Prof. Dr. W. Wohlers Nebenstrafrecht (HS 2011) 1 Masterprüfung, Nebenstrafrecht 12. Januar 2012 A. Aufgabe 1 (ca. 55 %) Als Anton an einem verschneiten Morgen verschlafen hat, entschliesst er sich, um schneller zur Arbeit zu gelangen, nicht mit dem öffentlichen Verkehr zur Arbeit zu fahren, sondern seinen Wagen zu benutzen. Anton parkt sein Fahrzeug jeweils in der Nähe der Wohnung auf öffentlichen Parkplätzen, weshalb die Scheiben im Winter über Nacht mit Eis und Schnee bedeckt werden. Da Anton wenig Zeit hat, kratzt er nur einen kleinen Teil der schnee‐ und eisbedeckten Frontscheibe auf der Fahrerseite frei und fährt so durch den morgendlichen Berufsverkehr ohne Zwischenfälle zur Arbeit. Da dies morgens so gut funktioniert hat, kratzt Anton nach Feierabend ebenfalls wieder nur ein kleines Guckloch in die Frontscheibe. Auf der Heimfahrt bemerkt er einen von rechts herkommenden Fussgänger, welcher die Strasse bei einem Fussgängerstreifen überquert, zu spät. Der Fussgänger wird von Antons Fahrzeug erfasst, hat aber Glück und erleidet nur einige Prellungen und Schürfungen. Da Anton Angst vor einer Strafverfolgung hat, fährt er davon, nachdem er gesehen hat, dass der Fussgänger wieder von alleine aufgestanden ist, und er deshalb davon ausgeht, dass der Fussgänger jedenfalls nicht schwer verletzt ist. Strafbarkeit von Anton? Hinweis: Allfällig erforderliche Strafanträge sind als gestellt zu erachten. B. Aufgabe 2 (ca. 25 %) Der Drogenhändler Pablo unterbreitet Gustav den Vorschlag, von Zürich via Madrid nach Buenos Aires zu reisen, um von dort aus für einen Kurierlohn von CHF 10'000 ein Kilogramm reines Kokain nach Madrid zu transportieren. Gustav ist seit kurzem regelmässiger Heroin‐Konsument und steckt deswegen in finanziellen Schwierigkeiten. Da er seinem Dealer Pablo sowieso noch CHF 1'800 schuldet und dringend Geld für seinen Konsum benötigt, willigt er ein. Für die Flugreise erhält Gustav von Pablo einen Vorschuss von CHF 900. Bereits in Madrid wird Gustav von José, einem Mittelsmann von Pablo, mitgeteilt, dass er nicht wie geplant nach Buenos Aires, sondern nach Rio de Janeiro reisen werde. Dort müsse er ein Kilogramm Kokain schlucken, um die Betäubungsmittel anschliessend nach Madrid zu transportieren. Das Flugticket sowie ca. Euro 1'500 erhält Gustav vom Mittelsmann José in Madrid. In Rio de Janeiro beschliesst Gustav abredewidrig möglichst schnell in die Schweiz zurückzukehren. In der Folge fliegt er ohne Betäubungsmittel nach Genf zurück. Strafbarkeit von Gustav? Hinweis: Allfällig erforderliche Strafanträge sind als gestellt zu erachten.
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Masterprüfung, Nebenstrafrecht 12. Januar 201200000000-303e-5b99-0000-00005dbcdf89/... · schuldet und dringend Geld für seinen Konsum benötigt, willigt er ein. Für die Flugreise
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Prof. Dr. W. Wohlers Nebenstrafrecht (HS 2011)
1
Masterprüfung, Nebenstrafrecht
12. Januar 2012
A. Aufgabe 1 (ca. 55 %)
Als Anton an einem verschneiten Morgen verschlafen hat, entschliesst er sich, um schneller zur Arbeit zu gelangen, nicht mit dem öffentlichen Verkehr zur Arbeit zu fahren, sondern seinen Wagen zu benutzen. Anton parkt sein Fahrzeug jeweils in der Nähe der Wohnung auf öffentlichen Parkplätzen, weshalb die Scheiben im Winter über Nacht mit Eis und Schnee bedeckt werden. Da Anton wenig Zeit hat, kratzt er nur einen kleinen Teil der schnee‐ und eisbedeckten Frontscheibe auf der Fahrerseite frei und fährt so durch den morgendlichen Berufsverkehr ohne Zwischenfälle zur Arbeit.
Da dies morgens so gut funktioniert hat, kratzt Anton nach Feierabend ebenfalls wieder nur ein kleines Guckloch in die Frontscheibe. Auf der Heimfahrt bemerkt er einen von rechts herkommenden Fussgänger, welcher die Strasse bei einem Fussgängerstreifen überquert, zu spät. Der Fussgänger wird von Antons Fahrzeug erfasst, hat aber Glück und erleidet nur einige Prellungen und Schürfungen. Da Anton Angst vor einer Strafverfolgung hat, fährt er davon, nachdem er gesehen hat, dass der Fussgänger wieder von alleine aufgestanden ist, und er deshalb davon ausgeht, dass der Fussgänger jedenfalls nicht schwer verletzt ist.
Strafbarkeit von Anton?
Hinweis: Allfällig erforderliche Strafanträge sind als gestellt zu erachten.
B. Aufgabe 2 (ca. 25 %)
Der Drogenhändler Pablo unterbreitet Gustav den Vorschlag, von Zürich via Madrid nach Buenos Aires zu reisen, um von dort aus für einen Kurierlohn von CHF 10'000 ein Kilogramm reines Kokain nach Madrid zu transportieren. Gustav ist seit kurzem regelmässiger Heroin‐Konsument und steckt deswegen in finanziellen Schwierigkeiten. Da er seinem Dealer Pablo sowieso noch CHF 1'800 schuldet und dringend Geld für seinen Konsum benötigt, willigt er ein. Für die Flugreise erhält Gustav von Pablo einen Vorschuss von CHF 900. Bereits in Madrid wird Gustav von José, einem Mittelsmann von Pablo, mitgeteilt, dass er nicht wie geplant nach Buenos Aires, sondern nach Rio de Janeiro reisen werde. Dort müsse er ein Kilogramm Kokain schlucken, um die Betäubungsmittel anschliessend nach Madrid zu transportieren. Das Flugticket sowie ca. Euro 1'500 erhält Gustav vom Mittelsmann José in Madrid. In Rio de Janeiro beschliesst Gustav abredewidrig möglichst schnell in die Schweiz zurückzukehren. In der Folge fliegt er ohne Betäubungsmittel nach Genf zurück.
Strafbarkeit von Gustav?
Hinweis: Allfällig erforderliche Strafanträge sind als gestellt zu erachten.
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C. Aufgabe 3 (ca. 20 %)
Peter verwaltet einen grösseren Wohnblock, in dem wie üblich mehrere Wohnungen leer stehen. Omar, äthiopischer Staatsangehöriger, der sich für eine dieser Wohnungen interessiert, klärt Peter während der Wohnungsbesichtigung darüber auf, dass seine Aufenthaltsbewilligung abgelaufen sei und er deshalb Diskretion gegenüber den Behörden wünsche. Peter stört sich nicht daran und vermietet Omar die Wohnung zu einem marktkonformen Mietzins für längere Zeit.
Strafbarkeit von Peter?
Hinweis: Gehen Sie davon aus, dass zwischen der Schweiz und Äthiopien keine spezifischen völkerrechtlichen Verträge bestehen, welche den Aufenthaltsstatus betreffen.
Hinweis: Allfällig erforderliche Strafanträge sind als gestellt zu erachten.
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Nebenstrafrecht: Musterlösung
Fall 1: Strafbarkeit von Anton?
Punkte
Erster Sachverhaltsabschnitt: Fahrt zur Arbeit
I. Strafbarkeit gemäss Art. 90 Ziff. 2 SVG (grobe Verletzung der
Verkehrsregeln)
Anton (A) könnte sich aufgrund der Fahrt zur Arbeit gemäss Art. 90
Ziff. 2 SVG strafbar gemacht haben, indem er ein Fahrzeug führte,
dessen Scheiben grösstenteils mit Schnee und Eis bedeckt waren.
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1. Objektiver Tatbestand
Täter kann jeder Strassenbenützer sein.
A hat ein Motorfahrzeug auf einer dem öffentlichen Verkehr
dienenden Strasse geführt (Art. 1 Abs. 2 SVG).
Die Tathandlung besteht in der groben Verletzung einer
wichtigen Verkehrsvorschrift, wodurch eine ernstliche Gefahr
für die Sicherheit anderer hervorgerufen wird. Nach der
bundesgerichtlichen Rechtsprechung muss der Täter dabei
eine „wichtige Verkehrsvorschrift in objektiv schwerer Weise“
(BGer vom 16.1.2009, 6B_672/2008, E. 1.1) missachten sowie
die „Verkehrssicherheit ernstlich gefährden“ (BGer vom
16.1.2009, 6B_672/2008, E. 1.1). Letzteres ist bereits dann der
Fall, wenn eine erhöhte abstrakte Gefährdung verursacht
wird, d.h. eine konkrete Gefährdung ist nicht zwingend
vorausgesetzt.
In casu hat A beim schnee‐ und eisbedeckten Fahrzeug,
welches er führte, lediglich auf der Frontscheibe auf der
Fahrerseite ein kleines Guckloch freigekratzt.
Art. 29 SVG, welcher nach der bundesgerichtlichen
Rechtsprechung eine wichtige Verkehrsvorschrift darstellt
(vgl. BGer vom 16.1.2009, 6B_672/2008), schreibt vor, dass
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Fahrzeuge nur in betriebssicherem Zustand verkehren dürfen
und müssen so unterhalten sein, dass Führer und andere
Strassenbenützer nicht gefährdet werden. Diese Norm
versteht sich nicht nur in einem engen technischen Sinne,
sondern ihr kommt darüber hinaus auch eine für die
Verkehrssicherheit umfassende Bedeutung zu (BGer vom
16.2.2010, 6B_1099/2009, E. 1).
Führt jemand ein Fahrzeug, welches abgesehen von einem
kleinen Guckloch schnee‐ und eisbedeckte Scheiben hat, wird
damit die Verkehrssicherheit stark gefährdet. Schliesslich ist
es dem Fahrer nur möglich, zu sehen, was vor ihm geschieht.
Die Orientierung nach links, hinten oder rechts wird
verunmöglicht, was ein hohes Unfallrisiko birgt. Dadurch
gefährdet sich der Führer selbst, aber auch andere
Strassenbenützer, wie etwa von rechts kommende
Fussgänger, werden sehr stark gefährdet. Insofern hat A,
indem er als sog. Iglufahrer sein Fahrzeug nur mit einem
Guckloch lenkte, Art. 29 SVG als wichtige Verkehrsvorschrift in
einer objektiv schweren Weise missachtet und verletzt (vgl.
dazu auch BGer vom 16.1.2009, 6B_672/2008, E. 1.2).
Insofern wurde die erste Voraussetzung des objektiven
Tatbestandes von Art. 90 Ziff. 2 SVG erfüllt.
Es fragt sich nun weiter, ob A durch seine Iglufahrt die
Verkehrssicherheit erhöht abstrakt gefährdet hat.
„Ob eine konkrete, eine erhöhte abstrakte oder nur eine
abstrakte Gefahr geschaffen wird, hängt von der Situation ab,
in welcher die Verkehrsregelverletzung begangen wird.
Wesentliches Kriterium für die Annahme einer erhöhten
abstrakten Gefahr ist die Nähe der Verwirklichung. Die
allgemeine Möglichkeit der Verwirklichung einer Gefahr
genügt demnach nur zur Erfüllung des Tatbestands von Art. 90
Ziff. 2 SVG, wenn in Anbetracht der Umstände der Eintritt
einer konkreten Gefährdung oder gar einer Verletzung nahe
liegt“ (BGE 131 IV 133, 136).
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Wird ein Fahrzeug geführt, welches abgesehen von einem
kleinen Guckloch schnee‐ und eisbedeckte Scheiben hat, wird
die Sicht des Führers dermassen eingeschränkt, sodass er
seinen Pflichten als Fahrzeugführer nicht mehr gerecht
werden kann. Dies gerade auch dadurch, weil sich auch
andere Verkehrsteilnehmer auf der Strasse befinden. A war es
entsprechend nicht möglich Verkehrsteilnehmer, welche
hinter, rechts und/oder links von ihm am Verkehr teilnehmen,
zu sehen. Dadurch war es ihm nicht möglich, richtig und
schnell – wie dies im Strassenverkehr nötig ist ‐ zu reagieren.
Durch das Führen eines dermassen nicht betriebssicheren
Fahrzeuges entsteht eine grosse Möglichkeit der
Verwirklichung einer Gefahr, etwa in Form eines Unfalles mit
einem anderen Fahrzeug oder einem Fussgänger. Insofern hat
A eine erhöhte abstrakte Gefahr für ihn und andere
Verkehrsteilnehmer geschaffen (vgl. BGer vom 16.1.2009,
6B_672/2008).
Der objektive Tatbestand ist erfüllt.
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2. Subjektiver Tatbestand
Der Täter muss vorsätzlich, d.h. mit Wissen und Willen gemäss
Art. 12 Abs. 2 StGB gehandelt haben.
A wusste, dass er durch seine Fahrt mit einem Fahrzeug,
dessen Scheiben mehrheitlich mit Eis und Schnee bedeckt
waren, elementare Verkehrsvorschriften verletzt und nahm
eine erhöhte abstrakte Gefährdung von sich selbst und
anderen Verkehrsteilnehmern zumindest in Kauf. A wollte
dies auch, damit er schneller zur Arbeit gelangt.
Der subjektive Tatbestand ist erfüllt.
3. RW & Schuld (+)
4. Fazit
A hat sich gemäss Art. 90 Ziff. 2 SVG strafbar gemacht.