KULTUR Mittwoch, 7. September 2016 8 BLICKPUNKT MUSIKFEST STUTTGART Reichtum und Abrechnung Bach-Kantaten in der Stiftskirche mit der Gaechinger Cantorey und Hans-Christoph Rademann – Premiere der Silbermann-Truhenorgel Von Martin Mezger Stuttgart – Der gottesfürchtige pro- testantische Erwerbsethiker lässt sich gern die Nichtigkeit der von ihm gescheffelten Reichtümer vor- singen. Nur: Damit der „betörten Welt“ in Johann Sebastian Bachs eindringlicher Klangrede (hier aus der Kantate BWV 94) ihr „Reich- tum, Gut und Geld“ als „Betrug und falscher Schein“ um die musi- kalisch entzückten Ohren geschla- gen werden kann, braucht es eben doch wieder – Reichtum. Das war zu Zeiten des Leipziger Thomas- kantors, der sich schon mal recht ruppig über karge Mittel beklagte, nicht anders als heute, wo Hans- Christoph Rademanns glücklich zum Originalklang konvertierte Bachakademie den Aufbruch zu neuen Horizonten nur mittels wohl- habender Sponsoren meistern kann. Der Nachbau der Silber- mann-Truhenorgel etwa, ganzer Stolz der Bachakademiker, ver- dankt sich dem Mäzenatentum des Unternehmer-Ehepaars Wirtz. „Den Mammon klüglich anwenden“ Seine Konzertpremiere feierte das kostbare Instrument gestern Mittag in der Stiftskirche mit drei Bach-Kantaten, alle getreu dem diesjährigen Musikfest-Motto vom Reichtum handelnd und damit von der gottgefälligen Läuterung des „eitlen“ zum „klüglich anzuwen- denden“ Mammon. Für letzteren stand das Konzert selbst, denn reich sind Bachs kompositorisch predi- gende Mittel sowieso, und das künstlerische Vermögen der Inter- preten ist es nicht minder. Die Gae- chinger Cantorey – unterm barocki- sierenden Namen firmieren fürder- hin Chor wie Originalklang-Or- chester – erwies sich instrumenta- lerseits als handverlesenes Ensem- ble, das etliche nicht nur dem Na- men nach bestens klingende Grö- ßen in seinen Reihen zählt. Ein Ba- rockorchester solcher Güte ist eben kein unter der Knute des Takt- stocks zusammengeschweißter „Klangkörper“, sondern eine har- monische Interaktion kundiger In- dividualisten. Als Dirigent muss Rademann nicht permanent fordern und formen, sondern setzt die inter- pretatorischen Impulse, und prompt folgen prägnante Basslinien, wun- derbare Holzbläser-Soli, differen- ziert aufgefächerte Streichersätze: ein Bach-Klang der präzisen Nuan- cen und der scharfen Fokussierung. So gleich in der kantig punktierten Titelarie der Kantate „Tue Rech- nung! Donnerwort“ (BWV 168), welche in buchhalterischer Meta- phorik den säumigen Seelen Gottes Abrechnung vor die Sündernase hält. Bass-Solist Andreas Wolf gab dem „Donnerwort“ Markanz und den rollenden Triolen-Koloraturen grollende Autorität. In der Kantate „Was frag ich nach der Welt“ (BWV 94) verkehrt Bach in typisch barocker Dialektik die weltverleugnende Botschaft ins klingende Gegenteil: Schmei- chelnde Flötengirlanden tändeln um weltlichen Tand, tänzerische Rhythmen ums „Blendwerk“. Wie der Flötist Georges Barthel zusam- men mit dem exzellenten Altisten Terry Wey und seinem glutvoll- runden Timbre in den Figurationen der „Betörte Welt“-Arie die klang- bildlichen Münzen des Mammon kullern ließ, wurde an flinkfingriger Bravour und lichter Schönheit des Tons allenfalls getoppt von seinem hochvirtuosen Flötensolo in der Te- norarie der Kantate „Herr Jesu Christ, du höchstes Gut“ (BWV 113). Sebastian Kohlhepp sang die Tenorparts mit expressiver Kraft, der manchmal eine Dosis Ge- schmeidigkeit fehlte. Dorothee Mields konnte ihren astral-klaren Sopran nur in kürzeren Passagen leuchten lassen, auch der Chor hat in diesen drei Kantaten fast nur ak- kordisch-schlichte Auftritte: Zu vernehmen war gleichwohl eine Fülle an luminosem Wohlklang, nicht auf schlanke Kleinstbesetzung getrimmt, sondern beste deutsche Chortradition mit authentischem Musizieren verbindend. Beim Schlusskonzert am Sonntag mit Händels „L’Allegro“-Oratorium wird man ausgiebigere Cantorey- Töne hören. Gleiches gilt für das „Starinstrument“ des Konzerts, die Silbermann-Orgel: Gespielt von von Michaela Hasselt zeigte sie be- reits in der Continuo-Rolle Charak- ter, gab feinen Ton wie kräftigen Laut, naturgemäß nicht im wum- mernden Hammond-Sound, son- dern in souveräner Noblesse. Am Sonntag darf sie in einem Hän- del’schen Orgelkonzert glänzen. Präzis nuanciert, scharf fokussiert: Hans-Christoph Rademann interpretiert Bach-Kantaten mit der Gaechinger Cantorey. Foto: Holger Schneider Spurensuche mit Belegen Andreas Staier spielt auf dem Cembalo Musik von Johann Sebastian Bach und seinen französischen Vorbildern Von Martin Mezger Stuttgart – Johann Sebastian Bach ist, abgesehen von einer frühen Tour nach Norddeutschland und ei- ner sehr späten nach Berlin, nie aus seinem mitteldeutschen Umfeld he- rausgekommen. Um so begieriger hat er alle Musik, die ihm in die Finger kam, aufgesogen. So auch Werke der französischen Claveci- nisten von Jean-Henry d’Anglebert bis zum großen François Couperin. Dem prägenden Einfluss dieser französischen Cembalo-Schule für Bachs eigenen Stil spürte Andreas Staier mit dokumentarischer Prä- zision nach. Für sein Konzert im Weißen Saal des Neuen Schlosses hat der Cembalist ein Programm zusammengepuzzelt aus Stücken, die Bach gekannt haben muss. Folge war im ersten Teil ein klein- teiliges Potpourri aus Minutencock- tails und Bach’schen Reflexen: eine Spurensuche mit Belegen. Aber trefflich angerichtet (abgesehen vom störenden Außenlärm). Gelassen, fast rhapsodisch eröff- nete Staier eine Suite d’Angleberts, dem typisch französischen Charak- ter dieser musikalischen Prosodie ebenso angemessen wie in den fol- genden Sätzen der federnde Schwung der „Notes inégales“, der eleganten Lang-kurz-Spielweise. Verglichen mit dieser genüsslich schweifenden, in wuchernden Ver- zierungen schwelgenden Musik wirkte Bachs a-Moll-Fantasie BWV 904 mit ihren sequenzierenden Spannungssteigerungen freilich konsequent durchgestaltet. An zwei höchst gegensätzliche Fugen d‘Angleberts über das glei- che Thema mag sich Bach bei der Konzeption seiner „Kunst der Fuge“ erinnert haben. Staier ließ deshalb zwei Sätze aus diesem gro- ßen Zyklus folgen, sinnigerweise auch den mit seiner punktierten Rhythmik ausdrücklich dem fran- zösischen Stil verpflichteten Con- trapunctus VI. Exzellent durch- leuchtete er mit seinem kantabel und resonanzreich klingenden Ins- trument, dem Nachbau eines Cem- balos des Bach-Zeitgenossen Mi- chael Mietke, die polyphonen Ver- flechtungen des Themas und seiner Umkehrung. Deplatziert dagegen Nicolas de Grignys Orgel- „Dialogue“, der eben nur auf der Orgel wirkt, auch wenn Staier den Dialogcharakter sehr wohl regist- rierte. Brillant wiederum eine Folge von Couperins genialen Charakter- stücken, gespielt mit Temperament und glänzenden Esprit. Was erst recht für Bachs D-Dur-Partita (BWV 828) gilt, die Staier in ihrer kompositorischen wie spieltechni- schen Virtuosität, ihrer sinnieren- den Tiefe und ihrem geistreichen Elan überragend interpretierte. HEUTE BEIM MUSIKFEST 10 Uhr, Fruchtkasten: Die Orgel – Exponat barocker Klangvorstellun- gen. 12 Uhr, Musikpavillon am Schlossplatz: Stuttgart singt. Vokal- ensemble Ebersbach, Leitung: Wolf- gang Proksch. 13 Uhr, Stiftskirche: Johann Se- bastian Bach: Werke für Violine solo (Sonate g-Moll BWV 1001, Partita E- Dur BWV 1006, Partita d-Moll BWV 1004). Thomas Zehetmair, Violine. 15 Uhr, Hospitalhof: Musikfest- Café. Henning Bey im Gespräch mit Thomas Zehetmair. 19 Uhr, Theaterhaus: Golden Twenties. Tora Augestad, Gesang, und ihre Band Music for a while. 22 Uhr, Wagenhallen am Nord- bahnhof: Born to be mild. Musik von Johann Sebastian Bach, Philip Glass, Duke Ellington, Cole Porter, Metall- ica, Udo Lindenberg u.a. Hille und Marthe Perl, Viola da Gamba. Lee Santana, E-Gitarre.