vielleicht die Brücke zwischen den beiden Ausnahme- erscheinungen im Berliner Kunstbetrieb – damals wie heute.

Michael Neff, Frankfurt a.M.

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274 Werner HeldtBerlin 1904 – 1954 Sant’Angelo d’Ischia

„Aufruhr 1848“. 1948

Kohle auf gelblichem, leicht genarbtem Papier. 73 × 99,5 cm (28 ¾ × 39 ⅛ in.). Unten rechts monogrammiert und datiert: WH. 48. Werkverzeichnis: Seel 517.

Provenienz Siegfried Enkelmann, München / Privatsammlung, Berlin (bis 2008)

EUR 30.000–40.000 USD 34,100–45,500

Ausstellung Werner Heldt. Gemälde, Aquarelle, Zeichnungen (Gedächtnisausstellung). Berlin, Haus am Waldsee, 1954, Kat.-Nr. 129

Literatur und Abbildung Auktion 160: Villa Grisebach Auktionen, Berlin, 28. November 2008, Kat.-Nr. 59

1948 jährte sich zum hundertsten Mal die Märzrevolution. In beiden Teilen Deutschlands wurde des Ereignisses mit großen Veranstaltungen gedacht. Die Westzonen standen kurz vor der Gründung der Bundesrepublik, deren Verfassung viele Elemente der Paulskir-chenverfassung aufnehmen sollte. Die Rückbesinnung auf den demokratisch-liberalen Aufbruch des März 1848 tat dem bürgerlichen Bewusstsein gut nach dem Höllensturz aller bürgerli-chen Werte nach 1933. Im Osten Deutschlands versuchte die SED ganz bewusst, nicht nur an die sozialrevolu-tionären Züge und die Rolle von Marx und Engels zu erinnern, sondern für sich auch die „humanistischen” und „fortschrittlichen” Elemente der 48er-Revolution einzugemeinden. Das Ziel war, unter der schwarz-rot-goldenen Fahne der Demokratie für sich die Position des „besseren“ Deutschland zu reklamieren.

Werner Heldts großformatiges Blatt ist vor dem Hintergrund dieser Bewusstseinswelle entstanden. Wie so oft in seinem Werk baut er das Bild dramatisch auf einen städtischen Fluchtpunkt hin auf. Die Revolutions-bühne ist eine Straßenkreuzung im typischen Berlin des Spätklassizismus mit jenen sachlich-kahlen, uniformen Häuserfassaden, die die Zeitgenossen entweder als militärisch-preußisch kri-tisiert oder als Aura sachlicher Nüch-ternheit gepriesen hatten. Darin wogt eine tausendköpfige Masse. Nur im Vor-dergrund sind individuelle Gesichter erkennbar, alle anderen Köpfe sind bloße Chiffren. Fahnen wehen, Gewehrläufe recken sich in die Luft. Im linken Vordergrund schwingt einer unterm Zylinderhut den Säbel. Als Zeit-genosse der politischen Demonstratio-nen im Berlin der 1920er-Jahre und der gelenkten Massenszenen nach 1933 hat sich Heldt immer wieder mit dem Bildmotiv der erregten Massen auf den Straßen beschäftigt. Sein im doppelten Sinn großes Blatt von 1948 ist wohl als Hommage an den stürmischen Wind der Freiheit gezeichnet. Wer es länger ansieht, entdeckt darin sowohl die Spuren des dunklen Ernstes von Menzels „Aufbahrung der Märzgefallenen” als auch, im Vordergrund, die Körperdynamik von „Auf den Barrika-den“ von Delacroix.

Christoph Stölzl, Weimar

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275 Karl HoferKarlsruhe 1878 – 1955 Berlin

„Mädchen“. Um 1947/48

Aquarell, Gouache, Tuschfeder und Bleistift auf Papier. 59,2 × 37 cm (23 ¼ × 14 ⅝ in.). Unten rechts monogrammiert: CH. Werkverzeichnis: Wohlert 2720 (Nachtrag).

Provenienz Privatsammlung, Berlin (bis 2010)

EUR 15.000–20.000 USD 17,000–22,700

Literatur und Abbildung Auktion 180: Villa Grisebach Auktionen, Berlin, 27. November 2010, Kat.-Nr. 259

Schon 1924 schrieb Benno Reifenberg in der Reihe Junge Kunst über Karl Hofer: „Auf den großen deutschen Kunstausstellungen fand sich hie und da, nicht eben sonderlich in die Mitte gerückt, ein Bild [...] vor dem wie eine längst vergessene Erinnerung der Gedanke auf-taucht, daß es ein Malen gibt um der Schönheit willen. Ein solches Bild war von Karl Hofer.“ (S. 5)

Zu Beginn der 1930er-Jahre hat sich der Künstler kurz einmal mit dem Problem der Abstraktion auseinandergesetzt, kehrte aller-dings zum Gegenständlichen zurück und vernichtete sogar, was ihm nicht gelungen erschien. Doch die farbleuchtende Darstellung „Mädchen“ aus der Zeit um 1947/48 ist ein reizvolles Zeugnis des „Malens um der Schönheit willen“.

„Es ist nicht schwer, mit den Utensilien des Malers und Bild-hauers naturähnliche illusionistische Bildwerke zu schaffen. Es ist ebenso leicht, mit demselben geduldigen Material naturferne, eigenschöpferische abstrakte Gebilde zu firmen. Es ist schwer, oder vielmehr die seltene Gabe seltener Menschen, den inneren Aus-druck in der allen und zu allen Zeiten verständlichen Sprache der Naturformen darzustellen, so Karl Hofer selbst 1922 (Karl Hofer: Ein neuer Naturalismus. Eine Rundfrage des Kunstblattes, zitiert nach: Karl Hofer. Schriften. Daniel Kupper (Hg.). Berlin, 1995, S. 188).

Ein Bild, vor dem wie eine längst vergessene Erinnerung der Gedanke auftaucht, daß es ein Malen gibt um der Schönheit willen.

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276 Ernst Wilhelm NayBerlin 1902 – 1968 Köln

„Scheiben“. 1955

Gouache auf Velin. 16,5 × 24,1 cm (6 ½ × 9 ½ in.). Unten rechts mit Bleistift signiert und datiert: NAY 55. Die Arbeit wird aufgenommen in den dritten Band des Werkverzeichnisses der Arbeiten auf Papier Ernst Wilhelm Nays von Elisabeth Nay-Scheibler und Magdalene Claesges, Köln (in Vorbereitung).

Provenienz Galerie Der Spiegel, Köln (bis 1995) / Privatsammlung, Rheinland (bis 2011)

EUR 40.000–60.000 USD 45,500–68,200

Literatur und Abbildung Auktion 185: Villa Grisebach Auktionen, Berlin, 28. Mai 2011, Kat.-Nr.465

Mit der deutschen Malereigeschichte des 20. Jahrhunderts untrenn-bar verbunden ist seit 1956 der Begriff „Scheibenbild“. So nannte Ernst Wilhelm Nay eine Bilderfindung, die sich aus der Bewegung der Hand mit dem Pinsel auf der Leinwand allmählich entwickelt hatte. Schon in Nays „Rhythmischen Bildern“ zuweilen anzutreffen, setzte sich diese Form um die Mitte der 1950er-Jahre durch und bestimm-te nahezu ein Jahrzehnt, bis um 1962, seine Darstellungen von Farbe in der Fläche. Dem Verzicht des Künstlers auf jegliche figürliche Abbildung seit ungefähr 1948 folgend, entfalten sich die Einzelformen im Bildformat großzügig übereinander gelagert, ineinander ver-schränkt oder vor farbigem Grund. Die Anordnung der Farben und auch der Fluss der Formen sind unabhängig und frei vollzogen. Trotz der zahlreichen Einzelheiten folgen alle Teile einer gemeinsamen Ordnung.

„In kristallklarer, heller Farbigkeit komponierte er große und kleine Scheiben und ihre Zwischenformen zu einer bewegten Farb-choreographie auf der Fläche. Das Weiß der Leinwand bleibt nicht folienhafter Hintergrund, sondern wird als gleichwertige Farbe in die flächige Gestaltung des Bildes einbezogen“, beschreibt Elisabeth Nay-Scheibler diese Art zu malen im Werkverzeichnis der Ölgemälde (Band II, Köln, 1990, S. 62). Das über die Malschicht gespannte Linien-gerüst in Schwarz setzt mit größter Leichtigkeit, aber entschieden Akzente, die den Farben Halt verleihen. „Meine Bilder fangen an mit Nichts, werden zu einem Rechenexempel und verwandeln sich in Kunst“, schrieb der Künstler am 29. Juni 1955 (E.W. Nay, Lesebuch. Selbstzeugnisse und Schriften 1931–1968. Köln, 2002, S. 117).

Elke Ostländer, Berlin

„Meine Kunst ist anders. Ich selbst sehe mich in der Welt von einer Vielzahl von Utopien umstellt und außerhalb von Idealismus und Materialismus.“Ernst Wilhelm Nay, 1964

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277 Ernst Wilhelm NayBerlin 1902 – 1968 Köln

„Dunkelblau“. 1964

Aquarell, Tuschpinsel und Bleistift auf genarbtem Papier. 41,8 × 28,4 cm (16 ½ × 11 ⅛ in.). Rückseitig mit einer handschriftlichen Bestätigung von Eli-sabeth Nay-Scheibler: 33 [eingekreist] Nay Aquarell 1964 dkl. blau Dieses Aquarell ist von E.W. Nay Elisabeth Nay. Das Aquarell wird aufgenommen in den dritten Band des Werkverzeichnisses der Arbeiten auf Papier Ernst Wilhelm Nays von Elisabeth Nay-Scheibler und Magdalene Claesges, Köln (in Vorbereitung).

Provenienz Privatsammlung, Hessen (bis 2007)

EUR 20.000–30.000 USD 22,700–34,100

Literatur und Abbildung Auktion 144: Villa Grisebach Auktionen, Berlin, 8. Juni 2007, Kat.-Nr. 76

In den 1960er-Jahren schwingt sich die Malerei von Ernst Wilhelm Nay auf dem Weg zum absoluten Bild zu einer ungeahnten Größe auf. Ein intensiver Farbglanz prägt das Kolorit. Die Grundfarben Rot, Gelb und Blau spielen eine wichtige Rolle, vor allem letzteres bestimmt eine Anzahl hochbedeutender Gemälde, wie beispielsweise „Blaufeu-er“. Auch das Aquarell des Jahres 1964 lebt aus der Farbe Blau. Sein einheitlich erscheinender Fond ist en detail ganz unterschiedlich behandelt, er wurde teils deckend und satt aufgetragen, teils schwebend leicht und durchscheinend. Darin eingezeichnet sind Augenformen in Schwarz: Kreise oder Längsovale mit eingezeichne-tem Spitzoval. Dieses Element hat Nay seit 1963 kontinuierlich ent-wickelt. Eines dieser „Augen“ ist durch Aussparung der Farbe im weißen Papiergrund entstanden, ein Kunstgriff, der besonders im Spätwerk Nays häufig anzutreffen ist. Das Zentrum der Komposition definiert eine gelbe Scheibe im schwarz gerahmten Blau. Sie wird überfangen von einer leichtfüßigen, spindelförmigen Einzeichnung in Zinnoberrot, das in der näheren Umgebung noch unter dem Blau zu erahnen ist. Farbspritzer bis hin zum rechten äußeren Rand bele-gen seine expressive Kraft.

Mit dem Bildzeichen des Auges gab Nay der seit 1956 vorherr-schenden Formation der Scheiben einen filigranen Überfang aus zeichnerischen Linien. Das seit der Antike bekannte magische Augenzeichen – es soll die arglosen Betrachter in den Blick nehmen und Ungläubige bannen – ist schon in der frühen expressiven Phase von Nays Schaffen in den 1930er-Jahren zu finden und immer wieder, auch in den durchdachten und fein strukturierten Gefügen der 1940er- und 1950er-Jahre, unter der Oberfläche zu erahnen. Im Ent-stehungsjahr unseres Aquarells wurden bei der documenta III in einer ungewöhnlichen Hängung die drei großen, auf Anregung von Arnold Bode für diese Ausstellung entstandenen documenta-Bilder von Nay direkt unter der Decke so angebracht, dass ihre Augen die Besucher von oben herab „beobachteten“.

Der Künstler hat das Blatt selbst mit einer gezeichneten Linie deutlich als aufrecht stehendes Rechteck markiert. Trotz der Begrenzung durch diese Einfassung – sie macht die Darstellung zum Bild – ist „Dunkelblau“ ein kraftvolles Beispiel für die All-over-Struk-turen der 1960er-Jahre, die überall und nirgends aufzubrechen und anzukommen scheinen. Nays Kosmos ist in dieser Weise weitläufig gedacht und empfunden, um die Erweiterung des Weltraums just in diesen Jahren wohl wissend und sämtliche Erkenntnisse der Meta-physiker vergangener Jahrhunderte in sich bergend.

Elke Ostländer, Berlin

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Page 129: Moderne und Zeitgenössische Kunst 26. Oktober 2018

278 K.R.H. Sonderborg (d.i. Kurt Rudolf Hoffmann)Sonderborg 1923 – 2008 Hamburg

Ohne Titel. 1958

Tuschpinsel auf Velin. 63 × 50,4 cm (24 ¾ × 19 ⅞ in.). Unten rechts signiert und datiert: Sonderborg 58.

Provenienz Privatsammlung, Berlin (bis 2012)

EUR 8.000–12.000 USD 9,090–13,600

Literatur und Abbildung Auktion 198: Villa Grisebach Auktionen, Berlin, 2. Juni 2012, Kat.-Nr. 1427

In meiner Erinnerung fuhren im Sommer 1958 gegen väterlichen Willen mein ein Jahr älterer, bester Freund und Klassenkamerad Niels Gutschow, heute Architekturhistoriker und ausgewiesener Nepal-Kenner, und ich, geboren 1942, von Hamburg nach Paris. Dort waren wir eine Woche später mit unserem ehemaligen Klassenkame-raden Christian Bau verabredet, um im Anschluss aus Finanzmangel in die Vaucluse zu trampen. Auf unserem Speiseplan standen damals meist nur ein großes Baguette und eine unsere desolate Pariser Situation – mit Übernachtungen auf Seine-Bänken und an Brunnen – fein karikierende Käsesorte: „La vache qui rit“.

Unvergesslich: Wir hatten erfahren, dass der amerikanische Pianist Bud Powell ein Engagement im damals legendären Pariser Jazzclub Blue Note hatte. Zu unserer Enttäuschung mussten wir feststellen, dass der Eintritt das Vierfache unseres Tagesbudgets betrug. Wie wir daraufhin in den Hinterhof des Gebäudes gelangten, ist mir ein Rätsel – dort konnten wir durch ein geöffnetes Küchen-fenster Musikfetzen Bud Powells am Piano hören, bis wir (selig) nach einer halben Stunde verjagt wurden. In Hamburg hatten wir außer-dem vom kleinen, 80 Personen fassenden Théâtre de la Huchette in der gleichnamigen Straße gehört, aufgeführt wurde dort von Eugène Ionesco, Klassiker des Absurden Theaters, unter anderem das Stück „Die kahle Sängerin“ (seit 1957 bis heute am selben Ort!) in französi-scher Sprache. Wir kannten den Hintergrund, verstanden kein Wort, wähnten uns aber im siebten Himmel.

Unser Treffpunkt nach einer Woche war das Atelier des Künstlers K.R.H. Sonderborg. Nicht angekommen ohne Nachricht war unser Freund Bau. Seine Eltern, Kinderärzte in Hamburg-Nienstedten, waren mit vielen Künstlern befreundet und Sammler. Im Wohnzimmer ihres bungalowähnlichen Hauses hatten sie ein ungewöhnliches Format hängen, das uns eher seiner Größe als seiner Bedeutung wegen auffiel. Es war Max Ernsts „Rendezvous des Amis“ von 1922, später stolze Erwerbung – durch Vermittlung von Michael Hertz, Bremen – des Wallraf-Richartz-Museums, heute im Museum Ludwig, Köln.

Sonderborg lud uns spontan ein, mit ihm am nächsten Tag eine Teilstrecke Richtung Atlantik im Auto zu fahren – wir wollten dort Bunkeranlagen des Zweiten Weltkriegs sehen. Bei einem Halt kehr-ten wir in einem Landgasthaus ein. Eingeladen, bestellten wir beide Sandwich Jambon Beurre und waren die glücklichsten Reisenden. Unvergesslich der herzliche Abschied, sinngemäß: „Jungs, das Leben ist eine ständige Vorwärtsbewegung, Fluss und Erneuerung“. Auf geht’s, lieber Bernd Schultz!

Thomas Borgmann, Berlin

So müssen sie aussehen, die Keimzellen des französisch-deutschen Informel der 1950er-Jahre.

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279 Jean Fautrier1898 – Paris – 1964

Nu. 1960

Gouache und Tuschfeder auf Lösch-papier. 49,7 × 64,5 cm (19 ⅝ × 25 ⅜ in.). Unten rechts signiert.

Provenienz Nachlass des Künstlers / Galerie Applicat Prazan, Paris (bis 2016)

EUR 8.000–12.000 USD 9,090–13,600

Jean Fautrier war bereits 47 Jahre alt, als ihm der künstlerische Durchbruch gelang. In der Zeit direkt nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges bis zu seinem Tod im Juli 1964 etablierte er sich als einer der Hauptvertreter der École de Paris und des Informel.

Unser Blatt stammt von 1960 - jenem Jahr, in dem er anfing, die Früchte seiner Arbeit der letzten anderthalb Jahrzehnte zu ernten: Auf der Biennale in Venedig gehörte Fautrier zu den Ehren-gästen und erhielt zusammen mit Hans Hartung den Großen Preis für Malerei. Im Jahr darauf erfuhr er auf der Biennale von Tokio eine ähnliche Ehrung, auch dort wurde er mit dem Großen Preis ausge-zeichnet. 1964 folgte die große Retrospektive auf sein Schaffen im Museé d’Art moderne de la Ville de Paris, deren Eröffnung er noch erlebte und zum Anlass für eine umfangreiche Schenkung an das Museum nahm.

Doch so sehr sich Fautrier auch um die gestisch-abstrakte Malerei nach 1945 verdient gemacht hat, so deutlich ist auch, dass seine Kunst stets tief in der Realität verankert war. Die Ausstellung in der Galerie René Drouin in Paris trug den Titel „Otages“ (Geiseln). In den Werken, die damals entstanden, reflektierte er die Erfahrungen von Gewalt und institutionalisiertem Mord während der Nazi-Herr-schaft. 1960, in dem Jahr der Ehrung durch die Leitung der Venedig-Biennale, hatte sich der Furor der Erinnerungen etwas gelegt und der Künstler neue Themenfelder entdeckt.

„Nu“ (nackt), der Titel dieser in faszinierend sicheren, zupa-ckenden Pinselbewegungen gefertigten Gouache, ist grammatika-lisch ein Singular. Dem Augenschein nach wäre der Plural jedoch womöglich treffender. Die Art, wie Fautrier hier die blauen und rosa – oder sollte man nicht besser sagen: hautfarbenen? – Pinselstriche gegenseitig verschränkt und einmal diagonal über fast die gesamte Breite des Blattes zieht, eröffnet Raum für vielfältige Assoziationen - und die meisten davon erzählen von einer Zweiheit, vielleicht einem Paar, das innig umschlungen beieinander liegt. Dass Fautrier dabei Maler genug war, die Interpretation so offen wie möglich zu lassen, steigert nur den Charme, den dieses Blatt verströmt.

Ulrich Clewing, Berlin

Vielleicht ein Paar, das innig umschlungen beieinander liegt?

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280 Karl Otto GötzAachen 1914 – 2017 Niederbreitbach

„Foss IV“. 1957

Gouache auf Karton. 64,7 × 50 cm (25 ½ × 19 ⅝ in.). Unten links signiert: K.O. GÖTZ. Rückseitig signiert, betitelt und datiert: K.O. GÖTZ “FOSS IV“ 1957. Dort auch der Sammler-stempel in Violett: SAMMLUNG RISSA-GÖTZ. Die Gouache wird aufgenommen in das Werkverzeichnis der Papier-arbeiten von Karl Otto Götz von Joachim Lissmann, K.O. Götz und Rissa-Stiftung, Saarbrücken (in Vorbe- reitung).

281 Henri MichauxNamur 1899 – 1984 Paris

Komposition. (Vor) 1959

Tuschpinsel auf Japan. 17 × 11,8 cm (6 ¾ × 4 ⅝ in.). Unten rechts monogrammiert: HM.

Provenienz Privatsammlung, Hessen (bis 2015)

EUR 8.000–12.000 USD 9,090–13,600

Literatur und Abbildung K.O. Götz. Erinnerungen und Werk. Düsseldorf, 1983, Band I b, Kat.-Nr. 866, Abbildung S. 769 / Auktion 241: Villa Grise-bach Auktionen, Berlin, 5. Juni 2015, Kat.-Nr. 521

Provenienz Galerie Daniel Cordier, Paris / Paul Facchetti, Paris / Galerie Antoine Laurentin, Paris (2014)

EUR 4.000–6.000 USD 4,550–6,820

Ausstellung Henri Michaux. Encres, gouaches, dessins. Paris, Galerie Daniel Cordier, 1959 (die Originalzeichnung ursprünglich montiert auf die erste Seite des Katalogs) / Henri Michaux. Paris, Galerie Antoine Laurentin, und Brüssel, Gallery Laurentin, 2014, Abbildung S. 34

Originalgröße

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282 Gerhard AltenbourgRödichen/Thüringen 1926 – 1989 Meißen

„Im Geäst des Versunkenseins“. 1949

Pitt-Kreide auf bräunlichem Papier. 50 × 31,6 cm (19 ⅝ × 12 ½ in.). Unten mit Tuschfeder in Schwarz betitelt: Im Geäst des Versunkenseins. Mit Bleistift monogrammiert und datiert: GSt [Gerhard Ströch] 15.1.1949. Werkverzeichnis: Janda 49/91.

EUR 5.000–7.000 USD 5,680-7,950

Provenienz Galerie Brusberg, Hannover / Privatsammlung, Hessen (bis 2008)

Ausstellung Gerhard Altenbourg. Werkverzeichnis 1947-1969. Hannover, Galerie Brusberg, 1969, Kat.-Nr. 49/91, S. 131, mit Abbildung / Gerhard Altenbourg. Retrospektive 1948-1989. Durbach, Museum für Aktuelle Kunst/Sammlung Hurrle, 2013, mit Abbildung

Literatur und Abbildung Auktion 157: Villa Grisebach Auktionen, Berlin, 31. Mai 2008, Kat.-Nr. 413

283 Gerhard AltenbourgRödichen/Thüringen 1926 – 1989 Meißen

„Das Familienidyll auf dem Balkon“. 1951

Tuschfeder, Litho- und Pittkreide, laviert, auf Papier. 61 × 86 cm (24 × 33 ⅞ in.). Unten links mit Bleistift betitelt: Das Familienidyll auf dem Balkon. Am rechten Rand unten monogrammiert und datiert: GSt 51 [Gerhard Ströch]. Werkverzeichnis: Janda 51/29. Provenienz Galerie Springer, Berlin (in Kommission, 1971 zurück an den Künstler) / Privatsammlung, Österreich (bis 2014)

EUR 10.000–15.000 USD 11,400–17,000

Ausstellung Gerhard Altenbourg. Werkverzeichnis 1947–1969. Hannover, Galerie Brusberg, 1969, Kat.-Nr. 51/29, S. 142, mit Abbildung / Gerhard Altenbourg. Wurzellinien. Berlin (Ost), Kupferstich-kabinett, Staatliche Museen zu Berlin, 1987, Kat.-Nr. 84, S. 33 / Gerhard Altenbourg. Arbeiten 1947–1987. Bremen, Kunsthalle; Tübingen, Kunsthalle; Hannover, Sprengel Museum und Berlin (West), Akademie der Künste, 1988, Kat.-Nr. 50

Literatur und Abbildung Altenbourg nach Altenburg. Die Gerhard Altenbourg-Samm-lung von Gisela und Hans-Peter Schulz. Altenburg, Lindenau-Museum, 1997 (= Kulturstiftung der Länder, Patrimonia 131), Abbildung S. 10 / Auktion 233: Villa Grisebach Auktionen, Berlin, 28. November 2014, Kat.-Nr. 563

Vorne links hat der Künstler wohl Hanns-Conon von der Gabelentz, den damaligen Direktor des Lindenau-Museums Altenburg, dargestellt.

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284 Gerhard AltenbourgRödichen/Thüringen 1926 – 1989 Meißen

„Kleinleben in den Parzellen“. 1962

Pitt-Kreide und chinesische Tusche auf cremefarbenem Schoellershammer-Karton. 52 × 37 cm (20 ½ × 14 ⅝ in.). Rückseitig mit Bleistift betitelt: Klein-leben in den Parzellen. Darunter mit Farbstift in Rot signiert und datiert: Gerhard Altenbourg 1962. Werkver-zeichnis: Janda 62/2 (ohne Abbildung).

Provenienz Galerie Brusberg, Hannover (1979) / Privatsammlung, Rheinland (bis 2012)

EUR 6.000–8.000 USD 6,820–9,090

Ausstellung Gerhard Altenbourg. Retrospektive 1948-1989. Durbach, Museum für Aktuelle Kunst - Sammlung Hurrle, 2013 (außer Katalog)

Literatur und Abbildung Auktion 100: Galerie Gerda Bassenge, Berlin, 1. Dezember 2012, Kat.-Nr. 8003

Wenn schwere Formen zu schweben beginnen, der Schatten sich dem Licht verdankt, Wachsendes den Keim des Verblühens in sich trägt und Abgestorbenes den Humus für neues Leben bildet, wenn im Kleinen das Große enthalten ist – dann sind wir im Herzen von Gerhard Altenbourgs Wirken und Weben angekommen. Dann ist der Kosmos eines Blattes Papier auf dem heimischen Arbeitstisch so weit wie der Sternenhimmel über seinem thüringischen Elternhaus, in dem er bis zu seinem Tod wirkte.

Rückzug und Konzentration, denen oft die Stunden der Nacht fruchtbaren Boden gaben, sind eine Grundbedingung für Gerhard Altenbourgs Wirken gewesen – diese Blätter bedurften eines geschützten Raumes, der von der Betriebsamkeit und auch den Zumutungen der Außenwelt nicht überflutet werden sollte.

In der Nachkriegszeit entstanden psychische Notate wie das Blatt „Im Geäst des Versunkenseins“ (Kat.-Nr. 282). Grund für diese Kunst der Introspektion war natürlich vor allem der verheerende Krieg, der das Versagen der sogenannten Zivilgesellschaft und damit des Einzelnen in vorher nicht für möglich gehaltenem Ausmaß vor Augen geführt hatte. Da schien die Position des Sich-auf-sich-selbst-Verlassens moralisch geboten, um Anfechtungen ideologi-scher Art Widerstand entgegensetzen zu können. Spätere Blätter des Künstlers wie „Kleinleben in den Parzellen“ zeigen sich so ver-dichtet, dass weite Flächen des Papiers mit einem Meer aus kleinsten Strichen bedeckt sind.

Altenbourg besaß ein außergewöhnliches Empfinden für die Dualitäten in allem Lebendigen. Als Mensch wie als Künstler hat er diese Zweiheit in der Einheit akzeptiert. Auf seinen Bildern können wir sehen, dass die Innen- zur Außenform wird, der Leerraum zum dynamischen Kraftfeld, wie die Großform ihre Lebendigkeit dem Wirken vieltausendfacher winziger Striche verdankt, wie Stille sich bildet durch das Rascheln der tastenden Liniengebilde, die ihren Weg nicht kennen und doch ohne Hast unfehlbar ihren Platz finden.

Für Altenbourgs Kunst ist essenziell, wie der Bewusstseins-strom in den Bewegungen der Zeichenhand seine Entsprechung findet und der Betrachter am Prozessualen teilhaben kann, dem Mäandern der Pünktchen und Häkchen, ihrer Verkettung und ihrem Auseinan-dertreiben.

Martin Schmidt, Berlin

Wenn schwere Formen zu schweben beginnen, der Schatten sich dem Licht verdankt – dann sind wir im Herzen von Altenbourgs Weben angekommen.

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285 Gerhard AltenbourgRödichen/Thüringen 1926 – 1989 Meißen

„Dame mit Vergangenheit“. 1971

Tuschfeder auf Pergamentersatzpapier. Bis zu 69 × 63 cm (27 ⅛ × 24 ¾ in.). Werkverzeichnis: Janda 71/49. Provenienz Privatsammlung, Hessen und Berlin (bis 2011)

EUR 10.000–15.000 USD 11,400–17,000

Ausstellung Gerhard Altenbourg. Retrospektive 1948–1989. Durbach, Museum für Aktuelle Kunst - Sammlung Hurrle, 2013 (außer Katalog)

Literatur und Abbildung Auktion 185: Villa Grisebach Auktionen, Berlin, 28. Mai 2011, Kat.-Nr. 529

Wahrscheinlich eine von Altenbourg für den Propyläen-Verlag angefertigte Zeichnung für eine Offset-Auflage. Das würde erklären, warum das Blatt – völlig untypisch für Altenbourg – weder signiert noch monogrammiert, bezeichnet oder datiert ist. Das Blatt ist anscheinend auch an den Verlag in Berlin (West) geschickt worden, der Druck ist jedoch nach einem Probedruck (es ist nur ein einziger bekannt) wieder eingestellt worden. (Dieter Brusberg, Berlin).

Die meisten Blätter Altenbourgs sind im Grunde Landschaften. Auch die Morphologie von Körpern und Gesichtern bildet Höhenzüge, Furchentäler, Wildwuchs, gestutzte Zonen oder die narbigen Ober-flächen von durch Raubbau gezeichneten Gebieten. Denn Land-schaftliches ist Altenbourg Synonym für die vielen Formen der Bewegung des Lebens. Ob es dabei um den Irrgarten eines pflanzli-chen Dickichts geht oder den unkontrollierten Wuchs eines teilver-minten psychischen Geländes – oft oszillieren seine Bilder zwischen innerer und äußerer Landschaft. Das eine ist ihm so lieb wie das andere, oder besser gesagt, das eine wächst aus dem anderen und umgekehrt.

Martin Schmidt, Berlin

Die Morphologie von Körpern und Gesichtern bildet Höhenzüge, Furchentäler, Wildwuchs, gestutzte Zonen oder die narbigen Oberflächen von durch Raubbau gezeichneten Gebieten.

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286 Carlfriedrich ClausAnnaberg 1930 – 1998 Chemnitz

„Allegorischer Essay für Werner Schmidt“. 1965

Tuschfeder auf Transparentpapier (beidseitig bezeichnet). 25,5 × 20,9 cm (10 × 8 ¼ in.). Oben rechts mit Bleistift mit Widmung, signiert und datiert: für Werner Schmidt, C. Claus, Jan./Feb. 65. Werkverzeichnis: Werner Z 381.

Provenienz Privatsammlung, Sachsen (bis 2013)

EUR 10.000–15.000 USD 11,400–17,000

Ausstellung Labyrinthe. Phantastische Kunst vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Berlin, Akademie der Künste, Deutsche Gesellschaft für bildende Kunst (Kunst-verein Berlin), Baden-Baden, Staatliche Kunsthalle, und Nürnberg, Kunsthalle, 1966/67, Kat.-Nr. 318 / Carlfriedrich Claus. Erwachen im Augenblick. Sprachblätter. Karl-Marx-Stadt, Städti-sche Museen, und Münster, Westfäli-sches Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte, 1990/91, S. 207

Literatur und Abbildung Emmett Williams (Hg.): Concrete Poetry. New York und Stuttgart, 1967, mit Abbil-dung / K. Giannoulopoulos: Experi-mentelle Poesie. Goethe Institut Athen, Abbildung S. 64 (Detail) / Auktion 213: Villa Grisebach Auktionen, Berlin, 31. Mai 2013, Kat.-Nr. 722

Zu Carlfriedrich Claus, dem Klausner von Annaberg, der in einer winzigen Wohnung (sie befand sich unterhalb eines Kinos), misstrau-isch beäugt von Behörden und Instanzen, durch eine zeichnerische Arbeit, die tief und umfassend in Philosophie, Geschichte, Sprach- und Schriftkunde ausgriff, zu einem der bedeutendsten deutschen Künstler des 20. Jahrhunderts wurde, tritt in diesem doppelseitig mit filigranen Zeichen bedeckten Blatt der Name eines Förderers von Rang und Graden: derjenige Werner Schmidts, des langjährigen Direktors des Kupferstich-Kabinetts der Staatlichen Kunstsamm-lungen Dresden und späteren Generaldirektors dieser Sammlungen, eines Mannes, der, mit 29 Jahren an die Spitze einer Sammlung beru-fen, die durch die Rückkehr ihres Hauptbestandes aus der Sowjet-union wieder eine der großen Europas geworden war, ein waches Auge auf alle künstlerischen Bestrebungen im Lande hatte, die durch eine bornierte Kultur- und Medienpolitik von öffentlicher Beachtung ausgeschlossen waren, und die so entstandenen Arbeiten durch Ankäufe nobilitierte. Claus huldigte ihm mit einem Blatt, das, bereits 1966 in Nürnberg ausgestellt, in die Reihe seiner Sprachblätter gehört, einer von ihm gefundenen und entwickelten grafischen Form, die skripturale Lineaturen, die sich zumeist doppelhändig entfalteten, zu mystischen Szenerien verdichtet, die als Weltkom-mentare eigener Art zu lesen sind, den Divan-Versen gemäß („Geheimschrift“ heißt das Gedicht), die auch ins Innere der von Claus immer wieder berufenen Philosophie Ernst Blochs führen: „Geheimer Chiffren Sendung / Beschäftige die Welt, / Bis endlich jede Wendung / Sich selbst ins Gleiche stellt“.

Und dieses einzigartigen Blattes will Bernd Schultz, der bedeutende Kunsthändler und initiative Kulturbürger, sich wirklich entledigen? Er tut es für einen exzeptionellen Zweck, die Gründung eines Berliner ExilMuseums, also den groß [zusammen] angelegten Versuch, der Austreibung eines großen Teils der deutschen kulturel-len Eliten in den Jahren nach 1933 einen umfassenden Gedenkort zu widmen. Dass er auch dieses Blatt, das von etwas anderem zeugt, dem schöpferischen Überleben eines, der sein Werk im stillen, hart-näckigen Widerstand gegen alle machtbefestigte Konvention vor-antrieb, in Kauf gibt, zeigt, wie wichtig ihm dieser Gedanke ist. Man kann nur hoffen, dass das Werk ein heftiges Bietergefecht auf sich zieht! Als dem Künstler am 1. Dezember 1961 das doppelseitige Zeichnen erstmals gelungen war, schrieb er in sein Tagebuch: „Ein

Glückstag gestern: die Geburt des ersten Wesens aus Vor-der- und Hintergrund, aus Vorder- und Rückseite! Phan-tastisch die Perspektiven der Entfaltung dieser ‚okkulten’ Methode! Einbau der Zeit als konstituierendes Moment: von der anderen Seite wächst sie plötzlich heraus: die Janus-Figur, Luftwesenheit: verschwindet wieder – aber bei all dem: bleibt sichtbar.“

Friedrich Dieckmann, Berlin

Rückseite

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287 Hermann GlöcknerCotta bei Dresden 1889 – 1987 Berlin

Selbstbildnis, den Kopf nach rechts gewandt. 1950

Kohle auf Papier, auf der Rückseite eines Papierplakates („Die Entwicklung des Realismus in Werken von 9 Malern und 9 Bildhauern“ der ungarischen Ver-tretung). 59,5 × 41 cm (23 ⅜ × 16 ⅛ in.). Unten rechts mit Bleistift bezeichnet: Ostern. Rückseitig nochmals mit Blei-stift bezeichnet und datiert: Ostern 50. Werkverzeichnis: Nicht mehr bei Dittrich.

Provenienz Privatsammlung, Sachsen (bis 2010)

EUR 2.000–3.000 USD 2,270–3,410

Literatur und Abbildung Auktion 26: Schmidt Kunstauktionen Dresden, 4. Dezember 2010, Kat.-Nr. 519

„Das ist kein übliches Porträt eines Malers, eher eine ‚malerische’ Selbstanalyse, also keine Attribute: Palette, Keilrahmen oder andere Utensilien im Bilde; keine Stilisierung – nicht einmal der eigenen Formen, aber auch keinerlei Freudianertum oder gar deutende Phy-siognomik. Der Mann hat das 1950 nicht mehr nötig. Die Selbstbeob-achtung ist längst Lebensgeschichte geworden. Deshalb ist das Por-trät nur Antwort, frei von Eitelkeit und Erhabenheit, und keine Frage

mehr an das eigne Werk, an sich selber. Also kaum Psychologie! Im Gegenteil, das Bild stört womöglich die heutzutage um ihn gebilde-ten Legenden, und es stört sogar das eigne Werk, ja es wirkt störend auf die ihm nachgesagte, kühle Rationalität der Form! [...] Das beginnt mit der Komposition: ein Brustbild in schlankes Hochformat gepreßt, allein durch Flächen gebaut. Aus dem spitzwinklig angeleg-ten Dreieck des Alltagskleides wächst die Physiognomie heraus – ein malerisch modellierter, ja mit dem Pinsel geradezu gekneteter Kopf. [...] Der Kopf wirkt ganz und gar suggestiv, verinnerlichter Ausdruck offenbart Selbstbewußtsein, das sich wach und abwartend zugleich zeigt.“ (zitiert nach: Hermann Glöckner. Ein Patriarch der Moderne. John Erpenbeck (Hg.), Berlin, 1983, S. 140). So schrieb Erhard Frommhold über eines der Selbstbildnisse von Hermann Glöckner aus dem Jahr 1950. Der Text darf auch für diese Kohlezeichnung herangezogen werden.

„Der Kopf wirkt ganz und gar suggestiv, verinnerlichter Ausdruck offenbart Selbstbewußtsein, das sich wach und abwartend zugleich zeigt.“ Hermann Glöckner

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288 Hermann GlöcknerCotta bei Dresden 1889 – 1987 Berlin

Frieda [die Frau des Künstlers] auf dem Totenbett. 1968

Kohle auf Papier. 50,4 × 36,2 cm (19 ⅞ × 14 ¼ in.). Unten rechts datiert und signiert: 29.9.68 Hermann. Rück-seitig mit Bleistift bezeichnet und nochmals datiert: fix 26.09.70. Werkverzeichnis: Nicht mehr bei Dittrich.

Provenienz Privatsammlung, Sachsen (bis 2013)

EUR 2.000–3.000 USD 2,270–3,410

Literatur und Abbildung Auktion 37: Schmidt Kunstauktionen, Dresden, 14. September 2013, Kat.-Nr. 351

Am 29. September 1968 zeichnet Glöckner auf dünnem Papier mit Kohle seine Frau Frieda auf dem Totenbett. Er signiert das Blatt mit Datum und seinem Vornamen Hermann. Mit wenigen Strichen ist das ebenmäßige, noch recht jung wirkende Gesicht der Frau dargestellt: klare Stirn, kräftige Brauen über den geschlossenen Augen, gerade Nase, zarter Mund mit leicht vorgeschobener Unterlippe. Das von rechts einfallende Licht erhellt Stirn und linke Wangenpartie ebenso wie das mit wenigen Strichen angedeutete volle Haar.

Mit dieser gutaussehenden Frau war Hermann Glöckner seit 47 Jahren verheiratet. Frieda war eine Cousine, die er erst als Erwachsener kennen- und lieben lernte. 1921 haben sie in Dresden geheiratet. Sie wäre selbst gerne Malerin geworden, ihre Eltern hat-ten es nicht gestattet. Sie unterstützte ihren Mann schon zu einer Zeit, als er seinen Lebensunterhalt noch mit Kopien von Bildern aus den Dresdner Museen bestritt, sie begleitete ihn, als er endlich die Zulassung an der Kunstakademie Dresden bekam und 1927 seine ers-te Ausstellung realisieren konnte, sie war an seiner Seite, als er seine Studien zu den Grundlagen der Malerei in Form seiner Tafelwerke begann. In der Nazizeit – er galt als Mitglied der Dresdner Sezession mit seiner Kunst als „entartet“ und hatte Ausstellungsverbot – half sie ihm, wie später in der DDR, mit gemeinsamen Sgraffito-Putz-schnitt-Arbeiten für Läden und Firmen über die Runden zu kommen. Erst mit fast achtzig Jahren, im Todesjahr seiner Frau, hatte der Konstruktivist Glöckner in der DDR seine erste Einzelausstellung.

Diese Frau, jünger als er, die, wie er sagte, „die ganze Zeit mit mir gelebt und gearbeitet und großen Anteil an dem hatte, was ich tat“, ist vor ihm gestorben. Ein Leben ohne sie ist für Glöckner schwer vorstellbar, sie darf nicht sterben, sie soll bleiben, er lässt sie auferstehen, wenigstens auf dünnem Papier in Form einer Kohle-zeichnung. Eine Zeichnung, die er für sich selbst anfertigt, die er deshalb auch nur mit seinem Vornamen Hermann signiert. Glöckner versucht mit der Zeichnung den Tod zu überwinden, für ihn bleibt Frieda für immer jung und schön. Er zeichnet ein von aller Angst befreites Gesicht. Nach Hoffnungslosigkeit und Ernüchterung, nach Erschöpfung und völliger Ermattung, nach der mühseligen Reduktion auf das Allerletzte, das nur noch aus tiefem Atmen besteht, nach dem endgültig allerletzten Atemzug, kommt schließlich Erleichte-rung, ja sogar Leichtigkeit, gepaart mit ungekannter Helligkeit. Das hat Glöckner mit seiner geliebten Frau am Totenbett wohl erlebt, das gibt er an uns in dem Portrait von Frieda weiter.

Glöckner blieb noch auf eine andere sehr persönliche Art mit seiner Frau eng verbunden: Auf dem Fensterbrett seines Ateliers stand immer ein kleines Fernglas. Mit ihm konnte er jederzeit die Grabstelle von Frieda auf dem Friedhof in Lowschitz sehen und sie besuchen.

Ernst Kraas, Berlin

Er lässt sie auferstehen, wenigstens auf dünnem Papier.

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289 Hermann GlöcknerCotta bei Dresden 1889 – 1987 Berlin

Ohne Titel (Heller Mond). 1965

Collage mit Papier und Besenhaar, Bleistift auf Papier, vom Künstler auf braunen Unterlagekarton montiert. 21,6 × 15,2 cm (8 ½ × 6 in.). Unten auf dem Karton mit Kugelschreiber in Schwarz signiert, datiert und mit der Uhrzeit versehen: Glöckner 280565 / 17.00.

Provenienz Nachlass Gerhard Altenbourg / Privatsammlung, Sachsen (bis 2012) / Galerie Döbele, Dresden (2012)

EUR 4.000–6.000 USD 4,550–6,820

Literatur und Abbildung Peter Richter: Dein Mond ist aufgegan-gen In: Grisebach – Das Journal, Aus-gabe 8/2018, S. 40-41, mit Abbildung

Hermann Glöckner hat knapp hundert Jahre in Dresden gelebt und gearbeitet. Sein Studium begann er in der Kunstgewerbeschule. Nach dem Ersten Weltkrieg, den er als Soldat erlebte, setzte er seine Ausbildung an der Dresdner Kunstakademie fort. In der Literatur wird er – seiner malerischen und skulpturalen Faltungen wegen ver-ständlich – als „Konstruktivist“ bezeichnet. Aber das greift, wie der „Helle Mond“ aufs Schönste belegt, zu kurz. In Wahrheit hat Her-mann Glöckner experimentiert, mit Skulpturen, Zeichnungen,

Zufallsarbeiten, die an die „écriture automatique“ erinnern. Stets ist er seinen ganz eigenen – von Schulen freien – Weg gegangen, und der gefiel den Mächtigen nicht. Im Dritten Reich galt seine Kunst als „entartet“, er konnte weder ausstellen noch verkaufen. Dann hoffte er, sein künstlerisches Glück in der DDR zu finden, bis die stalinisti-sche Kunstdoktrin erkannte, dass er den sozialistischen Aufbau der DDR mit seinem Werk nicht beförderte.

Es hat lange gedauert, bis man seine Bedeutung wahrgenom-men hat! Erst im Jahr 2006 hat seine Heimatstadt Dresden eine neu angelegte Straße nach ihm benannt. Die ersten Arbeiten, die ich von ihm erwerben konnte, wurden aus der DDR geschmuggelt! Dieser „Helle Mond“ entstand 1965 in der kunstfeindlichsten Zeit der DDR. Wie trotzig, unsentimental sitzt der Mond auf diesem Blatt! Alles Romantische ist ihm fremd. Diese „Mondcollage“ entzaubert, ver-fremdet Glöckner mit Besenhaar, als würde der Mond in ein Gestrüpp leuchten, das Dunkle erhellen wollen. Auch setzt Glöckner den Mond keineswegs in eine sternenbestückte Himmelslandschaft. Er ist einfach da. Von welchem Ort aus er sein helles Wirken entfaltet, bleibt unklar. Mitten im „Wonnemonat Mai“ entsteht diese Arbeit, um 17.00 Uhr (wie er auf dem Blatt mit Kugelschreiber festhält): Da geht kein Mond auf, da geht kein Mond unter. Nicht die Natur strahlt uns an, sondern ein durch die applizierte Papiercollage auch noch gestörter Lichtkegel. Licht im Dunkeln, Licht trotz der Dunkelheit. Ein Meisterwerk.

Peter Raue, Berlin

Licht im Dunkeln, Licht trotz der Dunkelheit. Ein Meisterwerk.

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290 Hermann GlöcknerCotta bei Dresden 1889 – 1987 Berlin

Dreimal gebrochener Keil auf Schwarz. 1952

Tempera und Silberfarbe über Bleistift auf Pappe. 14,3 × 24,6 cm (5 ⅝ × 9 ⅝ in.). Rückseitig datiert und monogram-miert: 1952 G. Dazwischen (von Frieda Glöckner?) bezeichnet: WÜNSCHEN VIEL GUTES G. Werkverzeichnis: Vergleiche Dittrich 85 A und – nahezu identisch – Dittrich 149 sowie 205/206.

Provenienz Privatsammlung, Sachsen (bis 2009)

EUR 8.000–12.000 USD 9,090–13,600

Literatur und Abbildung Auktion 33: Schmidt Kunstauktionen Dresden, 15. September 2009, Kat.-Nr. 49

„Drei Phasen“, „Holzstäbchen vor dunklem Grund“, „Dreimal gebro-chener Keil auf Schwarz“, „Schwarzer Keil über weißem vor dunklem Graublau mit Konstruktionslinien“ – ich empfinde Glöckners Kunst als eine für Hörer. Oft gleichen seine Bilder Partitur-Auszügen, Abkürzungen eines dahinter weiterwirkenden musikalischen Geschehens – als hätte ein Taktstock den Augenblick hörbar gemacht. Seine Kunst ist anders frei und leicht. Der Gegenstand tritt zurück, das Verhältnis zum Gegenstand wird wichtiger. Die Bilder erzählen nicht oder still – Hören braucht Stille. Sie sind. Es geht um Elementares. Glöckner malt die Grundlagen. Obwohl sie auch Fixie-rungen einer Sicht aus weiter Ferne sein könnten, wirken die Bilder intim, sind Zeugnisse der Nähe. Behutsam treten sie auf, in geduldig abgewogenen Proportionen.

Uwe Tellkamp, Dresden

Originalgröße

Grisebach — Herbst 2018

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291 Hermann GlöcknerCotta bei Dresden 1889 – 1987 Berlin

Schornsteinformen in Dunkel und Rotbraun I / Schornsteinformen in Dunkel und Rotbraun II. 1971

2 Blatt: Jeweils Faltung, Tempera auf Japan. 62 × 45 cm bzw. 62 × 44,5 cm (24 ⅜ × 17 ¾ in. resp. 24 ⅜ × 17 ½ in.). Jeweils rückseitig mit Bleistift unten links signiert, bezeichnet und datiert: Glöckner Tropa [= trockenes Papier] 5/1/3 070871 / Glöckner 290771. Werk-verzeichnis: Nicht mehr bei Dittrich.

Provenienz Privatsammlung, Hessen (bis 2013) / Galerie Döbele, Dresden (2013)

EUR 8.000–10.000 USD 9,090–11,400

Grisebach — Herbst 2018

Page 141: Moderne und Zeitgenössische Kunst 26. Oktober 2018

292 Hermann GlöcknerCotta bei Dresden 1889 – 1987 Berlin

„Drei Phasen“. 1980

3 Blatt: Jeweils Faltung, Tempera auf Papier. Jeweils 70 × 50 cm (27 ½ × 19 ⅝ in.). Jeweils rückseitig mit Bleistift signiert, datiert und bezeichnet: Glöckner 1980 Faltgrafik Blatt 1 3 Phasen / 2 3 Phasen / 3 3 Phasen. Werkverzeichnis: Nicht mehr bei Dittrich.

Provenienz Privatsammlung, Thüringen (vom Künstler erworben, bis 2013) / Galerie Döbele, Dresden (2013)

EUR 9.000–12.000 USD 10,230–13,600

Der Gegenstand tritt zurück, das Verhältnis zum Gegenstand wird wichtiger. Es geht um Elementares.

Grisebach — Herbst 2018

Page 142: Moderne und Zeitgenössische Kunst 26. Oktober 2018

293 Josef HegenbarthBöhmisch-Kamnitz 1884 – 1962 Dresden

„Männerkopf“. Um 1957

Tuschpinsel auf chamoisfarbenem Papier. 37,8 × 25,7 cm (14 ⅞ × 10 ⅛ in.). Unten rechts signiert: Josef Hegenbarth. Werkverzeichnis: Zesch D II 705 (online).

294 Josef HegenbarthBöhmisch-Kamnitz 1884 – 1962 Dresden

„Frau, sich aufstützend“. Um 1947

Tuschfeder und Gouache auf Papier. 38,8 × 29,5 cm (15 ¼ × 11 ⅝ in.). Unten rechts signiert: Josef Hegenbarth. Rückseitig von Johanna Hegenbarth, der Frau des Künst-lers, mit Bleistift beschriftet und datiert: Frau, sich aufstüt-zend 1947. Werkverzeichnis: Zesch E II 585 (online).

Provenienz Nachlass des Künstlers / Privatsammlung (1980) / Galerie Döbele, Dresden (2012)

EUR 2.000–3.000 USD 2,270–3,410

Provenienz Ehemals Privatsammlung, Berlin (bis 2011)

EUR 2.000–3.000 USD 2,270–3,410

Literatur und Abbildung Auktion 186: Villa Grisebach Auktionen, Berlin, 28. Mai 2011, Kat.-Nr. 987

Grisebach — Herbst 2018

Page 143: Moderne und Zeitgenössische Kunst 26. Oktober 2018

295 Hans Theo RichterRochlitz 1902 – 1969 Dresden

Bildnis Maria Schade. 1963

Tuschpinsel und -feder über Kreide auf Velin. 36 × 24,5 cm (14 ⅛ × 9 ⅝ in.). Unten rechts datiert und signiert: 63 Richter.

Provenienz Nachlass des Künstlers / Galerie Pels-Leusden, Berlin (1999/2000)

EUR 2.000–3.000 USD 2,270–3,410

Ausstellung Der Zeichner Hans Theo Richter. Hildegard und Hans Theo Richter- Stiftung Dresden. Berlin, Galerie Pels-Leusden – Villa Grisebach, 1999/2000, Kat.-Nr. 71, S. 64/88, Abbildung S. 65

Schon der Dresdner Kunststudent fühlte sich zur Grafik hingezogen und gelangte zu dem Urteil, dass Zeichnung und Graphik seiner Begabung die beste Entfaltung ermöglichen würden. Das betrifft nicht nur seinen Sinn für grafische Werte, Rhythmus und Ausdrucks-kraft der Linie wie für Gewichtung von Hell und Dunkel, sondern darüber hinaus seine ganze Lebenshaltung. Hans Theo Richter schätzte Behutsamkeit, Abwägung und Maß. Er fühlte sich wohl im engen Kreis vertrauter Menschen, war ein Mann des Gesprächs, nicht der öffentlichen Rede.

Diese Gestimmtheit auf Intimität und Sensibilität verband sich mit strengem Streben nach künstlerischer Vollendung und Entschie-denheit der Form. In immer neuen Anläufen suchte er Fehler und Schwächen bei der Arbeit auszumerzen. Sein Ziel war die Reinheit des Formkomplexes. Die Zeichnung ermöglicht das. Von einem Motiv entstanden meist ganze Reihen von Darstellungen, zuweilen nur in geringer Abwandlung. [...]

Die Themenwelt Richters hat bei aller Geschlossenheit viele Facetten. In Hunderten von Skizzen, die er niemals öffentlich zeigte, ist die Vielfalt des ihn umgebenden Lebens in erstaunlichem Maße enthalten – Menschen in den verschiedensten Situationen, Tiere und Pflanzen, Landschaft, Städte und Dörfer. Richter erweist sich in sei-nen Skizzenbüchern, Heften, Blättchen und Zetteln als besessener Beobachter des Alltags, besonders auf Reisen und im Urlaub. Aber selbst dabei fehlen Reportage, Historienmalerei und Illusion. Seine Aufmerksamkeit für ausgeprägte Haltung und Bewegung, die als sig-nifikante Form aus den Zufälligkeiten der Umgebung herausgehoben wird, bestimmte bereits Richters Skizzen. In seinen bildhaft gestal-teten Zeichnungen die meist nach dem Modell im Atelier entstan-den, strafft er Form und Ausdruck zu entschieden geprägtem Stil, der seinem gesamten Werk einen hohen Grad von Geschlossenheit gibt. [...]

Ein Sondergebiet seiner Arbeit ist das Portrait, für das er schon früh die Begabung einer mitfühlend abwägenden Sachlichkeit erwies und erklärte: „Jede Kunst ist für mich ein Zurückführen, eine Ordnung, die groß und einfach ist.“

Werner Schmidt: Hans Theo Richter als Zeichner, in: Der Zeichner Hans Theo Richter. Dresden, 1999, S. 7–9

„Jede Kunst ist für mich ein Zurückführen, eine Ordnung, die groß und einfach ist.“

Hans Theo Richter

Grisebach — Herbst 2018

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297 Hans Theo RichterRochlitz 1902 – 1969 Dresden

Sitzender Akt am Spiegel. 1951

Tuschfeder über Kreide auf Karton. 50,9 × 36,5 cm (20 × 14 ⅜ in.). Rückseitig signiert und datiert: Richter 51. Rückseitig: Lesendes Mädchen, eine Puppe im Arm haltend. Tuschpinsel.

Provenienz Nachlass des Künstlers / Galerie Pels-Leusden, Berlin (bis 1999/2000)

EUR 1.500–2.000 USD 1,700–2,270

Ausstellung Der Zeichner Hans Theo Richter. Hildegard und Hans Theo Richter-Stiftung Dresden. Berlin, Galerie Pels-Leusden – Villa Grisebach, 1999/2000, Kat.-Nr. 44, S. 85, Abb. S. 6

298 Hans Theo RichterRochlitz 1902 – 1969 Dresden

Portrait eines Mädchens im Profil nach links. Tuschfeder und Kohle auf Velin. 42,3 × 30,6 cm (16 ⅝ × 12 in.). Rückseite: Kopfstudie. Tuschfeder.

Provenienz Nachlass des Künstlers / Galerie Pels-Leusden, Berlin (bis 1999/2000)

EUR 2.000–3.000 USD 2,270–3,410

Ausstellung Der Zeichner Hans Theo Richter. Hildegard und Hans Theo Richter-Stiftung Dresden. Berlin, Galerie Pels-Leusden – Villa Grisebach, 1999/2000 (außer Katalog)

Grisebach — Herbst 2018

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299 Werner TübkeSchönebeck/Elbe 1929 – 2004 Leipzig

Selbstbildnis. 1957

Tuschfeder und -pinsel auf Papier (aus einem Skizzenblock). 37,3 × 27,2 cm (14 ⅝ × 10 ¾ in.). Unten links mit Bleistift signiert: Tübke. Darunter mit Tuschfeder in Schwarz datiert: 1957.

Provenienz Ehemals Galerie Pels-Leusden, Berlin (vom Künstler erworben)

EUR 10.000–15.000 USD 11,400–17,000

Ausstellung Werner Tübke. Zeichnungen 1953-1981. Berlin, Graphisches Kabinett der Gale-rie Pels-Leusden, 1981, Kat.-Nr. 30, mit Abbildung (und falscher Maßangabe) / Zeichnung heute. Meister der Zeich-nung. Denes, Gäfgen, Tübke, U-Fan. Nürnberg, Kunsthalle, und Lausanne, Musée Cantonal des Beaux Arts, 1982/83, Kat.-Nr. 2, Abbildung S. 84 / Zeitspiegel II 1945-1986. Berlin, Galerie Pels-Leusden und Villa Grisebach, 1986, S. 46/47, mit Abbildung / Musen, Maler und Modelle. Kampen, Galerie Pels-Leusden, 1996, Kat.-Nr. 115, S. 78 / Kunst - Handel - Leidenschaft. 50 Jahre Galerie Pels-Leusden. Berlin, Kampen, Zürich, 2000, S. 116/169, Abbildung S. 117/169 / Werner Tübke. Meisterblätter. Schleswig, Stiftung Schleswig-Holstei-nische Landesmuseen, Schloß Gottorf; Leipzig, Stadtgeschichtliches Museum und Wuppertal, Von der Heydt-Muse-um, 2004/05, Tafel 1, Abbildung S. 31

Werner Tübke hat das ohnehin schmale Hochformat mit seinem Selbstbildnis durch eine freihändige Rahmenlinie in seiner Steilheit noch verstärkt. In Halbfigur mit demonstrativ gegen den Betrachter aufgelegtem Arm begegnet einem der 28-jährige Künstler mehr frontal als im Profil. Seine Schlankheit, an der sich in einem reichen, fleißigen und erfolgreichen Arbeitsleben nichts ändern sollte, stei-gert er ins Extrem, indem er sich gerade, aufrecht, ja mit spartani-scher Haltung zeigt. Die Proportionen sind wohlausgewogen, die Platzverhältnisse gegenüber dem von ihm gezeichneten Rand wie selbstverständlich stimmig, die haltgebende Mittelachse ist ins-tinktsicher getroffen. Nichts davon lässt mühsame Absichten spü-ren, sosehr man weiß, wie präzise er sonst feilte. Geradezu mit Bedenkenlosigkeit lässt Tübke Korrekturen stehen und kaschiert seine „Reue“-Züge kaum. Mit den Reparaturen – das wird deutlich – unterstreicht er die kühne Stringenz der aufragenden, mit kraft-vollen schwarzen Federstrichen vors Auge gebrachten Gestalt.

Mit großer Konzentration sucht der Künstler sich im Spiegel und bleibt zugleich auf Distanz. Er verlangt nach Nähe und liefert kritische Überprüfung, die Ferne schafft. Wie abgelegt und kaum zum Bild gehörig wirken seine kapriziös verschränkten Hände. Dieses Handknäuel ist expressiv und manieristisch gesehen. Hier wird einerseits etwas zur Ruhe gebracht, was im Blick auf den gerade zeichnenden Künstler paradox wirkt, andererseits etabliert der Künstler damit ein zweites Kraftfeld mit eigener Nervosität. Auch hier also eine Ambivalenz: das Sein zwischen Aktiv und Passiv. Ein gespanntes Portrait, ohne angespannt zu wirken, mit sichtlicher Lust, „bildnerisches Denken“ (Tübke liebte diesen Begriff von Paul Klee) formal klar zu lösen, ohne die geheime Gemütsverfassung so zu offenbaren, dass man sie greifen kann. Die Inanspruchnahme des Betrachters setzt genau an diesem Punkt ein.

Selbstbildnisse ziehen sie sich wie ein roter Faden mit unter-schiedlichsten psychischen Ergebnissen durch Tübkes Werk. Diese Zeichnung, die im zeitlichen Umfeld zu Grablegungsdarstellungen und Repliken auf den Ungarnaufstand 1956 entstanden ist, eröffnet eine Reihe, in der Kühnheit und Stolz dominieren – analog zu Rem-brandts Selbstbildnis mit aufgelehntem Arm von 1639 (B 21), das seinerseits als Verarbeitung von Raffaels Castiglione erkannt wurde. Der aristokratische Anspruch, der mit der frühen Zeichnung erhoben wird, behauptet sich durchgängig. Das qualifiziert dieses aufsehen-erregende Blatt.

Herwig Guratzsch, Hamburg

Mit großer Konzentration sucht der Künstler sich im Spiegel und bleibt zugleich auf Distanz.

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300 Max UhligDresden 1937 – lebt in Dresden

„Cep de vigne - detail“. 1995

Tuschpinsel auf Japan. 36,8 × 74 cm (14 ½ × 29 ⅛ in.). Unten rechts mit Bleistift signiert und datiert: Uhlig 95.

1986 hing über dem Arbeitsplatz von Werner Schmidt, dem damaligen Leiter des Dresdner Kupferstich-Kabinetts, ein Landschaftsaquarell von Max Uhlig. Das war ein mutiges Bekenntnis zur Freiheit der Kunst in der ansonsten geschlos-senen Gesellschaft der DDR. Und es war einfach ein wunder-bares Bild: fast gleichnishaft glühte hinter dunklen, gitter-ähnlichen Strichen bei hellem Tageslicht eine farbenprächtige Naturlandschaft.

Uhligs klein- und großformatige Landschaftsbildnisse entwickeln aus dem Inneren ihre Glut, je nach Lichteinfall düster oder immer leuchtender. Sie entstehen als Aquarelle oder Ölgemälde in freier Landschaft, zunächst vornehmlich

EUR 1.000–1.500 USD 1,140–1,700

Literatur und Abbildung Auktion 44: Schmidt Kunstauktionen Dresden, 6. Juni 2005, Kat.-Nr. 457 Wir danken dem Künstler für freundliche Hinweise.

in Mecklenburg-Vorpommern, nach 1990 auch in Südfrank-reich. In seinem langjährigen Atelier in Loschwitz, wo er im Künstlerhaus unter anderem mit Hermann Glöckner, Carl-friedrich Claus, Gerhard Altenbourg unter einem Dach arbeitete und enge Arbeitsfreundschaften hegte, wurden sie teilweise in längeren Arbeitsphasen überarbeitet.

Wenn man ihm dort bei der Arbeit zuschaute, wie er, hochkonzentriert, sein Motiv fest im Blick, mit Schwung aus Hüfte und Handgelenk seine Pinselstriche auf Papier oder Leinwand brachte, dann war man vom Ergebnis fasziniert.

Die künstlerische Handschrift ist unverwechselbar. Und doch hat jedes Bild seinen eigenen Charakter: Jeder

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farbige Busch, Baum, Strauch strahlt seine eigene Spannung, seine besondere Stimmung aus. Selbst wenn die Motive gleich sind, zeigen die Bilder unterschiedliche Tages- und Jahreszeiten und sind daher Zeugnisse davon, dass die Zeit jedes Motiv, jeden Blick darauf verän-dert. Die Vielfalt des Gleichen nennt es Klaus Werner (Leipzig 1987).

Gleiches gilt für Uhligs Portraits, besser gesagt für seine Köpfe (Kat.-Nr. 301). Auch sie mit gleicher Handschrift gemalt, lassen doch die verschiedenen Charaktere deutlich erkennen, in umrissloser Sil-houette, aber auch in der durch Linien geprägten Binnenstruktur. Vor allem in den späteren Jahren wurden die knorrigen, sonnenge-dunkelten Weinstöcke und Reben Südfrankreichs in Tuschezeich-nung eingefangen, auch sie, gleich den Köpfen, charakterstarke Zeugen ihrer zeitlosen Zeit. Bei dem kunstsinnigen Weinkenner assoziieren sie das Prädikat „Alte Reben“, tiefgründig, trotz aller Dynamik so leicht durch nichts aus dem Gleichgewicht zu bringen. So wie im Pointillismus jeder einzelne Punkt erst im Auge zu einem farblich durchkomponierten Bild wird, so lässt Uhlig seine Striche, wenn auch nicht nur nebeneinander, sondern auch geschichtet, erst aus der Entfernung, im Auge des Betrachters, zu einem durchkom-ponierten Bild werden.

Seine malerische Ausbildung begann Uhlig an der Hochschule für Bildende Künste Dresden. Dort war er später von 1995 bis 2002 auch Professor für Malerei und Grafik – und zwar in demselben Hochschulatelier, in dem einst auch Oskar Kokoschka lehrte und arbeitete. Wenn er darauf hinweist, dann schwingt nicht nur stolze

Freude in seiner Stimme mit, sondern dann drückt er zugleich aus, dass er sich in einer großen kunstgeschichtlichen Tradition sieht. Dass das so ist, wird auch deutlich durch den Auftrag, für die wie-dererrichtete gotische St. Johannis-Kirche in Magdeburg die Glas-fenster zu gestalten. Damit steht er in der Tradition eines Gerhard Richter für den Kölner Dom, eines Marc Chagall und eines Imi Knoe-bel für die Kathedrale Notre-Dame von Reims.

Dietrich H. Hoppenstedt, Burgwedel und Berlin

301 Max UhligDresden 1937 – lebt in Dresden

„Kopf T. M. “. 1987

Tuschfeder auf Transparentpapier, vom Künstler auf Bütten montiert. 59 × 44,4 cm (23 ¼ × 17 ½ in.). Unten rechts auf dem Büttenpapier mit Bleistift signiert und datiert: Uhlig 87. Rückseitig mit Bleistift betitelt: Kopf T.M.

Provenienz Galerie Dr. Markus Doebele, Dettelbach-Effeldorf (bis 2015)

EUR 1.000–1.500 USD 1,140–1,700

Wir danken dem Künstler für freundliche Hinweise.

Uhligs Bilder waren mutiges Bekenntnis zur Freiheit der Kunst in der ansonsten geschlossenen Gesellschaft der DDR.

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302 Toni Stadler1888 – München – 1982

Weiblicher Akt. 1964

Aquarell und Kreide auf genarbtem Papier. 50,9 × 36,5 cm (20 × 14 ⅜ in.). Unten rechts monogrammiert und datiert: T. St 64.

EUR 1.500–2.000 USD 1,700–2,270

Literatur und Abbildung Auktion 153: Villa Grisebach Auktionen, Berlin, 1. Dezember 2007, Kat.-Nr. 1140

Der Bildhauer Toni Stadler gehört zu den bedeutenden Erneuerern der figürlichen Plastik nach 1945. Mit reduzierten Formen gelangte der Künstler zu Figuren, die auf das anatomisch Wesentliche konzen-triert sind. In der Überzeugung, dass der menschliche Körper unendliche Möglichkeiten der Darstellung bietet, setzte sich Stadler, entgegen dem Zeitgeschmack, in seinem plastischen und auch in seinem zeichnerischen Werk ausschließlich mit der Figur ausein-ander. Von besonderem Interesse war ihm dabei die lebensvolle Aktdarstellung im Gegensatz zu einer abbildhaften Idealfigur.

Die 1960er-Jahre waren eine besonders glückliche Schaffens-zeit für den Bildhauer, was sich an den mit sicherem Strich und souve-räner Kolorierung geschaffenen Zeichnungen dieser Jahre deutlich ablesen lässt. Die drei weiblichen Figuren (Kat.-Nr. 303, 304) sind in den für Stadler typischen unverkrampften Haltungen dargestellt. Als klassische Bildhauerzeichnungen sind die Figuren nicht in einen imaginären Raum gestellt, sondern pur auf das Blatt gezeichnet. Ent-spannt und mit hoher Sinnlichkeit posieren die Modelle liegend, ste-hend oder sitzend.

Der Bleistift erfasst zum Teil die Kontur einer Figur gar nicht vollständig. Toni Stadler genügen etwa bei der liegenden Figur mit erhobenem linkem Bein Andeutungen eines Knies oder eines Unter-schenkels, um die Gliedmaßen zu assoziieren. Mit der Aquarellierung erzeugt der Künstler das Volumen des Körpers. Auch hier geht es nicht um eine abbildhafte Wiedergabe, sondern um die sinnliche Erfahrbarkeit eines Körpers. Körperliche Details sind ebenso unwichtig wie eine Erkennbarkeit des Modells. Trotz des Verzichts auf penible Einzelheiten wird die Körperhaltung präzise studiert und anatomisch korrekt wiedergeben.

Mögen Stadlers Zeichnungen auf den ersten Blick auch lässig und skizzenhaft wirken, basieren sie doch auf einer tiefen Kenntnis des menschlichen Körpers. Dieses Wissen gab Stadler die Souverä-nität zu einer Abstraktion, die den Gegenstand zwar reduziert, aber nicht vollständig negiert.

Josephine Gabler, Berlin

Der Bildhauer Toni Stadler gehört zu den bedeutenden Erneuerern der figürlichen Plastik nach 1945.

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303 Toni Stadler1888 – München – 1982

Sitzender Frauenakt. Um 1968

Aquarell und Kohle auf genarbtem Papier. 36,5 × 51 cm (14 ⅜ × 20 ⅛ in.). Mittig links monogrammiert: T.St. Provenienz Nachlass des Künstlers / Galerie Biedermann, München (2013)

EUR 1.500–2.000 USD 1,700–2,270

304 Toni Stadler1888 – München – 1982

Liegender Frauenakt. 1965

Aquarell und Bleistift auf genarbtem Papier. 32 × 49,5 cm (12 ⅝ × 19 ½ in.). Unten rechts monogrammiert und datiert: T. St. 65.

EUR 1.500–2.000 USD 1,700–2,270

Literatur und Abbildung Auktion 48: Neumeister Münchener Kunstauktionshaus, 11. November 2010, Kat.-Nr. 804

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305 Karl BohrmannMannheim 1928 – 1998 Köln

Ohne Titel (Gespinst, schwarzrot). 1962

Farbstift, Bleistift und Grafit auf Bristol-karton. 65 × 50 cm (25 ⅝ × 19 ⅝ in.). Unten rechts mit Bleistift signiert und datiert: Bohrmann 62. Rückseitig unten rechts mit vom Künstler mit Farbstift signiertem Stempel in Schwarz und der mit Bleistift eingetragenen Registrier-nummer: 0062Z08353.

Provenienz Nachlass des Künstlers / Galerie Schönewald, Düsseldorf (in den 1990er-Jahren erworben)

EUR 4.000–6.000 USD 4,550–6,820

Ausstellung Karl Bohrmann. Bilder Zeichnungen Collagen 1961-1988. Düsseldorf, Schönewald Fine Arts, 2009, Kat.-Nr. 37, S. 63, mit Abbildung (Leihgabe)

Als sich Karl Bohrmann 1982 in Florenz in der Villa Romana aufhielt, sah ich dort die Werke des Künstlers in seinem Atelier. Großflächig war Nessel direkt auf die Wände gespannt, worauf dann ohne Grun-dierung gezeichnet oder gemalt wurde. Fragmente des Interieurs, gelängte, fliehende Akte oder Auszüge einer Landschaft dominier-ten motivisch die insgesamt sparsam behandelte Leinwand. Neben der Zeichnung mit Ölkreide gab es gemalte, meist zartfarbige Flächen, die mal geometrisch begrenzt, mal in ihrer Form offen gehalten waren. Die dort umgesetzten Lineamente, die Motivik und die Flä-chenbehandlung riefen wechselnde „Vorstellungsbilder“ mit räumli-cher Tiefe hervor, die in abbrevierter Erzählweise vom damaligen Aufenthaltsort berichteten. Die in Italien entstandenen Nesselbilder weisen dabei ein festes Repertoire an Bildelementen wie Fenster, Tisch, Lampe, Akt, toskanische Landschaft, Gebäude, Fluggerät oder Meereshorizont auf, das auch in den folgenden Jahren noch beibehalten werden sollte.

Der 1928 in Mannheim geborene Künstler studierte Ende der 1940er-Jahre an der Kunstschule Saarbrücken sowie anschließend bei Willi Baumeister an der Kunstakademie Stuttgart. Bohrmann wechselte häufiger seinen Wohnort, lebte während der 1960er-Jahre, von 1959 bis 1972, in München, dann bis 1980 in Frankfurt am Main, wo er an der Städelschule lehrte, und schließlich bis zu seinem Tod 1998 im Rheinland. Unter vielen Reisen war insbesondere ein Auf-enthalt 1961 in Paris für Bohrmann prägend. Dort sah er erstmals Zeichnungen von Alberto Giacometti, die schon bald Einfluss auf die eigene Arbeitsweise nahmen. 1977 schrieb er dazu: „Es war nur eine kleine zarte Figur auf einem großen weißen Blatt. Wieder spürte ich, daß es doch darum ginge, mit Simpelstem die Vorstellung vom Bild zu erwecken“ (zitiert nach: Karl Bohrmann. Ausst.-Kat. Galerie Rolf Ohse, Bremen, 1982, o.S.).

In der Folge entstand eine Gruppe von Arbeiten unter der Idee Gespinst, so auch die Zeichnung Ohne Titel (Gespinst, schwarzrot) von 1962. Eine vertikale Linie teilt die Zeichnung in zwei Hälften und entspricht darin in etwa dem, was der Künstler als „eine gerade Linie ... ohne Angst“ verstand (zitiert nach: Ausst.-Kat., Museum Schloss Moyland, 1997, S. 15), bei der ein Strich nach rechts oder links aus-brechen darf. Um diese Mittelachse herum wird durch ein Linienge-füge ein rechteckiger Rahmen gezogen, in dessen Grenzen die zeichnerischen Strukturen primär angelegt sind. Durch die rahmen-den Linien wird Räumlichkeit ins Bild eingeführt, so dass die Motivik dieser Zeichnung etwa zwischen Körper, Fenster oder auch Gefäß changieren kann. An zwei Stellen auf der Vertikalen verdichten sich die Linien derart, dass zwei Konzentrationen auf der Achse entste-hen, oben in Rot und unten in Schwarz. Dieses Blatt ist vergleichbar

„... mein Strich war nicht mehr so expressiv bedrohlich, die Gespinste wurden durchlässiger.“ Karl Bohrmann, 1982

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mit einer Zeichnung aus demselben Jahr: Gespinst mit zwei Rechtecken (1962). Gedanklich hat sich Bohrmann vielfach mit der Qualität von Linien befasst, so stellte er nach seinem Parisaufenthalt fest: „mein Strich war nicht mehr so expressiv bedrohlich, die Gespinste wurden durchlässiger“, und es war ihm wichtig, dass der Strich nicht faseln, schwach werden oder im Können austrocknen dürfe. (zitiert nach: Ausst.-Kat., Galerie Rolf Ohse, Bremen, 1982, o.S.)

Bei dem Querformat „Ohne Titel (Geschlachtetes Aas)“ von 1963 (Kat.-Nr. 306) ist die Zeichnung sehr viel offe-ner angelegt, wobei sich im unteren Teil der rechten Bild-hälfte Striche zu lebhaften Schwüngen verdichten. Auch hier kommen und gehen Ideen von Interieur oder Figur, indem sich durch abgewinkelte Linienführungen vage Vorstellungen von nackten, gelagerten Körpern in Berührung, teils in hockender Position, teils mit geöffneten Beinen, herausbil-den. Dadurch, dass Bohrmann mit dem Titel des Blattes eine gänzlich ungeformte Masse nahelegt, erweist sich diese Betrachtung im Sinne von Leonardo da Vincis Malereitraktat jedoch als ein Hineinsehen in amorphe Strukturen. „Was ich unter Bild verstehe“, so erläuterte Bohrmann in einem Gespräch mit Bettina Paust, „ist eben nicht dasselbe wie ein Gemälde, sondern es ist mehr die Vorstellung vom Bild, ein inneres Bild.“ (Karl Bohrmann: Arbeiten auf Nessel, 1972–1997, in: Ausst.-Kat., Museum Schloss Moyland, 1997, S. 8)

Melitta Kliege, Erlangen

306 Karl BohrmannMannheim 1928 – 1998 Köln

Ohne Titel (Geschlachtetes, Aas). 1963

Farbstift, Bleistift und Aquarell auf Bristolkarton. 50 × 65 cm (19 ⅝ × 25 ⅝ in.). Unten rechts signiert und datiert: Bohrmann 63. Rückseitig unten rechts mit dem vom Künstler signierten Stempel in Schwarz und der mit Bleistift eingetragenen Registriernummer: 0063Z08375.

Provenienz Nachlass des Künstlers / Galerie Schönewald, Düsseldort (in den 1990er-Jahren erworben)

EUR 4.000–6.000 USD 4,550–6,820

Ausstellung Karl Bohrmann. Bilder Zeichnungen Collagen 1961-1988. Düsseldorf, Schönewald Fine Arts, 2009, Kat.-Nr. 42, S. 69, mit Abbildung (Leihgabe)

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307 Norbert Kricke1922 – Düsseldorf – 1984

Ohne Titel. 1967

Tusche auf leichtem Zeichenkarton. 61 × 43,5 cm (24 × 17 ⅛ in.). Unten rechts mit Bleistift monogrammiert und datiert: Kr. 67. Die Zeichnung wird aufgenommen in das Werkverzeichnis der Zeichnungen Norbert Krickes von Sabine Kricke-Güse, Berlin, unter der Nummer 67/019 (in Vorbereitung).

Provenienz Privatsammlung, Nordrhein-Westfalen (Geschenk des Künstlers, in Familien-besitz bis 2015)

EUR 4.000–6.000 USD 4,550–6,820

Literatur und Abbildung Auktion 34: Dr. Andreas Sturies, Düsseldorf, 14. November 2015, Kat.-Nr. 110

Der aus Düsseldorf gebürtige, in Berlin aufgewachsene Norbert Kricke studierte an der Berliner Hochschule für bildende Künste bei Richard Scheibe und ließ sich dann als freischaffender Bildhauer in seinem Geburtsort Düsseldorf nieder. Seit 1964 war er Professor an der dortigen Kunstakademie. Krickes gesamtes Schaffen bestimmte die Auseinandersetzung mit dem Raum. In mehreren Werkphasen gelangte er von anfänglich geometrisierenden Formen über Flächen-bahnen zu kurvig-dynamischen Raumplastiken. Im Zeichnerischen wie im Plastischen hat er mit Linien in allen drei Dimensionen das Verhältnis von Körper und Raum und von Raum und Zeit erforscht.

Es wundert nicht, dass eine großartige Zeichnung des Bildhauers Norbert Kricke in der Sammlung von Bernd Schultz zu finden ist. Wie Jürgen Morschel in einem Text zum Werk des Künstlers beschrieb, können die Linien in Krickes Zeichnungen nicht mit einem zeichneri-schen Entwurf für eine Plastik verwechselt werden, sondern sind eigenständige Auseinandersetzung mit dem Raum als Grundidee in Krickes Schaffen.

Wie bei der voranschreitenden Durchdringung des Raumes durch den Künstler ist auch die Sammlung Schultz von letzter Kon-sequenz in ihrem Anspruch an höchste Qualität.

Wilfried Utermann, Dortmund

Die Linien sind eigenständige Auseinandersetzung mit dem Raum – die Grundidee in Krickes Schaffen.

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Page 153: Moderne und Zeitgenössische Kunst 26. Oktober 2018

308 Norbert Kricke1922 – Düsseldorf – 1984

Ohne Titel. 1978

6 Blatt: Jeweils Tusche auf Papier. Jeweils 65 × 50 cm (each 25 ⅝ × 19 ⅝ in.). Jeweils rückseitig mit Bleistift mit Richtungspfeil, signiert, bezeichnet und datiert: Kricke, m42 bzw. m44 bzw. m45 bzw. m46 bzw. m47 bzw. m48 1978. Die Zeichnungen werden aufgenommen in das Werkverzeichnis der Zeichnungen Norbert Krickes von Sabine Kricke-Güse, Berlin, unter den Nummern 78/004 bis 78/009 (in Vorbereitung). Aus einer Serie von ungefähr 60 Zeich-nungen.

Provenienz Privatsammlung, Nordrhein-Westfalen (bis 2008)

EUR 6.000–8.000 USD 6,820–9,090

Literatur und Abbildung Auktion 163: Villa Grisebach Auktionen, Berlin, 29. November 2008, Kat.-Nr. 957

Wir danken Sabine Kricke-Güse, Berlin, für freundliche Hinweise.

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309 Rupprecht Geiger1908 – München – 2009

Ohne Titel. 1991

Grafit, gewischt, auf Papier. 65,5 × 50,5 cm (25 ¾ × 19 ⅞ in.). Unten rechts signiert und datiert: Geiger 91. Rückseitig nummeriert, mit Maßen bezeichnet und signiert: G 6/91 65 5 x 50 5 Geiger.

Provenienz Nachlass des Künstlers / Florian Sund-heimer Kunsthandel, München (2013)

EUR 6.000–8.000 USD 6,820–9,090

„Mehr Licht!“ Goethes vorgeblich letzte Worte am Frauenplan in Weimar – sie sind von Rupprecht Geiger, dem Maler des Rots, in die-ser zarten Zeichnung wundervoll ins Bild gesetzt. „Wir sehen auf der einen Seite das Licht, das Helle, auf der anderen die Finsternis, das Dunkel, wir bringen das Trübe zwischen beide, und aus diesen Gegensätzen, mit Hilfe gedachter Vermittlung, entwickeln sich, gleichfalls im Gegensatz, die Farben.“ Die in Goethes Farbenlehre skizzierte Polarität von Hell und Dunkel, von Licht und Finsternis, ist auch das zeichnerische Thema Geigers. Der Architekt Geiger setzt kräftige vertikale und horizontale Linien, ja Balken, zwischen denen sich strahlende Lichttore ausbilden. Aber erst der Raum des Über-gangs von Dunkel zu Hell zeigt die Meisterschaft der Zeichnung – kein scharfer Schnitt, stattdessen das Trübe zwischen beiden Ele-menten, die Lichtwandlung, die den Betrachter in lyrische Vibration versetzt. Das Licht fließt aus einer dritten Dimension in und über das

Blatt, das zu schweben scheint. Sphärenlicht am Horizont, die Schwingungen und Übergänge erinnern an die Lichträume Dan Flavins oder James Turrells oder die Übergänge zwischen den Farbfeldern bei Mark Rothko. Lob des Schattens, Triumph des Lichts. Von den Lichtwandlungen der Zeichnung Geigers ist es – Eugen Gomringer folgend – nicht weit zu den Paukenschlägen der Farbtafeln. Geigers ganze Kunst ist in dieser kleinen Trouvaille konzentriert.

Bernhard Schaub, München

Die Lichtwandlung, die den Betrachter in lyrische Vibration versetzt.

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310 Konrad KlapheckDüsseldorf 1935 – lebt in Düsseldorf

Vorzeichnung zu „Läuterung“. 1974

Kohle und Farbstift in Rot und Blau auf Pergamentpapier. 129 × 99,5 cm (50 ¾ × 39 ⅛ in.). Unten mittig signiert und datiert: Klapheck 74. Provenienz Nachlass Werner Hofmann, Hamburg

EUR 25.000–35.000 USD 28,400–39,800

Ausstellung Konrad Klapheck. Entwürfe und Bilder, 1971-1982. Düsseldorf, Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen, 1983, Kat.-Nr. 5, mit Abbildung

Literatur und Abbildung Auktion 253: Grisebach, Berlin, 27. November 2015, Kat.-Nr. 939

In einem ungewöhnlichen Experiment, ja fast in einer Versuchsan-ordnung, begann der junge Konrad Klapheck vor mehr als einem halben Jahrhundert – zu einer Zeit, als die abstrakte Kunst im Vor-dergrund aller malerischen Äußerungen stand – die Tiefen seiner Persönlichkeit zu erkunden. Er wählte als Motiv für seine Bilder Objekte aus dem Alltag, zuerst eine Schreibmaschine, später andere technische Geräte und stieß damit in Regionen jenseits des Sicht-baren vor. In der Klasse seines Lehrers an der Düsseldorfer Akade-mie, Bruno Goller, entdeckte Klapheck neben der Schreibmaschine

Wasserhahn, Telefon, Nähmaschine, Schuhspanner oder Fahrrad-schelle. Sie nehmen die Rollen von Menschen an und stellen Gefühlszustände, Befindlichkeiten, Reaktionen dar, an denen der Künstler seine psychologischen und philosophischen Diskurse vor-führt. Alptraumhaft werden Einzelteile riesengroß und wichtig, andere verschwindend gering, und es durchdringen sich die Kate-gorien von Wahrnehmung und Zuordnung eines Objektes zu einem bestimmten Lebensbereich. Klapheck ist der Maler einer überwirk-lichen Dingwelt.

„Läuterung“ ist akribisch genau konstruiert. Angesichts der in die Höhe gestaffelten, sich auftürmenden Tastenreihe wird der Betrachter winzig klein. Hilft der Titel weiter? Klaphecks Über-schriften sind nie zufällig, sondern liefern immer eine pointierte Stellungnahme zum malerischen oder zeichnerischen Befund, leicht ironisch, lyrisch überhöhend oder auch als lakonischer Kom-mentar. Diesmal als ethischer Appell zur Reinigung. Der Sohn der Kunsthistoriker Richard und Anna Klapheck verschweigt sein huma-nistisch geprägtes Elternhaus und wählt den seit dem Althochdeut-schen tradierten Begriff „Läuterung“. Er hätte auch Katharsis sagen können, denn wer die Tasten korrekt zu nutzen versteht, wird sich als besserer Mensch erweisen. Die Einfälle des Betrachters zu beiden Vorgaben, der Zeichnung und ihrem Titel, führen jeden Einzelnen über freie Assoziation zu seiner eigenen Erkenntnis des Bildes.

Elke Ostländer, Berlin

Klapheck ist der Maler einer überwirklichen Dingwelt.

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311 Andy WarholPittsburgh 1928 – 1987 New York

„Feet in Platform Sandals“. Um 1961

Kugelschreiber auf Papier. 43,2 × 35,6 cm (17 × 14 in.). Rückseitig mit dem ovalen Stempel in Blau: The Estate of Andy Warhol. Darüber der runde Stempel in Blau: The Andy Warhol Foundation for the Visual Arts, Inc. Sowie die mit Bleistift eingetragene Registriernummer: 221.015 6/33 VF. Provenienz Nachlass des Künstlers / The Andy Warhol Foundation for the Visual Arts, New York (bis 2012)

EUR 15.000–20.000 USD 17,000–22,700

Ausstellung Andy Warhol: Still Lifes and Feet 1956–1961. New York, Paul Kasmin Gallery, 2010, Kat.-Nr. 43, mit Abbildung

Literatur und Abbildung Auktion 2766: Andy Warhol at Christie’s: Sold to Benefit the Andy Warhol Foundation for the Visual Arts. Christie’s, New York, 12. November 2012, Kat.-Nr. 251

Als Andy Warhol am 22. Februar 1987 in New York überraschend nach einer Operation im Alter von 58 Jahren stirbt, gilt er als einer der bedeutendsten Künstler seiner Zeit. Sein Name ist untrennbar mit dem Siegeszug der Pop Art verbunden, die die westliche Kunstauf-fassung in den 1960er-Jahren grundlegend veränderte. Der Rück-griff auf Motive der Alltagswelt, die bildmäßige, serielle Verarbeitung von Straßenfotografien und Presseaufnahmen, die Nobilitierung von Drucktechniken auf Leinwänden bilden einen zentralen Ausschnitt in der künstlerischen Produktion von Andy Warhol.

Füße und Schuhe haben den jungen Künstler immer wieder zu schnell hingeworfenen Zeichnungen animiert. Mit der Werbekampa-gne für das führende New Yorker Schuhgeschäft I. Miller schaffte Warhol 1955 endgültig seinen Durchbruch als einer der besten Grafiker im Big Apple. Wöchentlich erschienen die Anzeigen in der New York Times, und die außergewöhnlichen Zeichnungen von Pumps, Stiefeln und anderen Luxusschuhen brachten dem Schuhge-schäft die öffentliche Aufmerksamkeit, die es sich erhofft hatte. Denn Warhol gelang in seinen Entwürfen eindrucksvoll die Transfor-mation des Schuhs vom Alltagsgegenstand zum Objekt, dessen offensichtlicher Fetischcharakter der zahlungskräftigen weiblichen Käuferschaft einen Zugewinn an erotischer Ausstrahlung versprach. In diese Zeit fällt auch Warhols Bemühen, den künstlerischen Aspekt seiner grafischen Arbeiten stärker zum Ausdruck zu bringen. Bereits ab 1953 hatte er in kleinen Auflagen sogenannte Präsentationsbücher im Offsetverfahren drucken lassen, die er in Kundengesprächen zeigen und verschenken konnte. 1955 erschien dann das heute berühmte Portfolio mit vierzehn kolorierten Offsetdrucken, das in Anlehnung an Marcel Proust unter dem Titel „À la Recherche du Shoe Perdu“ in einer unbekannten, aber wohl mittleren zweistelligen Auflagenzahl produziert wurde.

Die vorliegende Zeichnung von 1961 ruft den Ursprung der Schuhzeichnungen in Erinnerung, obwohl sie über einen weniger glamourösen Ausdruck verfügt. Wieder sehen wir, wie Andy Warhol über Fragmentarisierung den Gegenstand seiner Zeichnung in den Mittelpunkt der Präsentation rückt. Als Betrachter komplettiert man sofort das (Ab-)Bild und sieht die übereinandergeschlagenen Beine einer Frau vor sich, die mit Plateausandalen die angesagte Mode der Sommersaison trägt. In sicherer Linienführung entsteht im Umriss eine Darstellung ohne Binnenzeichnung, die – anders als in den kolorierten Blättern des Portfolios – die Individualität der im Bild abwesenden Person in anonymisierte Objekthaftigkeit zu überfüh-ren scheint. Die Löschung individueller Kennzeichen und Merkmale tritt im parallel entstehenden Werk des Künstlers immer stärker in den Vordergrund. Und die Gegenstände des amerikanischen Alltags beginnen die Bildwelt von Andy Warhol zu beherrschen.

Klaus Schrenk, Berlin

À la Recherche du Shoe Perdu.

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312 Andy WarholPittsburgh 1928 – 1987 New York

„Untitled (Standing Man in Jeans)“. Um 1954

Tuschfeder, Bleistift und Deckweiß auf Papier. 45,4 × bis zu 35,6 cm (17 ⅞ × 14 in.). Rückseitig: Gruppenbild-nis. Tuschfeder. Rückseitig mit der in Bleistift eingetragenen Registriernum-mer der Andy Warhol Foundation, New York: ARD 410.024. Mit einer Expertise der Andy Warhol Foundation for the Visual Arts, Inc., New York, vom 25. Juli 2012.

Provenienz Galerie Daniel Blau, München (2012)

EUR 20.000–30.000 USD 22,700–34,100

Ausstellung Andy Warhol, 1950s Drawings, From Silverpoint to Silver Screen II. Art Basel, Galerie Daniel Blau, München, Juni 2012, Abbildung im Flyer / Andy Warhol, 1950s Drawings, From Silver-point to Silver Screen. Humlebæk, Louisiana Museum of Modern Art, 2013, S. 58 und S. 268, mit Abbildung

Mit dem wachsenden Erfolg Warhols in den 1950er-Jahren ging eine Stilisierung seiner Person einher, die dazu führte, dass der Künstler in den USA und Europa zu einer Stilikone aufstieg, deren Popularität sich durchaus mit der Wirkung einiger Hollywoodstars seiner Zeit messen lassen kann. Künstler und Werk wurden komplementäre Teile einer Strategie, die erstmals Techniken aus der Werbung in die Kunstwelt überführte. Und es gelang dem Künstler mit vielfältigen Aktivitäten, zu denen auch eine große Anzahl experimentierfreudiger Filme seiner Factory zählte, den Namen Andy Warhol als international anerkannte Marke zu etablieren. Warhol selbst durchlief dabei eine erstaunliche Entwicklung, die ihn von Pittsburgh, aus einer in bescheidenen Verhältnissen lebenden slowakischen Einwandererfa-milie, nach New York ins Zentrum der amerikanischen Kunstwelt führte und ihn zum Kunststar aufsteigen ließ.

Im Sommer 1949 schloss Andy Warhol erfolgreich sein Kunst-studium am Carnegie Institute of Technology, College of Fine Arts, in Pittsburgh ab und unternahm erste Versuche, als Werbegrafiker Fuß zu fassen. Noch im selben Jahr zog er nach New York und schaffte es in vergleichsweise kurzer Zeit, genügend Aufträge als Grafiker zu akquirieren, so dass sich seine Lebensumstände stetig verbesserten. In die frühen 50er-Jahre fiel auch die Anwendung des Umdruckver-fahrens, das für Warhol zu einem Signet werden sollte. Aus amerika-nischen Zeitschriften entnommene Abbildungen wurden im Umriss mit dem Bleistift auf Papier durchgepaust, sodann die Linien mit Tusche oder Tinte nachgezogen und anschließend im Abklatschver-fahren auf ein Blatt Papier übertragen. Die dank der Umrisslinien vorhandenen leeren Binnenflächen boten nach der Vervielfältigung der Entwürfe im Offsetdruck die Möglichkeit für ungezählte aquarel-lierte Versionen, die Warhol auch von Freunden und Bekannten aus-führen ließ.

In dieser Zeit entstand auch das am rechten Seitenrand leicht bogenartig gerissene Blatt, auf dessen linker Seite vor einer mit wenigen Strichen angedeuteten Rückwand ein junger Mann steht. Die linke Hand mit zum Mund geführtem Zeigefinger umspielt das Kinn, die rechte umgreift mit innenliegendem Daumen die Gürtel-schnalle, während vom linken Bein nur der Oberschenkel zu sehen ist. Doch in der Wahrnehmung des Betrachters stößt der nicht sicht-bare Fuß wie selbstverständlich gegen die Mauer, wobei der in lässi-ger Haltung auf seinem rechten Bein stehende junge Mann den Blickkontakt zu einem imaginären Gegenüber sucht. Hemd und geöffneter Kragen sowie eine darüber liegende Jacke werden in schnell und sicher gezogenen Linien angelegt und vollenden die Charakterisierung des Jungen, der uns unmittelbar an James Dean in „Rebel Without a Cause“ erinnert. Auch wenn der Film erst ein Jahr später gedreht wird, fängt Warhol in seiner Zeichnung mit sicherem Gespür eine zeittypische Figur ein, die nur wenige Monate später zum authentischen Abbild einer jungen, rebellischen Genera-tion werden sollte, die die konservative amerikanische Gesellschaft nachhaltig verunsicherte.

Die Zeichnung kann zugleich als ein Vorläufer für die Arbeiten gesehen werden, die Warhol 1957 in seiner dritten Ausstellung in der New Yorker Bodley Gallery zeigte: Federzeichnungen von jungen Männern auf Goldgrund, von denen einige später in der Publikation „A Gold Book by Andy Warhol“ veröffentlicht wurden.

Klaus Schrenk, Berlin

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313 Andy WarholPittsburgh 1928 – 1987 New York

„Hand with Ink Pen“. Um 1953

Tuschfeder und Bleistift auf Papier (aus einem Zeichenblock). 31,2 × 29,1 cm (12 ¼ × 11 ½ in.). Rückseitig mit dem ovalen Stempel in Blau: The Estate of Andy Warhol. Darüber der runde Stem-pel in Blau: The Andy Warhol Foundati-on for the Visual Arts, Inc. Sowie die mit Bleistift eingetragene Registrier-nummer: ARD 403.004 VF. Mit einer Expertise der Andy Warhol Foundation for the Visual Arts, Inc., New York, vom 28. Februar 2012.

Provenienz Nachlass des Künstlers / Galerie Daniel Blau, München (2012)

EUR 15.000–20.000 USD 17,000–22,700

Ausstellung Andy Warhol, 1950s Drawings, From Silverpoint to Silver Screen II. Art Basel, Galerie Daniel Blau, München, Juni 2012, Abbildung im Katalog der Art Basel / Andy Warhol, 1950s Drawings, From Silverpoint to Silver Screen. Humlebæk, Louisiana Museum of Modern Art, 2013, S. 15 und S. 267, mit Abbildung

Das Blatt von 1953 ist ein schönes Beispiel dafür, wie unbefangen Andy Warhol Papiere einsetzte. Nicht das unberührte Zeichnungs-blatt interessierte ihn vorrangig, sondern alles, was sich zum Zeich-nen eignete, wurde in diesen Jahren, die noch von finanziellen Eng-pässen geprägt waren, von ihm genutzt. Auf einem aus dem Zeichnungsblock unregelmäßig herausgerissenen Blatt, dessen obere und rechte Seite gleichsam konvex und konkav verkleinert wurden, zeichnet er in sicherer Linienführung eine Hand, die eine Tuschfeder hält. Von links wird in Umrissen die fragmentarische Form der Hand mit angewinkelten Fingern objekthaft dargestellt. Wenige Striche in der Binnenstruktur verleihen der Hand nicht nur räumliches Volu-men, sondern auch eine gewisse Anspannung. Mit der senkrecht auf dem Papier angesetzten Tuschfeder gelingt es Andy Warhol, den „magischen“ Moment des Beginns einer Zeichnung einzufangen. Dargestelltes und Imaginiertes verbinden sich in der Wahrnehmung des Betrachters zu einer Einheit – und ein Rechtshänder sieht viel-leicht mit Überraschung, dass hier ein Linkshänder Ausgangspunkt der Studie ist.

Warhol scheint seinen transitorischen Weg zwischen Grafiker und Künstler stets im Blick gehabt zu haben. Schon 1952 fand in der New Yorker Hugo Gallery seine erste Einzelausstellung mit fünfzehn kolorierten Zeichnungen statt, die nach Texten von Truman Capote entstanden waren. In jungen Jahren zeigte sich hier bereits eine Wahlverwandtschaft zwischen dem exaltierten Schriftsteller und dem exzentrischen Künstler, die beide später gleichermaßen berühmt werden sollten. Gleitend verschob sich das Verhältnis bald immer mehr vom Grafiker Andy Warhol hin zum Künstler, zur Pop Art-Ikone Andy Warhol.

Doch zurück zu den 1950er-Jahren. Als der Münchner Galerist Daniel Blau auf der Art Basel 2012 Warhol-Zeichnungen dieser Dekade präsentierte, reagierte das internationale Publikum voller Erstaunen auf die Entdeckungen, zumal die Blätter bereits klar die Experimen-tierfreudigkeit und Ausdruckskraft späterer Werke des Künstlers erkennen ließen. Die damals ausgestellten Zeichnungen sind Bestandteil eines umfangreichen Konvoluts, das Daniel Blau 2011 in der Andy Warhol Foundation for the Visual Arts (AWF) in New York aufgetan hatte und die er danach für seine Galerietätigkeit nutzen durfte. Da die AWF mit Ablauf des Jahres 2011 ihre Nachlasstätigkeit einstellen wollte, erhielt der Galerist ein letztes Mal die Gelegenheit, aus den Beständen eine Auswahl zu treffen, bevor die Andy Warhol Foundation diese dem New Yorker Auktionshaus Christie’s zur weite-ren Verwertung übergab. Alle drei Zeichnungen unserer Auktion (Kat.-Nr. 311 bis 313) entstammen dem damaligen Bestand der AWF.

Klaus Schrenk, Berlin

Den magischen Moment des Beginns einer Zeichnung einfangen.

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314 Bruce NaumanFort Wayne/Indiana 1941 – lebt in Galisteo/New Mexico

Ohne Titel. 1970

Bleistift auf Papier. 58,4 × 73,6 cm (23 × 29 in.). Bezeichnet: Door / 5 Panels / 6 Corridors – 3 passable 3 impassable / 3 live video / 1 videotape with monitors. Unten rechts signiert und datiert: B. Nauman, Jan. 1970.

Provenienz Stéphane Collaro (?) / Galerie Thomas Zander, Köln (2014)

EUR 25.000–35.000 USD 28,400–39,800

Literatur und Abbildung Auktion: Cornette de Saint Cyr, Paris, 29. Januar 2001, Kat.-Nr. 23

Das kann man selten von einem Künstler sagen: Mit den Auftritten von Bruce Nauman ab 1966 veränderte sich das Bild von Kunst, das es bis dahin gab. Ausdrucksformen des Körperlichen werden zum Teil der Skulptur, die Nauman zur Darstellung bringt. In der Skulptur der 1960er-Jahre hatte noch kurz zuvor Donald Judd das „Spezifi-sche Objekt“ proklamiert, Carl Andre horizontale Abmessungen als „Schnitte im Raum“ gedacht. Bruce Nauman versperrt nun den Raum, er baut Wände, schafft Ecken, konstruiert Korridore, verwirrt mit Videoaufnahmen und Wiedergabetechniken die Orientierung und erzwingt klaustrophobische Situationen, die der Betrachter respektive Akteur ebenso erfahren muss wie der Künstler, der sie entworfen hat. Bruce Nauman hebt die Distanz zwischen Betrachter und Künstler auf.

Die Zeichnung „Door / 5 Panels / 6 Corridors – 3 passable 3 impassable / 3 live video / 1 videotape with monitors“ aus dem Jahr 1970 ist schon mit ihrem Titel Dokument eines anderen medialen Ausdrucks der Kunst von Bruce Nauman. Der Text ist auch nicht so sehr Titel der Zeichnung, er ist vielmehr Teil von ihr und damit auch Handlungsanweisung für die Umsetzung des räumlichen Konzepts. 1970 hat Bruce Nauman eine Ausstellung für die Nicolas Wilder Gallery in Los Angeles entwickelt. Die hier besprochene Zeichnung stellt den Grundriss der Galerie Wilder mit den darin von Bruce Nauman konzipierten einzubauenden Wänden dar. Aufgrund ihrer Positionie-rung lassen sie in der Galerie Korridore entstehen. Die teilweise begehbaren Korridore sind mit Deckenleuchten innen erhellt, die schmalen Zwischenräume sind dunkel belassen, was den Kontrast zwischen einladenden und ausladenden Räumen sogleich sinnfällig macht. Am Ende der Gänge, durch die man schreiten kann, befinden sich Monitore auf dem Boden, die im Livestream den Moment zeigen, wenn der Gehende von einem Korridor in den anderen einbiegt. Der Betrachter ist konstitutiver Teil des Bildes durch seine ihm eigene Aktivität, zu der ihn der Künstler mit diesem Werk zwingt, oder einlädt, ganz wie man es versteht.

Wenngleich die gesamte Installation kaum eine Richtungsän-derung ermöglicht, befindet man sich in einem Raum der Orientie-rungslosigkeit und Isolation. Der Besucher ist beobachtet durch das Aufnahmegerät, kann sich dennoch nicht selbst sehen, weil nur seine Bewegung an der Wende zwischen den Wänden aufgenommen wird und der leere Bildschirm zurück in den Korridor strahlt. „Like most of his work, this situation does not deal with a concept of space, but with the sensation of it“, schreibt Marcia Tucker dazu. Und weiter: “Its effect goes beyond that of a purely physiological reaction to become a highly charged emotional experience.“ (Artforum, Dezem-ber 1970, S. 38)

Zeichnung als Medium ist bei Bruce Nauman niemals als ein autonomes Kunstwerk zu betrachten, eher dem Wortsinn nach als eine „konkrete“ Zeichnung, hier bezogen auf den Grundriss und die Proportion eines Galerieraumes. Nur in der Zeichnung wird durch das Prinzip der Aufsicht in der Grundrisszeichnung eine „Kompositi-on“ erkennbar, die den rhythmisch-proportionalen Wechsel des zu Korridoren aufgegliederten Raumes zu erkennen gibt. Sie ist ästhe-tisch eigenständig, weil sie im Duktus der Linien die konkrete Raum-vorgabe zurückdrängt zugunsten ihrer abstrakten Linienkonstruktion. Friedrich Meschede, Bielefeld

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315 Eugen SchönebeckHeidenau/Sachsen 1936 – lebt in Berlin

Ohne Titel. 1963

Tuschfeder und -pinsel über Bleistift auf Papier. 42 × 29,5 cm (16 ½ × 11 ⅝ in.). Unten rechts monogrammiert und datiert: ES 63.

Provenienz Silvia Menzel, Berlin / Privatsammlung, Berlin / Juerg Judin, Zürich (2012)

EUR 20.000–30.000 USD 22,700–34,100

Ausstellung Eugen Schönebeck, Zeichnungen 1960-1963. Berlin, Galerie Silvia Menzel, 1986, mit Abbildung / Eugen Schöne-beck – Die Nacht des Malers. Bilder und Zeichnungen 1957-1966. Hannover, Kestner-Gesellschaft, 1992, Kat.-Nr. 132, mit Abbildung / Eugen Schönebeck – The Drawings. Berlin, Nolan Judin, 2012, Kat.-Nr. 37, Abbildung S. 86

In nur zehn Jahren schuf Eugen Schönebeck ein malerisches Werk, das ihm noch heute, mehr als ein halbes Jahrhundert nach seinem selbst gewählten Rückzug aus der Öffentlichkeit, einen der vorders-ten Plätze in der Kunstgeschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahr-hunderts sichert. Unsere Zeichnung von 1963 entstand zu einer Zeit, in der Schönebeck die entscheidende Wendung in seinem kurzen Schaffen vollzog. Zwei Jahre nach der ersten Doppelausstellung mit Georg Baselitz zum „Pandämonischen Manifest“ hatte er endlich Antworten auf Fragen gefunden, die ihn damals über alle Maßen beschäftigten.

Orientierte er sich bis dahin am Pariser Informel, so begannen sich nun „aus diesen amorphen Strukturen figurative Elemente zu lösen, die ihn zu monumental-expressiven Gemälden wie ‚Figur mit Vogel’ von 1963 (Dresden, Galerie Neue Meister) und ‚Kreuzigung’ von 1964 (Städel, Frankfurt a.M.) führten.“ (Deutsche Kunst im 20. Jahrhundert. Ausst.-Kat., London, Stuttgart, 1985/86, S. 500)

Auch die Zeichnung zählt zu den Arbeiten, bei denen Schöne-beck diesen künstlerischen Befreiungsschlag der frühen 1960er-Jahre voll auskostet. In enormer Energieanstrengung verteilt er Lini-enknäuel mit der Feder auf dem Malgrund, legt daneben mit dem Pinsel eher flächige Zonen an, durch die teilweise noch die Unter-zeichnungen in Bleistift hervorscheinen, und breitet so das Farb-spektrum, das ihm die Tinte bietet, nach allen Möglichkeiten vor dem Betrachter aus: von hellem Grau über die reichen Varianten der Mitteltöne bis hin zu einem tiefen, in das Blatt regelrecht einschnei-denden Schwarz.

Aus diesem furiosen abstrakt-expressiven Wirbel treten Gestalten hervor, die man identifizieren zu können glaubt: Links eine Frau, die eine Art Tanzschritt vollführt. Das Gebilde im Zentrum trägt Gesichter, hat Hände, Füße, doch wie sie aufgetaucht sind, so ver-schwinden diese Figuren auch, mehr Assoziationen als wiederer-kennbare Motive. In der elementaren Wucht, mit der Schönebeck hier Gewissheiten schafft, um sie im nächsten Moment wieder zu zerstören, liegt eines der Geheimnisse, die großer Kunst zu eigen sind.

Ulrich Clewing, Berlin

„Ein Bewusstsein der Krise, einer alles durchdringenden Traurigkeit, Grausamkeit und sogar Perversität.“ Eugen Schönebeck, 2010

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316 Georg BaselitzDeutschbaselitz/Sachsen 1938 – lebt in Salzburg

„Der Hirte“. 1965

Radierung, Kaltnadel und Aquatinta auf Velin. 31,7 × 23,5 cm (44,1 × 31,8 cm) (12 ½ × 9 ¼ in. (17 ⅜ × 12 ½ in.)). Signiert und datiert. Werkverzeichnis: Jahn/Gachnang 28. Einer von 60 num-merierten Abzügen. München, Edition Heiner Friedrich, 1972.

Provenienz Privatsammlung, Nordrhein-Westfalen (bis 2012)

EUR 5.000–7.000 USD 5,680–7,950

Literatur und Abbildung Auktion 213: Villa Grisebach Auktionen, Berlin, 31. Mai 2013, Kat.-Nr. 814

Die Kunst der Nachkriegszeit war zunächst vom Informel der École de Paris und vom Abstrakten Expressionismus geprägt, deren Abs-traktionen einen Neuanfang und einen Blick nach vorne nach der Barbarei des Krieges darstellten. Anfang der 1960er-Jahre begannen dann jedoch Vertreter einer jüngeren Künstlergeneration, die das Dritte Reich und den Krieg als Kinder erlebt hatten, in Akademien und Galerien auszustellen. In Düsseldorf entstand um Polke, Richter und Lueg der kapitalistische Realismus, in Berlin sorgte Georg Base-litz in der Galerie Werner & Katz 1963 mit der Beschlagnahmung sei-nes Gemäldes „Die große Nacht im Eimer“ für einen öffentlichkeits-wirksamen Eklat. Hier kündigte sich eine Generation an, die die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts wie auch die Konformität und die Scheuklappen der Nachkriegsjahre in ihren Werken direkt thematisierten.

1965 begann Baselitz seine Serie „Neuen Typen“ oder „Helden“: mit physisch überdimensionierten männlichen Gestalten, inmitten einer Trümmerlandschaft. Ihre Physis steht nicht nur in Kontrast zur Umgebung, sondern auch zur eigenen Unentschlossenheit. Die Ver-gangenheit liegt in Trümmern, der Aufbruch in eine neue, bessere Zukunft scheint ungewiss. Baselitz schildert seine eigenen Erinne-rungen an den Krieg: „Es gab die Flucht und den Beschuss, die schreiende Mutter und Geschwister, vor allen Dingen die vielen Flüchtlinge, die dachten, dass jetzt das Ende der Welt kommt. Es war ein absolutes Chaos, eine apokalyptische Welt, in der du aufpassen musstest, wo du mit den Füssen hintrittst. Es gab keine Straßen mehr, als wir durch Dresden gezogen sind.“ („Ich wüsste nicht, wie ich in Kalifornien hätte Maler werden können.“ Georg Baselitz im Gespräch mit Martin Schwander. In: Ausst.-Kat. Baselitz. Basel, Fon-dation Beyeler, 2018, S. 48).

Neben den persönlichen Erinnerungen tragen die Heldenbilder zugleich eine Anknüpfung an die Kunstgeschichte vor dem 20. Jahr-hundert in sich. Baselitz bezieht sich in Komposition und Duktus auf Goya, Manet und Courbet (ein Heldenbild ist betitelt „Bonjour Mon-sieur Courbet“), zudem auf die deutsche Renaissance. Gerade das druckgrafische Werk Dürers findet sich in unserem „Hirten“ wieder, und vielleicht ist es von daher auch kein Zufall, dass das grafische Schaffen von Baselitz in dieser Zeit fast ausnahmslos in Radierungen und Holzschnitten stattfindet.

Die Heldenbilder sind möglicherweise Baselitz‘ direkteste Konfrontation mit der Kriegszeit und mit seiner Identität als Deut-scher. Das Thema wird ihn jedoch zeitlebens beschäftigen. Nach der Jahrtausendwende hat Baselitz die Heldenmotive ganz unmittelbar im Rahmen seiner „Remixe“ wieder aufgegriffen (Kat.-Nr. 317).

Daniel von Schacky, Düsseldorf

Die Heldenbilder sind möglicherweise Baselitz‘ direkteste Konfrontation mit der Kriegszeit.

Grisebach — Herbst 2018

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317 Georg BaselitzDeutschbaselitz/Sachsen 1938 – lebt in Salzburg

Der Hirte. 2007

Aquarell auf Bütten. 66,9 × 50,5 cm (26 ⅜ × 19 ⅞ in.). Unten links mit Tusch-feder datiert und signiert: 9.XII.07 G Baselitz.

Provenienz Galerie Schönewald, Düsseldorf

EUR 30.000–40.000 USD 34,100–45,500

Ist der „Hirte“ mit dem gesenkten Kopf und dem wallenden Haar ein romantischer Typ? Jedenfalls stammt er aus einer älteren Erzählung: Seine Vorgeschichte reicht zurück zu den Landsknecht-Darstellungen des 16. Jahrhunderts, und im Werk von Georg Baselitz erscheint er zum ersten Mal 1965 (Kat.-Nr. 316). Baselitz gießt das kunsthistorische Modell des Einzelfigurbildes in seinen Stil und seine Erlebniswelt um. Aber wie der Name sagt, unterscheidet sich „Der neue Typ“ in Malerei und Haltung von allen Vorgängern. Einen solchen wie ihn, der in die Wirren des 20. Jahrhunderts hineingeboren wurde, hat es noch nicht gegeben. In der Bilderserie des „Neuen Typs“ aus den Jahren 1965/66 kann er auch anders heißen als „Hirte“, etwa „Rebell“, „Parti-san“, „versperrter“ oder – aus der Romantik – „Ludwig Richter auf dem Weg zur Arbeit“. Er ist belastet mit vielen Bedeutungen: mit der Außenposition des Künstlers, mit der Auflehnung gegen die Gesell-

schaft und gegen die gängige Kunstpraxis. Aber im Gegensatz zu einem aktiven Revolutionär ist er gehemmt, innerlich zerrissen und trotz der ramponierten, soldatischen Kleidung friedlich und melan-cholisch. Ein Anti-Held, das heißt, heldenhaft in der Gegenposition und im Widerstand.

Als Georg Baselitz ab 2005 seine ehemaligen Werke von 1965/66 einer Neuformulierung in den „Remix“-Bildern unterzog, zu denen dieses Aquarell gehört, nahm er die Herausforderung eines Bilder-wettstreits an, die alten Werke zu übertreffen. Der „Hirte“ scheint in den Jahrzehnten nicht gealtert zu sein, sondern er ist sogar ver-jüngt. Mit den „Remix“-Arbeiten befreit sich der Künstler von der emotionalen Last und der pastosen Malerei der Frühzeit. Die Bilder sind in leuchtenden Farben schnell und offen gemalt. Sie feiern die Malerei als Malerei der abstrakten Formfíndung und Formsetzung. Wirken die großen Gemälde in ihrem Farbauftrag schon aquarell-haft, so werden die Merkmale des Flüchtigen, der Transparenz und Leuchtkraft im Aquarell noch verstärkt. Trotz der großen Spontane-ität sind die Farbflächen, die viel Freiraum zwischen sich lassen, mit großer Treffsicherheit platziert. Die Komposition als Ganzes ist überlegt und stimmig konstruiert.

Die abstrakte, farbige Bildform ist jedoch keine l’art-pour-l’art-Malerei, sondern sie umschreibt einen gegenständlichen Inhalt. Der sitzende „Hirte“ wird vom Halt suchenden Arm einer stürzenden Figur umfangen, deren nackter Oberkörper im Ausschnitt am linken Bildrand angedeutet ist. Durch dieses Motiv erhält auch der Gesichtsausdruck des Hirten eine besondere Bedeutung. Sein Blick richtet sich wehmütig auf den fallenden Freund. So verbindet das Aquarell mit der perfekten abstrakten Gestaltung die inhaltliche Tiefe der Trauer um den Freund. Auf jeden Fall trägt der „Hirte“, wie man sieht, das Herz auf dem rechten Fleck.

Günther Gercken, Lütjensee

Ist der Hirte mit dem gesenkten Kopf und dem wallenden Haar ein romantischer Typ?

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318 Markus LüpertzReichenberg/Böhmen 1941 – lebt in Berlin und Düsseldorf

An der Bar. Ende der 1960er-Jahre

Tuschfeder und -pinsel auf chamois-farbenem Papier. 61,2 × 43,2 cm (24 ⅛ × 17 in.). Unten rechts mit Filzstift signiert: MARKUS.

Provenienz Privatsammlung (Geschenk des Künstlers, bis 2012) / Kunsthandel Jörg Maaß, Berlin (erworben auf der TEFAF Maastricht 2013)

EUR 5.000–7.000 USD 5,680–7,950

Literatur und Abbildung Auktion 260: Kunst & Kuriosa, Heidelberg, 17. März 2012, Kat.-Nr. 980

Das Publikum ist unwissend.Weiß aber um die Unnötigkeit der KunstNatürlich nicht bewußtSondern ganz gefühlsmäßigUnd ist doch als SchattenOder AlibiOder PolitikSprich GeldBrauchbar undBei guter Laune des KünstlersVerführbar bis zur LiebeMarkus Lüpertz

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319 Antonius HöckelmannOelde/Westfalen 1937 – 2000 Köln

Orgie I. 1967-69

Tuschpinsel, Kohle, Bleistift, mit Deck-weiß gehöht, und Collage auf Papier. 156,1 × 251 cm (61 ½ × 98 ⅞ in.). Unten rechts mit Bleistift signiert und datiert: Antonius Höckelmann 1967/68 zweiter Mai 69.

Provenienz Galerie Benjamin Katz, Berlin (1970)

EUR 15.000–20.000 USD 17,000–22,700

Ausstellung Antonius Höckelmann. Zeichnungen und Plastiken. Museum Leverkusen, und Bern, Kunsthalle, 1975/76, Kat.-Nr. 54 / Antonius Höckelmann. Skulpturen, Handzeichnungen. Köln, Kunsthalle, 1980, Kat.-Nr. 89, Abbildung S. 65 / Zeitspiegel II 1945-1986. Berlin, Galerie Pels-Leusden und Villa Grisebach, 1986, S. 84/85, mit Abbildung / Antonius Höckelmann. Passionen. Hamm, Gustav-Lübcke-Museum, und Stadtmuseum Beckum, 2002/03, Kat.-Nr. 13, S. 83, Abbildung S. 29

Literatur und Abbildung Gebrochene Sinnlichkeit. Eigenbericht. In: Die Welt, Hamburg/Berlin, 13. November 1969

Lieber Bernd, rein zufällig nach einer tropischen Nacht hörte ich am Morgen des 31. Juli im Radio von Deinem Pro-jekt „Emigranten wider Willen“, sofort dachte ich an meine Eltern. Dann erhielt ich am gleichen Nachmittag Dei-nen Anruf und hörte von Dir persönlich von Deinem Vorhaben und auch von Deiner Bitte, einen Text über die von Dir 1970 erworbene geniale Zeichnung von Antonius Höckelmann zu formulieren. Gekauft hast Du sie während des Berli-ner Kunstmarktes in der Kunstakade-mie und nicht in der Galerie Bassenge, wie Du vermutet hast. Bei Bassenge hatte ich Antonius 1969 eine Ausstellung gewidmet. Es war sehr, sehr schwer, Arbeiten von ihm zu verkaufen. Ich erinnere mich, dass er sogar mit dem Gedanken spielte, seine künstlerische Laufbahn zu beenden, aber der Verkauf genau dieser Zeichnung an Dich moti-vierte und ermutigte ihn, weiter zu machen. Die Umstände, wie wir diese 150 x 250 cm große Zeichnung gerahmt haben, sind mir noch heute präsent. Bei unserer damals finanziell extrem prekären Lage verlangte es große Anstrengungen und Improvisation, Holzbrett, Plexiglas und Abdeckung zu organisieren. Zum Schluss war alles etwas dilettantisch, aber vorführbar und die gerahmte Zeichnung etwa so schwer wie eine Bronzeskulptur.

Höckelmann lernte ich schon 1957 während unseres Studiums an der Hochschule für Bildende Künste in Ber-lin kennen, auch seine Frau Hille Eilers, die wie ich, in der Vorsemester-Klasse von Hans Jaenisch studierte. Wir stan-den uns gegenseitig beim Zeichnen Modell. Gelegentlich traf ich Höckelmann in der Kunstbibliothek Jebensstraße, wo sich jetzt das Helmut Newton Museum befindet. Dort suchte er nach Inspiration durch die alten Meister, wie Du mög-licherweise in Deiner Zeichnung erkennen kannst. Ich mochte Anto-nius Höckelmann sehr. Er ist und bleibt ein großartiger Künstler, aber leider noch immer völlig unterschätzt. Ein extrem bescheide-ner und großzügiger Mensch.

Lieber Bernd, gelegentlich sind wir uns schon in der Galerie Pels-Leusden begegnet – wie an vielen anderen Orten – es war immer ein Vergnügen. Ich hoffe, dass Du mit diesen wenigen Zeilen etwas anfangen kannst. Wie ich Dir schon am Telefon sagte, bin ich kein Schreiber. Dafür schreibe ich umso lieber mit dem Fotoapparat, aber das ist eine ganz andere Lesart. Ich wünsche Dir für Dein wich-tiges Vorhaben viel Erfolg. Dein Benjamin

Benjamin Katz, Köln

Blick in die Ausstellung in der Akademie der Künste, Fotografie von Klaus Märtens, 1970

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320 Walter StöhrerStuttgart 1937 – 2000 Scholderup

„Halluzinose + Signal“. 1968

Mischtechnik und Collage auf Papier. 89,5 × 62 cm (35 ¼ × 24 ⅜ in.). Oben links signiert und datiert: Stöhrer 1968. Rückseitig betitelt (eingekreist), sig-niert, mit Adresse und Richtungspfeilen bezeichnet: Hallozinose + Signal. Walter Stöhrer 1 Berlin / 30 Bambergerstr. 30.

Provenienz Galerie Schüler, Berlin (Ende der 1960er-Jahre)

EUR 7.000–9.000 USD 7,950–10,230

Vor kurzem sprachen zwei Museumsdirektoren von Walter Stöhrer als dem Maler, der vor allen anderen am ehesten mit Basquiat zu vergleichen sei. Das ist eine schöne Idee, zumal sie auch das Unpas-sende der so unterschiedlichen Preisbewertungen beider Künstler aufgreift. Für mich jedenfalls ist Stöhrer immer der gewesen, der das, was Jimi Hendrix der amerikanischen Nationalhymne hinzufügte, für die deutschen Farben Schwarz-Rot-Gold (respektive Gelb) geleistet hat: das Verflüssigen der zu festen Form, das Jaulen der Farben, die Beschwörung des Lebens vor dem Tod – Rausch, Zunei-gung und Wut als bildgewordene Haltung.

Ein malender Hersteller, kein Sich-den-Kopf-Vergrübler war Walter Stöhrer, aber dabei klug. Man wird mit den Bildern nicht fertig, sie beschäftigen einen. Wer nicht will, der hat schon, wer aber will, der kriegt nicht genug und zwar ein immer wieder sich erneuerndes Seherlebnis. Man spürt und sieht auf jedem Bild Stöhrers das Zittern der Erregung, den Bann des Chaos, das ihn antrieb, das Leben, die Gefahr, die Lust und das Gebändigte. Und wird Zeuge eines schönen Paradoxons, das gleichsam daraus entsteht: des Lakonischen, des Einfachen, des Bei-sich-Bleibenden dieser Bilder bei aller vorge-führten Vielfalt. Das vitale Durcheinander reift zum Bild, und dabei spielen mannigfaltige Einflüsse – ihm gemäße Spielarten der Literatur, ebensolche Musik, auch Zeichnungen von Outsidern – eine tragende Rolle, die er als vorgeformten Triebgrund der Wirklichkeit für sein sprechendes Bild nutzbar machen konnte.

Klaus Gerrit Friese, Berlin

Rausch, Zuneigung und Wut als bildgewordene Haltung.

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321 Antonio Saura1930 – Huesca – 1998

Accumulation (Boceto). 1967

Tuschpinsel und -feder und Deckweiß auf leichtem Karton. 32,8 × 29,8 cm (12 ⅞ × 11 ¾ in.). Unten mittig mit Kugelschreiber signiert und datiert: SAURA 67.

Provenienz Privatsammlung, Hessen (bis 2015)

EUR 8.000–12.000 USD 9,090–13,600

Literatur und Abbildung Auktion 241: Villa Grisebach Auktionen, Berlin, 5. Juni 2015, Kat.-Nr. 541

Die informelle Kunst nach 1945 bereitete dem Publikum beträchtli-che Schwierigkeiten durch den Verzicht auf den Gegenstand. Zugleich wurden alle Vorschriften erneut missachtet. Hatte die Avantgarde um 1900 bereits die akademischen Regeln außer Kraft gesetzt, ging es jetzt nicht einmal mehr um die Sichtbarmachung eines Themas. Nirgendwo fand das Auge Halt, alles war unbestimmt, nur noch Farbe und Struktur herrschten. So erklärt sich auch, dass ein erbitterter Streit um den Verlust der Mitte einsetzen konnte. Aber der Niedergang der Kunst war keineswegs eingeläutet. Viel-mehr wurden große Möglichkeiten sichtbar, sich auszudrücken und essenzielle Botschaften mitzuteilen.

Der Spanier Antonio Saura reiste 1953 als Autodidakt nach Paris und nahm unter Einfluss des Existenzialismus in der Gruppe El Paso gemeinsam mit Tapiès und Canogar seinen Kampf gegen den Terror des Franco-Regimes auf. Mehr als die Freiheit der Kunst hat ihn vielleicht die Freiheit des Denkens angetrieben. Er ist auch als Schriftsteller mit wichtigen Beiträgen, etwa zur Rezeption des ame-rikanischen Abstrakten Expressionismus, hervorgetreten. Sauras Bilder sind oft von Schwarz bestimmt, wie auch unsere „Accumula-tion“, eine dichte Struktur verwandter Formen mit wenigen substan-ziellen Differenzierungen. Das Werk vermittelt die umfassende

Kenntnis des Künstlers vom Schaffen seiner Zeitgenossen. Saura und seine Gefährten haben nie aufgehört, die Stimme zu erheben. So setzte sich Saura 1984/85 in einem Zyklus mit der unmenschlichen Freiheitsberaubung durch die Berliner Mauer auseinander. Mit seiner Kunst protestierte Saura gegen Unterdrückung und Verfolgung durch Diktaturen, die nie aussterben werden. Seine Bilder halten stand.

Elke Ostländer, Berlin

Mit seiner Kunst protestierte Saura gegen Unterdrückung und Verfolgung durch Diktaturen, die nie aussterben werden.

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322 Jorge CastilloPontevedra 1933 – lebt in Madrid

„Marienza en el Huerto“. 1971

Tempera und Tuschfeder auf genarbtem Papier. 28,6 × 19,7 cm (11 ¼ × 7 ¾ in.). Rückseitig mit Bleistift betitelt und datiert: Marienza en el Huerto 1971.

Provenienz Galerie Pels-Leusden, Berlin (1972)

EUR 1.000–1.500 USD 1,140–1,700

Ausstellung Jorge Castillo. Gemälde, Pastelle, Aquarelle und Graphik. Berlin, Galerie Pels-Leusden, 1972, Kat.-Nr. 64

323 Jorge CastilloPontevedra 1933 – lebt in Madrid

„Gran Caballo Artista“. 1971

Tempera über Tuschfeder auf Velin. 56,9 × 78,2 cm (22 ⅜ × 30 ¾ in.). Oben links signiert und datiert: CASTILLO 71. Rückseitig betitelt: „GRAN CABALLO ARTISTA“.

Provenienz Galerie Pels-Leusden, Berlin (1970er-Jahre)

EUR 2.000–3.000 USD 2,270–3,410

Meine Frau und ich lernten Bernd Schultz Anfang der 1970er- Jahre des vergangenen Jahrhunderts kennen. Es war damals durchaus aufregend, von Hamburg nach West-Berlin zu kommen, wo gerade auf dem Markt für junge Künstler viel passierte. Also besuchten wir Bernd in der damaligen Galerie Pels-Leusden immer wieder und lernten auch Jorge Castillo kennen, diesen genialen Spanier in Berlin, dessen Arbeiten uns auf Anhieb begeisterten. Wir sahen uns nicht nur viele seiner Bilder an, wir kauften auch. Obwohl Castillo über New York heute wieder in Spanien lebt und wir ihn nicht mehr treffen, hängen wir an seinen frühen Arbeiten sehr. Sie liegen nicht in Sammelschränken, sondern Castillos Bilder erfreuen uns jeden Tag gerahmt an der Wand. So sind sie auch Erinne-rungen an den Kurfürstendamm im damaligen West-Berlin und an unsere bis heute lebendige Freundschaft mit Bernd Schultz, der noch so viel vorhat, nachdem er mit der Villa Grisebach ein Lebenswerk vorweist wie nur wenige von uns. Gut so, rufen wir unserem Freund zu, auf zu neuen Ufern – zur Erinnerung an eine schlimme Vergangenheit hin zu einer besseren Zukunft. Nikolaus W. Schües, Hamburg

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324 Michael CroissantLandau/Pfalz 1928 – 2002 München

Figur. 1978

Aquarell auf braunem Aquarellpapier. 48 × 62,5 cm (18 ⅞ × 24 ⅝ in.). Unten rechts mit Bleistift signiert und datiert: M. Croissant 78.

Provenienz Galerie Fred Jahn, München (2013)

EUR 2.000–3.000 USD 2,270–3,410

Das menschliche Antlitz auf das Äußerste reduziert. In sich geschlos-sen. Geheimnisvoll. Mit wenigen sparsamen und schwungvollen Pinselstrichen setzt Michael Croissant die anthropomorphe Gestalt hin, die dem Betrachter in konzentrierter und in sich geschlossener Form gegenübertritt. Isoliert von ihrer Umwelt. Still. In sich ver-schlossen, in größtmöglicher Reduktion der Form und asketischer Farbigkeit. Nichts ist verspielt, nichts lenkt den Blick des Betrach-ters ab.

Die menschliche Figur ist auf ein Minimum reduziert. Und doch tritt der Betrachter in eine stille Kommunikation mit der gesichtslo-sen Gestalt, die ihn frontal und aufrecht sitzend als Gegenüber anspricht. Nichts lenkt ab von dieser Begegnung. Das menschliche Antlitz ist Croissants Motiv. Wie in seinen Skulpturen auch in seinem zeichnerischen Werk – anonym und ohne individuelle Züge.

„Die Zeichnung ist eine Form der Selbstvergewisserung des Bildhauers. Sie kann Meditation, auch eine Form von Konzentration, aber auch Vision und Ausweitung der bildhauerischen Sprache sein.“ (Bernd Mittelsten Scheid) Die Bildhauerzeichung zur Vorbereitung einer Skulptur wird in diesem monumentalen Aquarell von 1978 zum autonomen Kunstwerk.

Ich erinnere mich, als Bernd Schultz jubelnd, aber auch empört 2013 mit dieser Neuerwerbung in mein Arbeitszimmer trat. Er hatte sie, was ihn natürlich erfreute, zu einem ausgesprochen moderaten Preis erworben. Sein Unverständnis galt aber den Passanten in der Maximilianstraße, die vier Wochen am Schaufenster des von ihm so geschätzten Kollegen Fred Jahn vorbeigegangen waren, ohne auf das Kunstwerk aufmerksam zu werden.

Micaela Kapitzky, Berlin

Das menschliche Antlitz auf das Äußerste reduziert. In sich geschlossen. Geheimnisvoll.

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325 Fritz KoenigWürzburg 1924 – 2017 Ganslberg bei Landshut

Paar am Kreisrand. 1990

Kartonrelief. 60 × 80 cm (23 ⅝ × 31 ½ in.). Unten mittig mit Bleistift monogrammiert und datiert: F.K. 90.

EUR 1.000–1.500 USD 1,140–1,700

Ausstellung Fritz Koenig. Skulpturen und Zeichnungen. Berlin, Galerie Pels-Leusden, 1992, Kat.-Nr. 32, S. 55

326 Joachim SchmettauBad Doberan 1937 – lebt in Berlin

Frau mit aufgestütztem Kopf. 1973

Bleistift auf Bütten (Wasserzeichen: C.M. Fabriano). 51,5 × 49 cm (20 ¼ × 19 ¼ in.). Unten rechts signiert und datiert: Schmettau 73.

EUR 500–700 USD 568–795

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327 Franz BernhardNeuhäuser/Böhmen 1934 – 2013 Jockgrim

Ohne Titel. 1988

Tuschpinsel und Deckweiß auf leichtem Schoeller-Karton. 62,6 × 44,7 cm (24 ⅝ × 17 ⅝ in.). Unten links mit Bleistift signiert und datiert: F. Bernhard 6.88.

EUR 1.000–1.500 USD 1,140–1,700

Literatur und Abbildung Auktion 192: Villa Grisebach Auktionen, Berlin, 26. November 2011, Kat.-Nr. 951

328 Franz BernhardNeuhäuser/Böhmen 1934 – 2013 Jockgrim

„D-1-87“. 1985/87

Tuschfeder und Aquarell, gekratzt, auf Schoellershammer-Karton. 72,5 × 101,3 cm (28 ½ × 39 ⅞ in.). Unten rechts sig-niert: F. Bernhard. Unten links zweifach datiert: 12.85 6.87. Rückseitig mit Bleistift gewidmet, mit den Maßen bezeich-net und betitelt: D-1-87. Dort auch der Künstlerstempel in Violett.

EUR 1.000–1.500 USD 1,140–1,700

Ausstellung Bildhauer zeichnen. Berlin, Galerie Pels-Leusden, 1988, Abbildung im Flyer zur Ausstellung

Literatur und Abbildung Auktion 174: Villa Grisebach Auktionen, Berlin, 5. Juni 2010, Kat.-Nr. 724

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329 Jean-Charles BlaisNantes 1956 – lebt in Berlin

Ohne Titel. 2011

Gouache und Bleistift auf Papier, mit Stecknadeln auf Karton montiert. Bis zu 28,3 × 18,5 cm (11 ⅛ × 7 ¼ in.). Unten links mit Bleistift signiert: Blais. Unten rechts datiert: 2011.

Provenienz Galerie Florian Sundheimer, München (2013)

EUR 900–1.200 USD 1,023–1,360

Merkwürdig verloren wirken die schattenhaften Gestalten der Collagen von Jean-Charles Blais. Oft schichtet der Künstler farblich unbehandeltes weißes oder mit dichter, schwarzer Gouachefarbe bemaltes Papier übereinander und fixiert es mit Stecknadeln. Der Kontrast der einzelnen Bild-elemente ist also tatsächlich physischer Natur. Auch tragen viele der Versatzstücke die Spuren wieder verworfener Bild-gedanken in Form von Löchern an sich, oder es werden Kör-perteile wie Schultern oder Hände angestückelt. Blais stellt seine Figuren in das denkbar grellste Licht des gleißenden Weiß, verunklärt aber die Blickrichtung, Vorne/Hinten, lässt sie oft wie siamesische Zwillinge aus einem Papierbogen zusammenwachsen.

Dennoch vermag die Härte der Umrisse nicht darüber hinwegzutäuschen, dass hier menschliche Hüllen einen Kampf gegen Vereinheitlichung und für die Behauptung ihrer

330 Jean-Charles BlaisNantes 1956 – lebt in Berlin

Ohne Titel. 2011

Gouache, Bleistift und Montage, mit Stecknadeln auf Papier montiert. 102,5 × 76 cm (40 ⅜ × 29 ⅞ in.). Unten rechts mit Bleistift signiert: Blais. Oben links datiert: 8 3 11.

Provenienz Galerie Florian Sundheimer, München (2015)

EUR 3.000–4.000 USD 3,410–4,550

Individualität führen. Blais destilliert und schärft die Kontu-ren dessen, was sich im Laufe des Lebens in die Körperhal-tung des Menschen einschreibt. Das Besondere manifestiert sich in kleinsten Nuancen und mit dieser Erkenntnis verwan-delt sich das Uniforme in ein Zeugnis individueller Imaginati-on. Die Körper werden zu Gefäßen ihrer Lebensläufe. Sie widersetzen sich in ihrer Einprägsamkeit dem Vergessen und suchen nach den kollektiv gültigen Bildern, die dem „in die Welt geworfen Sein“ Bestand und Dauer verleihen.

Florian Sundheimer, München

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331 Paul WunderlichEberswalde 1927 – 2010 Saint-Pierre-de-Vassols

Ohne Titel. 1963

Deckweiß und Bleistift auf dünnem Karton. 32 × 53 cm (12 ⅝ × 20 ⅞ in.). Unten links signiert und datiert: Wunderlich 63. Werkverzeichnis: Nicht bei Jensen.

EUR 1.500–2.000 USD 1,700–2,270

Literatur und Abbildung Auktion 192: Villa Grisebach Auktionen, Berlin, 26. November 2011, Kat.-Nr. 1397

Als Paul Wunderlich diesen Karton mit Deckweiß, Kohle und Bleistift malte, war der Künstler gerade von einem längeren Aufenthalt in Paris zurückgekehrt. Einen Teil des Jahres 1961 und das ganze Jahr 1962 hatte er in der französi-schen Hauptstadt verbracht, damals noch die unangefochtene Kapitale der europäischen Kunst. Die Zeit in Paris muss für Wunder-lich sehr anregend gewesen sein, vor allem Lithografien entstanden dort, und zum ersten Mal konnte der 35-Jährige seinen Lebensun-terhalt ausschließlich durch die Kunst bestreiten. Zurück in Deutschland gelang ihm der end-gültige Durchbruch, der sich zunächst in der Berufung zum Professor an die Hochschule für Bildende Künste in Hamburg mani-festierte.

In ebendieser Zeit entstand auch dieses Bild in Mischtechnik mit dem Titel „Ohne Titel“. Im rechten Viertel der Komposition sieht man eines jener, hier nur aus wenigen Strichen zusammenge-setzten, Gesichter, die in Wun-derlichs Kunst in der Vergangen-heit schon häufiger aufgetaucht waren. Das Zentrum und den übrigen Rest des Kartons hat Wunderlich zur Bühne seiner gerade in diesen Jahren ausge-prägten Experimentierfreude gemacht. Einzelne Linien formen sich wie Landschaften im Nebel zu erkennbaren Motiven – zu Räu-men und unbestimmten Architekturen, zu weiteren Gesichtern, manchmal gewahrt man auch nur ein Auge, einen Mund –, nur um sich schon im nächsten Moment wieder in die vagen Regionen des Formalen, in die vom alles überdeckenden Weiß dominierte Abs-traktion zurückzuziehen.

Die erotischen, bisweilen auch karikaturhaften oder surrealen Arbeiten, mit denen Paul Wunderlich Ende der 60er-Jahre weithin bekannt werden sollte, deuten sich hier – wenn überhaupt – höchs-tens an, und dies vor allem durch den Vorgang des Zeigens und Ver-hüllens, den er uns Betrachtern auf diesem Karton so kunstvoll prä-sentiert. Man hat den Eindruck, dem Künstler dabei zusehen zu können, wie er seine in Paris gefundenen malerischen Mittel auspro-biert, sortiert und neu ordnet. Es liegt die Frische eines Anfangs über diesem Bild.

Ulrich Clewing, Berlin

Man hat den Eindruck, dem Künstler dabei zusehen zu können, wie er seine in Paris gefundenen malerischen Mittel ausprobiert, sortiert und neu ordnet.

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332 Klaus FußmannVelbert 1938 – lebt in Berlin und Gelting

Interieur. 1970

Öl, Gouache und Bleistift auf leichtem Karton. 61,3 × 73,5 cm (24 ⅛ × 28 ⅞ in.). Oben rechts signiert und datiert: Fußmann 70.

Provenienz Privatsammlung, Brandenburg (bis 2008)

EUR 4.000–6.000 USD 4,550–6,820

Literatur und Abbildung Auktion 157: Villa Grisebach Auktionen, Berlin, 31. Mai 2008, Kat.-Nr. 444

Da sitze ich nun vor dem leeren Blatt. Der Horror Vacui spürbar. Erbeten eine sommerwindleichte Bildkritik eines Interieurs des hochgeschätzten Malers Klaus Fußmann, gerade achtzig Jahre alt geworden und in zwei großen Ausstellungen im Potsdamer Museum Barberini und in Schloss Gottorf, dem Landesmuseum Schleswig-Holsteins, nobel gewürdigt. Der blockierte Autor im Vollbesitz seiner Mängel, im Wissen um Kunstkritik und Kunstgeschichte. Erwin Pan-ofsky und Aby Warburg stehen für bildmächtige Erklärungen nicht zur Verfügung. Also ab in die kleinen Fluchten – in meinungsstarke Zitate und Historie.

Ich erinnere mich noch genau, als ich als Freund und Gast im Garten von Bernd Schultz auf das Ehepaar Fußmann traf. Ganz unter dem Eindruck des melancholischen Zaubers seiner Bilder, zeitnah ausgestellt in der bekannten Galerie Schüler am Kurfürstendamm, wurde es eine spannende, für mich erkenntnisreiche Begegnung mit Folgen. Bis heute hält die Freundschaft.

Die Themen von Klaus Fußmanns Bildern sind von großer Ruhe und Einsamkeit: Stillleben und Interieurs, nur manchmal tauchen Figuren von Freunden oder Personen aus der Familie im Atelier auf. Bisweilen malt er Landschaften aus dem Blickwinkel der Fenster seiner Arbeitsräume, zum Beispiel im Dahlemer Atelier Käuzchen-steig oder in der Hochschule an der Hardenbergstraße. Der für seine Bilder bevorzugte Raum aber ist der Innenraum. Die Intimität der eigenen Werkstatt oder die Verlassenheit fremder unbewohnter Räume, die der Maler auf Streifzügen durch die leer stehenden, auf Abbruch wartenden Berliner Mietshäuser entdeckt. So auch das abgebildete Interieur, eine Mischtechnik aus dem Jahr 1970. Zimmer ohne Ausblick. Die Außenwelt mit ihrer Hektik und ihrem Lärm bleibt ausgesperrt. In den Räumen jene verlassenen, in Schmutz und Unordnung verrottenden Spuren menschlicher Existenz in den Abrisshäusern Berlins.

„Ob Müllkippe oder Interieur, immer ist es das gleiche Sehen aus Distanz. [...] Manche dieser Interieurs zeigen ganze Geröllhalden schwer definierbarer Dinge vergammelten Zeugs. Alte Malpappen, verbeulte Büchsen und Töpfe, wackelige Möbel. In den Raum gespült, in die Leere des Raumes gespült wie in den Landschaften der Müllkippe Wannsee.“ So deutet Werner Haftmann, Kenner des Fußmann-Werkes, erster Direktor der Neuen Nationalgalerie Berlin und Autor des 1974 erschienen Standardwerks „Bilder“ über das frühe Fußmann-Œuvre, die Bilderwelt des Künstlers. Ich habe das Bild von Klaus Fußmann aus der Sammlung Bernd Schultz gesehen. Es gefällt mir. Sehr!

Michael Dieterici, Berlin

Ob Müllkippe oder Interieur, immer ist es das gleiche Sehen aus Distanz.

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333 Horst Janssen1929 – Hamburg – 1995

Selbstbildnis. 1971

Bleistift und Kreide in Braun auf Bütten. 26,2 × 38,3 cm (10 ⅜ × 15 ⅛ in.). Unten rechts mit der Uhrzeit bezeichnet, datiert und signiert: 5:40 [Uhr] 16 II 71 Janssen.

Provenienz Joachim Fest, Kronberg (in Familien-besitz bis 2012)

EUR 15.000–20.000 USD 17,000–22,700

Literatur und Abbildung Auktion 195: Villa Grisebach Auktionen, Berlin, 31. Mai 2012, Kat.-Nr. 48

„Janssen zeichnet. Er zeichnet immer, und er kann alles zeichnen, hat es von jeher gekonnt.“ Der Satz von Wieland Schmied, der als Direktor der Kestner-Gesellschaft in Hannover Horst Janssen gleich zweimal ausgestellt hat, 1965 und 1973, bedarf nur einer Ergänzung: Janssen, der immer und alles zeichnete, auch wenn er sich unter-hielt und einem zum Schluss eine gezeichnete Zigarettenkip-pe über den Tisch schob, zeich-nete immer und vor allem Land-schaften und Portraits, Familie, Freunde, Heinrich Heine.

Er zeichnete auch auf den Spuren seiner Freunde und Vorbilder, „nach“ Goya, Botti-celli, Dürer, Hokusai und Ver-rocchio zum Beispiel, wobei er sich gelegentlich gern selber mit ins Bild brachte. Bei Ver-rocchio als halber Hintergrund zu einem engelsgleichen Mäd-chenkopf, bei Botticelli als ziemlich groteskes Kind an der Hand einer Schönheit aus dem Venus-Reservoir. Manchmal sieht ein Selbstportrait von Janssen auch aus wie ein Stück verkarstete Landschaft oder verzweigtes Astwerk. Am größ-ten aber ist die Anzahl der Zeichnungen, auf denen er sich direkt und ohne Umschweife ins Gesicht schaut. Zwischen dreihundert und fünfhundert Blätter sind es, so schätzt man.

„Die Zeichnung ist eine Täuschung mit durchschauba-ren Mitteln“, betonte Janssen, der auch gern und gut schrieb, kleine Bosheiten und ausführ-lich Exaktes über das Zeichnen. Bleistift und Feder waren die Instrumente fürs Zeichnen und fürs Schreiben. „Nichts ist ein-facher, als meine ausgeleierte Hülle mit Sentimentalität zu stopfen“, schrieb er. Und tat das Gegenteil. Wobei das frühe Selbstportrait von 1971 der Rea-lität wohl noch recht nahe kommt. Aber ab 1972 schaut Janssen sich mit gnadenloser Imagination ins Gesicht. Und zeigt uns die Gesichte, die er hinter der Oberfläche sieht, die Karikaturen, die Abgründe, die Banalität, die Fratzen. Das hat so kein anderer seiner Kollegen getan, auch der schöne Albrecht Dürer nicht.

Petra Kipphoff von Huene, Hamburg

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334 Karl Horst HödickeNürnberg 1938 – lebt in Berlin

Ich selbst. 1978

Kohle auf Papier. 86 × 61 cm (33 ⅞ × 24 in.). Unten links signiert: Hödicke.

Provenienz Mitte der 1980er-Jahre vom Künstler erworben

EUR 3.000–4.000 USD 3,410–4,550

Ausstellung K.H. Hödicke. Kohle 75–82. Düsseldorf, Galerie Wolfgang Gmyrek, 2008, S. 207, Abbildung S. 19 / K.H. Hödicke Berliner Szenen. Berlin, Villa Grisebach, 2015/16 (ohne Katalog, Leihgabe)

„Ich Selbst“ – mit diesem Titel verleiht Hödicke seiner Kohlezeich-nung, entstanden 1978 im vierzigsten Lebensjahr, einen besonderen Rang der Selbstvergewisserung. Der Künstler steht hinter der Lein-wand. Oder ist es ein auf dem Zeichenbrett aufgespannter Papier-bogen? Was er darauf festhält, das wird mit den weit geöffneten Augen seines aus dem Bild herausblickenden Kopfes fixiert. Hödicke sieht sich selbst im Spiegel. Wir kennen solche Ateliersituationen spätestens seit Velázquez. Auch sind uns solche Spiegelrituale von zahlreichen Fotos aus Liebermanns Atelier auf dem Dach seines Hauses am Pariser Platz vertraut.

Natürlich weiß Hödicke von den verwirrenden Selbstbildnis-Dispositionen Liebermanns mit allen für den Betrachter so irritieren-

den Links-Rechts-Vertauschungen. Auch Hödicke zeichnet ja nicht als Linkshänder, sondern er zeichnet, was er im Spiegel sieht, und dort erscheint notwendig alles seitenverkehrt. Virtuos realisiert er zudem einerseits jenen Topos moderner Portraitkunst, der von Munch wie von Liebermann, Kokoschka oder Beckmann gegenüber ihren Modellen als Drohung formuliert wurde: ich porträtiere sie ähnlicher als sie jetzt sind, wie er andererseits einen weiteren Topos der Moderne illustriert, die „facies nigra“, sein schwarzes Gesicht. Bei einer Kohlezeichnung kann dies nicht anders sein, denkt man. Tatsächlich aber ist der merklich schwarz-dunkle Gesichtsteint das Charakteristikum des melancholischen Genies. Der moderne Künst-ler, so lehrt Hödickes insistierend aufgeschreckter Blick in den Spie-gel, auf sein geschwärztes Gesicht, ist von der Melancholie ebenso ausgezeichnet wie geschlagen. Eine ambivalente Vorstellung, die in der deutschen Kunst im dunklen Gesicht von Dürer bis zu Beckmann reicht.

1978, als Hödicke dieses suggestive Kohlebildnis von sich zeichnete, begann der Deutsche Herbst. Der Aufbruch der Studen-tenrevolution von 1968 hatte sich verwandelt ins Erschrecken über ganz neue Radikalisierungen der Gesellschaft. Der illusionslose Blick des Künstlers auf sich selbst als tiefsinnig verschatteten Melancholi-ker unmittelbar vor einer weißen Bildfläche, gleichsam einer Tabula rasa, auf der Hödicke bereits signiert hat – das ist eine höchst span-nungsreich zugespitzte Schwarz-Weiß-Situation im Bild. Von seinem hoch oben gelegenen, 1978 bezogenen Atelier aus, mit Rundblick auf den durch die Teilung Berlins zur Wüste Gobi verkommenen Potsda-mer Platz, hat Hödicke die prägnanten Bildformulierungen für die zweite Hälfte dieses schrecklich schönen 20. Jahrhunderts in Deutschland gefunden. Am Schluss dieses tour d‘horizon zu seiner Kohlezeichnung gilt freilich unverändert die Warnung des Künstlers: „der Versuch, hinter die Bilder zu schauen, schlägt meist fehl!“

Peter-Klaus Schuster, Berlin

Der Versuch, hinter die Bilder zu schauen, schlägt meist fehl.

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335 Karl Horst HödickeNürnberg 1938 – lebt in Berlin

Dessauer Turm. Um 1975/82

Kohle auf Papier. 86 × 61 cm (33 ⅞ × 24 in.). Unten rechts signiert: Hödicke.

Provenienz Mitte der 1980er-Jahre vom Künstler erworben

EUR 3.000–4.000 USD 3,410–4,550

Ausstellung K.H. Hödicke. Kohle 75 - 82. Düssel-dorf, Galerie Wolfgang Gmyrek, 2008, S. 207, Abbildung S. 83 / K.H. Hödicke Berliner Szenen. Berlin, Villa Grisebach, 2015/16 (ohne Katalog, Leihgabe)

Nur Eingeweihten erschließt sich der Titel dieser impulsiven Kohle-zeichnung: „Dessauer Turm“. Die Fährte führt nicht zur Abstraktion des Bauhauses, sondern zur Wiederaneignung der realen Welt, der kriegszerstörten Großstadt Berlin, und zum Empfinden ihrer latenten poetischen Energie als Keim einer neuen figurativen Malerei, die aus dem Verreiben der Kohle auf dem Papier ihren expressiven Aus-druck gewinnt, schwarz auf weiß zunächst, um schließlich aus erneuter Kraft zur Farbe den Schock des Krieges hinter sich zu lassen im Farbrausch.

Als hätte der Dessauer Turm, ein ebenso zufälliges wie präg-nantes Blockfragment inmitten der Tabula rasa der südlichen Fried-richstadt, Pate gestanden für den Aufbruch einer neuen Architektur

und einer anderen Stadt, einer Stadt im Grün, das die Trüm-merberge überwuchert, richten sich zunächst die Türme des Hansaviertels auf und dann die „Dinosaurier“ der Philharmo-nie und der Staatsbibliothek, goldglänzend bei Sonnenun-tergang, die Hödicke geradezu obsessiv von der Dachterrasse des Turmes an der Dessauer Straße aus in den Blick nimmt. Bilder der „Wüste Gobi“, beim Abendbrot mit Rotwein, die den Betrachter unmittelbar mit dem Lebensgefühl der Mauerzeit in seiner unver-gleichlichen Ambivalenz kon-frontieren.

Berlin fand dann doch wieder zurück zur Straße, hier am Potsdamer Platz, wo die Vision der Türme im Park sich bald als utopisch erweist und

der Stadtkörper zusammenwächst, um die Teilung von Ost und West, die Zäsur des Mauerstreifens, zu überwinden. Der Dessauer Turm, Ironie der Geschichte, wird erneut umarmt von einer Blockbebauung, die den Solitär seiner Skulpturalität, an die eine Architekturgenera-tion ihre Hoffnungen geknüpft hat, beraubt, um nun den Himmel über Kreuzberg zu rahmen und die Erinnerung wachzurufen an Hödickes legendären „Himmel über Schöneberg“.

Hans Kollhoff, Berlin

Helga Timmermann: Hof, Fotografie, 2018

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336 Andreas SchulzeHannover 1955 – lebt in Köln

Ohne Titel (Fernseher). 2001

Kohle, gewischt, auf Velin. 57 × 50 cm (22 ½ × 19 ⅝ in.). Rückseitig mit Tusch-feder signiert und datiert: A. Schulze 01.

Provenienz Galerie Max Weber Six Friedrich, München (2015)

EUR 2.000–3.000 USD 2,270–3,410

Literatur und Abbildung Auktion 248: Karl & Faber, München, 8. Dezember 2012, Kat.-Nr. 1276

Es gibt ein Motiv von Andreas Schulze, das immer wieder auftaucht, zum Beispiel auch in den Fensterbildern: eine wurstartige Einrah-mung seiner Motive. Es gibt Bilder mit Röhren, es gibt einen „hortus conclusus“ (Frankfurt, Städel) mit Wachteln. Den erwähne ich, weil ich denke, dass diese Umrahmungen etwas mit diesem Gefühl der Einrahmungen, des Einschließens, Eingeschlossenseins zu tun haben müssen. Die Kohlezeichnung „Fernseher“ würde ich in diese Reihe stellen, natürlich kommt auch Andreas’ komische Seite zum Vor-schein und unser aller 80er-Jahre-Beziehung. Er wurde da berühmt und ich habe wie wild mit ihm gearbeitet. Ich durfte auch bei ihm nächtigen, er legte einen Bademantel auf mein Bett, stellte mir Mickey-Mouse-Schlappen davor. In diesem Angeziesel habe ich dann mit ihm gefrühstückt. Obwohl ich anfangs sagte, dass das Einrah-mungsmotiv bei ihm oft auftaucht, muss ich doch betonen, dass jede Arbeit von A.S. einzigartig ist.

Six Friedrich, München

Obwohl das Einrahmungsmotiv bei ihm oft auftaucht, muss ich doch betonen, dass jede Arbeit von A.S. einzigartig ist.

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337 Imi KnoebelDessau 1940 – lebt in Düsseldorf

Ohne Titel. 1974

6 Blatt: Jeweils Aquarell und Bleistift auf linksseitig gelochtem DIN-A4- Papier. Jeweils 29,8 × 21 cm (each 11 ¾ × 8 ¼ in.). Jeweils rückseitig mit Bleistift signiert und datiert: Imi 74.

Provenienz Atelier des Künstlers / Galerie Max Weber Six Friedrich, München (2012)

EUR 9.000–12.000 USD 10,230–13,600

Die Folge der sechs 1974 entstandenen Papierarbeiten visualisiert beispielhaft das künstlerische Schaffen von Imi Knoebel. Wie eine Bildgeschichte erzählen die Darstellungen von Raum und Bewegung. Bis heute sind dies wichtige Bestandteile in Knoebels Werk, das von Auseinandersetzung mit dem Suprematismus, insbesondere mit dem „Schwarzen Quadrat“ von Kasimir Malewitsch, geprägt ist. Mit roter Aquarellfarbe und Grafit behandelt der Künstler Farben und Formen. Das erste Blatt der Reihe zeigt ein rotes Quadrat. Es ist nicht perfekt. Seine Konturen sind unregelmäßig, die Ecken unvoll-endet. Skizzenhaft wird es von einer dünnen Grafitlinie eingefasst.

Scheinbar zufällig drängen kräftige Grafitstriche expressiv in die ausgewogene Ruhe der roten Fläche ein. Auf dem zweiten Blatt der Serie überlagern die Grafitlinien gitterhaft das rote Feld. Unter der Last mehrerer horizontal verlaufender Linien, die sich auf die Ober-seite der roten Fläche gelegt haben, scheint sich das Quadrat zu einem Rechteck verformt zu haben. Der Druck der aufliegenden Last lässt die rote Fläche nachfolgend in drei Segmente und den Rahmen in Einzelteile zerbersten. Zusammenhängende Teile erscheinen in der Folge isoliert. Sie vereinzeln sich in vier Flächen, um sich schließlich auf dem letzten Blatt in kleine Partikel aufzulösen, die sich scheinbar zufällig auf dem Blatt verlieren. Farbflächen und Lini-en sind in ihrer Dichte reduziert, in Auflösung begriffen und erschei-nen den Betrachtern ungeordnet und gestisch gesetzt.

Die Bildserie zeigt programmatisch auf, was nachfolgend ein wichtiges und bis heute gültiges Moment in Imi Knoebels Werk ist: die Aufsplitterung von Form und Farbe in der Fläche wie im Raum.

Anne Ganteführer-Trier, Köln

Die Auseinandersetzung mit Malewitschs „Schwarzem Quadrat“ in einer Bildgeschichte.

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338 Anton HenningBerlin 1964 – lebt in Manker und Berlin

Ohne Titel. 1988

Mischtechnik auf Bütten. 100,4 × 69,5 cm (39 ½ × 27 ⅜ in.). Unten rechts monogrammiert und datiert: A.H. 3.2.88.

EUR 1.000–1.500 USD 1,140–1,700

Literatur und Abbildung Auktion 163: Villa Grisebach Auktionen, Berlin, 29. November 2008, Kat.-Nr. 928

Anfang Februar 1988 entstanden an nur einem Tag die beiden großformatigen Blätter „Asgar Jorn als König“ und „Ohne Titel“ von Anton Henning. Sie gehören zu den frühesten ver-öffentlichten Arbeiten des Berliner Malers und Bildhauers überhaupt. 1989 konnte der 25-jährige Autodidakt sein Werk bereits in der Avantgarde-Galerie Heinz Holtmann in Köln ausbreiten. Auf der Stelle wurde Henning als Talent und Pro-tagonist einer jungen Künstlergeneration erkannt, die durch die Strategie der Aneignung bereits ausformulierter Kunst der Vätergenerationen sowohl sich selbst als auch dem Kunstmarkt den Spiegel der Eitelkeiten vorhielt.

In den Blättern geht Henning ebenso impulsiv und zügig ans Werk wie die Vorgängergeneration. Aber Henning erfindet nicht. Er schafft nach, ohne zu zitieren. Er ruft eine Welt aus skripturalen Lineaturen auf, in der mythische Gesichter, Schatten, Fragmente, Zinnen, Zacken, Leitern, Strudel, Kleckse wie durch ein Netz der Erinnerung sichtbar

werden. Was nach 1945 als Befreiung von Kriegstraumata und autoritären Hierarchien wirkte, wird beim Nachgebore-nen Ende der 1980er-Jahre zur bewussten Geste, mit der er deutlich macht, wie virtuos er den Stil eines anderen großen Künstlers beherrscht. Aber auch die niederländischen Meis-ter des 17. Jahrhunderts gehören zu denjenigen, die er als Hausgeister in sein Werk einlässt. Der Spiegel, den er uns vorhält, zeigt ihn selbst im Gewand des Anderen. Henning sieht sich als Enfant terrible, das als Medium einer langen Traditionskette die Stile und Moden neu mischt. Bereits in den beiden frühen Zeichnungen vom Februar 1988 wird deutlich, dass Henning Stilgeschichte als reines Konstrukt begreift. Vielseitiges Talent und spielerische Haltung stellen in seinem Werk die Kunstgeschichte als Geniegeschichte bewusst in Frage.

Katja Blomberg, Berlin

339 Anton HenningBerlin 1964 – lebt in Manker und Berlin

„Asgar Jorn als König“. 1988

Mischtechnik auf Bütten. 100,4 × 69,4 cm (39 ½ × 27 ⅜ in.). Unten links betitelt, monogrammiert und datiert: Asgar [sic!] Jorn als König A.H. 3.2.88.

EUR 1.000–1.500 USD 1,140–1,700

Literatur und Abbildung Auktion 163: Villa Grisebach Auktionen, Berlin, 29. November 2008, Kat.-Nr. 927

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340 Daniel RichterEutin 1962 – lebt in Berlin und Hamburg

Ohne Titel. 1997

Farbiger Tuschpinsel auf Papier. 40,9 × 30,9 cm (16 ⅛ × 12 ⅛ in.). Rückseitig mit Bleistift signiert und datiert: DanielRicht[er] 97.

Provenienz Privatsammlung, Nordrhein-Westfalen (bis 2013)

EUR 5.000–7.000 USD 5,680–7,950

Literatur und Abbildung Auktion 221: Villa Grisebach Auktionen, Berlin, 30. November 2013, Kat.-Nr. 1460

Grün, Türkis, Blau, Braun, Rostrot, ein zurückhaltendes Gelb – ver-mischt, ineinander überlaufend und doch voneinander abgegrenzt. Überall nur ein wenig, aber gezielt. Fast wie ein Rankengewächs winden sich die schlauchartigen, schwungvollen, zarten Linien empor – endend im Nichts. Woher sie kommen, lässt sich nur erah-nen. Abstrakte Formen, die einerseits durch Farbgebung, anderer-seits durch Konturen bestimmt sind, scheinen der Ursprung zu sein. Dort sammelt sich die Farbe, die sich ihren Weg durch die feinen Adern bahnt.

Die titellose Tuschpinselzeichnung von Daniel Richter ent-stand 1997 und lässt sich somit zu seinem Frühwerk zählen. Der 1962 in Eutin geborene Künstler, der 2006 die Professur für Erweiterten malerischen Raum an der Akademie der bildenden Künste in Wien erhielt, gehört zu den bedeutendsten deutschen Malern seiner Generation. Die Vorliebe für überlagerte, organische Formen und kräftige Farben teilt er mit Albert Oehlen, dessen Assistent Richter in den 1990er-Jahren war. Anders als sein heutiges künstlerisches Schaffen, das sich eher in figurativen Formen äußert, die auf groß-formatigen Leinwänden häufig einen Bezug zum aktuellen Zeitge-schehen herstellen, ist Richters Frühwerk vollkommen abstrakt, zurückhaltender – in Form und Größe.

Die farbintensiven, psychedelisch anmutenden Formen und verschlungenen Ornamente lassen an einen Organismus denken. Sind es Herz, Rippen, Blutgefäße und Magen, die der Künstler zum Ausdruck bringen möchte? Ein Pflanzengewächs oder gar eine Maschine? Das Dargestellte in Richters Werk „Ohne Titel“ bleibt offen. Alles bleibt lediglich bei einer Andeutung.

Shantala S. Branca, Berlin

Überall nur ein wenig, aber gezielt.

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Page 181: Moderne und Zeitgenössische Kunst 26. Oktober 2018

341 Norbert Schwontkowski1949 – Bremen – 2013

Ohne Titel (Selbst). 1998

Mischtechnik auf gelblichem Papier. 32 × 25,8 cm (12 ⅝ × 10 ⅛ in.). Unten rechts mit Bleistift signiert und datiert: Schwontkowski 98.

EUR 2.000–3.000 USD 2,270–3,410

Literatur und Abbildung Auktion 181: Villa Grisebach Auktionen, Berlin, 27. November 2010, Kat.-Nr. 1054

342 Norbert Schwontkowski1949 – Bremen – 2013

Ohne Titel. 2000

Öl auf Papier. 42 × 29,5 cm (16 ½ × 11 ⅝ in.). Unten mittig mit Bleistift signiert und datiert: Schwontkowski 2000. Provenienz Contemporary Fine Arts Galerie, Berlin (2008)

EUR 2.000–3.000 USD 2,270–3,410

Grisebach — Herbst 2018

Page 182: Moderne und Zeitgenössische Kunst 26. Oktober 2018

343 Norbert Schwontkowski1949 – Bremen – 2013

Ohne Titel. 2000

Öl auf Papier. 35 × 29 cm (13 ¾ × 11 ⅜ in.). Unten rechts mit Bleistift signiert und datiert: Schwontkowski 2000.

Provenienz Contemporary Fine Arts Galerie, Berlin (2008)

EUR 3.000–5.000 USD 3,410–5,680

Die Zeichnungen von Norbert Schwontkowski sind in ihrer Lakonik, ihrer Melancholie und ihrem Bildwitz sehr typische Blätter des 2013 im Alter von 64 Jahren verstorbenen Künstlers. Baute er seine Lein-wandbilder seit der Jahrtausendwende detaillierter und narrativer auf, so behielt er sich in seinen Papierarbeiten einen stark redu-zierten, skizzenhaft Stil vor. Auch als Maler war Schwontkowski weder Kolorist noch Architekt. Seine Bilder leben von der opaken Tiefenwirkung, die durch den Auftrag endloser Schichten von Farbe entstand, auf die er dann das Bildgeschehen mit dem Pinsel zeich-nete. Die Zeichnung nahm damit für den Künstler innerhalb seines Œuvres eine eminent wichtige Stellung ein.

Viele Bildideen finden sich zunächst auf den Papierarbeiten wieder, ohne dass er diese als Skizzen oder Vorstudien verstand. Etliche zeigen immer wiederkehrende Sujets. So taucht die Glüh-lampe aus dem Blatt von 2000 auf diversen Zeichnungen und Bildern auf (Kat.-Nr. 342). Sicher war es eine solch schlichte Lichtquelle, die beim Zeichnen und Malen seinen Arbeitsplatz illuminierte. Hier wird sie selbst bildwürdig. Gleichzeitig wird das Motiv der Glühlampe nicht erst seit Josef Beuys‘ „Capri Batterie“ zur modernen Metapher für Energie. Lehnt sich der im Profil schematisiert dargestellte Mäd-chenkopf an die Glühlampe auf der Suche nach Erkenntnis an? Immerhin heißt im Englischen die Aufklärung „Enlightenment“.

Auch das charmant melancholische Selbstportrait mit Barett (Kat.-Nr. 341) – an dessen Faden der Künstler sich vielleicht selber aus dem Sumpf zieht – ist ein wiederkehrendes Motiv.

Das Stillleben mit Blättern besticht durch seine Schlichtheit und Poesie.

Nicole Hackert, Berlin

Das Stillleben mit Blättern besticht durch seine Schlichtheit und Poesie, seine Lakonik und Melancholie.

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Page 183: Moderne und Zeitgenössische Kunst 26. Oktober 2018

344 Robert WilsonWaco, Texas 1941 – lebt in New York

„SEHEN WOLLEN, WO ZUKUNFT ENTSTEHT“. 1991

Farbkreide und Bleistift auf Karton. 59,9 × 41 cm (23 ⅝ × 16 ⅛ in.). Unten rechts signiert und datiert: Robert Wilson ’91.

Provenienz Geschenk des Künstlers

EUR 4.000–6.000 USD 4,550–6,820

Wir schrieben das Jahr 1991, Berlin war auf dem Weg zur Haupt-stadt, als ich von dem Verleger Hubert Burda einen Anruf bekam, ob es mir Spaß machen würde, seine Turiner Freunde, das Industri-ellenpaar Marella und Gianni Agnelli, als Cicerone drei Tage durch Berlin und Potsdam zu begleiten. So erlebte ich eines der aufre-gendsten Wochenenden in unserer Stadt.

Gewünschte Ziele waren der Keller der Reichskanzlei, den es nicht mehr gab, Schinkel in allen Facetten und dann natürlich Sans-souci. Da wir uns mit Hubschraubern und langen schwarzen Limou-sinen bewegten, gab es bald noch Zeit, um weiteres zu sehen, unter anderem das Schloss Charlottenburg.

Hier sei nur eine von vielen Geschichten erzählt. Beim Verlas-sen der Limousine umgaben plötzlich Dutzende von Menschen itali-enischen Ursprungs den FIAT-Chef. Ich ging mit seiner eleganten Frau, einer Florentiner Prinzessin, weiter und war maßlos über-rascht, dass er nach kaum drei Minuten wieder neben uns war. „Wie ist das möglich?“, fragte ich, worauf sie entgegnete: „Das passiert uns überall, ob in London, Paris oder Rio. Gianni hat eine Form gefunden, dass alle Leute glücklich sind und er trotzdem in kürzes-ter Zeit wieder seines Weges gehen kann.“

Am Ende dieser drei Tage saßen wir an einem milden Berliner Sommerabend auf der Terrasse des legendären Restaurants Fofi in der Fasanenstraße, schräg gegenüber der Villa Grisebach. An einem Tisch Martin Mosebach, einem anderen Wim Wenders mit Volker Schlöndorff und einem dritten Wolfgang Spier mit einer besonders hübschen Damentruppe. Zum Ende unseres Beisammenseins fragte ich Gianni: „Sie müssen mir verraten, warum Sie gerade jetzt gekom-men sind, nachdem Sie Jahrzehnte nicht in Berlin waren.“ Seine knappe Antwort: „Sehen wollen, wo Zukunft entsteht.“

Das dann Folgende ist schnell erzählt. Es gab eine weitere glückliche Konstellation: Wir stellten gerade Werke von Bob Wilson in der Villa aus. Ich berichtete dem Künstler von der abendlichen Begegnung und bat ihn, Agnellis Ausspruch in seiner unverwechsel-baren künstlerischen Handschrift festzuhalten. Er war spontan von dem Satz ebenso begeistert, dass er mich um Papier und Farbstifte bat und sich trotz heftigster Bemühungen seines Assistenten, ihn zu einem anderen Termin zu bringen, zwei Stunden Zeit nahm, um auf dem Boden liegend das Gewünschte zu Papier zu bringen. Diese Zeichnung habe ich gehütet wie meinen Augapfel und war traurig, dass sie nur mir die Botschaft erzählte. Um sie als Signal für Berlin auch weiteren Menschen zu vermitteln, habe ich Bob später gebe-ten, sie in das Medium Serigrafie in hoher Auflage zu übertragen.

Bernd Schultz, Berlin

„I want to see where the future begins.“ Gianni Agnelli, 1991

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Page 184: Moderne und Zeitgenössische Kunst 26. Oktober 2018

345 Leiko IkemuraTsu/Japan 1951 – lebt in Berlin

„Fuku“. 2012

Aquarell auf Papier. 61 × 46 cm (24 × 18 ⅛ in.).

Provenienz 2012 von der Künstlerin erworben

EUR 4.000–6.000 USD 4,550–6,820

Ausstellung Leiko Ikemura. i-migration. Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, 2013, Kat.-Nr. 71, Abbildung 7, S. 45 und S. 101

Leiko Ikemuras Kunst hat einen hohen Wiedererkennungswert: Ihre Wesen, die die Kunstwelt seit den 90er-Jahren des letzten Jahrhun-derts kennt, bewohnen eine elementare Welt aus Land und Meer, Licht und Farbe. Landschaftliche Formen werden anthropomorph interpretiert oder animistisch belebt. Gesichter, Wasser und Felsen verschmelzen zu hybriden Naturbildern – eine Kunst fernab von jeder tagespolitischen Aktualität.

„Fuku“ ist ein Ausnahmewerk im Œuvre der Künstlerin: das frontale, vom Schmerz verzerrte Gesicht einer weinenden Frau, in wenigen wässrigen Pinselstrichen aufs Papier gesetzt. Ein Verzicht auf alle erzählerischen Momente und doch gekoppelt an eine histo-risch einschneidende Erfahrung: Fukushima. Mit dem Namen der

Stadt in Ostjapan verbindet sich ein ganzer Komplex an Ereignissen: die Naturkatastrophe des Erdbebens und des Tsunami vom März 2011, die Havarie des Atomkraftwerks, in dem es in mehreren Reak-toren zur Kernschmelze kam, die Verwüstung weiter Landstriche mit gravierenden Folgen für über 300.000 Menschen bis zum heutigen Tag. Ikemura erfuhr von den Katastrophenereignissen aus den Medien und entschloss sich 2012, den Ort des Geschehens aufzusuchen. Sie hat das dort Gesehene vor allem fotografisch dokumentiert. Die Mit-tel der Kunst blieben ihr zunächst verschlossen, um auf die Gewalt der Gefühle von Schock, Trauer, Angst und Ohnmacht zu reagieren. Kann ästhetische Verdichtung überhaupt gelingen in einer Aktualität, die sich aus einem diffusen Geflecht von Augenzeugen- und Medien-berichten herstellt?

„Fuku“ ist Ikemuras singuläre künstlerische Antwort auf Fuku-shima: ein Bild von hoher Expressivität, abgefasst in jenem abstrak-ten Modus, der die Motive rein aus der Farbe heraus entstehen lässt und sie kurz vor der Auflösung hält. „Fuku“ – der Aufschrei einer Grenzgängerin zwischen den Kulturen, die unter dem Druck der Katastrophe eine existenzielle Antwort zu formulieren weiß. Der Sammler Bernd Schultz hat sich aus diesem Grund für das Werk ent-schieden, und aus dem gleichen Grund, weil ihm Erinnerung existen-ziell ist, wird er sich jetzt von ihm trennen.

Pia Müller-Tamm, Karlsruhe

Das vom Schmerz verzerrte Gesicht einer weinenden Frau, in wässrigen Pinselstrichen aufs Papier gesetzt: Fukushima.

Grisebach — Herbst 2018

Page 185: Moderne und Zeitgenössische Kunst 26. Oktober 2018

Grisebach — Herbst 2018

Grisebach Partner und Repräsentanzen Grisebach Berlin and Representatives

Bernd Schultz [email protected] +49 30 885 915 0

Florian [email protected] +49 30 885 915 47

Dr. Markus [email protected] +49 30 885 915 29

Micaela [email protected] +49 30 885 915 32

Wilfried [email protected] +49 231 4764 3757

Grisebach Berlin Fasanenstraße 2510719 Berlin T +49 30 885 915 0F +49 30 882 41 [email protected]

Stefanie [email protected] +49 40 4600 9010

Anne Ganteführer-TrierNordrhein-Westfalen/[email protected] +49 170 57 57 464

Dr. Arnulf [email protected] +49 175 408 5399

Benny HöhneNordrhein-Westfalen/[email protected] +49 211 8629 2199

Jesco von [email protected] +49 89 227 633

Verena [email protected] +41 44 212 8888

Aurélie [email protected] +33 603 20 36 27

Maureen SarroNew York, USA/[email protected] +1 212 308 0762

Dr. Annegret FunkBaden-Wü[email protected] +49 711 248 48 57

Page 186: Moderne und Zeitgenössische Kunst 26. Oktober 2018

Grisebach — Herbst 2018

Auktionen in Berlin 25. bis 26. Oktober 2018 Auctions in Berlin, 25 – 26 October 2018

Sammlung Bernd Schultz IIIModerne und Zeitgenössische KunstFreitag, 26. Oktober 2018, 14 Uhr

Sammlung Bernd Schultz I Alte Meister und „langes 19. Jahrhundert“Donnerstag, 25. Oktober 2018, 14 Uhr

Kunst des 19. JahrhundertsDonnerstag, 25. Oktober 2018, 18 Uhr

Sammlung Bernd Schultz IIPaul HolzDonnerstag, 25. Oktober 2018, 16 Uhr

Moderne und Zeitgenössische PhotographieFreitag, 26. Oktober 2018, 18 Uhr

Band

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Alte Meister und „langes 19. Jahrhundert“25. Oktober 2018

Kunst des 19. Jahrhunderts 25. Oktober 2018

Version 02

Moderne undZeitgenössische Photographie 26. Oktober 2018

Band

IISa

mm

lung

Ber

nd S

chul

tz –

Abs

chie

d un

d N

euan

fang

295

Paul Holz - 30 Zeichnungen25. Oktober 2018

Band

III

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Neu

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96

Moderne und Zeitgenössische Kunst26. Oktober 2018

29. November bis 1. Dezember 2018Ausgewählte WerkeModerne KunstZeitgenössische KunstThird Floor

15. Dezember 2018Heinrich Zille – Sonderauktion, ehem. Sammlung Fackelträger-Verlag, Hannover

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Hinweise zum Katalog Catalogue Instructions

1Alle Katalogbeschreibungen sind online und auf Anfrage in Englisch erhältlich.

2Basis für die Umrechnung der EUR-Schätzpreise: USD 1,00 = EUR 0,88 (Kurs vom 20. August 2018)

3Bei den Katalogangaben sind Titel und Datierung, wenn vorhanden, vom Künstler bzw. aus den Werkverzeichnissen übernommen. Die-se Titel sind durch Anführungszeichen gekennzeichnet. Undatierte Werke haben wir anhand der Literatur oder stilistisch begründbar zeitlich zugeordnet.

4Alle Werke wurden neu vermessen, ohne die Angaben in Werkver-zeichnissen zu übernehmen. Die Maßangaben sind in Zentimetern und Inch aufgeführt. Es gilt Höhe vor Breite vor Tiefe. Bei Origina-len wird die Blattgröße, bei Drucken die Darstellungsgröße bzw. Plattengröße angegeben. Wenn Papier- und Darstellungsmaß nicht annähernd gleich sind, ist die Papiergröße in runden Klammern an-gegeben. Bei druckgrafischen Werken wurde auf Angabe der ge-druckten Bezeichnungen verzichtet. Signaturen, Bezeichnungen und Gießerstempel sind aufgeführt. „Bezeichnung“ bedeutet eine eigenhändige Aufschrift des Künstlers, im Gegensatz zu einer „Be-schriftung“ von fremder Hand.

5Bei den Papieren meint „Büttenpapier“ ein Maschinenpapier mit Büttenstruktur. Ergänzende Angaben wie „JW Zanders“ oder „BFK Rives“ beziehen sich auf Wasserzeichen. Der Begriff „Japan-papier“ bezeichnet sowohl echtes wie auch maschinell hergestell-tes Japanpapier.

6Sämtliche zur Versteigerung gelangenden Gegenstände können vor der Versteigerung besichtigt und geprüft werden; sie sind ge-braucht. Der Erhaltungszustand der Kunstwerke ist ihrem Alter entsprechend; Mängel werden in den Katalogbeschreibungen nur erwähnt, wenn sie den optischen Gesamteindruck der Arbeiten beeinträchtigen. Für jedes Kunstwerk liegt ein Zustandsbericht vor, der angefordert werden kann.

7Die in eckigen Klammern gesetzten Zeichen beziehen sich auf die Einlieferer, wobei [E] die Eigenware kennzeichnet.

8Es werden nur die Werke gerahmt versteigert, die gerahmt einge-liefert wurden.

1Descriptions in English of each item included in this catalogue are available online or upon request.

2The basis for the conversion of the EUR-estimates:USD 1.00 = EUR 0.88 (rate of exchange 20 August 2018)

3The titles and dates of works of art provided in quotation marks originate from the artist or are taken from the catalogue raisonné. Undated works have been assigned approximate dates by Grisebach based on stylistic grounds and available literature.

4Dimensions given in the catalogue are measurements taken in cen-timeters and inches (height by width by depth) from the actual works. For originals, the size given is that of the sheet; for prints, the size refers to the plate or block image. Where that differs from the size of the sheet on which it is printed, the dimensions of the sheet follow in parentheses ( ). Special print marks or printed designations for these works are not noted in the catalogue. Signatures, designa-tions and foundry marks are mentioned. “Bezeichnung” (“inscrip-tion”) means an inscription from the artist’s own hand, in contrast to “Beschriftung” (“designation”) which indicates an inscription from the hand of another.

5When describing paper, “Bütten paper” denotes machine-made paper manufactured with the texture and finish of “Bütten”. Other designations of paper such as “JW Zanders” or “BFK Rives” refer to respective watermarks. The term “Japan paper” refers to both hand and machine-made Japan paper.

6All sale objects may be viewed and examined before the auction; they are sold as is. The condition of the works corresponds to their age. The catalogues list only such defects in condition as impair the overall impression of the art work. For every lot there is a condition report which can be requested.

7Those numbers printed in brackets [ ] refer to the consignors listed in the Consignor Index, with [E] referring to property owned by Grisebach.

8Only works already framed at the time of consignment will be sold framed.

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Grisebach — Herbst 2018

§ 1Der Versteigerer

1. Die Versteigerung erfolgt im Namen der Grisebach GmbH – nach-folgend: „Grisebach“ genannt. Der Auktionator handelt als deren Vertreter. Er ist gem. § 34b Abs. 5 GewO öffentlich bestellt. Die Versteigerung ist somit eine öffentliche Versteigerung i. S. § 474 Abs. 1 S. 2 und § 383 Abs. 3 BGB.

2. Die Versteigerung erfolgt in der Regel für Rechnung des Einliefe-rers, der unbenannt bleibt. Nur die im Eigentum von Grisebach befindlichen Kunstgegenstände werden für eigene Rechnung ver-steigert. Sie sind im Katalog mit „E“ gekennzeichnet.

3. Die Versteigerung erfolgt auf der Grundlage dieser Versteigerungs-bedingungen. Die Versteigerungsbedingungen sind im Auktionska-talog, im Internet und durch deutlich sichtbaren Aushang in den Räumen von Grisebach veröffentlicht. Durch Abgabe eines Gebots erkennt der Käufer diese Versteigerungsbedingungen als verbind-lich an.

§ 2Katalog, Besichtigung und Versteigerungstermin

1. KatalogVor der Versteigerung erscheint ein Auktionskatalog. Darin werden zur allgemeinen Orientierung die zur Versteigerung kommenden Kunst gegen stände abgebildet und beschrieben. Der Katalog ent-hält zusätz lich Angaben über Urheberschaft, Technik und Signatur des Kunst gegen standes. Nur sie bestimmen die Beschaffenheit des Kunst gegen standes. Im übrigen ist der Katalog weder für die Beschaffenheit des Kunstgegenstandes noch für dessen Erschei-nungsbild (Farbe) maß gebend. Der Katalog weist einen Schätzpreis in Euro aus, der jedoch lediglich als Anhaltspunkt für den Ver-kehrswert des Kunst gegen stan des dient, ebenso wie etwaige An-gaben in anderen Währungen.

Der Katalog wird von Grisebach nach bestem Wissen und Gewissen und mit großer Sorgfalt erstellt. Er beruht auf den bis zum Zeitpunkt der Versteigerung veröffentlichten oder sonst all-gemein zugänglichen Erkenntnissen sowie auf den Angaben des Einlieferers.

Für jeden der zur Versteigerung kommenden Kunstgegen-stände kann bei ernstlichem Interesse ein Zustandsbericht von Grisebach angefordert und es können etwaige von Grisebach ein-geholte Expertisen eingesehen werden.

Die im Katalog, im Zustandsbericht oder in Expertisen ent-haltenen Angaben und Beschreibungen sind Einschätzungen, keine Garantien im Sinne des § 443 BGB für die Beschaffenheit des Kunst-gegenstandes.

Grisebach ist berechtigt, Katalogangaben durch Aushang am Ort der Versteigerung und unmittelbar vor der Versteigerung des betreffen den Kunstgegenstandes mündlich durch den Auktionator zu berichtigen oder zu ergänzen.

2. BesichtigungAlle zur Versteigerung kommenden Kunstgegenstände werden vor der Versteigerung zur Vorbesichtigung ausgestellt und können be-sichtigt und geprüft werden. Ort und Zeit der Besichtigung, die Grisebach fest legt, sind im Katalog angegeben. Die Kunstgegen-stände sind gebraucht und werden in der Beschaffenheit verstei-gert, in der sie sich im Zeit punkt der Versteigerung befinden.

3.Grisebach bestimmt Ort und Zeitpunkt der Versteigerung. Sie ist berechtigt, Ort oder Zeitpunkt zu ändern, auch wenn der Auktions katalog bereits versandt worden ist.

§ 3Durchführung der Versteigerung

1. Bieternummer Jeder Bieter erhält von Grisebach eine Bieternummer. Er hat die Verstei gerungsbedingungen als verbindlich anzuerkennen.

Von unbekannten Bietern benötigt Grisebach zur Erteilung der Bieternummer spätestens 24 Stunden vor Beginn der Verstei-gerung eine schriftliche Anmel dung mit beigefügter zeitnaher Bankreferenz.

Nur unter einer Bieternummer abgegebene Gebote werden auf der Verstei gerung berücksichtigt.

2. AufrufDie Versteigerung des einzelnen Kunstgegenstandes beginnt mit dessen Aufruf durch den Auktionator. Er ist berechtigt, bei Aufruf von der im Katalog vorgesehenen Reihenfolge abzuweichen, Los-Nummern zu verbinden oder zu trennen oder eine Los-Nummer zurückzuziehen.

Der Preis wird bei Aufruf vom Auktionator festgelegt, und zwar in Euro. Gesteigert wird um jeweils 10 % des vorangegangenen Gebots, sofern der Auktionator nicht etwas anderes bestimmt.

3. Gebotea) Gebote im Saal

Gebote im Saal werden unter Verwendung der Bieternummer ab-gegeben. Ein Vertrag kommt durch Zuschlag des Auktionators zu-stande.

Will ein Bieter Gebote im Namen eines Dritten abgeben, hat er dies mindestens 24 Stunden vor Beginn der Versteigerung von Grisebach unter Vorlage einer Vollmacht des Dritten anzuzeigen. Anderenfalls kommt bei Zuschlag der Vertrag mit ihm selbst zu-stande.

b) Schriftliche GeboteMit Zustimmung von Grisebach können Gebote auf einem dafür vorgesehenen Formular auch schriftlich abgegeben werden. Sie müssen vom Bieter unterzeichnet sein und unter Angabe der Los-Nummer, des Künstlers und des Titels den für den Kunstgegen-stand gebotenen Hammerpreis nennen. Der Bieter muss die Ver-steigerungsbedingungen als verbindlich anerkennen.

Mit dem schriftlichen Gebot beauftragt der Bieter Grisebach, seine Gebote unter Berücksichtigung seiner Weisungen abzuge-ben. Das schriftliche Gebot wird von Grisebach nur mit dem Betrag in Anspruch genommen, der erforderlich ist, um ein anderes Ge-bot zu überbieten.

Ein Vertrag auf der Grundlage eines schriftlichen Gebots kommt mit dem Bieter durch den Zuschlag des Auktionators zustande.

Gehen mehrere gleich hohe schriftliche Gebote für denselben Kunst gegenstand ein, erhält das zuerst eingetroffene Gebot den Zu-schlag, wenn kein höheres Gebot vorliegt oder abgegeben wird.

c) Telefonische GeboteTelefonische Gebote sind zulässig, wenn der Bieter mindestens 24 Stunden vor Beginn der Versteigerung dies schriftlich beantragt und Grisebach zugestimmt hat. Der Bieter muss die Versteigerungs-bedingungen als verbindlich anerkennen.

Die telefonischen Gebote werden von einem während der Verstei gerung im Saal anwesenden Mitarbeiter von Grisebach entgegen genommen und unter Berücksichtigung der Weisungen

Versteigerungsbedingungen der Grisebach GmbH

des Bieters während der Versteigerung abgegeben. Das von dem Bieter genannte Gebot bezieht sich ausschließlich auf den Ham-merpreis, umfasst also nicht Aufgeld, etwaige Umlagen und Um-satzsteuer, die hinzukommen. Das Gebot muss den Kunstgegen-stand, auf den es sich bezieht, zweifelsfrei und möglichst unter Nennung der Los-Nummer, des Künstlers und des Titels, benennen.

Telefonische Gebote können von Grisebach aufgezeichnet werden. Mit dem Antrag zum telefonischen Bieten erklärt sich der Bieter mit der Aufzeichnung einverstanden. Die Aufzeichnung wird spätestens nach drei Monaten gelöscht, sofern sie nicht zu Be-weiszwecken benötigt wird.

d) Gebote über das InternetGebote über das Internet sind nur zulässig, wenn der Bieter von Grisebach zum Bieten über das Internet unter Verwendung eines Benutzernamens und eines Passwortes zugelassen worden ist und die Versteigerungsbedingungen als verbindlich anerkennt. Die Zu-lassung erfolgt ausschließlich für die Person des Zugelassenen, ist also höchst persönlich. Der Benutzer ist verpflichtet, seinen Be-nutzernamen und sein Passwort Dritten nicht zugänglich zu ma-chen. Bei schuldhafter Zuwiderhandlung haftet er Grisebach für daraus entstandene Schäden.

Gebote über das Internet sind nur rechtswirksam, wenn sie hinreichend bestimmt sind und durch Benutzernamen und Pass-wort zweifelsfrei dem Bieter zuzuordnen sind. Die über das Inter-net übertragenen Gebote werden elektronisch protokolliert. Die Richtigkeit der Protokolle wird vom Käufer anerkannt, dem jedoch der Nachweis ihrer Unrichtig keit offensteht.

Grisebach behandelt Gebote, die vor der Versteigerung über das Internet abgegeben werden, rechtlich wie schriftliche Gebote. Internetgebote während einer laufenden Versteigerung werden wie Gebote aus dem Saal berücksichtigt.

4. Der Zuschlaga) Der Zuschlag wird erteilt, wenn nach dreimaligem Aufruf eines Ge-

bots kein höheres Gebot abgegeben wird. Der Zuschlag verpflich-tet den Bieter, der unbenannt bleibt, zur Abnahme des Kunstge-genstandes und zur Zahlung des Kaufpreises (§ 4 Ziff. 1).

b) Der Auktionator kann bei Nichterreichen des Limits einen Zuschlag unter Vorbehalt erteilen. Ein Zuschlag unter Vorbehalt wird nur wirk sam, wenn Grisebach das Gebot innerhalb von drei Wochen nach dem Tag der Versteigerung schriftlich bestätigt. Sollte in der Zwischenzeit ein anderer Bieter mindestens das Limit bieten, er-hält dieser ohne Rücksprache mit dem Bieter, der den Zuschlag unter Vorbehalt erhalten hat, den Zuschlag.

c) Der Auktionator hat das Recht, ohne Begründung ein Gebot abzu-lehnen oder den Zuschlag zu verweigern. Wird ein Gebot abge-lehnt oder der Zuschlag verweigert, bleibt das vorangegangene Gebot wirksam.

d) Der Auktionator kann einen Zuschlag zurücknehmen und den Kunst gegenstand innerhalb der Auktion neu ausbieten, – wenn ein rechtzeitig abgegebenes höheres Gebot von ihm über-

sehen und dies von dem übersehenen Bieter unverzüglich bean-standet worden ist,

– wenn ein Bieter sein Gebot nicht gelten lassen will oder – wenn sonst Zweifel über den Zuschlag bestehen. Übt der Auktionator dieses Recht aus, wird ein bereits erteilter Zuschlag unwirksam.

e) Der Auktionator ist berechtigt, ohne dies anzeigen zu müssen, bis zum Erreichen eines mit dem Einlieferer vereinbarten Limits auch Gebote für den Einlieferer abzugeben und den Kunstgegenstand dem Einlieferer unter Benennung der Einlieferungsnummer zuzu-schlagen. Der Kunstgegenstand bleibt dann unverkauft.

§ 4Kaufpreis, Zahlung, Verzug

1. KaufpreisDer Kaufpreis besteht aus dem Hammerpreis zuzüglich Aufgeld. Hinzu kommen können pauschale Gebühren sowie die gesetzliche Umsatz steuer.

A. a) Bei Kunstgegenständen ohne besondere Kennzeichnung im Kata-log berechnet sich der Kaufpreis wie folgt: Bei Käufern mit Wohn-sitz innerhalb des Gemeinschaftsgebietes der Europäischen Union (EU) berechnet Grisebach auf den Hammerpreis ein Aufgeld von

30 %. Auf den Teil des Hammer preises, der EUR 500.000 über-steigt, wird ein Aufgeld von 25 % berechnet. Auf den Teil des Hammer preises, der EUR 2.000.000 übersteigt, wird ein Aufgeld von 20 % berechnet. In diesem Aufgeld sind alle pauschalen Ge-bühren sowie die gesetzliche Umsatzsteuer enthalten (Differenz-besteuerung nach § 25a UStG). Sie werden bei der Rechnungstel-lung nicht einzeln ausgewiesen.

Käufern, denen nach dem Umsatzsteuergesetz (UStG) im Inland geliefert wird und die zum Vorsteuerabzug berechtigt sind, kann auf Wunsch die Rechnung nach der Regelbesteuerung gemäß Absatz B. ausgestellt werden. Dieser Wunsch ist bei Beantragung der Bieter nummer anzugeben. Eine Korrektur nach Rechnungs-stellung ist nicht möglich.

b) Bei Kunstwerken mit der Kennzeichnung „N“ für Import handelt es sich um Kunstwerke, die in die EU zum Verkauf eingeführt wurden. In diesen Fällen wird zusätzlich zum Aufgeld die verauslagte Ein-fuhrumsatzsteuer in Höhe von derzeit 7 % des Hammerpreises erhoben.

B. Bei im Katalog mit dem Buchstaben „R“ hinter der Losnummer ge-kennzeichneten Kunstgegenständen berechnet sich der Kaufpreis wie folgt:

a) AufgeldAuf den Hammerpreis berechnet Grisebach ein Aufgeld von 25 %. Auf den Teil des Hammerpreises, der EUR 500.000 übersteigt, wird ein Aufgeld von 20 % berechnet. Auf den Teil des Hammerpreises, der EUR 2.000.000 übersteigt, wird ein Aufgeld von 15 % berech-net.

b) UmsatzsteuerAuf den Hammerpreis und das Aufgeld wird die jeweils gültige gesetzliche Umsatzsteuer erhoben (Regelbesteuerung mit „R“ gekennzeichnet). Sie beträgt derzeit 19 %.

c) UmsatzsteuerbefreiungKeine Umsatzsteuer wird für den Verkauf von Kunstgegenständen berechnet, die in Staaten innerhalb der EU von Unternehmen er-worben und aus Deutschland exportiert werden, wenn diese bei Beantragung und Erhalt ihrer Bieter nummer ihre Umsatzsteuer-Identifikations nummer angegeben haben. Eine nachträgliche Be-rücksichtigung, insbesondere eine Korrektur nach Rechnungs-stellung, ist nicht möglich.

Keine Umsatzsteuer wird für den Verkauf von Kunstgegen-ständen berechnet, die gemäß § 6 Abs. 4 UStG in Staaten außerhalb der EU geliefert werden und deren Käufer als ausländische Abneh-mer gelten und dies entsprechend § 6 Abs. 2 UStG nachgewiesen haben. Im Ausland anfallende Einfuhr umsatz steuer und Zölle trägt der Käufer.

Die vorgenannten Regelungen zur Umsatzsteuer entsprechen dem Stand der Gesetzgebung und der Praxis der Finanzverwaltung. Änderungen sind nicht ausgeschlossen.

2. Fälligkeit und ZahlungDer Kaufpreis ist mit dem Zuschlag fällig.

Der Kaufpreis ist in Euro an Grisebach zu entrichten. Schecks und andere unbare Zahlungen werden nur erfüllungshalber ange-nommen.

Eine Begleichung des Kaufpreises durch Aufrechnung ist nur mit un be strittenen oder rechtskräftig festgestellten Forderungen zulässig.

Bei Zahlung in ausländischer Währung gehen ein etwaiges Kursrisiko sowie alle Bankspesen zulasten des Käufers.

3. VerzugIst der Kaufpreis innerhalb von zwei Wochen nach Zugang der Rechnung noch nicht beglichen, tritt Verzug ein.

Ab Eintritt des Verzuges verzinst sich der Kaufpreis mit 1 % monatlich, unbeschadet weiterer Schadensersatzansprüche.

Zwei Monate nach Eintritt des Verzuges ist Grisebach be-rechtigt und auf Verlangen des Einlieferers verpflichtet, diesem Name und Anschrift des Käufers zu nennen.

Ist der Käufer mit der Zahlung des Kaufpreises in Verzug, kann Grise bach nach Setzung einer Nachfrist von zwei Wochen vom Vertrag zurücktreten. Damit erlöschen alle Rechte des Käu-fers an dem erstei gerten Kunst gegen stand.

Grisebach ist nach Erklärung des Rücktritts berechtigt, vom Käufer Schadensersatz zu verlangen. Der Schadensersatz umfasst insbe sondere das Grisebach entgangene Entgelt (Einliefererkom-mission und Aufgeld), sowie angefallene Kosten für Katalogabbil-

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dungen und die bis zur Rückgabe oder bis zur erneuten Versteige-rung des Kunst gegen standes anfallenden Transport-, Lager- und Versicherungs kosten.

Wird der Kunstgegenstand an einen Unterbieter verkauft oder in der nächsten oder übernächsten Auktion versteigert, haf-tet der Käufer außerdem für jeglichen Mindererlös.

Grisebach hat das Recht, den säumigen Käufer von künftigen Ver stei gerungen auszuschließen und seinen Namen und seine Adresse zu Sperrzwecken an andere Auktionshäuser weiterzugeben.

§ 5Nachverkauf

Während eines Zeitraums von zwei Monaten nach der Auktion kön-nen nicht versteigerte Kunstgegenstände im Wege des Nachver-kaufs erworben werden. Der Nachverkauf gilt als Teil der Verstei-gerung. Der Interessent hat persönlich, telefonisch, schriftlich oder über das Internet ein Gebot mit einem bestimmten Betrag abzugeben und die Versteigerungsbedingungen als verbindlich an-zuerkennen. Der Vertrag kommt zustande, wenn Grisebach das Gebot innerhalb von drei Wochen nach Eingang schriftlich an-nimmt. Die Bestimmungen über Kaufpreis, Zahlung, Verzug, Abho-lung und Haftung für in der Versteigerung erworbene Kunstgegen-stände gelten entsprechend.

§ 6Entgegennahme des ersteigerten Kunstgegenstandes

1. AbholungDer Käufer ist verpflichtet, den ersteigerten Kunstgegenstand spä-testens einen Monat nach Zuschlag abzuholen.

Grisebach ist jedoch nicht verpflichtet, den ersteigerten Kunst gegen stand vor vollständiger Bezahlung des in der Rechnung ausgewiesenen Betrages an den Käufer herauszugeben.

Das Eigentum geht auf den Käufer erst nach vollständiger Be-gleichung des Kaufpreises über.

2. LagerungBis zur Abholung lagert Grisebach für die Dauer eines Monats, gerech net ab Zuschlag, den ersteigerten Kunstgegenstand und versichert ihn auf eigene Kosten in Höhe des Kaufpreises. Danach hat Grisebach das Recht, den Kunstgegenstand für Rechnung des Käufers bei einer Kunst spedition einzulagern und versichern zu lassen. Wahlweise kann Grise bach statt dessen den Kunstgegen-stand in den eigenen Räumen ein lagern gegen Berechnung einer monatlichen Pauschale von 0,1 % des Kaufpreises für Lager- und Versicherungskosten.

3. VersandBeauftragt der Käufer Grisebach schriftlich, den Transport des er-steigerten Kunstgegenstandes durchzuführen, sorgt Grisebach, sofern der Kaufpreis vollständig bezahlt ist, für einen sachgerech-ten Transport des Werkes zum Käufer oder dem von ihm benann-ten Em pfän ger durch eine Kunstspedition und schließt eine ent-sprechende Transportversicherung ab. Die Kosten für Verpackung, Versand und Versicherung trägt der Käufer.

4. AnnahmeverzugHolt der Käufer den Kunstgegenstand nicht innerhalb von einem Monat ab (Ziffer 1) und erteilt er innerhalb dieser Frist auch keinen Auftrag zur Versendung des Kunstgegenstandes (Ziffer 3), gerät er in Annahme verzug.

5. Anderweitige VeräußerungVeräußert der Käufer den ersteigerten Kunstgegenstand seiner-seits, bevor er den Kaufpreis vollständig bezahlt hat, tritt er be-reits jetzt erfüllungshalber sämtliche Forderungen, die ihm aus dem Weiterverkauf zustehen, an Grisebach ab, welche die Abtre-tung hiermit annimmt. Soweit die abgetretenen Forderungen die Grisebach zuste henden Ansprüche übersteigen, ist Grisebach ver-pflichtet, den zur Erfüllung nicht benötigten Teil der abgetretenen Forderung unverzüglich an den Käufer abzutreten.

§ 7Haftung

1. Beschaffenheit des KunstgegenstandesDer Kunstgegenstand wird in der Beschaffenheit veräußert, in der er sich bei Erteilung des Zuschlags befindet und vor der Versteige-rung besichtigt und geprüft werden konnte. Ergänzt wird diese Beschaffen heit durch die Angaben im Katalog (§ 2 Ziff. 1) über Ur-heberschaft, Technik und Signatur des Kunstgegenstandes. Sie be-ruhen auf den bis zum Zeitpunkt der Versteigerung veröffentlich-ten oder sonst allgemein zugänglichen Erkennt nissen sowie auf den Angaben des Einlieferers. Weitere Beschaffen heits merkmale sind nicht verein bart, auch wenn sie im Katalog beschrieben oder erwähnt sind oder sich aus schriftlichen oder mündlichen Aus-künften, aus einem Zustands bericht, Expertisen oder aus den Ab-bildungen des Katalogs ergeben sollten. Eine Garantie (§ 443 BGB) für die vereinbarte Beschaffenheit des Kunstgegenstandes wird nicht übernommen.

2. Rechte des Käufers bei einem Rechtsmangel (§ 435 BGB)Weist der erworbene Kunstgegenstand einen Rechtsmangel auf, weil an ihm Rechte Dritter bestehen, kann der Käufer innerhalb einer Frist von zwei Jahren (§ 438 Abs. 4 und 5 BGB) wegen dieses Rechts man gels vom Vertrag zurücktreten oder den Kaufpreis min-dern (§ 437 Nr. 2 BGB). Im übrigen werden die Rechte des Käufers aus § 437 BGB, also das Recht auf Nach erfüllung, auf Schadener-satz oder auf Ersatz ver geblicher Aufwendungen ausgeschlossen, es sei denn, der Rechts mangel ist arglistig verschwiegen worden.

3. Rechte des Käufers bei Sachmängeln (§ 434 BGB)Weicht der Kunstgegenstand von der vereinbarten Beschaffenheit (Urheberschaft, Technik, Signatur) ab, ist der Käufer berech tigt, innerhalb von zwei Jahren ab Zuschlag (§ 438 Abs. 4 BGB) vom Ver-trag zurückzutreten. Er erhält den von ihm gezahlten Kaufpreis (§ 4 Ziff. 1 der Verstei gerungsbedingungen) zurück, Zug um Zug gegen Rückgabe des Kaufgegenstandes in unverändertem Zustand am Sitz von Grisebach. Ansprüche auf Minderung des Kaufpreises (§ 437 Nr. 2 BGB), auf Schadens ersatz oder auf Ersatz vergeblicher Aufwendungen (§ 437 Nr. 3 BGB) sind ausgeschlossen. Dieser Haf-tungsausschluss gilt nicht, soweit Grisebach den Mangel arglistig verschwiegen hat.

Das Rücktrittsrecht wegen Sachmangels ist ausgeschlossen, sofern Grisebach den Kunstgegenstand für Rechnung des Einliefe-rers ver äußert hat und die größte ihr mögliche Sorgfalt bei Ermitt-lung der im Katalog genannten Urheberschaft, Technik und Signa-tur des Kunst gegenstandes aufgewandt hat und keine Gründe vorlagen, an der Richtigkeit dieser Angaben zu zweifeln. In diesem Falle verpflichtet sich Grisebach, dem Käufer das Aufgeld, etwaige Umlagen und die Umsatz steuer zu erstatten.

Außerdem tritt Grisebach dem Käufer alle ihr gegen den Ein-lieferer, dessen Name und Anschrift sie dem Käufer mitteilt, zuste-henden Ansprüche wegen der Mängel des Kunstgegenstandes ab. Sie wird ihn in jeder zulässigen und ihr möglichen Weise bei der Geltendmachung dieser Ansprüche gegen den Einlieferer unter-stützen.

4. Fehler im VersteigerungsverfahrenGrisebach haftet nicht für Schäden im Zusammenhang mit der Ab-gabe von mündlichen, schriftlichen, telefonischen oder Internet-geboten, soweit ihr nicht Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit zur Last fällt. Dies gilt insbesondere für das Zustandekommen oder den Bestand von Telefon-, Fax- oder Datenleitungen sowie für Übermittlungs-, Über tragungs- oder Übersetzungsfehler im Rah-men der eingesetzten Kommunikationsmittel oder seitens der für die Entgegennahme und Weitergabe eingesetzten Mitarbeiter. Für Missbrauch durch unbefugte Dritte wird nicht gehaftet. Die Haf-tungsbeschränkung gilt nicht für Schäden an der Verletzung von Leben, Körper oder Gesundheit.

5. VerjährungFür die Verjährung der Mängelansprüche gelten die gesetzlichen Verjährungsfristen des § 438 Abs. 1 Ziffer 3 BGB (2 Jahre).

§ 8Schlussbestimmungen

1. NebenabredenÄnderungen dieser Versteigerungsbedingungen im Einzelfall oder Nebenabreden bedürfen zu ihrer Gültigkeit der Schriftform.

2. Fremdsprachige Fassung der VersteigerungsbedingungenSoweit die Versteigerungsbedingungen in anderen Sprachen als der deutschen Sprache vorliegen, ist stets die deutsche Fassung maßgebend.

3. Anwendbares RechtEs gilt ausschließlich das Recht der Bundesrepublik Deutschland. Das Abkommen der Vereinten Nationen über Verträge des interna-tionalen Warenkaufs (CISG) findet keine Anwendung.

4. ErfüllungsortErfüllungsort und Gerichtsstand ist, soweit dies rechtlich verein-bart werden kann, Berlin.

5. Salvatorische Klausel Sollte eine oder mehrere Bestimmungen dieser Versteigerungs-

bedingungen unwirksam sein oder werden, bleibt die Gültigkeit der übrigen Bestimmungen davon unberührt. Anstelle der unwirk-samen Bestimmung gelten die entsprechenden gesetzlichen Vor-schriften.

6. StreitbeilegungsverfahrenDie Grisebach GmbH ist grundsätzlich nicht bereit und verpflich-tet, an Streitbeilegungsverfahren vor einer Verbraucherschlich-tungsstelle teilzunehmen.

Die Verteilung der Bieternummern erfolgt eine Stunde vor Beginn der Auktion. Wir bitten um rechtzeitige Registrierung. Nur unter dieser Nummer abgegebene Gebote werden auf der Auktion berück-sichtigt. Von Bietern, die Grisebach noch unbekannt sind, benötigt Grisebach spätestens 24 Stunden vor Beginn der Auktion eine schriftliche Anmeldung.

Sie haben auch die Möglichkeit, schriftliche oder telefonische Gebote an den Versteigerer zu richten. Ein entsprechendes Auftragsformular liegt dem Katalog bei. Über www.grisebach.com können Sie live über das Internet die Auktionen verfolgen und sich zum online-live Bieten registrieren. Wir bitten Sie in allen Fällen, uns dies bis spätestens zum 25. Oktober 2018, 14 Uhr mitzuteilen.

Die Berechnung des Aufgeldes ist in den Versteigerungsbedingungen unter § 4 geregelt; wir bitten um Beachtung. Die Versteigerungsbe-dingungen sind am Ende des Kataloges abgedruckt. Die englische Übersetzung des Kataloges finden Sie unter www.grisebach.com.

Grisebach ist Partner von Art Loss Register. Sämtliche Gegenstände in diesem Katalog, sofern sie eindeutig identifizierbar sind und einen Schätzwert von mindestens EUR 1.000 haben, wurden vor der Versteigerung mit dem Datenbankbestand des Registers individuell abgeglichen.

Informationen für Bieter

Grisebach — Herbst 2018

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Grisebach — Herbst 2018

Conditions of Sale of Grisebach GmbH

Section 1 The Auction House

1. The auction will be implemented on behalf of Grisebach GmbH – referred to hereinbelow as “Grisebach”. The auctioneer will be act-ing as Grisebach’s representative. The auctioneer is an expert who has been publicly appointed in accordance with Section 34b para-graph 5 of the Gewerbeordnung (GewO, German Industrial Code). Accordingly, the auction is a public auction as defined by Section 474 paragraph 1 second sentence and Section 383 paragraph 3 of the Bürgerliches Gesetzbuch (BGB, German Civil Code).

2. As a general rule, the auction will be performed on behalf of the Consignor, who will not be named. Solely those works of art owned by Grisebach shall be sold at auction for the account of Grisebach. Such items will be marked by an “E” in the catalogue.

3. The auction shall be performed on the basis of the present Condi-tions of Sale. The Conditions of Sale are published in the catalogue of the auction and on the internet; furthermore, they are posted in an easily accessible location in the Grisebach spaces. By submit-ting a bid, the buyer acknowledges the Conditions of Sale as being binding upon it.

Section 2Catalogue, Pre-Sale Exhibition and Date of the Auction

1. CataloguePrior to the auction date, an auction catalogue will be published. This provides general orientation in that it shows images of the works of art to be sold at auction and describes them. Additionally, the catalogue will provide information on the work’s creator(s), technique, and signature. These factors alone will define the char-acteristic features of the work of art. In all other regards, the cata-logue will not govern as far as the characteristics of the work of art or its appearance are concerned (color). The catalogue will provide estimated prices in EUR amounts, which, however, serve solely as an indication of the fair market value of the work of art, as does any such information that may be provided in other currencies.

Grisebach will prepare the catalogue to the best of its knowl-edge and belief, and will exercise the greatest of care in doing so. The catalogue will be based on the scholarly knowledge published up until the date of the auction, or otherwise generally accessible, and on the information provided by the Consignor.

Seriously interested buyers have the opportunity to request that Grisebach provide them with a report outlining the condition of the work of art (condition report), and they may also review any ex-pert appraisals that Grisebach may have obtained.

The information and descriptions contained in the catalogue, in the condition report or in expert appraisals are estimates; they do not constitute any guarantees, in the sense as defined by Section 443 of the Bürgerliches Gesetzbuch (BGB, German Civil Code), for the characteristics of the work of art.

Grisebach is entitled to correct or amend any information provided in the catalogue by posting a notice at the auction venue and by having the auctioneer make a corresponding statement im-mediately prior to calling the bids for the work of art concerned.

2. Pre-sale exhibitionAll of the works of art that are to be sold at auction will be exhibited prior to the sale and may be viewed and inspected. The time and date of the pre-sale exhibition, which will be determined by

Grisebach, will be set out in the catalogue. The works of art are used and will be sold “as is”, in other words in the condition they are in at the time of the auction.

3.Grisebach will determine the venue and time at which the auction is to be held. It is entitled to modify the venue and the time of the auc-tion, also in those cases in which the auction catalogue has already been sent out.

Section 3Calling the Auction

1. Bidder numberGrisebach will issue a bidder number to each bidder. Each bidder is to acknowledge the Conditions of Sale as being binding upon it.

At the latest twenty-four (24) hours prior to the start of the auction, bidders as yet unknown to Grisebach must register in writ-ing, providing a written bank reference letter of recent date, so as to enable Grisebach to issue a bidder number to them.

At the auction, only the bids submitted using a bidder number will be considered.

2. Item call-upThe auction of the individual work of art begins by its being called up by the auctioneer. The auctioneer is entitled to call up the works of art in a different sequence than that published in the catalogue, to join catalogue items to form a lot, to separate a lot into individual items, and to pull an item from the auction that has been given a lot number.

When the work of art is called up, its price will be determined by the auctioneer, denominated in euros. Unless otherwise deter-mined by the auctioneer, the bid increments will amount to 10 % of the respective previous bid.

3. Bidsa) Floor bids

Floor bids will be submitted using the bidder number. A sale and purchase agreement will be concluded by the auctioneer bringing down the hammer to end the bidding process.

Where a bidder wishes to submit bids in the name of a third party, it must notify Grisebach of this fact at the latest twenty-four (24) hours prior to the auction commencing, submitting a corre-sponding power of attorney from that third party. In all other cases, once the work of art has been knocked down, the sale and purchase agreement will be concluded with the person who has placed the bid.

b) Written absentee bidsSubject to Grisebach consenting to this being done, bids may also be submitted in writing using a specific form developed for this pur-pose. The bidder must sign the form and must provide the lot num-ber, the name of the artist, the title of the work of art and the ham-mer price it wishes to bid therefor. The bidder must acknowledge the Conditions of Sale as being binding upon it.

By placing a written bid, the bidder instructs Grisebach to submit such bid in accordance with its instructions. Grisebach shall use the amount specified in the written bid only up to whatever amount may be required to outbid another bidder.

Upon the auctioneer knocking down the work of art to a writ-ten bid, a sale and purchase agreement shall be concluded on that basis with the bidder who has submitted such written bid.

Where several written bids have been submitted in the same amount for the same work of art, the bid received first shall be the winning bid, provided that no higher bid has been otherwise sub-mitted or is placed as a floor bid.

c) Phoned-in absentee bidsBids may permissibly be phoned in, provided that the bidder applies in writing to be admitted as a telephone bidder, and does so at the latest twenty-four (24) hours prior to the auction commencing, and furthermore provided that Grisebach has consented. The bidder must acknowledge the Conditions of Sale as being binding upon it.

Bids phoned in will be taken by a Grisebach employee present at the auction on the floor, and will be submitted in the course of the auction in keeping with the instructions issued by the bidder. The bid so submitted by the bidder shall cover exclusively the hammer price, and thus shall not comprise the buyer’s premium, any allo-cated costs that may be charged, or turnover tax. The bid must un-ambiguously designate the work of art to which it refers, and must wherever possible provide the lot number, the artist and the title of the work.

Grisebach may make a recording of bids submitted by tele-phone. By filing the application to be admitted as a telephone bid-der, the bidder declares its consent to the telephone conversation being recorded.

Unless it is required as evidence, the recording shall be de-leted at the latest following the expiry of three (3) months.

d) Absentee bids submitted via the internetBids may be admissibly submitted via the internet only if Grisebach has registered the bidder for internet bidding, giving him a user name and password, and if the bidder has acknowledged the Con-ditions of Sale as being binding upon it. The registration shall be non-transferable and shall apply exclusively to the registered par-ty; it is thus entirely personal and private. The user is under obliga-tion to not disclose to third parties its user name or password. Should the user culpably violate this obligation, it shall be held lia-ble by Grisebach for any damages resulting from such violation.

Bids submitted via the internet shall have legal validity only if they are sufficiently determinate and if they can be traced back to the bidder by its user name and password beyond any reasonable doubt. The bids transmitted via the internet will be recorded elec-tronically. The buyer acknowledges that these records are correct, but it does have the option to prove that they are incorrect.

In legal terms, Grisebach shall treat bids submitted via the in-ternet at a point in time prior to the auction as if they were bids submitted in writing. Bids submitted via the internet while an auc-tion is ongoing shall be taken into account as if they were floor bids.

4. Knock downa) The work of art is knocked down to the winning bidder if, following

three calls for a higher bid, no such higher bid is submitted. Upon the item being knocked down to it, this will place the bidder under obligation to accept the work of art and to pay the purchase price (Section 4 Clause 1). The bidder shall not be named.

b) Should the bids not reach the reserve price set by the Consignor, the auctioneer will knock down the work of art at a conditional hammer price. This conditional hammer price shall be effective only if Grisebach confirms this bid in writing within three (3) weeks of the day of the auction. Should another bidder submit a bid in the mean-time that is at least in the amount of the reserve price, the work of art shall go to that bidder; there will be no consultations with the bidder to whom the work of art has been knocked down at a condi-tional hammer price.

c) The auctioneer is entitled to refuse to accept a bid, without provid-ing any reasons therefor, or to refuse to knock down a work of art to a bidder. Where a bid is refused, or where a work of art is not knocked down to a bidder, the prior bid shall continue to be valid.

d) The auctioneer may revoke any knock-down and may once again call up the work of art in the course of the auction to ask for bids; the auctioneer may do so in all cases in which– The auctioneer has overlooked a higher bid that was submitted in

a timely fashion, provided the bidder so overlooked has immedi-ately objected to this oversight;

– A bidder does not wish to be bound by the bid submitted; or– There are any other doubts regarding the knock-down of the work

of art concerned.Where the auctioneer exercises this right, any knock-down of a work of art that has occurred previously shall cease to be effective.

e) The auctioneer is authorized, without being under obligation of giv-ing notice thereof, to also submit bids on behalf of the Consignor until the reserve price agreed with the Consignor has been reached,

and the auctioneer is furthermore authorized to knock down the work of art to the Consignor, citing the consignment number. In such event, the work of art shall go unsold.

Section 4Purchase Price, Payment, Default

1. Purchase priceThe purchase price consists of the hammer price plus buyer’s pre-mium. Additionally, lump sum fees may be charged along with stat-utory turnover tax.

A. a) For works of art that have not been specially marked in the cata-logue, the purchase price will be calculated as follows:

For buyers having their residence in the community territory of the European Union (EU), Grisebach will add a buyer’s premium of 30 % to the hammer price. A buyer’s premium of 25 % will be added to that part of the hammer price that is in excess of EUR 500,000. A buyer’s premium of 20 % will be added to that part of the hammer price that is in excess of EUR 2,000,000. This buyer’s premium will include all lump sum fees as well as the statutory turnover tax (mar-gin scheme pursuant to Section 25a of the German Turnover Tax Act). These taxes and fees will not be itemized separately in the invoice.

Buyers to whom delivery is made within Germany, as defined by the German Turnover Tax Act, and who are entitled to deduct in-put taxes, may have an invoice issued to them that complies with the standard taxation provisions as provided for hereinabove in para-graph B. Such invoice is to be requested when applying for a bidder number. It is not possible to perform any correction retroactively after the invoice has been issued.

b) Works of art marked by the letter “N” (for Import) are works of art that have been imported from outside the EU for sale. In such event, the import turnover tax advanced, in the amount of cur-rently 7 % on the hammerprice, will be charged in addition to the buyer’s premium.

B. For works of art marked in the catalogue by the letter “R” behind the lot number, the purchase price is calculated as follows:

a) Buyer’s premium Grisebach will add a buyer’s premium of 25% to the hammer price. A buyer’s premium of 20 % will be added to that part of the hammer price that is in excess of EUR 500,000. A buyer’s premium of 15 % will be added to that part of the hammer price that is in excess of EUR 2,000,000.

b) Turnover taxThe hammer price and the buyer's premium will each be subject to the statutory turnover tax in the respectively applicable amount (standard taxation provisions, marked by the letter "R"). Currently, this amounts to 19 %.

c) Exemption from turnover tax No turnover tax will be charged where works of art are sold that are acquired in states within the EU by corporations and exported out-side of Germany, provided that such corporations have provided their turnover tax ID number in applying for and obtaining their bid-der number. It is not possible to register this status after the invoice has been issued, and more particularly, it is not possible to perform a correction retroactively.

No turnover tax shall be charged for the sale of works of art that are delivered, pursuant to Section 6 paragraph 4 of the Um-satzsteuergesetz (UStG, German Turnover Tax Act), to destinations located in states that are not a Member State of the EU, provided that their buyers are deemed to be foreign purchasers and have proved this fact in accordance with Section 6 paragraph 2 of the German Turnover Tax Act. The buyer shall bear any import turnover tax or duties that may accrue abroad.

The above provisions on turnover tax correspond to the legis-lative status quo and are in line with the practice of the Tax and Revenue Authorities. They are subject to change without notice.

2. Due date and paymentThe purchase price shall be due for payment upon the work of art being knocked down to the buyer.

The purchase price shall be paid in euros to Grisebach. Cheques and any other forms of non-cash payment are accepted only on account of performance.

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Grisebach — Herbst 2018

Payment of the purchase price by set-off is an option only where the claims are not disputed or have been finally and conclusively deter-mined by a court’s declaratory judgment.

Where payment is made in a foreign currency, any exchange rate risk and any and all bank charges shall be borne by the buyer.

3. DefaultIn cases in which the purchase price has not been paid within two (2) weeks of the invoice having been received, the buyer shall be deemed to be defaulting on the payment.

Upon the occurrence of such default, the purchase price shall accrue interest at 1 % per month, notwithstanding any other claims to compensation of damages that may exist.

Two (2) months after the buyer has defaulted on the purchase price, Grisebach shall be entitled – and shall be under obligation to do so upon the Consignor’s corresponding demand – to provide to the Consignor the buyer’s name and address.

Where the buyer has defaulted on the purchase price, Grisebach may rescind the agreement after having set a period of grace of two (2) weeks. Once Grisebach has so rescinded the agree-ment, all rights of the buyer to the work of art acquired at auction shall expire.

Upon having declared its rescission of the agreement, Grisebach shall be entitled to demand that the buyer compensate it for its damages. Such compensation of damages shall comprise in particular the remuneration that Grisebach has lost (commission to be paid by the Consignor and buyer’s premium), as well as the costs of picturing the work of art in the catalogue and the costs of ship-ping, storing and insuring the work of art until it is returned or until it is once again offered for sale at auction.

Where the work of art is sold to a bidder who has submitted a lower bid, or where it is sold at the next auction or the auction after that, the original buyer moreover shall be held liable for any amount by which the proceeds achieved at that subsequent auction are lower than the price it had bid originally.

Grisebach has the right to exclude the defaulting buyer from future auctions and to forward the name and address of that buyer to other auction houses so as to enable them to exclude him from their auctions as well.

Section 5Post Auction Sale

In the course of a two-month period following the auction, works of art that have gone unsold at the auction may be acquired through post auction sales. The post auction sale will be deemed to be part of the auction. The party interested in acquiring the work of art is to submit a bid either in person, by telephone, in writing or via the in-ternet, citing a specific amount, and is to acknowledge the Condi-tions of Sale as being binding upon it. The sale and purchase agree-ment shall come about if Grisebach accepts the bid in writing within three weeks of its having been received.

The provisions regarding the purchase price, payment, de-fault, pick-up and liability for works of art acquired at auction shall apply mutatis mutandis.

Section 6Acceptance of the Work of Art Purchased at Auction

1. Pick-upThe buyer is under obligation to pick up the work of art at the latest one (1) month after it has been knocked down to the buyer.

However, Grisebach is not under obligation to surrender to the buyer the work of art acquired at auction prior to the purchase price set out in the invoice having been paid in full.

Title to the work of art shall devolve to the buyer only upon the purchase price having been paid in full.

2. StorageGrisebach shall store the work of art acquired at auction until it is picked up, doing so at the longest for one (1) month, and shall insure it at its own cost, the amount insured being equal to the purchase price. Thereafter, Grisebach shall have the right to store the work of art with a specialized fine art shipping agent and to insure it there.

At its choice, Grisebach may instead store the work of art in its own premises, charging a monthly lump-sum fee of 0.1 % of the purchase price for the costs of storage and insurance.

3. ShippingWhere the buyer instructs Grisebach in writing to ship to it the work of art acquired at auction, subject to the proviso that the purchase price has been paid in full, Grisebach shall procure the appropri-ate shipment of the work of art to the buyer, or to any recipient the buyer may specify, such shipment being performed by a specialized fine art shipping agent; Grisebach shall take out corresponding shipping insurance. The buyer shall bear the costs of packaging and shipping the work of art as well as the insurance premium.

4. Default of acceptanceWhere the buyer fails to pick up the work of art within one (1) month (Clause 1) and fails to issue instructions for the work of art to be shipped to it (Clause 3), it shall be deemed to be defaulting on ac-ceptance.

5. Sale to other partiesShould the buyer, prior to having paid the purchase price in full, sell the work of art it has acquired at auction, it hereby assigns to Grisebach, as early as at the present time and on account of per-formance, the entirety of all claims to which it is entitled under such onward sale, and Grisebach accepts such assignment. Insofar as the claims so assigned are in excess of the claims to which Grisebach is entitled, Grisebach shall be under obligation to immediately re-assign to the buyer that part of the claim assigned to it that is not required for meeting its claim.

Section 7Liability

1. Characteristics of the work of artThe work of art is sold in the condition it is in at the time it is knocked down to the buyer, and in which it was viewed and inspected. The other characteristic features of the work of art are comprised of the statements made in the catalogue (Section 2 Clause 1) regarding the work’s creator(s), technique and signature. These statements are based on the scholarly knowledge published up until the date of the auction, or otherwise generally accessible, and on the informa-tion provided by the Consignor. No further characteristic features are agreed among the parties, in spite of the fact that such features may be described or mentioned in the catalogue, or that they may garnered from information provided in writing or orally, from a condition report, an expert appraisal or the images shown in the catalogue. No guarantee (Section 443 of the Bürgerliches Gesetz-buch (BGB, German Civil Code)) is provided for the work of art hav-ing any characteristic features.

2. Buyer’s rights in the event of a defect of title being given (Section 435 of the German Civil Code)

Should the work of art acquired be impaired by a defect of title be-cause it is encumbered by rights of third parties, the buyer may, within a period of two (2) years (Section 438 paragraph 4 and 5 of the Bürgerliches Gesetzbuch (BGB, German Civil Code)), rescind the agreement based on such defect of title, or it may reduce the pur-chase price (Section 437 no. 2 of the German Civil Code). In all other regards, the buyer’s rights as stipulated by Section 437 of the Ger-man Civil Code are hereby contracted out, these being the right to demand the retroactive performance of the agreement, the com-pensation of damages, or the reimbursement of futile expenditure, unless the defect of title has been fraudulently concealed.

3. Buyer’s rights in the event of a material defect being given (Section 434 of the German Civil Code)

Should the work of art deviate from the characteristic features agreed (work’s creator(s), technique, signature), the buyer shall be entitled to rescind the agreement within a period of two (2) years after the work of art has been knocked down to it (Section 438 para-graph 4 of the Bürgerliches Gesetzbuch (BGB, German Civil Code)). The buyer shall be reimbursed for the purchase price it has paid (Section 4 Clause 1 of the Conditions of Sale), concurrently with the return of the purchased object in unaltered condition, such return being effected at the registered seat of Grisebach.

Claims to any reduction of the purchase price (Section 437 no. 2 of the German Civil Code), to the compensation of damages or

the reimbursement of futile expenditure (Section 437 no. 3 of the German Civil Code) are hereby contracted out. This exclusion of li-ability shall not apply should Grisebach have fraudulently con-cealed the defect.

The right to rescind the agreement for material defects shall be contracted out wherever Grisebach has sold the work of art for the account of the Consignor and has exercised, to the best of its ability, the greatest possible care in identi fying the work’s creator(s), technique and signature listed in the catalogue, provided there was no cause to doubt these statements’ being correct. In such event, Grisebach enters into obligation to reimburse the buyer for the buyer’s premium, any allocated costs that may have been charged, and turnover tax.

Moreover, Grisebach shall assign to the buyer all of the claims vis-à-vis the Consignor to which it is entitled as a result of the de-fects of the work of art, providing the Consignor’s name and address to the buyer. Grisebach shall support the buyer in any manner that is legally available to it and that it is able to apply in enforcing such claims against the Consignor.

4. Errors in the auction proceedingsGrisebach shall not be held liable for any damages arising in con-nection with bids that are submitted orally, in writing, by telephone or via the internet, unless Grisebach is culpable of having acted with intent or grossly negligently. This shall apply in particular to the telephone, fax or data connections being established or continuing in service, as well as to any errors of transmission, transfer or trans-lation in the context of the means of communications used, or any errors committed by the employees responsible for accepting and forwarding any instructions. Grisebach shall not be held liable for any misuse by unauthorized third parties. This limitation of liability shall not apply to any loss of life, limb or health.

5. Statute of limitationsThe statutory periods of limitation provided for by Section 438 para-graph 1 Clause 3 of the Bürgerliches Gesetzbuch (BGB, German Civil Code) (two years) shall apply where the statute of limitations of claims for defects is concerned.

Section 8Final provisions

1. Collateral agreementsAny modifications of the present Conditions of Sale that may be made in an individual case, or any collateral agreements, must be made in writing in order to be effective.

2. Translations of the Conditions of SaleInsofar as the Conditions of Sale are available in other languages besides German, the German version shall govern in each case.

3. Governing lawThe laws of the Federal Republic of Germany shall exclusively apply. The United Nations Convention on the International Sale of Goods shall not apply.

4. Place of performanceInsofar as it is possible to agree under law on the place of perfor-mance and the place of jurisdiction, this shall be Berlin.

5. Severability clauseShould one or several provisions of the present Conditions of Sale be or become invalid, this shall not affect the validity of the other provisions. Instead of the invalid provision, the corresponding statu-tory regulations shall apply.

6. Dispute settlement proceedingsGrisebach GmbH is not obliged nor willing to participate in dispute settlement proceedings before a consumer arbitration board.

Bidder numbers are available for collection one hour before the auction. Please register in advance. Only bids using this number will be included in the auction. Bidders previously unknown to Grisebach must submit a written application no later than 24 hours before the auction.

We are pleased to accept written absentee bids or telephone bids on the enclosed bidding form. At www.grisebach.com you can follow the auctions live and register for online live bidding. All registrations for bidding at the auctions should be received no later than 2 p.m. on 25 October 2018.

Regarding the calculation of the buyer’s premium, please see the Condi-tions of Sale, section 4. The Conditions of Sale are provided at the end of this catalogue. The English translation of this catalogue can be found at www.grisebach.com.

Grisebach is a partner of the Art Loss Register. All objects in this catalogue which are uniquely identifiable and which have an estimate of at least 1,000 Euro have been individually checked against the register’s database prior to the auction.

Information for Bidders

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Grisebach — Herbst 2018

Service Service

ZustandsberichteCondition reports

[email protected] +49 30 885 915 0

Schriftliche und telefonische GeboteAbsentee and telephone bidding

[email protected] +49 30 885 915 24

Rechnungslegung, Abrechnung Buyer’s/Seller’s accounts [email protected]

+49 30 885 915 36 Versand und Versicherung Shipping and Insurance

[email protected]+49 30 885 915 54

Die bibliographischen Angaben zu den zitierten Werkverzeichnissen unter www.grisebach.com/de/Auktionen/Kataloge/WVZ_296

Herausgegeben von Grisebach GmbH Fasanenstraße 25 10719 Berlin

Geschäftsführer Florian Illies Micaela Kapitzky Dr. Markus Krause Rigmor Stüssel HRB 25 552, Erfüllungsort und

Gerichtsstand Berlin

Auktionatoren Nina Barge Dr. Stefan Körner Dr. Markus Krause Lena Winter

Konzeption und Koordination Dr. Stefan Körner Shantala S. Branca

Katalogbearbeitung Silke Bräuer Dr. Elke Ostländer Provenienzrecherche Dr. Sibylle Ehringhaus Antonio Rogus

Text-Lektorat Dr. Kristina Kratz-Kessemeier Dr. Sabine Weisheit-Possél

Übersetzung Alexandra Titze-Grabec

Fotobearbeitung Ulf Zschommler

Fotos Fotostudio Bartsch Karen

Bartsch, 2017/18 Recom GmbH & Co. KG, Berlin

Grisebach GmbH

Impressum Imprint

Erste Vorlaufseite: © Elisabeth Nay-Scheibler, Köln – VG Bild-Kunst, Bonn 2018 / Zweite Vor-laufseite, rechts: © VG Bild-Kunst, Bonn 2018 / Schmutztitel: © Xiomara Bender, Berlin / Dank: © Barbara Klemm / Vor-wort Stefan Georg Troller: No. Schmidt / Essay Werner Busch: Ettlinger © Foto: The Warburg Institute, London / Schiff: © Timothy Greenfield-Sanders, Miami / Panofsky und Janson: © Warburg-Archiv im Warburg-Haus, Hamburg / Gombrich: Universität Wien, Institut für Kunstgeschichte, Archiv / Kat.-Nr. 167, 176: © Privatsamm-lung, Berlin / Kat.-Nr. 218: © Tanja Lemke- Mahdavi, Berlin / Kat.-Nr. 224: © VG Bild-Kunst, Bonn 2018 (für vertretene Künst-ler / Kat.-Nr. 335: © Helga Tim-mermann, Berlin / © VG Bild-Kunst, Bonn 2018 (für vertretene Künstler)

Trotz intensiver Recherche war es nicht in allen Fällen möglich, die Rechteinhaber ausfindig zu machen. Bitte wenden Sie sich an [email protected]

Markenentwicklung und -gestaltung Stan Hema, Berlin

Grafik Studio Mahr, Berlin

Produktion Nora Rüsenberg

Database-Publishing Digitale Werkstatt

J. Grützkau, Berlin

Herstellung & Lithografie Königsdruck GmbH

Gedruckt auf LuxoArt Samt 115 q/m Schriften Fugue, Radim Pesko Aperçu Pro, Colophon Foundry

Fotografie Cover und Vorlauf Ragnar Schmuck, Berlin

Cover Andy Warhol, Kat.-Nr. 313

Vorlauf Ernst Wilhelm Nay, Kat.-Nr. 276 Otto Freundlich, Kat.-Nr. 226 Oskar Kokoschka: Kat.-Nr. 204

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Künstlerverzeichnis Index of Artists

Abbo: 201 Altenbourg: 282-285 Bargheer: 270, 271 Baselitz: 316, 317 Baumeister: 224 Beckmann: 158, 206, 207, 208,

246, 247, 248 Bernhard: 327, 328 Blais: 329, 330 Bohrmann: 305, 306 Burchartz: 222 Busch: 218 Castillo: 322, 323 Claus: 286 Corinth: 174-179 Croissant: 324 Dix: 191, 214, 215, 216 Fautrier: 279 Feininger: 227 Freundlich: 226 Fußmann: 332 Geiger: 309 Giacometti: 256 Glöckner: 228, 229, 287, 288-292 Götz: 280 Gramatté: 220 Grossmann: 202 Grosz: 192, 209, 210, 212 Hartung: 257, 267, 268, 269 Hausmann: 187 Heckel: 171-173 Hegenbarth: 293, 294 Heldt: 240, 272, 273, 274 Henning: 338, 339 Höckelmann: 319 Hödicke: 334, 335 Hofer: 182, 183, 221, 243, 244, 275 Hubbuch: 213 Ikemura: 345

Jaeckel: 180, 181 Janssen: 333 Jawlensky: 223 Kaus: 241, 245 Kirchner: 163-167, 169, 170 Klapheck: 310 Klee: 231 Knoebel: 337 Koenig: 325 Kokoschka: 204, 205 Kollwitz: 235-239 Köthe: 259 Kricke: 307, 308 Kuhn: 242 Léger: 186 Lehmbruck: 160-162 Lüpertz: 318 Macke: 153, 154 Maillol: 152 Marc: 155, 159 Marini: 255 Matisse: 184 Meidner: 188-190, 193, 194 Michaux: 281 Modersohn-Becker: 156 Modigliani: 185 Morgner: 195-197 Munch: 150 Nauen: 157 Nauman: 314 Nay: 265, 266, 276, 277 Oelze: 258 Pechstein: 168 Picasso: 151, 249, 250-254

Richter, Daniel: 340 Richter, Hans Theo: 295-298 Rouault: 232-234

Saura: 321 Schad: 211 Schiele: 203 Schmettau: 326 Schmidt-Rottluff: 198-200 Schönebeck: 315 Schulze: 336 Schwontkowski: 341-343 Sonderborg: 278 Stadler: 302-304 Stöhrer: 320 Tappert: 217 Trökes: 260 Tübke: 299 Uhlig: 300, 301 Uhlmann: 261-264 Warhol: 311-313 Wauer: 219 Wilson: 344 Winter: 230 Wunderlich: 331 Ziegler: 225

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