Top Banner
Ansgar Mohnkern Metapher, Wiederholung, Form Zu Goethes Unbegriichkeiten AISTHESIS VERLAG Bielefeld 2012
40

Metapher, Wiederholung, Form. Zu Goethes Unbegrifflichkeiten (2012)

Jan 19, 2023

Download

Documents

James Symonds
Welcome message from author
This document is posted to help you gain knowledge. Please leave a comment to let me know what you think about it! Share it to your friends and learn new things together.
Transcript
Page 1: Metapher, Wiederholung, Form. Zu Goethes Unbegrifflichkeiten (2012)

Ansgar Mohnkern

Metapher, Wiederholung, FormZu Goethes Unbegri!ichkeiten

AISTHESIS VERLAGBielefeld 2012

Page 2: Metapher, Wiederholung, Form. Zu Goethes Unbegrifflichkeiten (2012)

Interpretatio est, quae non iterans idem redintegrat verbum, sed id commutat, quod positum est, alio verbo, quod idem valeat, hoc modo: Rem publicam radicitus evertisti, civitatem funditus deiecisti.

Cicero

Page 3: Metapher, Wiederholung, Form. Zu Goethes Unbegrifflichkeiten (2012)

Inhaltsverzeichnis

Vorwort ..............................................................................................................

I . Die Unbegri!ichkeit der Metapher: Goethes Fortgep"anztes

1. „Gespräche“ und „organische Geschöpfe“: Das „Fortgep!anzte“ der Morphologie ............................................

2. „Wenn wir uns einbilden“: Einbildungskra", Analogie, Metapher ..............................................

3. Die Idee der Metapher ..........................................................................

4. „Pfropfreiser“: Die Metapher der Metapher ....................................

5. (Nicht) Name: Jenseits der Metapher ...............................................

II . Die Unbegri!ichkeit der Wiederholung: Die Wahlverwandtscha!en und die Ordnung des Fortgep"anzten ..............................................................................

1. Name, metaphorisch. Ursprung, Di#erenz und das fortgep!anzte Subjekt ....................................................................

2. Subjektwerdung: Eduard, Werther, fortgep!anzt ............................

3. „Versetzt“ und „verglichen“: Fortp!anzung „nach einer gewissen Ordnung“ ..............................

4. Tod und Fortp!anzung, morphologisch ..........................................

5. „Gleichnisrede“: Metaphern, der Buchstabe und die verfehlte Erkenntnis .......................................................................

6. OTTO: Der Buchstabe und der misslungene Name .......................

7. ECHO: Der Buchstabe und die Wiederholung ..............................

8. Wiederholungszwänge .........................................................................

9. Nachahmungen ......................................................................................

9

15

15

19

30

38

41

48

48

56

65

73

81

91

94

105

111

Page 4: Metapher, Wiederholung, Form. Zu Goethes Unbegrifflichkeiten (2012)

III. Die Unbegri!ichkeit des Reims: Faust II und die Ordnung des Entsetzens ......................................

1. „Etymologisch gleicherweise stimmig“: Das Wortspiel vom Ursprung .............................................................

2. „Dem das Leben entquellt“: Das Echo und der Ursprung des Lebens ...........................................

3. Das Echo: Ein Reim ..............................................................................

4. „da!“: Helenas Reim und die Ordnung des Entfernten .................

5. „Trauriger Nachklang“: Die Geburt Euphorions aus dem Dilemma des Echos ...............................................................

IV. Die Unbegri!ichkeit der Form: Mächtiges Überraschen und die Ordnung des Sonetts ................

1. „Ein neues Leben“: Nährung und Schwund ....................................

2. Schwanken ..............................................................................................

3. „Mathematisch zu konstruieren“: Die Ordnung des Sonetts .......

4. Form .........................................................................................................

5. Morphé ....................................................................................................

6. Die wolkige Stelle ..................................................................................

Nachweise ..........................................................................................................

117

117

119

125

131

143

151

151

156

159

166

172

174

181

Page 5: Metapher, Wiederholung, Form. Zu Goethes Unbegrifflichkeiten (2012)

Vorwort

Über die schwierige Situation eines Projekts der Wissenscha! in der Neuzeit bemerkt Hans Blumenberg in seinem Buch über Die Genesis der kopernika-nischen Welt:

Der Anschauungsverzicht ist eine Voraussetzung der neuzeitlichen Wissen-scha!, der Anschauungsverlust muß eine Folge jeder "eorie sein, die sich sys-tematisiert, die also ihre Resultate so verdichtet und formiert, daß sie sich kra! ihrer heterogenen Ordnung vor den Zugang zu den genuinen Gegebenheiten stellen und schließlich diese ersetzen.1

Folgt nun solche Analyse der Logik ihrer eigenen Einsicht, so ist schon eben die Rede von „Anschauungsverzicht“ bzw. „Anschauungsverlust“ selbst bloß unter der Bedingung denkbar, dass das Ereignis des Verloren-gehens dieser Anschauung selbst eine jener verstellten „genuinen Gegeben-heiten“ darstellt, von denen hier die Rede ist. Die dilemmatische Situation neuzeitlicher Wissenscha! nämlich besteht darin, dass sich diese Wissen-scha! selbst weder des Orts noch des Zeitpunkts solchen Verlorengehens gegenwärtig zu bemächtigen vermag. Denn solche Bemächtigung hätte doch das Moment der Anschauung seinerseits mit einzuschließen, die der Wissenscha! jedoch gerade gemäß der Blumenbergschen Selbstanzeige abhanden gekommen ist. Das Dilemma an der Situation einer modernen Wissenscha! nämlich liegt darin, dass sie in dem Maße einer Anschauung depriviert wird, in welchem sie sich „systematisiert“, derweil sie andererseits in dem Maße die Möglichkeit einer Anschauung mit dem Preis zu zahlen hätte, in welchem sie den Anspruch auf Systematik, also den Anspruch ihre Gegenstände zu klassi#zieren und ‚auf den Begri$ ‘ zu bringen, aufzugeben hätte. So bleibt demnach das Projekt einer Anschauung, das gemeinsam mit dem Gerüst einer wissenscha!lichen Systematik die Möglichkeit der voll-kommenen Erkenntnis aufbewahrte, ein verfehltes. Denn an ihre Stelle tritt die Operation einer latent anschauungslosen „wissenscha!lichen Aussage“, welche gemäß Blumenberg

1 Hans Blumenberg, Die Genesis der kopernikanischen Welt, Frankfurt a.M. 1975, S. 61.

Page 6: Metapher, Wiederholung, Form. Zu Goethes Unbegrifflichkeiten (2012)

10

nur noch über Zwischenstufen auf eine sehr allgemeine Fragestellung bezogen werden [kann], die außerhalb der theoretischen Disziplin in einem Erfah-rungsraum lokalisiert werden könnte.2

Gemäß dieses Dilemmas bleibt Blumenbergs Analyse eingedenk jener Deprivation, die eine Wissenscha! ihres Vermögens beraubt, ein Gegen-ständliches in Anschauung und Erfahrung darzubieten, derweil sie sich, wenngleich vergeblich, diesem Gegenständlichen doch wohl immer wieder zumindest approximativ zu nähern hat, sofern sie ihrem Selbstverständnis als redliche Wissenscha! gerecht werden will. So heißt es bei Blumenberg mit Hinblick auf das enzyklopädische Projekt des 18. Jahrhunderts als dem einschlägigen Paradigma einer neuzeitlichen Ordnung von Wissen und Erkenntnis überhaupt:

Schon dort, wo Vermittlung von Wissenscha! an die Bedürfnisse eines wei-teren Publikums die erstmals in der ganzen Aktualität erkannte und akzep-tierte Aufgabe war, in der französischen Enzyklopädie, droht der alphabetisch geordneten und durch ein Verweisungssystem erschlossenen Darbietung des Wissens ihre Funktion, den Zugang zu den Gegenständen der Natur und Kul-tur derart möglich zu machen, daß der Verständlichkeit der Gegebenheiten selbst den Primat behält, verloren zu gehen. Die Hilfsfunktion, die das Wis-sen für die Anschauung haben könnte, tritt an ihre Stelle. Die Geschichte der Wissenscha! führt nicht nur in die Isolierung ihrer Resultate von der Einsich-tigkeit ihrer methodischen Herkun! hinein, sondern erst recht in die Abtren-nung der "eorien von ihrer ursprünglichen Motivation, die Lebenswelt des Menschen zu erschließen, sichtbarer und durchsichtiger zu machen, also die Erfahrungsfähigkeit zu steigern.3

Was dabei als ein Versuch erscheint, das Dilemma einer Wissenscha! zu bezi#ern, die daran scheitert, „die Lebenswelt des Menschen zu erschließen, sichtbarer und durchsichtiger zu machen“ und demnach in Bezug auf diese Lebenswelt „die Erfahrungsfähigkeit zu steigern“, mündet mit Blumenberg unweigerlich in das Projekt der Selbstverortung einer Sprache über diese Wissenscha! selbst. Denn die eigene Sprache ist ja nicht weniger eine Spra-che neuzeitlicher Wissenscha! als die eines Diderot, der sich einst um die Errichtung eines „Verweisungssystems“ kümmerte, in denen das „Wissen“

2 Hans Blumenberg, Die Genesis der kopernikanischen Welt, S. 61.3 Hans Blumenberg, Die Genesis der kopernikanischen Welt, S. 61.

Vorwort

Page 7: Metapher, Wiederholung, Form. Zu Goethes Unbegrifflichkeiten (2012)

11

um die „Gegenstände der Natur und Kultur“ eine angemessene „Darbie-tung“ erhalten sollte, und sich doch immer wieder auf eine „Hilfsfunktion, die das Wissen für die Anschauung haben könnte“, zurückgeworfen sieht. So nämlich wie diesem enzyklopädischen Projekt einer Sammlung des Wissens versiegt auch dieser Einsicht selbst das Reservoir an möglichen Anschauun-gen, weshalb die Gegenstände seiner wissenscha!lichen Sprache ihrerseits als „Verweisungssysteme“ operieren, die gemäß einer substitutiven Ordnung „an die Stelle“ der Anschauung von natürlichen und kulturellen Gegenstän-den treten, anstatt sie unmittelbar und gegenwärtig verfügbar zu machen. Ist also in der Folge mit Blumenberg von Diderot die Rede, so geschieht dies nur unter der Voraussetzung, dass eben diese Rede in gleichem Maße wie

Systematik und Auswahlkriterien der Enzyklopädie […] unter dem Mangel zu leiden [scheint], daß der Mensch gegenüber der Wirklichkeit keinen normier-ten Standpunkt besitzt, daß reales wie geistiges Universum unendlich viele perspektivische Zugänge gestatten, denen ebenso viele Systeme entsprechen müßten.4

Erscheinen solche Systeme als „Verweisungssysteme“, so tun sie dies gerade auch in der Weise, in der sich Blumenbergs Sprache selbst – und mit ihr die Sprache von Wissen und Erkenntnis überhaupt – in ihnen verstrickt.

Hat sich nun eine Arbeit wie die vorliegende zum Ziel gesetzt, einen Bei-trag zu den Bedingungen der Möglichkeit einer Begri"ichkeit der Sprache zu leisten, so sieht sie sich vom Standpunkt der Erkenntnis ihrerseits immer auch auf das Komplement dieser Frage nach dem Begri# zurückgeworfen, nämlich auf jene Frage, an der sich Blumenbergs Analyse zum Standpunkt neuzeitlicher Wissenscha! bricht. Diese Frage formuliert sich wesentlich nicht nur als eine nach dem Begri#, sondern in mindestens gleichem Maße als eine nach den Möglichkeiten und Grenzen der Anschauung selbst. Jenes Dilemma von „Anschauungsverlust“ nämlich, das die Situation modernen Wissens über die Gegenstände des Lebens so unnachgiebig prägt, o#en-bart sich dabei als die Komplementärstruktur einer Sprache, in welcher der Begri# nicht mehr zu den Dingen gelangt, weil diesen Dingen selbst keine Anschauung beizumessen ist, an der sich ein Begri# als das höchste Medium der Erkenntnis zu nähren vermöchte. Im Zustand einer Wissenscha! ohne Anschauung als einer Wissenscha!, die ohne den unvermittelten Zugang zu

4 Hans Blumenberg, Die Genesis der kopernikanischen Welt, S. 61f.

Vorwort

Page 8: Metapher, Wiederholung, Form. Zu Goethes Unbegrifflichkeiten (2012)

12

den Dingen selbst auszukommen hat, verfängt sich auch eine Untersuchung zur Begri!ichkeit der Sprache notwendigerweise in der Latenz einer Unbe-gri!ichkeit von Sprache. Denn ohne Anschauung, mit der ja nach Kant zusammen ein Begri" allererst Erkenntnis generierte, bleibt jedes begri"-liche Projekt ein unausweichlich verfehltes.

Dass aber eine solche Arbeit, die sich um die Grenzen einer Ordnung des Begri"s bekümmert, gerade Goethes Schreiben zu seinem Gegenstand hat, ist alles andere als Zufall. Denn nur selten ist wohl das Problem von Wissen und Erkennen so sehr mit dem der Darstellung ver#ochten wie im Falle Goe-thes. So gestand dieser einmal in einem Brief an Zauper ernüchtert ein, dass im Hinblick auf die Natur „schon viel gewonnen“ sei, wenn ihr weder unmit-telbare Anschauung noch Begri" beizumessen ist, sondern „sie nur Tropen und Gleichnisse weckt.“ (HA Briefe IV, 90)5 Nicht zuletzt im Verhältnis zu den Dingen dieser Natur etabliert Goethe dabei an der historischen Schwelle zu einer Neuorganisation modernen Wissens um 1800 eine Sprache, die das Dilemma jenes von Blumenberg bezi"erten Anschauungsverlusts gegenüber den Gegenständen nicht bloß beklagt oder gar betrauert, sondern sich in die-sem Dilemma vielmehr bisweilen vergnüglich verfängt. Diese Sprache – ihr Signum ist die Rede von „Tropen und Gleichnissen“ – partizipiert dabei an dem „Anschauungsverlust“ selbst, insofern sie auf den angemessenen Begri" an eben der Stelle verzichtet, an welcher diesem Begri" sein Komplement, d.h. der Gegenstand, durch den Verzicht auf Anschauung abhanden gekom-men ist.

Diese Stelle wird bei Goethe nicht selten besetzt von absoluten Momen-ten wie Anfang und Ende, doch haben in ihr auch jene Entwicklungen einen Ort, die sich sprungha$ ereignen, darin aber jeweils ihrer angemessenen Darstellung harren. Die Sprache, die sich nicht nur um eine angemessene

5 Alle Texte Goethes werden, sofern möglich, im fortlaufenden Text (unter Angabe von Abteilung, Band, Seitenzahl) zitiert nach Johann Wolfgang Goe-the, Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, 40 Bände in 2 Abteilun-gen, hg. von Dieter Borchmeyer u.a., Frankfurt a.M. 1985". [=FA]. In wenigen Ausnahmen wird zitiert nach Goethes Werke, hg. im Au$rag der Großherzogin Sophie von Sachsen, I. Abteilung: Werke, II. Abteilung Naturwissenscha$liche Schri$en, III. Abteilung: Tagebücher, IV. Abteilung: Briefe, Weimar 1887-1919 [=WA]. Briefe von und an Goethe werden zitiert nach Goethes Briefe und Briefe an Goethe, Hamburger Ausgabe in 6 Bänden, hg. von Karl Robert Man-delkow, München 1982 [Goethes Briefe=HA Briefe; Briefe an Goethe=HA Briefe an Goethe].

Vorwort

Page 9: Metapher, Wiederholung, Form. Zu Goethes Unbegrifflichkeiten (2012)

13

Darstellung solcher sprungha!en Ereignisse als den unteilbaren singulären Einzelmomenten einer Entwicklung, sondern auch um Gegenstände des Lebens im engeren Sinne bemüht, wird gemeinhin auch mit dem Projekt einer Morphologie in Verbindung gebracht. Von den Versuchen über diese Morphologie nimmt darum auch die vorliegende Arbeit ihren Anfang als einer am Unbegri"ichen orientierten Durchmessung des Goetheschen Universums – einer Durchmessung, die in das Innere der Frage nach dem Verhältnis nicht nur von Literatur und Wissenscha!, sondern von Litera-tur und Wissen selbst führt. Dabei hat Goethe selbst seinerseits nie zu ver-bergen versucht, dass eine wissenscha!liche Sprache immer auch mit dem Gefüge einer dichterischen zusammentritt. Deshalb #ndet sich ein Konti-nuum zwischen Morphologie und Dichtung gerade dort, wo beide mit dem Dilemma von Anschauungsverlust und Unbegri"ichkeit in Berührung treten. Dies galt es in der vorliegenden Arbeit zu verfolgen, und es führt also jene Durchmessungsarbeit an Goethe in gleichsam natürlicher Weise ins Feld literarischer Sprache. Gleich nämlich, ob als Ordnung der Wieder-holung, die in den Wahlverwandtscha!en am Werk ist, ob als Ordnung des Reims, wie im zweiten Teil des Faust, oder ob als Ordnung der Form, wie sie sich an dem Sonett Mächtiges Überraschen darstellt: jede dieser Ordnungen partizipiert in je verschiedener Weise an jenen Grenzen von Anschauung und Begri$, die auch den Standpunkt neuzeitlichen Erkennens überhaupt entscheidend berühren.

Dass darin in der vorliegenden Arbeit ein Wiederholungsprinzip selbst am Werk ist, wenn solche ‚verschiedenen Weisen‘ jeweils miteinander kor-respondieren, mag vielleicht an dem Gegenstand selbst liegen, an dem sie sich zuletzt verfangen: Goethe. Denn in immer neuem Gewand #ndet sich die vorliegende Arbeit in der Verlegenheit wieder, ein irreduzibles Maß an Unbegri"ichkeit gleichsam an ihr selbst wiederholen zu müssen, das für die Wunde einer Erkenntnis einsteht, die ihren Gegenstand nie vollstän-dig zu erfassen vermag. Im Eingedenken an die Unmöglichkeit aus solch einer Ordnung herauszutreten, sieht sich also eine Arbeit, die sich eines Gegenstands zu bemächtigen versucht, der an Wiederholungsstrukturen als Spuren von Unbegri"ichkeit partizipiert, selbst unausweichlich auf ihr eigenes Wiederholungsprinzip zurückgeworfen. Sie bricht sich am Ende an einer Einsicht, die bereits vor einem Jahrhundert das vielleicht einzig angemessene Verhältnis zu Goethe zu bestimmen wusste. Denn es gestand schon Georg Simmel mit Bezug auf das sich ihm darbietende Darstellungs-problem in seinem Buch über diesen ein:

Vorwort

Page 10: Metapher, Wiederholung, Form. Zu Goethes Unbegrifflichkeiten (2012)

14

Wie bei jeder Darstellung einer geistigen Persönlichkeit, für die nicht erst Kenntnis, sondern Verständnis gesucht wird, d.h. nicht Einzelheiten, sondern ihr Zusammenhang, steht im Mittelpunkt eine gewisse Anschauung der Indi-vidualität; diese kann, als Anschauung, nicht unmittelbar ausgesprochen wer-den, sondern man kann nur in ihrer Nachbildung durch eine Summe partieller Bilder au!ordern, deren jeweilige Motive durch die großen geistesgeschichtli-chen Begri!e unserer Welt- und Lebensdeutung bestimmt sind. Ich würde es deshalb für das Gegenteil eines Vorwurfs gegen dies Buch halten, wenn man in jedem seiner Kapitel eigentlich dasselbe wie in jedem andern zu lesen meinte.6

* * *

Dieses Buch wäre nicht ohne die vielfältige Hilfe zahlreicher Kolleginnen und Kollegen, Freundinnen und Freunde sowie meiner Familie möglich gewesen. Mein besonderer Dank gilt Prof. Carol Jacobs, Prof. Rainer Nägele und Prof. Rüdiger Campe für die vielen wertvollen Anregungen, den reichen intellektuellen Austausch und all die Unterstützung der vergangenen Jahre.

New Haven, im Oktober 2011 Ansgar Mohnkern

6 Georg Simmel, Goethe, Leipzig 1913, S. VI.

Vorwort

Page 11: Metapher, Wiederholung, Form. Zu Goethes Unbegrifflichkeiten (2012)

IVDie Unbegri!ichkeit der Form:Mächtiges Überraschen und die Ordnung des Sonetts

1. „Ein neues Leben“: Nährung und Schwund

In Faust II zeigt sich Leben als ein E"ekt der Entquellung von Echo und Reim. Der kritische Moment seines Ursprungs aber erscheint dort nur inso-fern ergründbar, als sich dieser wesentlich als kunstvoller, wenngleich verstel-lender E"ekt einer Sprache von Repetition darstellt, die doch den blinden Ort zwischen Original und Wiederholung nicht angemessen abzulichten vermag. Dieser nämlich ergibt sich aus der Lücke zwischen dem schlichten Dasein der E"ekte eines Ursprungs auf der einen Seite und der unmögli-chen Anschauung desselben bzw. seiner angemessenen Darstellung in einer begri!ichen Sprache auf der anderen Seite. Dass diese dilemmatische Kon-stellation im späten Drama keine genuin neue bei Goethe ist, zeigt ihre Ver-handlung nicht nur im Kontext der schwierigen Begründung einer Morpho-logie an, sondern ist auch in den Spuren anwesend, die sie in der Tektonik eines Romans wie den Wahlverwandtscha!en hinterlässt. In unmittelbarer zeitlicher Umgebung zur Arbeit an diesem Roman tritt nun aber auch an anderer Stelle „ein neues Leben“ bei Goethe in Erscheinung, nämlich in jenem im Jahr 1807 entstandenen Gedicht, das seit der Werkausgabe von 1815 den Au#akt zu Goethes Sonette-Zyklus bildet: Mächtiges Überraschen. Dort tritt dieses „neue Leben“ abermals mit dem Element des Wassers in eine Verbindung ein, steht es doch am Ende jener von Fortdrängen und Wider-stand zugleich organisierten Bewegung des Wassers, an der sich wie schon in der frühen Hymne Mahomets Gesang die innere Ordnung des Gedichts im Streben zu einer väterlichen Ordnung formiert.194 Das Sonett liest sich bekanntermaßen wie folgt:

194 Vgl. zur Korrespondenz zwischen Mahomets Gesang und Mächtiges Überraschen Gerhart von Graevenitz, Gewendete Allegorie. Das Ende der modernen Lyrik in Goethes Sonette-Zyklus von 1815/1827, in: Allegorie. Kon"guration von Text, Bild und Lektüre, hg. von Eva Horn und Manfred Weinberg, Opladen 1998, S. 97-117. Eine weitere Spur des Sonetts zu den frühen Hymen Goethes liefert die innere verwandtscha#liche Beziehung zwischen Strombewegung und der inneren Ordnung des Gedichts, wie sie in Wandrers Sturmlied am Werk ist

Page 12: Metapher, Wiederholung, Form. Zu Goethes Unbegrifflichkeiten (2012)

152

Ein Strom entrauscht umwölktem FelsensaaleDem Ozean sich eilig zu verbinden;Was auch sich spiegeln mag von Grund zu Gründen,Er wandelt unau!altsam fort zu Tale.

Dämonisch aber stürzt mit einem Male –Ihr folgten Berg und Wald in Wirbelwinden –Sich Oreas, Behagen dort zu "nden,Und hemmt den Lauf, begrenzt die weite Schale.

Die Welle sprüht, und staunt zurück und weichet,Und schwillt bergan, sich immer selbst zu trinken;Gehemmt ist nun zum Vater hin das Streben.

Sie schwankt und ruht, zum See zurückgedeichet;Gestirne, spiegelnd sich, beschaun das BlinkenDes Wellenschlags am Fels, ein neues Leben. (FA I, 1, 250)

Es mag kein Zweifel daran bestehen, dass die Bewegung des Wassers der Dynamik einer teleologischen Ordnung gleichkommt, in der diese ihrem vermeintlich letzten Ziel, dem väterlichen „Ozean“, entgegenstrebt.195 Die

(„Dich! dich strömt mein Lied.“ FA I/1, 197). Zugleich aber war die Verqui-ckung von Wasser und Lied dort selbst bereits ein Echo eines Vergangenen, nämlich jenes berühmten Wortes der Horazschen Oden über einen „schran-kenlosen“ Pindar. Bei Horaz nämlich hieß es ja: „Wie ein Bergstrom stürzt, den der Regen schwellte,/ Hoch zum Bord hinaus des gewohnten Bettes,/ Also braust und stürzt wie aus tiefem Borne/ Schrankenlos Pindar.“ („Monte decur-rens velut amnis, imbres/ Quem super notas aluere ripas,/ Fervet inmensusque ruit profundo/ Pinadur ore.“ Horaz, Carmina, in: Sämtliche Werke, lateinisch und deutsch, hg. und übers. von Hans Färber, München 1967, S. 180-181) Zu Goethes Pindarrezeption in Wandrers Sturmlied vgl. auch Martin Vöhler, Gren-zen der Pindarnachfolge: „Wandrers Sturmlied“, in: Pindarrezeptionen. Sechs Studien zum Wandel des Pindarverständnisses von Erasmus bis Herder, Heidel-berg 2005, S. 144-158.

195 Vgl. dazu David E. Wellbery: „$is river is the cipher of teleology itself: then purpose present at the beginning and governing development toward an end that bears the name of the river of rivers, the total river of father Ozean.“ (David E. Wellbery, Contingency, in: Neverending Stories. Toward a Critical Narrato-logy, hg. von Ann Fehn, Ingeborg Hoestery, and Maria Tatar, Princeton 1992, S. 240)

IV Die Unbegri!ichkeit der Form

Page 13: Metapher, Wiederholung, Form. Zu Goethes Unbegrifflichkeiten (2012)

153

Rückkehr in die Ordnung väterlicher Totalität aber ist eine solche, die sich im Gedicht selbst ereignet, da sich der Fortgang desselben doch samt des „Stroms“ urplötzlich an einem jähen Umschlag bricht. Dieser Umschlag ergibt sich in dem Einfall der zweiten Strophe des Sonetts „mit einem Male“ aus derjenigen Gegenbewegung, die ein E!ekt jener Hemmung darstellt, die die ursprünglich „unau"altsame“ Bewegung des Wassers plötzlich ereilt. Sobald nämlich die Energie des Wassers, mit der das sich ihr widerset-zende Element der Erde – vertreten durch die Bergnymphe Oreas – in Ver-bindung tritt, kollidiert sie in höherem Sinne in einer „völlig unerwarteten Wendung“196 mit einem ihr grundsätzlichen Anderen, ja sie kollidiert mit der Kra# ihrer eigenen Au"ebung, ihrer eigenen Negation. Damit aber hebt diese Hemmung des Wassers die ursprünglich als „unau"altsam“ deklarierte Bewegung des Flusses aus den Angeln und überführt ihrerseits die gleichsam dionysische Kra# des Wassers in eine apollinische Ordnung, insofern sie diese gleich der zügelnden Hegung einer ursprünglichen Masse „begrenzt“. Doch damit bewahrt diese hegende Hemmung zugleich den Fluss als ein Singulä-res vor seiner Auslöschung durch die Grenzenlosigkeit eines alles verschlin-genden Ozeans. Der Widerstand des Anderen in Gestalt des widerständigen Felsens lässt den Strom in seiner Bewegung an der irritierenden Interven-tion eines skandalon entgleiten, indem er diese Bewegung der Möglichkeit depriviert, ihr Ziel, dem er doch entgegenjagt, den väterlichen „Ozean“, je zu erreichen. Zwar bleibt dieser Ozean als telos der Bewegung latent, doch wird er der Kra# des Stroms nach solchem Umschlag schlechthin insofern unerreichbar, als sich die Ankun# im Schoß der väterlichen Ordnung ins Unabsehbare als eine je verschobene erweist und damit die Ho!nung, „sich diesem eilig zu verbinden“, im Gedicht selbst als enttäuschte zurückbleibt. Sinnbild dieser getilgten Ho!nung ist jenes unscheinbare Partikel „hin“, in dem sich die Persistenz einer unüberbrückten wie unüberbrückbaren Ferne ausspricht, in der sich der Ozean im Verhältnis zur Bewegung des Wassers fortan be$ndet.

Die Kra# der analogen Bewegung von Wasser und Gedicht aber hat nun im Schwund ihres telos, der sich aus jener Hemmung ergibt, als Quelle ihrer Nährung nichts anderes mehr als sich selbst. Und so erö!net sich aus der hemmenden Unterbrechung der ursprünglichen teleologischen Formation dasjenige dialektische Spiel, in welchem dem gestauten Element in der eige-nen Sprache des Gedichts eben nichts anderes bleibt als „sich immer selbst

196 Emil Staiger, Goethe, Zürich, 3 Bde., Bd. II, S. 447.

IV Die Unbegri!ichkeit der Form

Page 14: Metapher, Wiederholung, Form. Zu Goethes Unbegrifflichkeiten (2012)

154

zu trinken“. Dieses selbsttrinkende Spiel aber ist ein Spiel von Nährung und Schwund zugleich. Denn der Widerstand des Felsen führt zur Negation des ursprünglichen Impulses des talwärtigen Drängens, wie er zugleich dieses Drängen in sich aufnimmt und es zu einem ihm eigenen macht. So wird in dieser Negation die buchstäblich „fort“-dringende Bewegung umgekehrt, indem sie – angezeigt von der Formulierung „und schwillt bergan“ – rück-wärtig gegen sich selbst anarbeitet und sich folglich latent im E!ekt ihrer eigenen Energie, in der Gegenbewegung begräbt. Ähnlich dem Ergebnis der fortdauernden Zusammenführungen einer anfänglich zersplitterten Wasser-landscha" in den Wahlverwandtscha!en sammelt sich indes die ursprünglich weitgehend ungebundene und ungehegte Kra" des Wassers im Abschluss dieses Hin- und Hergeworfenseins an einem eingefassten Ort, in dem die Dialektik von Drängen und Stauung zum Stillstand gekommen scheint. Die dispersiven Elemente am Wasser werden aufgehoben in einer Form, die einen landscha"lichen Namen trägt. Fernab des uferlosen Ozeans nämlich fallen sie einer gleichsam apollinischen Hegung anheim und wandeln sich in abgeschlossener Form zu einem „See“.

Mit dieser See-Werdung des Wassers erscheint auf wundersame Weise end-lich gerade auch eine solche Bewegung gebannt, die – die Formulierung „fort zu Tale“ zeigt es an – bei Goethe bekanntlich an ein grundsätzlicheres Gefüge gemahnt, in dem das je Anwesende sich immer schon in dem Moment als ein Abwesendes formiert, in dem es, wenn auch vergeblich, selbst zu begreifen, sich selbst zur Erscheinung zu kommen sucht. Diese Ordnung ist die eines Fortgep#anzten in der Sprache der Morphologie, die des Versetzten und der Entfernten in der Sprache der Wahlverwandtscha!en und noch die des in Echo und Reim Nachklingenden in der Sprache des zweiten Teils des Faust. Strukturell aber ist sie die Ordnung einer grundsätzlich metaphorischen Sprache, der das Dilemma eignet, dass ihr Gegenstand oder Ereignis, von denen jeweils die Rede ist, stets in ein solches „fort“ entgleitet, das seinerseits im ersten Sonett von Goethes Zyklus innigst mit der Bewegung des Wassers im Bunde steht. Mächtiges Überraschen indes arbeitet gegen diese Ordnung an und es scheint, als sei die dispersive Bewegung ins „fort“ im „See“ – die Welle „ruht“ – nun endlich einmal zu einer Ruhe gelangt, von der über den früheren lyrischen „Gipfeln“ Goethes, nämlich in Ein Gleiches, nur das un-sichere Versprechen auf eine zukün"ige Zeit eines „balde“ kündete. Diese Ruhe entspringt im Sonett als das Ergebnis der dialektischen Fügung der „zu Tale“ gerichteten Bewegung und seiner Brechung durch die Hemmung des Felsens. Aus ihr entspringt nun im Ausklang des Sonetts aber nur gerade

IV Die Unbegri"ichkeit der Form

Page 15: Metapher, Wiederholung, Form. Zu Goethes Unbegrifflichkeiten (2012)

155

jenes Gefüge, welches – anders als in Ein Gleiches – nicht auch latent die Idee des Todes mit sich führt, sondern in der abschließenden Strophe gleich-sam auch transzendiert wird durch den Umschlag in eine Konstellation der „Gestirne“. Hier nämlich erfährt das Umschlagen der „Welle“ gleichermaßen ihre metaphorische Verdoppelung, insofern sich die Dialektik von Nährung und Schwund als spiegelnde Selbstschau der Himmelskörper wieder!ndet. Solche Transzendierung wird aber nun sogleich zurückgeworfen auf den immanenten Umschlag der Welle, den „Wellenschlag am Fels“, womit das Transzendente, das den „Gestirnen“ in ihrem „Blinken“ anha"et, sich selbst wiederum an der Immanenz des Gegenständlichen sichtbar wird. Dieses Sichtbarwerden eines Blinkens führt die Spur jenes „wahren Lichts“ eines Johannes-Evangeliums mit sich, „das alle Menschen erleuchtet, die in diese Welt kommen“197, insofern es dem anfänglichen Wort Gottes anhänglich ist. Darum steht es auch in der Gemeinscha" nicht nur zu diesem Wort, sondern bildet seine Einheit mit eben jenem „Leben“ selbst, dessen Echo zuletzt ja noch in der gleichsam quintessenziellen Fügung am Ende des Sonetts als „ein neues Leben“ emergiert.198

Mit der Formation eines selbstre#exiven Blinkens, durch das vermittelt also nicht bloß ein ursprüngliches Licht, sondern mit diesem das Leben selbst hindurchschimmert, kommt aber die abschließende Konstellation des Gedichts auch dem scheinbar spielerischen Gelingen jener philosophisch so umrungenen Operation gleich, die seit Kant die Rede von einer „intel-lektuellen Anschauung“ trägt. Diese steht ein für die utopische Idee einer selbsttätigen Anschauung ohne Erfahrung, also der Anschauung eines sich selbst eigentlich schlechthin Unanschaubaren.199 Denn es sind die „Gestirne“

197 Joh 1, 9.198 Zum anfänglichen Wort des Johannes-Evangeliums heißt es ja bekannterma-

ßen auch: „In ihm ist das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen.“ ( Joh 1, 4)

199 Dazu Kant: „Alles, was durch einen Sinn vorgestellt wird, ist so fern jederzeit Erscheinung, und ein innerer Sinn würde also entweder gar nicht eingeräumt werden müssen, oder das Subjekt, welches der Gegenstand desselben ist, würde durch denselben nur als Erscheinung vorgestellt werden können, nicht wie es von sich selbst urteilen würde, wenn seine Anschauung bloße Selbsttätigkeit, d.i. intellektuell, wäre. Hierbei beruht alle Schwierigkeit nur darauf, wie eine Subjekt sich selbst innerlich anschauen könnte; allein diese Schwierigkeit ist jeder %eorie gemein. Das Bewußtsein seiner selbst (Apperzeption) ist die einfache Vorstellung des Ich, und, wenn dadurch allein alles Mannigfaltige im

IV Die Unbegri!ichkeit der Form

Page 16: Metapher, Wiederholung, Form. Zu Goethes Unbegrifflichkeiten (2012)

156

selbst, die sich nicht bloß als das Re!ektierte, sondern darin zugleich als Quelle, womöglich gar als Ursprung des Lichts, ja als Quelle und Ursprung jenes Lebens selbst begreifen, das am Ende des Sonetts als Entsprungenes das Moment des Entspringens selbst verbürgt. Darin taucht also abermals auf, was Gegenstand einer Sehnsucht derjenigen Sprache ist, die doch freilich für das ursprüngliche Ereignis seines eigentlichen Entspringens über kein ange-messenes Instrumentarium verfügt, insofern es ihr an der Kra" des Begri#i-chen mangelt, wenn das Gedicht in „ein neues Leben“ mündet. Auf der „das Blinken“ re!ektierenden Folie eines „Wellenschlags“, der sich aus der Gleich-zeitigkeit von hin- wie rückwärtiger Bewegung des Wassers ergab, $ndet sich nämlich das „Blinken“ – „spiegelnd sich“200 – in einer gleichsam utopischen Konstellation wieder, in der es sich selbst als Blinkendes erkennt. Dadurch also wird das Moment einer intellektuellen Anschauung geradezu anschau-lich in Szene gesetzt. Und es schimmert durch dieses Blinken entfernt auch jenes „Blicken“ hindurch, das in der Sprache Fausts mit dem Augen-Blick selbst eine Einheit bildet, weil sich in ihm das blickende Blinken nicht nur als blinkendes Blicken gewahr wird, sondern darin eben auch das vermeintlich unanschaubare Subjekt als objektiv Gewordenes, Anschaubares ansichtig wird. Darin aber gelangt das Licht – und mit ihm zumindest in der utopi-schen Geste des Gedichts auch das „neue Leben“ – sich selbst als ein bloß durch sich selbst Verbürgtes im kritischen Moment seines Entspringens zur Anschauung.

2. Schwanken

Was also das Sonett in dieser Anordnung von „Gestirnen“ und „Wellen-schlag“ vermeintlich zur Anschauung bringt, ist demnach das Entspringen eines „neuen Lebens“, und das Gedicht selbst erscheint als Ort eines solchen Entspringens. Darin ist das Sonett dem Mangel an begri#icher Erkenntnis, die eine morphologische Sprache gegenüber den Objekten der Erkennt-nis belastet, scheinbar voraus, weil es plötzlich diejenige Formation zu

Subjekt selbsttätig gegeben wäre, so würde die innere Anschauung intellektuell sein.“ (Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernun!, B 68)

200 Zu Figuren des Spiegelns, wie sie Goethes Lyrik seit ihren Anfängen eigen sind, vgl. nach wie vor die ausführliche Studie von David E. Wellbery, "e Specular Moment. Goethe’s Early Lyric and the Beginning of Romanticism, Stanford 1996 (dort vor allem S. 3-83).

IV Die Unbegri#ichkeit der Form

Page 17: Metapher, Wiederholung, Form. Zu Goethes Unbegrifflichkeiten (2012)

157

durchbrechen scheint, die sich nicht allein aus dem Mangel einer Anschau-ung für das eigentliche Ereignis eines Ursprungs ergab, sondern zuletzt auch aus dem Mangel einer Sprache, deren Vorrat zu diesem Ereignis kei-nen Begri! zu liefern vermag.201 In deren Unbegri"ichkeit weicht Sprache jedoch auf ein Feld aus, das jenes Mangels implizit eingedenk ist, nämlich das Feld des Metaphorischen. Gleich ob mittels der Rede von einem Fortge-p#anzten, mittels entferntem Echo und Wiederholung allgemein oder mit-tels Echo und Reim im Besonderen: Die tropologische Formation ist nicht aufzuheben. Im Sonett selbst aber scheint ja nun jene Trennung von Ereignis und Darstellung, von ursprünglichem Original und entfernter Nachzeitig-keit und damit eben auch von begri"icher und metaphorischer Ordnung durchbrochen, insofern ja die Anschauung – sei sie auch nur eine explizit dichterische – mit dem Ereignis des Entspringens des „neuen Lebens“ zusam-menzufallen vorgibt. So erscheint auch die Mangelordnung solcher Meta-phorizität für den Augenblick außer Kra$ gesetzt. Sprache verhielte sich

201 Das Sonett wäre demnach der manifeste Ort einer solchen Kunst, die Schelling schon einige Jahre vor Goethe auch als den Ort jener intellektuellen Anschau-ung identi%zierte, die implizit einer Kunst anha$et, die sich abseits einer begri!-lichen Ordnung formiert. Schelling schreibt: „Die ganze Philosophie geht aus, und muß ausgehen von einem Prinzip, das als das absolut identische schlechthin nicht-objektiv ist. Wie soll nun aber dieses absolut Nicht-Objektive doch zum Bewußtsein hervorgerufen werden, was notwendig ist, wenn es Bedingung des Verstehens der ganzen Philosophie ist? Daß es durch Begri!e ebensowenig auf-gefaßt als dargestellt werden könne, bedarf keines Beweises. Es bleibt also nichts übrig, als daß es in einer unmittelbaren Anschauung dargestellt werde, welche aber wiederum selbst unbegri"ich, und da ihr Objekt etwas schlechthin Nicht-Objektives sein soll, sogar in sich selbst widersprechend zu sein scheint. Wenn es denn nun aber doch eine solche Anschauung gäbe, welche das absolut identische, an sich selbst Sub- noch Objektive zum Objekt macht, und wenn man sich wegen dieser Anschauung, welche nur eine intellektuelle sein kann, auf die unmittel-bare Erfahrung beriefe, wodurch kann denn nun auch diese Anschauung wieder objektiv, d.h. wie kann außer Zweifel gesetzt werden, daß sie nicht auf einer bloß subjektiven Täuschung beruhe, wenn es nicht eine allgemeine und von allen Menschen anerkannte Objektivität der Anschauung gibt? Diese allgemein aner-kannte Objektivität der intellektuellen Anschauung ist die Kunst selbst. Denn die ästhetische Anschauung eben ist die objektiv gewordene intellektuelle. Das Kunstwerk re#ektiert mir, was sonst durch nichts re#ektiert wird, jenes absolut Identische, was selbst im Ich schon sich getrennt hat […].“ (Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, System des transzendentalen Idealismus, Hamburg 1992, S. 296)

IV Die Unbegri!ichkeit der Form

Page 18: Metapher, Wiederholung, Form. Zu Goethes Unbegrifflichkeiten (2012)

158

demnach zum kritischen Moment des Entspringens urplötzlich in der Weise begri!ich, insofern sie unmittelbar mit einer Anschauung zusammen"ele. Aus der Mitte dieser Sprache ragte „ein neues Leben“ hervor, jedoch nicht nur als ein Sprachliches, sondern vielmehr sogar als ein Gegenständliches, auf das eine Sprache nicht bloß verwiese, sondern das mit der Sprache selbst als Identisches zusammen"ele. Das rastlose Treiben von Unbegri!ichkeit zu Unbegri!ichkeit käme auf solche Art endlich zur Ruhe und in dieser Ruhe bildete der „See“ gegenständlich die kritische Stelle jener Operation des Ansichtigwerdens eines vermeintlich Unansichtigen. In ihr wäre das unab-schließbare Spiel aus Entfernungen, Versetzungen, Wiederholungen endlich durchbrochen, wie sie eine jede Sprache doch immer ereilt, die nicht an einer begri!ichen, sondern an einer metaphorischen Ordnung partizipiert.

Indes wird die Möglichkeit einer substanziellen Durchbrechung der unbegri!ichen Ordnung der Sprache aber aus dem Inneren des Gedichts, ja aus dem Inneren des Wesens jener Ruhe selbst, die doch als Bürge dieser begri!ichen Ordnung der Sprache daherkommt, emp"ndlich gestört. Die Ruhe der abschließenden Strophe nämlich steht zugleich im Zeichen ihres negativen Komplements, ist doch in ihm auch eine Geste am Werk, die sich mit einer Ordnung verbindet, in welcher die Begri!ichkeit der Sprache im Verhältnis zu den Dingen auf unsicherem Grund erscheint, nämlich die Geste des Schwankens. Denn über die „Welle“, deren Bewegung vermeint-lich zum Abschluss gekommen scheint, heißt es ja insgesamt: „Sie schwankt und ruht.“ So wird der Ruhe das zurückgegeben, dessen gänzliche Au#e-bung sie erst vollkommen machen würde: die Bewegung. Zugleich gelangt mit diesem Schwanken aber auch das Residuum dessen ins Gedicht, was jener Unruhe eignet, die schon die „schwankenden Gestalten“ der Zueig-nung im Faust selbst in ihrem Nahen bloß als eigentümlich entfernte sichtbar machte. Im Lichte eines solchen Schwankens fällt somit die Sprache selbst, die dazu anhebt zur begri!ichen Schärfe zu gelangen, in eine problemati-sche Unschärfe zurück, durch welche sich die Gewissheit der Präsenz des Gegenständlichen latent auf jenes Partikel zurückgewiesen sieht, in dessen Zeichen noch der Anfang des Gedichts stand. Mit der Bewegung bleibt der ruhelose Mechanismus des „fort“ am Werk und mit ihm auch die Getrübt-heit nicht nur eines Blickens202, sondern zugleich eben auch eines Blinkens

202 Solch getrübter Blick bildet ja im Faust eine Einheit mit der Geste des Schwan-kens: „Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten!/ Die früh sich einst im trüben Blick gezeigt.“ (FA I/7, 11)

IV Die Unbegri!ichkeit der Form

Page 19: Metapher, Wiederholung, Form. Zu Goethes Unbegrifflichkeiten (2012)

159

jener „Gestirne“, die sich als Quelle ihrer selbst erkennen wollten. Schwan-kend also steht damit nicht nur die Ruhe selbst, sondern mit ihr diejenige Konstellation zur Disposition, aus der sich die Ruhe und mit dieser auch die Möglichkeit eines klaren, erkennenden Blickes schöp!. Gewendet in die Sprache des Mythos ließe sich wohl in entfernter Referenz zu diesem Schwanken behaupten, dass die grundsätzlich narzisstische Operation einer zu sich selbst gelangenden spiegelnden Re"exion in ihrem Begehren zur Ruhe zu kommen von der Stimme eines in Unschärfe und Ferne schwanken-den Echos gebrochen wird, durch welche die feste Ordnung des buchstäblich Augenblicklichen, nämlich des Anschauens eines Unanschaubaren jene pre-käre Eintrübung erfährt, die ihre Gewissheit latent als Schein entlarvt. Denn mitsamt der entstandenen Trübheit gerät eben auch die Utopie der Mög-lichkeit einer Begri#swerdung eines Unbegri$ichen ins Schwanken, nach dessen Au%ebung die Sprache doch eigentlich begehrte.203

3. „Mathematisch zu konstruieren“: Die Ordnung des Sonetts

Solches Schwanken aber ereilt zuletzt das „neue Leben“ selbst. Denn so sehr eine begri$iche Sprache sich wünschte, dass sie ohne Unschärfe nicht nur an dieses Leben gegenständlich hereinreichte, sondern mit diesem gar zu einer gegenwärtigen Einheit verschmölze, so sehr bleibt der Status dieses neuen Lebens doch ein problematischer. An ihm ha!et zumal die Unecht-heit eines Zitats. So ist es der Titel von Dantes Werk La Vita Nuova, der durch „ein neues Leben“ hindurchschimmert. Doch verdrängt solches Zitat, so es erkannt wird, den Blick für die Entstehung jenes Lebens, des-sen vollkommen gegenständliche Darstellung eine Morphologie verfehlte, nämlich des Lebens organischer Gegenstände. In seiner Stellung als Zitat indes schwindet dem Leben das originär Echte, derweil es doch eigentlich ohne jedes Schwanken als ein ursprüngliches verstanden werden will. Nicht als organisches, sondern als zitiertes kündigt sich in diesem „neuen Leben“

203 Solche Eintrübung erzeugt mit Goethe in epistemologischer Hinsicht mithin einen kritischen Zustand, in der sich Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit vermi-schen, darin aber selbst im Trüben ununterscheidbar werden. Einer Aufzeich-nung folgend nämlich „ist das Trübe eine Versammlung von Durchsichtigem und Undurchsichtigem, ein netzartiger Überzug von undurchsichtigen Ato-men und deren durchsichtigen vacuis.“ (Der Ausdruck Trüb, WA II, 5, 398)

IV Die Unbegri!ichkeit der Form

Page 20: Metapher, Wiederholung, Form. Zu Goethes Unbegrifflichkeiten (2012)

160

darum gerade eben auch ein solches Neues an, das von Kierkegaard nicht als Originales und Ursprüngliches, sondern bloß als das Neue einer Wiederho-lung bezi!ert wurde, in der also nicht das Entspringen selbst, sondern bereits immer schon ein Versetzen und Verstellen am Werk ist und in der sich das Neue immer schon als ein längst Entsprungenes, als ein immer schon in der entfernten Wiederholung Versetztes und Verstelltes erweist.

Gleichsam im Echo einer längst vergangenen Tradition wird im Zitat also unter dem Makel der Unechtheit eine Sammlung von Gedichten heraufbe-schworen, in denen Dante – „Incipit Vita Nova“204 – von der Erneuerung des Lebens im Zeichen einer Liebe zu Beatrice berichtet. Es klingt darin aber nicht nur der Titel einer Sammlung an Geschichten nach, sondern mit ihr auch eine spezi"sche Form des Gedichts, in der sich dieses Zitat zuträgt, nämlich die Form des Sonetts. Zweifelsohne hat Dante in der Genese einer europäischen Literatur als einer der Väter des Sonetts überhaupt zu gelten. So präsentiert sich sein Frühwerk La Vita Nuova gemäß eines Kommentars „als die erste durchkomponierte Sammlung von Sonetten und als autobio-graphische Novelle“205 zugleich. Aufgerufen ist damit also in Mächtiges Überraschen nicht allein der vermeintlich ursprüngliche Augenblick eines Lebens, sondern mit diesem auch der anfängliche Moment des Sonetts als derjenigen lyrischen Form, deren 14 Zeilen o!enbar seit Dante mit der Frage nach einem Ursprung des Lebens verhandelt wird.

Weniger durch den unmittelbaren Ein#uss des deutschen barocken Sonetts, als vielmehr durch jene Konstellation, die sich aus der Wieder-entdeckung des petrarkischen Sonetts durch Bürger sowie seinen Schüler August Wilhelm Schlegel ergibt, erfährt das Sonett gegen Ende des 18. und im Besonderen zu Beginn des 19. Jahrhundert eine Renaissance206, sodass es heute – nicht zuletzt wegen der Tendenz romantischer Selbstanzeige207 – nicht selten auch zur lyrischen Form der Romantik schlechthin gestem-pelt wird.208 Dabei sind es jedoch nicht allein die „Merkmale der Kleinheit,

204 Dante Alighieri, Das Neue Leben, übers. von Friedrich Beck, München 1903, S. 1.

205 Friedhelm Kemp, Das europäische Sonett, Göttingen 2002, 2 Bde., Bd. I, S. 62.206 Vgl. dazu Friedhelm Kemp, Das europäische Sonett, Bd. II, S. 38-70.207 Friedrich Schlegel etwa nennt das Sonett in einem Fragment „die vollkommen-

ste Form für ein romantisches Fragment“ (Kritische-Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. XVI, S. 121).

208 So etwa Jörg-Ulrich Fechner in seiner Einführung zu einer Anthologie zum deutschen Sonett: „Das Sonett wurde zum Distichon der Romantik, war seine

IV Die Unbegri!ichkeit der Form

Page 21: Metapher, Wiederholung, Form. Zu Goethes Unbegrifflichkeiten (2012)

161

Niedlichkeit und Glätte“209, sondern vielmehr ein grundsätzlicheres, ein strukturelles Interesse am strengen, vermeintlich schwankungslosen Wesen einer „Construction“210 als dem strikten formellen Korsett einer dialekti-schen, noch in Goethes Mächtiges Überraschen arbeitenden „antithetischen Symmetrie und unveränderlichen Architektonik des Sonettes“211, in dem diese Renaissance einer Form ihren intellektuellen Anspruch auf !eo-retisierung mit sich führt.

Überhaupt lässt sich sagen: Hat es je eine wirkliche !eorie des Sonetts gegeben, so ist wohl August Wilhelm Schlegel ihr Vater und, gemessen an der formalen Unnachgiebigkeit, vielleicht auch ihr einziger wirklicher Sohn zu nennen. So "ndet sich in den Vorlesungen zur Geschichte der romantischen Literatur, die Schlegel im Wintersemester 1803/04 hält, im Zuge einer Abhandlung der verwendeten lyrischen Formen Petrarcas ein eigentüm-licher, bis heute in seiner formalistischen Kargheit wohl einzigartiger Ver-such einer theoretischen Verortung des Sonetts. Um die Gattung desselben nämlich von „dem Verdacht einer bloß kapriziösen Willkür ihrer Regeln“ zu befreien, versucht Schlegel im geradezu didaktischem Ton einer deduktiven Poetik „ihre Notwendigkeit abzuleiten, und es soviel möglich mathematisch zu konstruieren.“212 Kaum zu unterscheiden ist dabei, ob sich das Interesse Schlegels an der mathematischen Konstruktion aus dem Interesse am Sonett ergibt oder ob sich dieses Interesse am Sonett nicht vielmehr womöglich an einem an Kants emphatischen Verständnis der Mathematik genährten Wunsch ausrichtet, ein Gedicht aus dem Wesen der strikten Formalität des-sen abzuleiten, was auch als „das Zeichen der vollendeten Begrenzung“213 zu deklarieren ist, nämlich aus der Formalität der nackten Zahl. Am Anfang seiner Abhandlung über das Sonett steht jedenfalls die Geste einer nüchter-nen Gezähltheit des Gedichts, die in ähnlich insistierender Weise unter den

Poesie gewordene Kunstphilosophie.“ Nach Fechner habe es eine „pointierte Schulbedeutung des Sonetts für die Romantik“ gegeben. (Das deutsche Sonett. Dichtungen – Gattungspoetik – Dokumente, München 1969, S.27 und 28)

209 August Wilhelm Schlegel, Bürger, in: Sämmtliche Werke, hg. von Eduard Böcking, Leipzig 1846, Bd. VIII, S. 132.

210 Friedrich Schlegel, Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. XVI, S. 293.211 August Wilhelm Schlegel, Bürger, S. 132.212 August Wilhelm Schlegel, Geschichte der romantischen Literatur, in: Kritische

Schri!en und Briefe, hg. von Edgar Lohner, Stuttgart 1965, Bd. IV, S. 185.213 Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie

der Weltgeschichte, München 1969, S. 77.

IV Die Unbegri"ichkeit der Form

Page 22: Metapher, Wiederholung, Form. Zu Goethes Unbegrifflichkeiten (2012)

162

literarischen Zeitgenossen Schlegels wohl allenfalls noch – „Und der Stun-den gedenk rufet ein Wächter die Zahl“214 – in Hölderlins Rede vom Rufen der Zahl einen ähnlich herausragenden Ort einnimmt. So schreibt Schlegel:

Das Sonett besteht aus 14 Zeilen, welche durch Abschnitte des Sinnes in vier Glieder, zwei von 4 Zeilen, die vorangehen, und zwei von 3 Zeilen, die nachfolgen (Quartett und Terzett). Die Verse werden von gleicher Länge genommen (die verunglückten Versuche, das Gegenteil einzuführen, kommen nicht in Betracht) und zwar wählt man die umfassendste und allgemeinste der gereimten Versarten, welche in der Sprache üblich ist, z.B. bei den Franzosen Alexandriner, und ehedem auch leider bei uns, bei den Italienern und Spani-ern den elfsilbigen Vers, bei den Engländern den fün!üßigen Jamben. Daß die Wahl kürzerer, einseitig bestimmter Versarten dem Geiste der Gattung wider-spreche, werde ich nachher zeigen.215

Bemerkenswert ist die Rigidität, mit welcher Schlegel sämtliche Möglichkei-ten von metrischer Variation und mit dieser scheinbar auch die Möglichkeit von Kontingenz und Abweichung überhaupt auszuschließen bemüht ist. Nicht nur erinnert solche Emphase der Konstruktion noch an den moder-nistischen Versuch, sie ästhetisch gegen ihre Au"ösung zu verteidigen216, sondern sie ist zugleich die Abwehr gegen jede Unschärfe im Allgemeinen, die das Sonett dort einzuholen droht, wo es sich der Form nach den Mög-lichkeiten von Abweichung und Variation ö!nete.

214 Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. I, S. 372. Vgl. zu Hölder-lins poetischem Verfahren des Zählens mitunter Rainer Nägele, Das Gesetz des Gesangs. „Der Rhein“, in: Hölderlins Kritik der poetischen Vernun!, Basel 2005, S. 29-76 (zu „Brot und Wein“ vor allem S. 36f.).

215 August Wilhelm Schlegel, Geschichte der romantischen Literatur, S. 185.216 Vgl. dazu Adorno: „Nicht zu verschweigen, daß auch im Konstruktionsprinzip,

der Au"ösung von Materialien und Momenten in auferlegte Einheit, abermals ein Glättendes, Harmonistisches, das der reinen Logizität, beschworen wird und Ideologie werden will. Es ist die Fatalität einer jeglichen Kunst im gegen-wärtigen Zeitalter, daß sie von der Unwahrheit des herrschenden Ganzen ange-steckt wird. Gleichwohl ist Konstruktion die heute einzige mögliche Gestalt des rationalen Moments im Kunstwerk, so wie zu Beginn, in der Renaissance, die Emanzipation der Kunst von der kultischen Heteronomie mit der Entde-ckung von Konstruktion – damals ,Komposition‘ geheißen – zusammenging.“ ($eodor W. Adorno, Ästhetische "eorie, Frankfurt a.M. 1970, S. 90f.)

IV Die Unbegri#ichkeit der Form

Page 23: Metapher, Wiederholung, Form. Zu Goethes Unbegrifflichkeiten (2012)

163

Doch arbeitet im Inneren einer solch rigiden Mechanik des Sonetts ein Element, in dem latent ein Widersetzen gegen die konstruierende Wut am Sonettemachen am Werk ist. Schon in der Rede von „gereimten Versarten“ kündigt sich dieses an, und es drängt sich Schlegel umgehend als Problem auf. Gemeint ist das Element des Reims. So kommt Schlegels Entwurf auch rasch auf diesen zu sprechen, und es folgt deshalb:

Die Anordnung der Reime ist nun diese, daß in den Quartetts 2 Reime vier-mal wiederkehren, entweder alternierend, immer einmal ums andere, oder so daß sie einander einfassen, welches letztere nach einem allerdings richtigen Gefühl allgemein vorgezogen werden, so daß jenes gegen die ganze Masse nicht in Betracht kommt, so wie auch ein paar minder symmetrische Anord-nungen, die nur ausnahmsweise sich !nden. In den Terzetten ist die Reim-stellung freier, es können darin entweder 2 Reime dreimal wiederkehren oder 3 zweimal.217

Mit dem Reim kommt also in das Gefüge einer vermeintlich strengen mathe-matischen Ordnung das Moment dessen ins Spiel, was doch den Prinzipien mathematischen Deduzierens eigentlich entgegenarbeitet, nämlich eben jenes Moment der Varianz, das es zuvor noch auszuschließen galt. Kann Schlegel noch in Bezug auf die Quartette der ersten beiden Strophen eines Sonetts Variation als „ausnahmsweise“ abtun, so muss er hinsichtlich der Terzinen eingestehen, dass sich der Versuch einer Deduktion des Sonetts auf das Problem einer „Reimstellung“ zurückgeworfen sieht, der gegenüber bei allem Anspruch auf Stringenz doch ihrerseits die Konzession eingeräumt werden muss, dass sie sich mitunter „freier“, also variabler gestaltet. Damit bleibt aber ein Moment jener Willkür am Werk, an dessen Tilgung es Schle-gel hier doch eigentlich gelegen war.218 Der Reim aber, und nicht die Zahl,

217 August Wilhelm Schlegel, Geschichte der romantischen Literatur, S. 185.218 Das erscheint indes auch darum unbequemer, insofern die Abhandlung des

Sonetts als eine der „großen Formen der romantischen Lyrik“ doch auch innig verwoben mit der vollkommenen Bestimmung des Reims selbst erscheint. Schlegel nämlich führt vorher bereits aus: „Wie das rhythmische Prinzip in dem epischen und den allgemein dramatischen Silbenmaßen der Alten gleich-sam nur in der ersten Potenz zu erkennen ist, in den lyrischen und besonders chorischen Strophen aber erst seine ganze Tiefe und Energie entfaltet, so läßt sich auch aus den für andere Gattungen bestimmten Versarten der Neueren nur eine sehr untergeordnete Vorstellung von der Wirksamkeit und Bedeutung des

IV Die Unbegri!ichkeit der Form

Page 24: Metapher, Wiederholung, Form. Zu Goethes Unbegrifflichkeiten (2012)

164

die man dem Anspruch „mathematisch zu konstruieren“ nach erwartet, ist es nun plötzlich auch, der das Sonett für Schlegel entscheidend organisiert. So nämlich heißt es weiter:

Also zur Sache. Die materiellste und unmittelbarste Wirkung des Reimes ist die, Verse zu verbinden und zu trennen; jenes tut er mit den aufeinander rei-menden, dieses mit den nicht reimenden: ein Verhältnis, was bei den rhythmi-schen Versarten durchaus nicht statt!ndet. Sobald also der Reim die Grund-lage der Versi!kation ausmacht, ist auch der erste Keim von dem da, was das Sonett in höchster Kunstvollendung leistet, nämlich die doppelte Wirkungs-art in vollständiger Entfaltung.219

Hier also erscheint der Reim im Lichte jener dialektischen Spannung, die in der abschließenden Geste von Schlegels eigenem Sonett auch als „rei-nes Ebenmass der Gegensätze“220 bezi"ert wird. Und es ist diese Spannung

Reimes erlangen, und erst in den großen Formen der romantischen Lyrik !ndet man ihn bis an die Grenzen seines Gebiets geführt, und sein Geheimnis ganz ausgesprochen.“ (August Wilhelm Schlegel, Geschichte der romantischen Litera-tur, S. 184f.)

219 August Wilhelm Schlegel, Geschichte der romantischen Literatur, S. 186.220 Das Sonett – darin formell analog zur Forderung des jüngeren Bruders, dass

nämlich die $eorie des Romans der Roman selbst zu sein habe – trägt den schlichten selbstbezüglichen Titel Das Sonett und lautet:

Zwey Reime heiss’ ich viermal kehren wieder, Und stelle sie, getheilt, in gleiche Reihen, Daß hier und dort zwey eingefasst von zweyen Im Doppelchore schweben auf und nieder. Dann schlingt des Gleichlauts Kette durch zwey Glieder Sich freyer wechselnd, jegliches von dreyen. In solcher Ordnung, solcher Zahl gedeihen Die zartesten und stolzesten der Lieder. Den werd’ ich nie mit meinen Zeilen kränzen, Dem eitle Spielerey mein Wesen dünket, Und Eigensinn die künstlichen Gesetze. Doch, wem in mir geheimer Zauber winket, Dem leih’ ich Hoheit, Füll’ in engen Gränzen. Und reines Ebenmass der Gegensätze. (August Wilhelm Schlegel, Das Sonett, in: Das deutsche Sonett, S. 134)

IV Die Unbegri!ichkeit der Form

Page 25: Metapher, Wiederholung, Form. Zu Goethes Unbegrifflichkeiten (2012)

165

zwischen verbindender und trennender Qualität des Reims, an der sich zuletzt die konstruktive Ordnung des Sonetts überhaupt speist:

Nach der doppelten Wirkungsart des Reimes, der verbindenden und trennen-den, zerfällt das Sonett in 2 Häl"en, deren jede einer davon gewidmet ist. Die verbindende geht natürlich voran, weil die Energie nur durch den Gegensatz mit jener recht gefühlt werden muss. Ferner kann der Reim sich nie seines Wesens entäußern, welches doch ursprünglich im Paaren besteht, es muß also in jeder Häl"e eine sich wiederholende Verdoppelung vorkommen, wodurch beide wieder in gleichsam im Ganzen aufeinander reimende Häl"en zerfallen. Somit wären die 4 Glieder des Sonetts ziemlich befriedigend abgeleitet.221

Alles hängt also an der Bewertung dieser „doppelten Wirkungsart des Rei-mes“. Im Sinne der deduktiven Geste erläutert Schlegel diese nun im Fort-gang bis hin zu einer geometrischen Ordnung222, in welcher das Paarende und Trennende sich in scheinbar gleichberechtigtem Spiel miteinander be#nden. Doch scheint Schlegels Entwurf der verbindenden Kra" den Pri-mat einzuräumen, fällt doch dieser im Gegensatz zu der trennenden Kra" das eigentümlich adelnde Attribut „ursprünglich“ zu. So #ndet dieses Pri-

221 August Wilhelm Schlegel, Geschichte der romantischen Literatur, S. 187.222 So #ndet die Korrespondenz zwischen einer Sprache der Poetik und der Mathe-

matik bei Schlegel ihren Ausdruck in solcher Weise: „Folglich steht nun das Paarende zum Trennenden im Verhältnis des Doppelten zum Einfachen, und was wohl zu merken, da die dem Reim als solchem wesentliche Grundzahl 2 ist, im Verhältnis des Quadrats zu seiner Wurzel. Die ganze Zahl der Zeilen zuweilen aber 8 ist die 3. Potenz davon, der Kubus.“ (August Wilhelm Schle-gel, Geschichte der romantischen Literatur, S.  188) Die Begrenzung auf diese dritte Potenz nun #ndet Schlegel schlichtweg in der Dreidimensionalität des Raumes: „Man ist zwar gewohnt, die harmonischen Verhältnisse in der Musik arithmetisch zu betrachten, hier dür"e aber aus Gründen, welche zu entwik-keln uns nötigen würde, auf die innersten Gründe zurückzugehen, die geome-trische Konstruktionsart die angemessene sein, und da leuchtet denn ein, daß wie es in dem arithmetischen Mechanismus unzählige Potenzen geben kann, der geometrischen oder realen wesentlich nur 3 sind, nämlich die Dimensio-nen des Raumes. Nach der Form des Kubus lassen sich nun auch die Quartetts sehr anschaulich konstruieren. Die zuerst gezogene Linie der Länge bestimmt den ganzen Kubus, und ist eine Grundanschauung, da sie nachher bloß mit sich selbst vervielfacht wird.“ (August Wilhelm Schlegel, Geschichte der romanti-schen Literatur, S. 188)

IV Die Unbegri!ichkeit der Form

Page 26: Metapher, Wiederholung, Form. Zu Goethes Unbegrifflichkeiten (2012)

166

mat des Verbindenden seinen Ausdruck in dem Akut auf der Au!ebung der Dissonanz, die Schlegel zuletzt in den abschließenden Terzinen wie folgt verortet:

Weit au"allender ist freilich die Energie des trennenden Prinzips in der ande-ren, auch weit allgemeiner befolgten Anordnung: CDE | CDE | oder auch im 2. Terzett die Stellung der mannigfaltigen möglichen Weisen verändert.223 Denn hier erhalten wir 2 dreizeilige Strophen, in deren jeder kein einziger Reim wiederholt ist; und da sonst Strophen vermöge ihres Begri"s innerhalb reimen, außerhalb aber nicht, so ist es hier gerade umgekehrt. Bei dem ers-ten Terzett muß es dem Ohre vorkommen, als wollte das Gedicht gar reim-los werden, und erst mit der letzten Zeile wird alle Dissonanz in Konsonanz aufgelöst.224

Als läge in dieser „Konsonanz“ der entschädigende Trost für die sich an der „Energie des trennenden Prinzips“ nährende Kra# des Dissonanten, scheint nun alles in dem Maße auf eben diese Konsonanz zuzulaufen, wie sich in Schlegels eigener Sonettpraxis selbst die „Gegensätze“ nicht nur gramma-tisch, sondern ebenso im dramaturgischen Ablauf des Gedichts dem „reinen Ebenmass“ zu subsumieren haben.225 Ist also mit Schlegel „die paarende und trennende Kra# des Reimes […] auch als Gleichheit und Entgegensetzung“226 zu bezeichnen, so wird diese Entgegensetzung zuletzt, so lebendig sie auch deklariert werden mag, durch jene Gleichheit maßen des Anspruchs nach Konstruktion getilgt.

4. Form

Insofern aber nun das Wesen der „Konsonanz“ auf der Tektonik des Reim-schemas beruht, $ndet sich die Konstruktion des Sonetts strukturell auf die Ordnung des Reims selbst zurückgeworfen. Was hier im Lichte der

223 Zuvor war vom Reimschema CDC | DCD | die Rede.224 August Wilhelm Schlegel, Geschichte der romantischen Literatur, S. 189.225 „Im ersten Terzett hingegen wird durch drei unmittelbar folgende verschiedene

Reime eine ungeheure Spannung erregt, und diese dann im 2. stufenweise und nur mit der letzten Zeile erst befriedigend gelöst.“ (August Wilhelm Schlegel, Geschichte der romantischen Literatur, S. 192)

226 August Wilhelm Schlegel, Geschichte der romantischen Literatur, S. 190.

IV Die Unbegri!ichkeit der Form

Page 27: Metapher, Wiederholung, Form. Zu Goethes Unbegrifflichkeiten (2012)

167

impliziten Emphase der verbindenden Wirkungskra! steht, war von Schle-gel bereits an anderer Stelle mit der Rede über jene „wiederholte Paarung sinnlicher Ähnlichkeiten“ auf den Plan gerufen worden, mit welcher er ja noch wenige Jahre zuvor diese Ordnung bezeichnete. Darin aber ist zugleich jene Struktur erneut aufgerufen, die sich der Totalität von Konsonanz als einer Verschmelzung aus dem Wesen der Identität widersetzt. Mag sich die Idee dieser Totalität auch in Schlegels Sprache bezüglich des Sonetts in der Rede von der „großen Universalität der Gattung“227 niederschlagen, so ist doch zugleich des Residuums des Nicht-Identischen in eben jenem Reim ein-gedenk zu bleiben, der auch in der plötzlichen Rede von diesem als Garanten von „Ebenmass“ und „Gleichlaut“228 nicht vollends zu tilgen ist. Denn „an unähnlichen Dingen Ähnlichkeit wahrzunehmen“ hieß ja auch den Prinzi-pien von Nicht-Identität und Unkalkulierbarkeit angemessen Rechnung zu tragen, mit welchen sich jede Form der Wiederholung im Allgemeinen, der Reim aber im Besonderen paart.

Die E"ekte solcher Inkalkulabilität an der Wiederholung machen aber nun auch und gerade in Beziehung auf das Original, also auf den Ursprung, eine jede einzelne Wiederholung zum problematischen Ereignis, weil sie ja vor allem auch den Sachverhalt der prinzipiellen Unanschaubarkeit des ursprünglichen Moments in sich birgt. Dieser kritische Moment ist in sei-ner Wiederholung bekanntermaßen nur entfernt durch das Prinzip der „Ähnlichkeit“ repräsentiert. Dies allerdings macht in keiner Weise die Spra-che, mittels derer versucht wird, ihn zur Anschauung zu bringen, zu einer anschaulichen oder gar zu einer dieser Anschauung gegenüber angemessen begri#ichen. Überraschend ist aber nun, dass Schlegels Entwurf einer Kon-struktion des Sonetts ausgerechnet an jenen Gesetzen partizipiert, denen gerade das Problem solcher Unanschaubarkeit und mit ihm das Problem einer ungewissen Erkenntnis immanent anhänglich ist: nämlich den Geset-zen der Mathematik. Zweifelsohne nämlich $ndet sich darin eine implizite Anspielung auf Kant, der ja diesem Problem stets einen gewichtigen Raum einräumte, insofern mathematische Erkenntnis als – wenngleich formales – Leitbild von Erkenntnis überhaupt operiert. So etwa heißt es ja über diese in der Kritik der reinen Vernun!:

227 August Wilhelm Schlegel, Geschichte der romantischen Literatur, S. 195.228 August Wilhelm Schlegel, Geschichte der romantischen Literatur, S. 193.

IV Die Unbegri"ichkeit der Form

Page 28: Metapher, Wiederholung, Form. Zu Goethes Unbegrifflichkeiten (2012)

168

Sinnliche Anschauung ist entweder reine Anschauung (Raum oder Zeit) oder empirische Anschauung desjenigen, was im Raum und in der Zeit unmittelbar als wirklich, durch Emp!ndung vorgestellt wird. Durch Bestimmung der ers-teren können wir Erkenntnisse a priori von den Gegenständen (in der Mathe-matik) bekommen, aber nur ihrer Form nach, als Erscheinungen; ob es Dinge geben könne, die in dieser Form angeschaut werden müssen, bleibt doch dabei noch ganz unausgemacht. Folglich sind alle mathematische Begri"e für sich nicht Erkenntnisse; außer, so fern man voraussetzt, daß es Dinge gibt, die sich nur der Form jener reinen sinnlichen Anschauung gemäß uns darstellen lassen. Dinge im Raum und der Zeit werden aber nur gegeben, so fern sie Wahrneh-mungen (mit Emp!ndung begleitete Vorstellungen) sind, mithin durch empi-rische Vorstellung.229

An solchen empirischen Vorstellungen aber mangelt es gerade der Mathe-matik, insofern jede Anschauung, die sich auf das Mathematische bezieht, ohne das Element des Sinnlichen auszukommen hat, da sie ja ihrerseits eine „reine“ Wissenscha# darstellt, die operativ bar jedes empirischen Grundes, bar jeder sinnlichen Anschauung aus den formalen Bedingungen des Den-kens herzuleiten ist.

Zum einen liegt dies gemäß Kant daran, dass sie selbst keiner sinnlichen Anschauung bedürfe, weil sie entgegen aller anderen Wissenscha#en eine Erkenntnis fördert, deren Grund allein in der „reinen Anschauung“ zu !n-den sei, nicht aber – und das trennt sie entschieden von der Welt des Man-nigfaltigen – auf der Anschauung des Dinglichen in der Erfahrung.230 Zum anderen aber führt Kants Begri" von einer Mathematik auf eine Frage, die noch bei Schlegel, wenn auch im Ton einer Poetik des Sonetts, von grund-sätzlicherer Bedeutung ist, nämlich auf die Frage nach der Form. Insofern nämlich „die reine Mathematik […] nichts anderes als eine Formenlehre

229 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernun!, B 146f.230 „Es gibt aber reine Grundsätze a priori, die ich gleichwohl doch nicht dem rei-

nen Verstande eigentümlich beimessen möchte, darum, weil sie nicht aus reinen Begri"en, sondern aus reinen Anschauungen (obgleich vermittelst des Verstan-des) gezogen sind; Verstand ist aber das Vermögen der Begri"e. Die Mathema-tik hat dergleichen, aber ihre Anwendung auf Erfahrung, mithin ihre objektive Gültigkeit, ja die Möglichkeit solcher synthetischer Erkenntnis a priori (die Deduktion derselben) beruht doch immer auf dem reinen Verstande.“ (Imma-nuel Kant, Kritik der reinen Vernun!, B 199f.)

IV Die Unbegri"ichkeit der Form

Page 29: Metapher, Wiederholung, Form. Zu Goethes Unbegrifflichkeiten (2012)

169

der reinen Anschauung“231 darstellt, erscheint es legitim zu folgern, dass die Lehre vom Sonett bei Schlegel in entfernter Weise als poetische Variante einer reinen Formenlehre gelten darf, der sich insofern eine reine Anschau-ung angliedert, als das Sonett ja „in höchster Kunstvollendung“ ein „Eben-mass der Gegensätze“ erzeugt. Gemäß der mathematischen Ordnung muss sich dieses Ebenmaß immanent denn auch als ein „reines“, also nicht empiri-sches darstellen. Demnach schimmert noch in Schlegels Ableitung der Ord-nung der beiden Quartette aus der Dreidimensionalität die kantische Rede von einer Form hindurch, zumal ja der Raum zuletzt bei Kant ebenso wie die Zeit nicht als erfahrungsimmanent zu gelten habe, sondern als „reine Form der Anschauung“.232 Das Element der Reinheit, wie es nicht nur direkt in Schlegels eigenem Sonett, sondern ebenso vermittels der deduktiv-mathe-matischen Konstruktion des Sonetts entscheidend au!ritt, steht also grund-sätzlich mit dem der Idee der Form im Bunde. Und so erklärt sich aus der terminologischen Gemengelage, wie sie sich aus diesem Gefüge von Reinheit und Form ergibt, auch jenes Bild im Zuge der Abhandlung des Sonettes, das bei Schlegel im klimaktischen Augenblick der Abhandlung erscheint:

Das Lyrische ist das Wasser der Poesie, man verstehe in dem Sinn, wie Pindar das Wasser das vortre"ichste aller Dinge nennt: das allgemein Flüssige, wor-aus erst alle festere Gestaltung durch Konstruktion hervorgeht. Das Gemüt erscheint in der lyrischen Darstellung wie ein sich ergießender Strom, dessen Bewegung von dem gelindesten Wellenschlagen bis zum schäumenden Wald-bach, ja bis zum tobenden Wassersturz anwachsen kann. Im Sonett hingegen ist aller unbestimmte Fortgang abgeschnitten: es ist eine in sich zurückge-kehrte, vollständige und organisch artikulierte Form.233

Zunächst kommt die mathematische Deduktion des Sonetts mit der Rede von der „Form“ also zu sich selbst, da ja diese Form das Desiderat der Sonett-ordnung selbst bildet. Zugleich aber erscheint von der hier gewählten Meta-phorik der Weg zurück zu Goethe kein weiter mehr zu sein. So steht doch die Dialektik von Bewegung und Stauung des Wassers in Mächtiges Über-raschen bis hin zur konkreten Wortwahl („Wellenschlag“) mit Schlegels Rede vom „unbestimmten Fortgang“ und seiner Abgeschnittenheit durch

231 Immanuel Kant, Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philoso-phie, in: Werke in zehn Bänden, Bd. V, S. 394.

232 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernun!, A 45.233 August Wilhelm Schlegel, Geschichte der romantischen Literatur, S. 193.

IV Die Unbegri"ichkeit der Form

Page 30: Metapher, Wiederholung, Form. Zu Goethes Unbegrifflichkeiten (2012)

170

den Formcharakter des Sonetts in innigstem Bezug.234 Nur zurecht ist darum das Argument vertreten worden, dass Goethes erstes Sonett im Zyk-lus also nicht bloß eine vage Referenz zu Dantes La Vita Nuova darstelle, sondern zuletzt vielmehr „seine Entstehung dem Bild und Gedankengang Schlegels verdankt.“235 Nicht nur handelt Goethe die Semantik des Wassers nämlich in seinem Sonett in frappierend ähnlicher Weise wie Schlegel ab, sondern zugleich erfüllen sich an den Sonetten auch dessen formalistisch rigide Forderungen nach Reimschema und sogar nach durchgehend weibli-chen Versendungen.236

234 Ohne dass Schlegels Abhandlung Erwähnung fände, ist Goethes Sonett in Ana-logie zum Schlegelschen Anspruch einer Poetik mit dem Projekt einer „Poetik des Sonetts“ assoziiert worden. Vgl. dazu !omas Borgstedt, Goethes Sonett „Mächtiges Überraschen“, in: Literaturwissenscha!. Ein Grundkurs, hg. von Helmut Brackert und Jörn Stückrath, Hamburg 1992, S. 206#. Es ist zu ver-muten, dass Goethe während des Besuchs von Zacharias Werner im Dezem-ber 1807 wohl aber von Schlegels Ausführung erfahren haben dür$e, wenn er nicht gar eine schri$liche Version derselben zur Verfügung hatte. In den Parali-pomena der Tag- und Jahreshe!e heißt es: „Mit großer Wahrheit und Kra$ las er vor, wodurch denn seine tre%ichen Sonette noch höhern Werth erhielten und besonders die rein menschlich leidenscha$lichen großen Beifall gewan-nen. Es war das erste Mal seit Schillers Tode, daß ich ruhig gesellige Freuden in Jena genoß; die Freundlichkeit der Gegenwärtigen erregte die Sehnsucht nach dem Abgeschiedenen und der auf ’s neue empfundene Verlust forderte Ersatz. Gewohnheit, Neigung, Freundscha$ steigerten sich zu Liebe und Leidenscha$, die, wie alles Absolute, was in die bedingte Welt tritt, vielen verderblich zu werden drohte. In solchen Epochen jedoch erscheint die Dichtkunst erhöhend und mildernd, die Forderung des Herzens erhöhend, gewaltsame Befriedigung mildernd. Und so war dießmal die von Schlegel früher meisterha$ geübte, von Werner in’s Tragische gesteigerte Sonettenform höchst willkommen. Beson-ders auch sagte sie Riemers geistreich poetischem Talente zu, und ich ließ mich gleichfalls hinreißen, welches auch jetzt noch nicht reuen darf; denn die kleine Sammlung Sonette, deren Gefühl ich immer gern wieder bei mir erneuere, und an denen auch andere gern !eil genommen, schreibt sich aus jener Zeit her.“ (WA I/36, 391f.)

235 Friedhelm Kemp, Das europäische Sonett, Bd. II, S. 87.236 Dazu Schlegel: „Da das Verhältnis der Zeilen vermittelst des Reimes zueinander

das Wesentliche ist, so würde es zweckwidrig sein, die Aufmerksamkeit davon ab auf andere Verhältnisse zu lenken: und deswegen ist die Mischung länge-rer und kürzerer Zeilen verwer&ich. Aus dem Grunde auch die Abwechslung

IV Die Unbegri"ichkeit der Form

Page 31: Metapher, Wiederholung, Form. Zu Goethes Unbegrifflichkeiten (2012)

171

Für die innere Verwandtscha! der Sonette zu Schlegels Ausführungen spricht aber noch viel mehr die emphatische Rede von der Form, wie sie bei Goethe in jenem Motto ihren Ort hat, die dem gesamten Zyklus erstmals im Jahr 1815 vorangestellt ist. Programmatisch nämlich ist zu lesen:

Liebe will ich liebend loben,Jede Form sie kommt von oben. (FA I/2, 250)

Es ist genau dieser Formbegri", an welchem sich auch Schlegels Abhand-lung schon insofern genährt hatte, als sie ihn, vermittelt durch Kant, durch den Versuch in sich aufnahm, das Sonett „mathematisch zu konstruieren“. Mag der strenge Formbegri" Kants und Schlegels bei Goethe auch nur latent am Werk sein, so sind seine Nachwirkungen doch nicht gänzlich zu tilgen. Demnach überrascht es auch nicht, dass das Sonett selbst also zur Stelle wird, an der eine „reine Anschauung“ in der Weise sich ereignet, dass sie ohne Anschauung als einer sinnlichen Erfahrung auskommt, da sie sich ja bloß auf die Form derselben, nicht aber auf die Verfügbarkeit einer dinglichen Anschauung bezieht.

Nun bildet aber die Rede von der Form schon bei Schlegel eine höchst merkwürdige Konstellation, auf dessen Basis das letzte und höchste Moment in Goethes Sonett, nämlich „ein neues Leben“, in neuem Licht lesbar wird. Nach Schlegel war die Form auch als „Organ für den Dichter“237 bestimmt worden und operiert deshalb auch als eine „organisch artikulierte Form“. Auf den Plan gerufen scheint damit schon hier, was bei Goethe aus seiner Latenz heraustritt, nämlich der Übergang ins Reich jener „organischer Gegen-stände“, deren Anfang begri#ich angemessen zu bezi"ern an anderer Stelle, nämlich in der Morphologie, sich als problematisches, weil mangelha!es Pro-jekt herausstellt. Auch deshalb also geht aus der Verbindung von Sonett, Form und Leben eine Ordnung hervor, an der dem blinden Fleck der Morpholo-gie, nämlich dem Augenblick des Entspringens dieses Lebens selbst, ein Ort zugewiesen scheint. Dieser Ort ist die Form, ja er ist – gemäß dessen, dass ursprüngliches Sprechen ein dichterisches ist – die Form des Sonetts selbst.

der männlichen und weiblichen Reime, welche ja schon eine Verschiedenheit im Maße der Zeilen macht. Am vorzüglichsten ist der weibliche Reim, als der vollständige, welche den Gleichlaut der akzentuierten Silbe in der nicht-akzen-tuierten allmählich aushallen läßt.“ (August Wilhelm Schlegel, Geschichte der romantischen Literatur, S. 190f.)

237 August Wilhelm Schlegel, Geschichte der romantischen Literatur, S. 186.

IV Die Unbegri!ichkeit der Form

Page 32: Metapher, Wiederholung, Form. Zu Goethes Unbegrifflichkeiten (2012)

172

5. Morphé

Von einer solchen Rede über die Form führt die Spur wiederum schon früh latent ins Feld der Morphologie. Schon bei Aristoteles nämlich heißt es in der Metaphysik über diese Form:

Es ist also o!enbart, daß die Form (eidos), oder wie man sonst die Gestaltung am sinnlich Wahrnehmbaren (ten en to aistheto morphen) nennen soll, nicht wird, und daß es keine Entstehung derselben gibt, und daß ebensowenig das Sosein entsteht […].238

Darin bringt die noch an der platonischen Ideenlehre partizipierende Rede von der Form als eidos also zugleich auch dasjenige ans Licht, was schon von der buchstäblichen Ebene her als Kern eines Projekts der Morphologie zu gelten hat, nämlich die Lehre von einer morphé, also die Lehre von der Gestaltung bzw. von der Gestalt selbst. Diese nämlich bezieht sich als ein „sinnlich Wahrnehmbares“ aisthetisch auf ein Dingliches. Der Einblick aber in diese Konstellation von eidos und morphé erö!net zugleich den Blick dar-auf, dass jene Morphologie, die wiederum bei Goethe ja selbst als „die Lehre von der Gestalt“ bezeichnet wird, mit einer Lehre von der Form in intimer Beziehung steht, wie sie im Motto des Sonettzyklus heraufbeschworen wird. Aus dieser Verbindung von eidos und morphé erklärt sich aber indirekt auch, warum es gerade eben dieser Formlastigkeit des Sonetts anhängt, dass sie zu eben jener Frage zurückführt, deren Stellung von so grundsätzlicher Bedeu-tung auch in der Morphologie ist, nämlich zu der Frage nach der Entstehung dessen, was in der letzten Zeile von Mächtiges Überraschen als ein „von daher Entsprungenes“ erscheint: die Entstehung eines „neuen Lebens“ selbst.

Ist indes im morphologischen Zusammenhang bei Goethe von einer Gestalt die Rede, so schimmert darin eine Doktrin von der Form hindurch, an der die Idealität der eidetischen Form umgeschlagen ist in die Versatili-tät einer organischen Gestalt (morphé). So nämlich bemerkt Goethe in den Ideen über organische Bildung (1806/07):

Man "ndet daher in dem Gange der Kunst, des Wissens und der Wissenscha# mehrere Versuche eine Lehre zu gründen und auszubilden, welche wir die Morphologie nennen möchten. Unter wie mancherlei Formen diese Versuche erscheinen, davon wird in dem geschichtlichen Teile die Rede sein.

238 Aristoteles, Metaphysik, übers. von Hermann Bonitz, hg. von Horst Seidl, 2 Bde., Hamburg 1980, Bd. II, S. 33.

IV Die Unbegri!ichkeit der Form

Page 33: Metapher, Wiederholung, Form. Zu Goethes Unbegrifflichkeiten (2012)

173

Der Deutsche hat für den Komplex des Daseins eines wirklichen Wesens das Wort Gestalt. Er abstrahiert bei diesem Ausdruck von dem Beweglichen, er nimmt an, daß ein Zusammengehöriges festgestellt, abgeschlossen und in sei-nem Charakter !xiert werden kann.Betrachten wir aber alle Gestalten, besonders die organischen, so !nden wir, daß nirgend ein Bestehendes, nirgend ein Ruhendes, ein Abgeschlossenes vor-kommt, sondern daß vielmehr alles in einer steten Bewegung schwanke. (FA I/24, 391f.)

Das Statische also, das sich im Begri" der Gestalt noch an der Vorstellung einer vermeintlich festen Form nährt, fällt im Angesicht des Organischen der Ordnung jenes Schwankens anheim, woraus sich in Mächtiges Über-raschen wiederum ja auch jene immer schon latente Störung der Ruhe des „Sees“ erklärt. Denn solche Ruhe scheint erloschen, insofern sie gerade mit jenen „Gestalten“ in Berührung tritt, die ihrerseits nun entgegen der Vor-stellung von einer rigiden Stabilität des Formbegri"es in die Erkenntnis einmündet, dass nun eben „nirgend ein Bestehendes, nirgend ein Ruhen-des, ein Abgeschlossenes vorkommt, sondern daß vielmehr alles in einer steten Bewegung schwanke.“ So nahen sich wörtlich also wieder einmal jene „schwankende Gestalten“, deren Nahen nun eben bei Goethe nicht nur eines ohne festen Grund, sondern ebenso eines ohne Ankun# darstellt. Darin !n-det aber zuletzt eben auch die verfehlte Ankun# eines Erkenntnisprozesses ihren Ausdruck, der nicht bei dem Ereignis angelangt, dessen Erfassen durch Anschauung und Begri" er doch anstrebt. Einer Morphologie wiederum, die ja nicht nur den Ursprung des Lebens, sondern zuletzt auch ihren eigenen Ursprung begri$ich darzustellen versucht, gereicht damit aber gerade das zutiefst Eigene, nämlich die morphé, zur Gefahr, weil diese als schwankende das morphologische Projekt als ein begri$iches von innen heraus angrei# und ihres Objekts enteignet. Darum auch sei mit Goethe gerade eine solche Gestalt, die am Schwanken partizipiert, von dem Projekt auszuschließen:

Wollen wir also eine Morphologie einleiten, so dürfen wir nicht von Gestalt sprechen; sondern wenn wir das Wort brauchen, uns allenfalls dabei nur die Idee, den Begri" oder ein in der Erfahrung nur für den Augenblick Festgehal-tenes denken. (FA I/24, 392)

Es erklärt sich aber bereits an der Praxis einer Rede vom Fortgep%anzten die Fragilität dieses Grundsatzes, einer solchen „Gestalt“ zu entgehen. Zwar

IV Die Unbegri!ichkeit der Form

Page 34: Metapher, Wiederholung, Form. Zu Goethes Unbegrifflichkeiten (2012)

174

bleibt der Rückzug auf „Idee“ und „Begri! “, doch zeigte sich ja schon bei Aristoteles in der Verknüpfung von eidos und morphé die Unmöglichkeit, das Wirken einer organischen Gestalt, also auch deren Schwanken, zu til-gen. Und wie es darum um die Möglichkeit bestellt ist, „ein in der Erfah-rung nur für den Augenblick Festgehaltenes“ zum Verweilen zu bringen, dekliniert zuletzt Goethe höchstselbst in der seinen Faust durchwitternden Geste durch, solchen „Augenblick“ zur dauernden Verweilung zu zwingen: Er schwindet.

6. Die wolkige Stelle

Der Rückzug auf die Form als den Ort, an dem ein Entspringen selbst nicht nur an seinem E!ekt zu erfassen, sondern dieses Entspringen vermeintlich sich selbst zur unmittelbaren Darstellung zu bringen vermag, erscheint sich also mit der Geste des Schwankens dem Moment seiner Bannung zu ver-weigern. Dies aber steht zuletzt auch dem Gelingen begri"icher Sprache im Wege, die der Überwindung der Unmöglichkeit gleichkäme „ein neues Leben“ als jetztzeitlich Entspringendes und nicht als immer schon längst Entsprungenes zu fassen. So tritt es am Ende in gleicher Weise in Erschei-nung wie es bei der Rede von einem „von daher Entsprungenen“ in dem Ver-such der Fall ist, in dem Begri"ichkeit darin fehlschlägt, eine aus der Taufe zu hebende Morphologie zu begründen und zugleich diese Begründung angemessen darzustellen. Jenes Leben nämlich ist nicht nur Ergebnis einer konstruierten Konstellation der Form, sondern sieht sich darin zuletzt auf die schwierige Frage verwiesen, wie diese Form – darin gleich ob eidos und morphé – selbst ihren Ursprung anzuzeigen vermag.

Hatte Aristoteles die Frage nach dem Ursprung der Form noch lapidar mit der schlichtweg am Metaphysischen sich nährenden Geste abtun können, „daß es keine Entstehung derselben gibt“, so sieht sich das kausalbegri"iche Denken der Neuzeit auf die Notwendigkeit zurückgeworfen, eine Herkun# selbst noch der Form zu bestimmen. Denn auch die Form ist diesem neu-zeitlichen Denken als ein Geschichtliches ihrer Kritik zu unterziehen. Ein Rückfall auf die Idee eines metaphysischen Soseins, dessen Legitimität sich bloß aus sich selbst schöp#, erscheint darum umso zweifelha#er. So hat sich auch Goethe der Frage nach dem Ursprung der Form zu stellen und er tut dies in eben jenem Motto, das er seinen Sonetten voranstellt. Noch einmal:

IV Die Unbegri!ichkeit der Form

Page 35: Metapher, Wiederholung, Form. Zu Goethes Unbegrifflichkeiten (2012)

175

Liebe will ich liebend loben,Jede Form sie kommt von oben (FA I/2, 250)

Die Angabe des Ursprungs erscheint hier aber so vage wie die am Schwan-ken gebrochene Ruhe des Sees im ersten Sonett der Sammlung. Denn der Hinweis auf solche Herkun! „von oben“, sei er auch nicht mit dem aristote-lischen Rückzug auf die Geschichtslosigkeit der Form zu vergleichen, weiß diese Frage doch nicht anders zu beantworten als mit dem Verweis auf ein latent Abwesendes, irgendwie doch Göttliches, Metaphysisches. Doch fällt das Motto zurück auf die Ordnung des Sonetts selbst. Denn Entstehung und Ursprung haben eine Stelle in diesem Sonett. Noch einmal ist es Schlegel, der den Ort bestimmt, an dem ein „Neues“ nicht bloß wie in der abschließen-den Wendung von Mächtiges Überraschen als längst Entsprungenes plötzlich erscheint, sondern in der dieses Neue ins Gedicht selbst gelangt:

Ebenso vernimmt das Ohr einzig mit dem Reim der ersten beiden Zeilen etwas Neues (nachher ist alles Wiederkehr der Gleichlaute) und diese geben dem übrigen seine Bestimmung […]239

Mit Schlegel also "ndet sich das Neue wieder im Schatten des Reims und damit abermals ganz im Sinne Kierkegaards als Aus#uss nicht eines einma-ligen unvorgänglichen Ursprungs, sondern vielmehr als nachzeitiger E$ekt einer Figur der Wiederholung. Mit diesem Verweis auf die „ersten beiden Zeilen“ und damit der Etablierung eines Systems von Reim und Wiederho-lung führt die Spur zurück auf Goethes Sonett selbst. Ist „etwas Neues“ mit Schlegel nicht am Ende des Sonetts zu suchen, wie Goethes "nale Geste sug-gerieren mag, so "ndet sich das Sonett und mit ihm auch die Form dessel-ben in der Frage nach der Angabe seines Ursprungs plötzlich auf jene beiden ersten Zeilen zurückgeworfen. Diese aber wurden im Zuge einer teleologi-schen Lektüre, die mit dem Verweis auf die eigene Unweigerlichkeit immer bloß gierig auf „ein neues Leben“ zustrebt, geradezu Opfer eines „mächtigen Überraschens“ selbst. In diesem nämlich ist nicht nur die Semantik der sur-prise als dem Einfall des Plötzlichen am Werk, sondern auch die eines leicht-fertigen, übereilten Hinüberraschens und -rauschens in Bezug auf die eigent-lich kritische Stelle des Gedichts, nämlich jene beiden ersten Zeilen, durch welche nach Schlegel gerade „etwas Neues“ ins Gedicht gelangt. Bei Goethe nun heißen sie bekanntermaßen:

239 August Wilhelm Schlegel, Geschichte der romantischen Literatur, S. 188.

IV Die Unbegri!ichkeit der Form

Page 36: Metapher, Wiederholung, Form. Zu Goethes Unbegrifflichkeiten (2012)

176

Ein Strom entrauscht umwölktem FelsensaaleDem Ozean sich eilig zu verbinden;

Die Frage nach dem Ursprung – sei es der Ursprung des Lebens oder der Form – sieht sich darin also auf die Frage nach dem Ursprung der Bewegung des Wassers zurückfallen, durch welche die narrative Dynamik des Gedichts ja eigentlich erst ins Rollen gerät. Diese Bewegung aber stellt sich als eine sol-che dar, die „unau!altsam fort zu Tale“ dringt und schon darin strukturell an der Ordnung jenes Fortgep"anzten partizipiert, die sich der Morpholo-gie als immanent erwies. In dieser Bewegung selbst aber fehlt aller Anfang, aller Ursprung, aller Grund als singuläres Ereignis. Denn schon mit einer Ordnung des „fort“ ist ein jeder einzelne „Grund zu Gründen“ geworden und damit aus der Würde seiner Singularität gerissen, die doch jedes abso-lute Ereignis, jeden Ursprung im höheren Sinn attribuierte. Die Bewegung ihrerseits aber ist im Verhältnis zu diesem Ursprung immer schon entfernte, weil längst „entrauscht“.

Die Angabe des eigentlichen Moments der Entquellung aber führt in buchstäblichster Weise auf eine „wolkige Stelle“ ganz ähnlich derjenigen, wie sie schon Benjamin in Ka#as Prosa aus$ndig machte.240 Dass sie bei Goethe in der Rede von „umwölktem Felsensaale“ aber schon mehr als hundert Jahre vor Ka#a und Benjamin am Werk ist, zeigt an, dass solcher „Felsensaale“ in der Umwölkung in eben der Weise am Projekt von Undarstell- und Unbe-nennbarkeit partizipiert, wie es in Bezug auf Ka#a und Benjamin schon verdeutlicht wurde.241 Denn gerade in dieser wolkigen Stelle im Gedicht

240 Nach Benjamin ist solche „wolkige Stelle“ ihrerseits gebunden an das Moment einer Entstehung, sei sie doch entschieden an der Hervorbringung von Ka#as „Dichtung“ selbst beteiligt. Benjamin schreibt dementsprechend mit Hinblick auf Ka#as Vor dem Gesetz: „„Bereitwillig wie ein Kellner“ erscheint dieser Abra-ham. Etwas war immer nur im Gestus Ka#as faßbar. Und dieser Gestus, den er nicht verstand, bildet die wolkige Stelle der Parabeln. Aus ihm geht Ka#as Dichtung hervor. Es ist bekannt, wie er mit ihm zurückhielt.“ (Walter Benjamin, Franz Ka!a. Zur zehnten Wiederkehr seines Todestages, in: Gesammelte Schrif-ten, Bd. II, S. 427)

241 „Wenn Benjamin von der wolkigen Stelle im Innern dieser Parabel spricht, so rückt diese Reminiszenz an diejenige Stelle von Ka#as Text, wo von dem Inne-ren des Gesetzes die Rede ist, die Parabel in die Nähe des Gesetzes selbst: die wolkige Stelle in der Parabel ist das Gesetz, das seine Darstellung verbietet, aber zugleich ist es selber dies verbotene Gesetz: ist also das verbotene und das

IV Die Unbegri"ichkeit der Form

Page 37: Metapher, Wiederholung, Form. Zu Goethes Unbegrifflichkeiten (2012)

177

kommt die brüchige Vagheit einer Ordnung „von oben“ zu sich selbst, der ja eben die Form entstammt, die sich entgegen eines metaphysischen Form-begri!s der Antike hier der Frage nach ihrem Ursprung ebenso zu entreißen weiß wie jenes „neue Leben“, das sich vermeintlich aus ihr schöp". Ursprung einer Form kann jener „Felsensaale“ aber nur insofern sein, als er eben als „umwölkter“ bezi!ert wird, weil gerade in dieser Umwölkung seine Undar-stellbarkeit ihren Ausdruck hat. Wolken selbst nämlich sind es ja, die nicht nur Teil des Wasserkreislaufs sind, an dem sich die Bewegung des Gedichts innerlich speist, sondern Wolken sind es zugleich, die als Teil dieses Kreis-laufes der Unmöglichkeit Vorschub leisten, an diesem einen absolut ersten und anfänglichen Moment zur Anschauung zu bringen.

Aus dem Mangel an Anschauung bezüglich dieser wolkigen Stelle ergibt sich aber nun nicht nur in Blumenbergs Nomenklatur die Notwendigkeit eines „Aschauungsverzichts“, sondern zugleich ist an „die #üchtige Erschei-nung ‚Wolke‘“242 das Dilemma einer Sprache geknüp", die an der Bestim-mung des Gegenstands, d.h. an der Begri!werdung des Objektiven scheitert. Goethe selbst hatte ja den Mangel der Sprache im Verhältnis zu wolkigen Dingen eingestanden, wenn er am 28. Mai 1820 in seinem Meteorologischen Tagebuch notiert:

Diese vier Hauptbestimmungen, Zirrus, Kumulus, Stratus und Nimbus, habe ich unverändert beibehalten, überzeugt, daß im Wissenscha"lichen über-haupt eine entschiedene lakonische Terminologie, wodurch die Gegenstände gestempelt werden, zum größten Vorteil gereiche. Denn wie ein Eigenname den Mann von einem jeden anderen trennt, so trennen solche Termini tech-nici das Bezeichnete ab von allem Übrigen. (FA, I/25, 233)

Trotz der Beibehaltung einer vermeintlich scharfen und genau abgrenzenden klassi$katorischen Rhetorik, die Goethe an dieser Stelle von Luke Howard

verbietende und also das sich selbst und jedes Selbst verbietende Gesetz, das Gesetz als Entzug des Gesetzes, ein Gesetz ohne Gesetz. Sein Innerstes wird in diesem Zug zur absoluten Exteriorität, zum Exil des Gesetzes aus dem Gesetz; dem Exil der Parabel aus ihrer traditionellen und, da es eine andere nicht gibt, aus jeder Funktion. Wolkige Stelle heißt also Verbot noch (der Darstellung) des Verbots und also Unmöglichkeit noch des Heißens, der Benennung, der Sprache.“ (Werner Hamacher, Die Geste im Namen. Benjamin und Ka%a, in: Entferntes Verstehen. Studien zu Philosophie und Literatur von Kant bis Celan, Frankfurt a.M. 1998, S. 287)

242 Marianne Schuller, Über Wolken. Zu Goethe, S. 252.

IV Die Unbegri!ichkeit der Form

Page 38: Metapher, Wiederholung, Form. Zu Goethes Unbegrifflichkeiten (2012)

178

übernimmt, kündigt sich in der Rede von einer „lakonischen Terminologie“ gerade auch jenes Moment der Unschärfe an, das ja zuletzt der wolkigen Stelle selbst höchsteigen ist. Und als sei in allem Wolkigen eben auch immer das Moment der Undarstellbarkeit am Werk, geht aus der Latenz seiner sol-chen „lakonischen“ Ungenauigkeit des Sprachlichen das Eingeständnis her-vor, dass sich im Versuch einer Klassi!zierung dieses Wolkigen im Mangel sprachlicher Repräsentierbarkeit immer auch die Lücke eines unbegreifbaren, ja unbegri"ichen Zwischenraums erö#net. Goethe nämlich schreibt weiter:

Die Zwischen-Erscheinungen dagegen, welche Howard durch Verbindung jener drei Benennungen bezeichnet, habe ich nicht gebraucht, auch nicht übersetzt, sondern sie nach ihrem Vorkommen und Erscheinen jedes Mal angedeutet und beschrieben, weil die Mannigfaltigkeit so groß ist, daß solche zu bestimmen keine Terminologie vermag und nur die Einbildungskra$ mehr verwirrt als ihr nachzuhelfen. […] (FA, I/25, 233)

Es !ndet sich das Problem der Anschauung damit aber nicht nur von Neuem auf solche „Einbildungskra$“ zurückverwiesen, die sich ja ihrerseits an der gleichen Problematik von Undarstellbarkeit misst. Vielmehr ist der Praxis, also der Anschauung selbst ihre eigene Tilgung latent. Denn, so heißt es „lakonisch“:

Der Einsichtige, dem es um Anschauung und nicht um Worte zu tun ist, wird die Schwierigkeit in der Praxis selbst gar leicht entdecken. (FA I/25, 233)

Diese „Schwierigkeit“ nämlich ist ein sich am Mangel der Anschauung näh-render Mangel am Begri#, d.h. sie ist das Dilemma der Unbegri"ichkeit einer Sprache, die sich des Dings nicht zu bemächtigen versteht.

Goethe wusste um die Nähe solcher unbegri"ichen Unschärfe zu einer Ordnung des Schwankens, wie sie ja nicht nur dem Anfang des Faust, son-dern zuletzt auch der Ruhe des Sees eignet, welche vermeintlich die Quelle jener Konstellation bildet, aus der das „neue Leben“ entspringt.243 Denn in dieser Ruhe ist zuletzt noch und immer wieder auch die Bewegung des Wassers am Werk, die in ein „fort“ gerichtet ist, also auch in ein Wegsein im

243 Vgl. dazu Goethes Brief an Zelter vom 4. März 1829, in dem es heißt: „Das Stu-dium der Witterungslehre geht, wie so manches Andere, nur auf Verzwei%ung hinaus. Die ersten Zeilen des Faust lassen sich auch hier vollkommen anwen-den.“ (HA Briefe, IV, 321f.)

IV Die Unbegri!ichkeit der Form

Page 39: Metapher, Wiederholung, Form. Zu Goethes Unbegrifflichkeiten (2012)

179

Wertherschen Sinne nicht das Rauschen selbst, sondern immer schon das Entrauschen antreibt, mit dem es sich buchstäblich an jene Ordnung von Entfernen und Entsetzen angliedert, die nicht nur die Tektonik der Wahl-verwandtscha!en, sondern auch und gerade das System des Reims im zweiten Teil des Faust prägt.

Am Reimsystem nährt sich nämlich nicht nur das erotische Moment einer Sprache zwischen Faust und Helena, sondern gemäß Schlegel eben auch – und hier schließt sich der Kreis ganz wie der Kreislauf des Wassers selbst – die Form des Sonetts. Denn wie all jene anderen Ordnungen, die Goethe in je verschiedener Weise in seinem Werk entwir!, vermag diese Form ihre eigene wolkige Stelle weder zu leugnen noch aufzuheben. So bricht sich an dieser wolkigen Stelle die Möglichkeit nicht nur den Ursprung von Leben wie auch von Form anzugeben, sondern ihn zuletzt in ihrer Singularität als „Grund“ begri"ich zu fassen, ja ihn sogar in einen Namen zu überführen, der nicht bloß wie jener zweite Name Eduard – „wie ein Eigenname den Mann von einem jeden anderen trennt“ – die Di#erenz bezi#ert, sondern höchstselbst das Ding, den Gegenstand, das Ereignis, den Menschen oder gar das Leben selbst unmittelbar zur Erscheinung, ja zur Anschauung brächte.

Partizipiert ein solcher Name aber bloß am System des Di#erenten, so ist er in diesem Sinne immer ein falscher und stempelt so die Erkenntnis, die sich auf ihm gründete, als eine latent verfehlte ab. Richtet sich diese Erkenntnis nun aber nach den Dingen des Lebens und denen der Entstehung, so führt sie in jener Weise in das Feld der Metapher, wie es in Goethes Versuch einer Begründung der Morphologie der Fall ist. Hier wie dort nämlich tre#en sich das Wesen von Unbenennbarkeit, Unbegri"ichkeit und Metapher.244 Denn

244 Vgl. dazu noch einmal Werner Hamacher: „Nun muß aber das Gesetz der wolki-gen Stelle auch für die Rede von der „Wolke“ und die Struktur ihres Heißens gel-ten – anders wölkte sie sich nicht ins Gesetz –, und also „heißt“ wolkige Stelle, daß sie nicht heißen, nicht benennen und bedeuten kann. Sie ist nicht Meta-pher für etwas anderes, sondern für die Unmöglichkeit der Metapher selbst […].“ (Entferntes Verstehen, S. 287) Bei Goethe nun trägt noch das Umtänzeln des Namens „Herzlieb“ in Charade, dem letzten Gedicht des Sonettzyklus, die Spur dieser Unmöglichkeit von Heißen, Nennung und damit auch Bedeutung im Sinne einer gelungenen Erkenntnis desjenigen Dinges, das benannt wäre:

Zwei Worte sind es, kurz, bequem zu sagen, Die wir so o! mit holder Freude nennen, Doch keineswegs die Dinge deutlich kennen, Wovon wir eigentlich den Stempel tragen. (FA I/2, 260)

IV Die Unbegri"ichkeit der Form

Page 40: Metapher, Wiederholung, Form. Zu Goethes Unbegrifflichkeiten (2012)

180

auch das ist der „umwölkte Felsensaale“ als wolkige Stelle im Gedicht: Er stellt, ganz wie im Fortgep!anzten der Morphologie, die Etablierung einer undurch-dringbaren Ordnung der Metapher selbst dar wie er zugleich als Metapher an dem Verlust von Anschauung und Unbegri"ichkeit teilhat, die solche Dar-stellung doch eigentlich verunmöglicht. Die Signatur der Exzentrizität der sprachlichen Partikel um zeigt nämlich zuletzt wohl, darin ein spätes Echo der beim frühen Goethe noch emphatischen Apostrophe „Umschwebt mich, ihr Musen“ aus Wandrers Sturmlied bildend, die Konstellation eines unmöglichen Begri#s an. Dieser Begri# nämlich gelangt entgegen etwa jener berühmten Husserlschen Formel nicht „zurück zu den Dingen selbst“, sondern schwebt bloß um die Dinge herum. In seinem Schwanken entzieht sich die kritische Stelle, an der in Mächtiges Überraschen ein Anfang jener Bewegung des Was-sers begri"ich zu markieren wäre, allen Versuchen der Anschauung und damit auch der Möglichkeit des Begri#s, der sie selbst so umschwebt wie die Wolken jenes Vakuum des Felsenaales. Es ist dieses Vakuum, in dem sich die Leerstelle einer Erkenntnis bildet, in welcher das Residuum von Unbegri"ichkeit nicht zu tilgen, ihr metaphorisches Gewand nicht abzustreifen ist. So bleibt also, trotz aller Stauung und Brechung des Wassers die Spur jenes „fort“ am Werk, die – gleich ob in Gestalt der Ordnung von Metapher, Wiederholung, Reim oder eben von Form – wie eine schier unauslöschliche Spur in das Werk Goe-thes hineinragt, hinter die keine Erkenntnis zurückfallen darf, insofern sie sich zu einem Ding, einem Ereignis, einem Menschen oder gar dem Leben selbst verhält. Jenseits dessen, so wusste Goethe bekanntermaßen selbst, bleibt indes einzig ein Wünschen im Reich des Unbegri"ichen:

Das Wahre, mit dem Göttlichen identisch, läßt sich niemals von uns direkt erkennen, wir schauen es nur im Abglanz, im Beispiel, Symbol, in einzelnen und verwandten Erscheinungen; wir werden es gewahr als unbegrei!iches Leben und können dem Wunsch nicht entsagen, es dennoch zu begreifen. (FA I/25, 274)

IV Die Unbegri!ichkeit der Form