8 THEME NR. 2 | APRIL 2015 PIPETTE – SWISS LABORATORY MEDICINE | WWW.SULM.CH Krebskrankheiten stellen Institutionen der Gesundheitsversorgung vor ganz besondere Herausfor- derungen. Dies hat drei Hauptgründe. Die Häufigkeit: Jeder dritte Mensch wird im Laufe seines Le- bens betroffen. Die Interdisziplinarität und Interprofessionalität: Rund 200 verschiedene Krebskrank- heiten aller Körperorgane beschäftigen alle Fachgebiete und alle Gesundheitsprofessionen. Der permanente und rasche Wandel: Das Wissen und Können nimmt in der Onkologie in fast explosions- artiger Weise zu. Der Sinn einer Zertifizierung in der Onkologie Ein Erfahrungsbericht aus dem Kantonsspital Aarau Martin Wernli 1 , Thomas Holler 1 Auch das Kantonsspital Aarau hat sich die Frage stellen müssen, wie diese komplexen Herausforderungen im Sinne einer optimalen Patienten- betreuung zu meistern sind. Aus Pa- tientensicht besteht der Wunsch nach einer zeitgerechten, empathisch ver- mittelten und nach den stets neuesten Erkenntnissen erfolgenden Behand- lung. Dies entspricht einer Dienstleis- tung, welche sich in der Regel über eine längere Zeitspanne erstreckt, an welcher eine Vielzahl von Personen beteiligt sind und die flexibel auch Entwicklungen bewältigen muss, wel- che nicht im Voraus absehbar sind. Die Gesamtleistung wird mittels netz- werkartig verknüpften Prozessen er- bracht. Die zahlreichen Teilschritte sind idealerweise lückenlos und an- passungsfähig miteinander zu verbin- den. Diese Prozessorientiertheit und der Anspruch auf eine auch in Zu- kunft vorhandene hohe und repro- duzierbare Qualität legt es nahe, zur Zielerreichung das Instrument einer Zertifizierung heranzuziehen. Ver- waltungsrat und Geschäftsleitung des Kantonsspitals Aarau haben des- halb entschieden, die Gesamtheit al- ler Tätigkeiten im Zusammenhang mit Krebskrankheiten zu analysieren, nach Notwendigkeit zu optimieren und zu zertifizieren. Zum einen um- fasst unser Projekt mit dem Namen «Onkologiezentrum Mittelland» eine Fachzertifizierung, welche das inter- disziplinäre und interprofessionelle medizinisch-onkologische Vorgehen regelt (Norm der Deutschen Krebs- gesellschaft). Zum anderen beinhaltet 1 Dr. med. Martin Wernli, Chefarzt, und Thomas Holler, Leiter Medizincontrolling und Qualitäts- management, für die Projektgruppe «Onkologie- zentrum Mittelland», Kantonsspital Aarau AG es eine Zertifizierung nach ISO-Norm für das gesamte Managementsystem (ISO 9001). Unsere Ausgangslage Das Kantonsspital Aarau ist ein gros- ses Gesundheitszentrum im Schwei- zerischen Mittelland. Es besteht aus rund 40 Behandlungszentren und Dia- gnoseinstituten und kann mit ganz wenigen Ausnahmen das gesamte me- dizinische Dienstleistungsspektrum anbieten. 4000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter betreuen pro Jahr 26 500 Patientinnen und Patienten stationär und erbringen 500 000 Leistungen am- bulant. Eine Erhebung hat gezeigt, dass 30% aller Tätigkeiten in unserem Spital direkt oder indirekt krebsbezo- gen sind. In diesem Umfeld müssen wir Herausforderungen bewältigen. Positive Erfahrungen Unser Zertifizierungsprojekt ist seit einem Jahr im Gang. Die Erfahrungen sind in vielen Facetten bereits heute als sehr positiv zu werten. Insbeson- dere sogenannt weiche, für den Ge- samterfolg jedoch entscheidende Fak- toren sind bereits zu tragenden Mo- tivatoren geworden. Dies ist wichtig, da die Zertifizierung für alle Beteilig- ten zu einem erheblichen Zusatzauf- wand führt. Zertifizierung heisst Kommunika- tion und Koordination. In der tägli- chen Routine einer einzelnen Person, Gruppe oder Spitaleinheit besteht die Gefahr, dass der persönliche Teilpro- zess gegenüber dem Gesamtprozess zu stark in den Vordergrund tritt. Letzte- rer ist es aber, der aus Patientensicht hauptsächlich zählt und der für den Gesamterfolg abschliessend verant- wortlich ist. Die Zertifizierung ändert Prioritäten. Gespräche und gegensei- tige Abstimmung werden zur Pflicht. In der Folge werden Schnittstellen- probleme seltener, die Arbeit wird da- durch erleichtert und die Personalzu- friedenheit steigt. Wir beobachten ein höheres gegenseitiges Verständnis und ein breiteres Teambewusstsein. Zertifizierung heisst Unité de Doc- trine. Die medizinische Vorgehens- weise in Diagnostik und Therapie muss im Konsens aller Beteiligten in- terdisziplinär erarbeitet und verbind- lich festgehalten werden. Anfänglich wurde dies teilweise als Einschrän- kung der therapeutischen Freiheit empfunden. Die Einsicht aber wächst, dass erst durch Festlegung von Stan- dards im Sinne einer Mittellinie indi- viduelle Abweichungen als solche er- kannt und in ihrer Auswirkung auch überprüft werden können. Zertifizierung heisst Netzwerk. Auch ein grosses Zentrumsspi- tal kann nur einen Teil des onko- logischen Gesamtbedarfs abde- cken. Vor- und nachgelagerte In- stitutionen wie beispielsweise Grundversorger,Regionalspitäler,Langzeit- einrichtungen, Hospiz, Spitex oder psychosoziale Dienste müssen aus Patientensicht im Behandlungspro- zess zusammenarbeiten. Die Arbeits- teilung sollte gemäss Kompetenzen sinnvoll geregelt sein. Wir machen die Erfahrung, dass der Netzwerkaufbau durch die Zertifizierungsabsicht we- sentlich gefördert wird. Zertifizierung heisst Rechenschaft ablegen. In Audits werden die Leis- tungen aus externer Sicht beurteilt.