Masterarbeit Zum Abschluss des Studiums MSc Betriebswirtschaftslehre Neuromarketing - Eine Analyse aus Sicht der Marketingethik - eingereicht bei Ao. Univ.-Prof. Mag. Dr. Bernhard Ungericht Institut für Unternehmensrechnung und Reporting Karl-Franzens-Universität Graz eingereicht von Anne Mezger 01635677 Graz, im September 2019
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Transcript
Masterarbeit
Zum Abschluss des Studiums
MSc Betriebswirtschaftslehre
Neuromarketing - Eine Analyse aus Sicht der Marketingethik -
eingereicht bei
Ao. Univ.-Prof. Mag. Dr. Bernhard Ungericht
Institut für Unternehmensrechnung und Reporting
Karl-Franzens-Universität Graz
eingereicht von
Anne Mezger 01635677
Graz, im September 2019
Ehrenwörtliche Erklärung
Ich erkläre ehrenwörtlich, dass ich die vorliegende Arbeit selbstständig und ohne fremde Hilfe
verfasst, andere als die angegebenen Quellen nicht benutzt und die den Quellen wörtlich oder
inhaltlich entnommenen Stellen als solche kenntlich gemacht habe. Die Arbeit wurde bisher in
gleicher oder ähnlicher Form keiner anderen inländischen oder ausländischen Prüfungsbehörde
vorgelegt und auch noch nicht veröffentlicht. Die vorliegende Fassung entspricht der einge-
reichten elektronischen Version.
30.09.2019
Anne Mezger
Gender-Erklärung
Zu Gunsten der besseren Lesbarkeit wird in dieser Masterarbeit die Schreibform des generi-
schen Maskulinums angewendet. Die Verwendung der männlichen Form ist ausnahmslos als
geschlechtsunabhängig zu verstehen.
I
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis ..................................................................................................... III
Abkürzungsverzeichnis ..................................................................................................... IV
Abbildung 4: Verteilung der Limbic® Typen in Deutschland ............................................ 52
IV
Abkürzungsverzeichnis
1. bzw. beziehungsweise
2. EEG Elektroenzephalographie
3. fMRT funktionelle Magnetresonanztomographie
4. MEG Magnetenzephalographie
5. MRT Magnetresonanztomographie
6. PET Positronen-Emissions-Tomographie
7. s. siehe
8. sog. sogenannt/e/en
9. u.a. unter anderem
10. vgl. vergleiche
11. z.B. zum Beispiel
1 Einleitung
1
1 Einleitung
Im Zuge der Globalisierung und Digitalisierung wird es für die Marketingtreibenden zur
immer größeren Herausforderung, die Aufmerksamkeit der Konsumenten für sich zu gewin-
nen: In Amerika werden jährlich rund 400 Millionen Dollar in Werbekampagnen investiert,
die zum Großteil jedoch nicht den gewünschten Erfolg bescheren (MORIN, 2011, S. 131).
Die globale Reichweite und die technologischen Möglichkeiten wachsen - die Wirksamkeit
der Werbebotschaften bei den Konsumenten jedoch laut dieser Messung nicht.
„Der Mensch ist nicht der, der er ist, sondern der, der er sein will. Wer ihn an seinen Wün-
schen packt, hat ihn“ (FORSCHELE, S. 227). Dieses Zitat von Martin Walser passt zu der
Perspektive der Unternehmen an ihrer Schnittstelle zu den Konsumenten: Durch Werbekam-
pagnen sollen die Wünsche bzw. Bedürfnisse der Konsumenten angesprochen werden und
die Konsumenten so an Unternehmen und ihre Marken und Produkte gebunden werden. Es
geht nicht mehr allein darum, die Grundbedürfnisse der Menschen zu decken. Die Menschen
hoffen, durch den Konsum bestimmter Produkte ihre sozialen Bedürfnisse (z.B. Ansehen,
Macht, Abgrenzung, etc.) zu befriedigen. Welche Produkte die Erfüllung dieser Wünsche
vermuten lassen wird durch die Werbekampagnen der Unternehmen bestimmt.
Die traditionellen Marketingmethoden beruhen darauf, dass die Konsumenten ihre Bedürf-
nisse und Präferenzen beschreiben. Aufbauend auf diesen Beschreibungen werden Marke-
tingtechniken entwickelt. Zunehmend wird vermutet, dass die Beschreibungen der Konsu-
menten kein ganzheitliches Bild über ihre Entscheidungsfindung liefern (POP, DABIJA, I-
ORGA, 2014, S. 26). Darum wurden mit der Zeit die Untersuchungen des Konsumentenver-
haltens bezüglich der kognitiven Wirkung von Werbung intensiviert: Wissenschaftler spie-
len bei der Optimierung des Marketings zur gleichzeitigen Befriedigung von Konsumenten
und Steigerung der Profitabilität der Unternehmen eine immer größere Rolle (POP, DA-
BIJA, IORGA, 2014, S. 26). Ob der Einbezug der Neurowissenschaft tatsächlich Auswir-
kungen auf die Wirksamkeit von Marketing hat und, wenn ja, wie diese aussehen, wird im
Zuge dieser Arbeit kritisch reflektiert.
Seit den 1990er Jahren wird der Bereich Neuromarketing entwickelt (PESCH, 2010, S.9).
2002 wurde er durch Ales Smidts schließlich das erste Mal so betitelt (COUSON, VAYS-
SETTES, 2013, S.3). Der Bereich des Neuromarketings rückt zunehmend in den Fokus des
1 Einleitung
2
Interesses der Menschen: Führte eine Google-Suche nach dem Begriff „Neuromarketing“
im Jahre 2001 noch zu keinen nennenswerten Ergebnissen, erhält man heute (2019) schon
rund 3.930.000 Ergebnisse.1 Die Tendenz ist aufgrund intensiverer Forschung, dem wach-
senden Interesse an erfolgsversprechenden und innovativen Marketingstrategien und zuneh-
mender öffentlicher Kritik steigend.
Ziel der Neuromarketing-Forscher und -Anwender ist es zum einen, zu untersuchen, welche
Reize der Werbung besonders wirken und wie diese Reize eine Konsumentscheidung beein-
flussen. Zum anderen sollen darauf aufbauend Instrumente entwickelt werden, mit denen
das Angebot und die Werbestrategien entsprechend maßgeschneidert werden können.
1.1 Problemstellung und Relevanz des Themas
Mit dem Marketing gewinnt auch die Marketingethik an Bedeutung: Von Unternehmen wird
zunehmend gefordert, dass sie ihre Aktionen vor den Stakeholdern rechtfertigen und Ver-
antwortung für ihr Handeln übernehmen. Um aggressive Werbestrategien zu vermeiden, sol-
len moralische Standards für die Entscheidungen und Handlungen der Marketingmanager
eingeführt werden (MURPHY, BOWIE, KLEIN, 2005). Der Bedarf einer wirksamen Mar-
ketingethik ist wichtig, da das Marketing direkten Einfluss auf den Lebensstil der Konsu-
menten nimmt.
Im Fokus der Diskussionen um Neuromarketing steht die Nutzung der Wissenschaft zu öko-
nomischen Zwecken: Möglicherweise wird die Wissenschaft dazu genutzt, die Entschei-
dungsfindung der Konsumenten so zu beeinflussen, dass ihr Kaufverhalten den Profit der
Unternehmen erhöht. Im Zuge dessen sind die Auswirkungen von Neuromarketing auf die
Konsumentensouveränität und die Privatsphäre sowie Möglichkeiten zur Manipulation von
Interesse.
Die Forscher und Entwickler von Neuromarketing schreiben diesen Methoden die Möglich-
keit zu, zum einen exakt erkennen zu können, was in den Gehirnen der Konsumenten vor-
geht, und zum anderen entsprechende Instrumente zu entwickeln, die diese kognitiven Pro-
zesse gezielt ansprechen, um den Konsum zu erhöhen.
1 Nach eigener Google-Suche, Stand: 24.04.2019.
1 Einleitung
3
Aus ethischer Perspektive muss somit zum einen reflektiert werden, inwieweit die mit dem
Einsatz von Neuromarketing verbundenen Ziele legitim sind, und zum anderen, welche Aus-
wirkungen die Anwendung von Neuromarketing auf die Konsumenten bereits hat und in
Zukunft haben kann.
1.2 Zielsetzung und Forschungsfragen
Das Ziel der Masterarbeit ist es, ein kritisch reflektiertes Verständnis von Neuromarketing
aus der Perspektive der Marketingethik zu vermitteln. Hierbei werden sowohl Theorie und
Ziele als auch Methoden und die Umsetzung des Neuromarketings beleuchtet. Es wird dis-
kutiert, inwieweit Neuromarketing ethisch legitim ist und wie es sich auf die Konsumenten
auswirkt.
Um eine umfassende Reflexion zu bieten, stellen folgende Forschungsfragen den roten Fa-
den dar:
1. Was sind die Ziele der Theorie des Neuromarketings und sind diese aus Sicht der
Marketingethik moralisch legitim?
1.1 Ist die Erforschung des Gehirns zu Marketingzwecken moralisch legitim?
1.2 Wie wirkt sich die Verwendung der Forschungsergebnisse zur Entwicklung von
Marketinginstrumenten auf die Konsumenten aus?
2. Wie wirkt sich Neuromarketing aus Sicht der Marketingethik auf die Konsumen-
tensouveränität aus?
2.1 Werden die Konsumenten „gläsern“ gemacht?
2.2 Werden durch Neuromarketing Bedürfnisse geweckt?
2.3 Wird der freie Wille der Konsumenten eingeschränkt?
3. Stellt Neuromarketing eine Verbesserung gegenüber dem traditionellen Marketing
dar?
1.3 Methodik
Die Masterarbeit baut zum überwiegenden Teil auf einer Recherche der relevanten Literatur
im Bereich Neuromarketing auf. Ergänzend wird Literatur aus den Gebieten Marketingethik
und Neurowissenschaft herangezogen, um eine umfassende Analyse zu gewährleisten.
1 Einleitung
4
Anhand der Literaturanalyse soll dargestellt werden, welche Erkenntnisse bereits erzielt
wurden und in welchen Bereichen weitere Forschung nötig ist. Die Recherche setzt sich
folglich aus einer Analyse bzw. Sammlung und anschließenden Synthese zusammen. Die
durch argumentativ-deduktive Auswertung (vgl. WEBSTER, WATSON, 2002) erzielte
Synthese verschiedener Arbeiten soll ein umfassendes Bild zum Bereich des Neuromarke-
tings aus Sicht der Marketingethik liefern. Dies soll zum einen den Bereich der Forschung
und zum anderen den der Methoden berücksichtigen.
Das Vorgehen richtet sich nach der Methode von Webster (vgl. WEBSTER, WATSON,
2002). Die Literatur wird in einem mehrstufigen Verfahren bearbeitet: In der ersten Phase
werden die gängigsten Journale zu den Themen Neuromarketing, Marketingethik und zu
einem geringeren Anteil zur Neurowissenschaft identifiziert. Diese werden in einem Ran-
king für wissenschaftliche Journals ermittelt. Nach Sammlung dieser Journale werden rele-
vante Beiträge systematisch erschlossen und nach ihrem Inhalt analysiert. Hierbei wird die
Suche nach verschiedenen Suchwörtern (hier u.a.: „Konsumentensouveränität“, „Manipula-
tion“, „Emotionen“ etc.) systematisiert und die einzelnen Beiträge, in denen die Suchwörter
vorkommen, unter den Schlagwörtern kategorisch in einem Dokument gesammelt. So wer-
den relevante von nicht relevanten Beiträgen differenziert werden und der Umfang der zu
analysierenden Literatur reduziert. In der zweiten Phase werden die Quellen der als relevant
erachteten Beiträge analysiert. Diese werden nach Aktualität, also nach Veröffentlichungs-
datum, kategorisiert. So werden alle Quellen, die vor dem Jahr 1900 veröffentlicht wurden,
als irrelevant eingestuft. Insgesamt handelt es sich um eine qualitative Inhaltsanalyse ausge-
wählter Literatur.
Während dieser Inhaltsanalyse werden in einem weiteren Dokument Thesen und Argumente
aus der Literatur gesammelt, die zur Beantwortung der Forschungsfragen relevant sind.
Diese werden im nächsten Schritt inhaltsmäßig gruppiert. Herausgearbeitete Thesen sind
u.a. folgende: Neuromarketing bietet effektivere Methoden als das traditionelle Marketing,
Neuromarketing wirkt sich positiv auf die Konsumentensouveränität aus, Neurowissenschaf-
ten sind zur Entschlüsselung der Bedürfnisse von Konsumenten relevant, Neurowissenschaf-
ten sind zum Verständnis des Treffens einer Kaufentscheidung relevant, etc.
Die aus der Literatur gewonnenen Inhalte zu jeder These werden schließlich in Pro- und
Contra-Argumente aufgeteilt. Zudem werden eigene Thesen und Argumente gebildet und
1 Einleitung
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den Rechercheergebnissen zugeordnet. Eigene Thesen sind u.a.: Die Umsetzbarkeit der Neu-
romarketing-Methoden ist nicht gegeben, Neuromarketing schränkt die Konsumentensouve-
ränität ein, Neurowissenschaften bieten keine relevanten Erkenntnisse für den Marketing-
bereich, etc.
Das Ergebnis dieses Schrittes stellt die Basis zur Reflexion der einzelnen Thesen dar. Neu-
romarketing wird anhand folgender Kriterien reflektiert:
1. Welche Auswirkungen haben Forschung und Methoden des Neuromarketings auf die
Konsumenten?
2. Wie sind die Ziele von Neuromarketing ethisch zu bewerten?
3. Inwiefern ist neurowissenschaftliche Forschung für den Marketingbereich relevant?
4. Ist die Umsetzbarkeit von Neuromarketing gegeben?
Die Reflexion findet zuerst stichpunktartig statt und wird nach Abschluss der Gliederung
entsprechend in einen Fließtext verfasst.
1.4 Aufbau
Zu Beginn werden die traditionellen Methoden der Marktforschung und des Marketings er-
läutert (s. Kapitel 2). Im nächsten Schritt wird der Bereich des Neuromarketings definiert
und vom traditionellen Marketing abgegrenzt (s. Kapitel 3). So werden die Unterschiede der
beiden Bereiche dargestellt.
Eine kritische Auseinandersetzung mit Neuromarketing ist nur dann möglich, wenn man die
die Zielsetzungen, Instrumente und zentralen Erkenntnisse der Neurowissenschaft versteht.
Darum wird in Kapitel 4 erläutert, welche Erkenntnisse neurowissenschaftlicher Forschung
für den Marketingbereich relevant sind. Im Zuge dessen werden Aufbau und Funktionsweise
des Gehirns beschrieben. Des Weiteren werden die Rolle von Emotionen und der Einfluss
der Wahrnehmung auf die Entscheidungsfindung erläutert. Emotionen und Wahrnehmung
stellen beim Treffen von (Kauf-)Entscheidungen wichtige Variablen dar. Es ist somit rele-
vant, deren Wirkungsweise im Zusammenhang dieser Arbeit zu erläutern.
Vor dem Hintergrund der Marketingethik wird untersucht, inwieweit sowohl die Theorie
und Ziele als auch die Instrumente des Neuromarketings moralisch legitim sind. Dazu wird
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6
zum einen auf die Perspektive der Wissenschaft und zum anderen auf die Perspektive der
praktizierenden Unternehmen eingegangen. Insgesamt handelt es sich bei der Arbeit um eine
Kombination aus wirtschafts- und forschungsethischen Gesichtspunkten bezüglich des Neu-
romarketings. Durch die kritisch reflektierte Auseinandersetzung mit den Forschungsfragen
wird ein Verständnis dafür geschaffen, inwieweit die Ziele der Neuromarketingforschung
moralisch vertretbar sind und in moralisch legitime Unternehmenspraktiken umgesetzt wer-
den.
In Kapitel 5 wird zunächst auf den Bereich der Forschung eingegangen. Bevor eine Refle-
xion dessen stattfindet, werden die Forschungsmethoden beschrieben. Es stellt sich die
Frage, ob die Ziele allein an der Generierung von Profit ausgerichtet sind und die Souverä-
nität und das Wohl der Konsumenten beeinflussen sollen und können.
Im 6. Kapitel wird die marketingethische Reflexion der Neuromarketing-Methoden vorge-
nommen. Zunächst werden die Methoden Limbic® und Brand Code Managementä erläu-
tert, um einen Einblick in die Funktionsweise solcher Instrumente zu geben. Darauf aufbau-
end wird reflektiert, welche Auswirkungen die Methoden auf die Konsumentensouveränität
haben können. Dabei wird im Speziellen auf Möglichkeiten zur Einschränkung des freien
Willens, der Generierung von Bedürfnissen und der Manipulation eingegangen. Anschlie-
ßend wird die Umsetzbarkeit der beiden erwähnten Methoden diskutiert, um zu reflektieren,
welchen Einfluss ihre Anwendung tatsächlich auf die Konsumenten hat.
Bevor im letzten Kapitel ein Fazit zum Neuromarketing aus Sicht der Marketingethik gezo-
gen wird, wird in Kapitel 7 auf die Vor- und Nachteile von Neuromarketing verglichen mit
den traditionellen Methoden eingegangen. Es wird analysiert, inwieweit die angestrebten
Ziele überhaupt erreicht werden können und ob es sich nicht eher um einen Neuromarketing-
Hype als um eine wirkliche Innovation handelt. Dies ist für die marketingethische Reflexion
relevant, da so deutlich wird, ob mögliche Gefahren tatsächlich bestehen oder ob es sich bei
der Wirksamkeit von Neuromarketing um Spekulation handelt.
2 Theoretische Grundlagen des Marketings
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2 Theoretische Grundlagen des Marketings
„Marketing is an organizational function and a set of processes for creating, communication
and delivering value to customers and for managing customer relationships in ways that
benefit the organization and its stakeholders” (MEFFERT, BURMANN, KIRCHGEORG,
EISENBEIß, 2019, S. 11). Laut diesem Zitat wird Marketing zum einen also als Funktion
innerhalb eines Unternehmens verstanden, in der man sich im Wesentlichen „mit der effi-
zienten und bedürfnisgerechten Gestaltung von Austauschprozessen“ (MEFFERT, BUR-
MANN, KIRCHGEORG, EISENBEIß, 2019, S. 3) beschäftigt. Zum anderen gilt es als Leit-
bild der Unternehmensführung zur „marktorientierten Koordination aller betrieblichen
Funktionsbereiche“ (MEFFERT, BURMANN, KIRCHGEORG, EISENBEIß, 2019, S. 13).
Das bedeutet, dass sich ein Unternehmen sowohl auf die Generierung von Profit als auch auf
die Bedürfnisse bestehender und zukünftiger Kunden ausrichtet.
Die Aufgaben des Marketings umfassen alles, was mit der Generierung von Kundennutzen
zu tun hat. Darunter fallen u.a. die Marktforschung, die Gestaltung des Produktangebotes,
die Festlegung der Preise und Kommunikation und Vertrieb (MEFFERT, BURMANN,
KIRCHGEORG, EISENBEIß, 2019, S. 14). Darauf aufbauend wird die Marketingstrategie
formuliert, die die Mission und Ziele eines Unternehmens definiert. (KOTLER, ARM-
STRONG, HARRIS, 2016, S.38f.)
Marketing ist somit nicht auf die Funktion eines verkaufsfördernden Instrumentes und somit
auf eine rein operative Orientierung zu beschränken - Marketing wird im Unternehmen auch
strategisch verankert. Die strategische Komponente umfasst u.a. das Kunden-Beziehungs-
Management (CRM), das Stakeholder-Management und das Marken-Management.
Man kann das traditionelle Marketing in die Bereiche der Forschung und der Methoden un-
terteilen. Um seine (Marketing-)Ziele zu erreichen ist Voraussetzung für ein Unternehmen,
die Bedürfnisse und Präferenzen seiner bestehenden und der zu gewinnenden Neukunden zu
kennen. Zur Erzielung dieser Erkenntnisse wird die Forschung betrieben, um auf Basis die-
ses Wissens entsprechende Methoden in Form von Strategien und Instrumenten zu entwi-
ckeln (KREUTZER, 2010, S. 12 ff.).
2 Theoretische Grundlagen des Marketings
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Marketing gilt auch als „operative Beeinflussungstechnik“ (MEFFERT, BURMANN,
KIRCHGEORG, EISENBEIß, 2019, S. 13), was bedeutet, dass es nicht allein um die Iden-
tifikation und Befriedigung von Kundenbedürfnissen geht, sondern auch um die „systemati-
sche Bedarfs- bzw. Verhaltensbeeinflussung der Nachfrager“ ((MEFFERT, BURMANN,
KIRCHGEORG, EISENBEIß, 2019, S. 15). Dabei steht die Generierung von Profit mög-
licherweise mehr im Vordergrund, als die Generierung von Kundennutzen bzw. wird der
„Nutzen“ mit „Konsum“ gleichgesetzt. Die Ziele von Marketing (Generierung von Profit
und Generierung von Kundennutzen) können unter diesen Umständen in Konflikt geraten.
Um eine wirksame Marketingstrategie zu entwerfen, müssen laut Kollmann die Erwartungen
der Konsumenten „erfüllt oder übertroffen“ werden (KOLLMANN, 2009, S. 260). Je besser
ein Unternehmen seine Konsumenten kennt, desto leichter kann dieser Nutzen geschaffen
werden und desto besser ist das Verhalten der Konsumenten vorhersehbar. Dies bedeutet
Sicherheit für ein Unternehmen, da die Wirksamkeit verschiedener Strategien und Maßnah-
men besser prognostiziert werden kann. Zudem kann sich dies positiv auf seine ökonomische
Situation auswirken, da Verluste durch fehlgeschlagene Produkteinführungen, Werbekam-
pagnen, etc., vermieden werden können und ersichtlicher ist, welche Maßnahmen verkaufs-
fördernd wirken.
2.1 Die traditionelle Marktforschung
Mit Hilfe der Marktforschung wird die Effizienz2 von Marketingmaßnahmen ermittelt. Da-
für sind u.a. das Verhalten bzw. die Entscheidungen der Konsumenten von Bedeutung.3
Entscheidend für das Treffen einer Kaufentscheidung sind nach Schüller und Fuchs die Mo-
tive, Werte und Einstellungen der Konsumenten (SCHÜLLER, FUCHS, 2009, S. 34). Diese
sollen durch verschiedene Methoden der Marketingforschung entschlüsselt werden, um die
Entscheidungsfindung nachvollziehen und prognostizieren zu können. Die Forschungser-
gebnisse stellen zudem eine Basis zur Entwicklung entsprechender Methoden dar, mit denen
aktiv auf das Konsumentenverhalten eingewirkt werden kann.
2 Mit Effizienz ist in dieser Arbeit gemeint, dass durch den effektiveren bzw. gezielteren Einsatz von Werbe-
mitteln mit geringerem Aufwand mehr Erfolg erzielt wird. 3 Das Verhalten der Konkurrenz und die Interaktion von Unternehmen am Markt wird in dieser Arbeit nicht
mit einbezogen, da es für die ethische Reflexion von Neuromarketing nicht relevant ist. Es soll allein um die Auswirkungen auf die Konsumenten gehen.
2 Theoretische Grundlagen des Marketings
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Zur Analyse des Konsumentenverhaltens bzw. ihrer Bedürfnisse und Präferenzen werden im
traditionellen Marketing u.a. Portfolio-Analysen, die Analyse der Positionierung von Mar-
ken, Untersuchungen zu Konsumenten-Panels und Kundenbefragungen durchgeführt.
(KREUTZER, 2010, S. 74 ff.)
Es wird deutlich, dass diese Forschungsmethoden vor allem auf Beobachtungen, Selbstbe-
obachtung und Befragungen beruhen. Es wird der Einfluss von wahrgenommenen Reizen,
bewussten Präferenzen und Bedürfnissen und die Bedeutung der Umgebung, des persönli-
chen Umfelds und der Kultur einer Person analysiert.4 Traditionelle Marketingmethoden be-
ruhen darauf, dass Menschen ihre Gefühle in Verbindung mit Werbung, Produkten und Mar-
ken beschreiben bzw. Marketingforscher diese aus dem beobachtbaren Verhalten einer Per-
son interpretieren.
Probleme bzw. Schwierigkeiten können sich hierbei ergeben, da Menschen nicht fähig sind,
zu beschreiben, welche kognitiven Prozesse in ihren Gehirnen ablaufen. Diese sind jedoch
in entscheidendem Anteil an Kaufentscheidungen beteiligt, weshalb Informationen darüber
für das Marketing interessant sind. Menschen können lediglich die physischen Reaktionen -
also z.B. vermehrtes Schwitzen durch einen angsteinflößenden Werbespot, die höhere At-
traktivität einer roten Produktverpackung verglichen mit einer blauen etc. - beschreiben, die
durch Marketingprozesse hervorgerufen werden (BURGOS-CAMPERO, VARGAS-HER-
NANDEZ, 2013, S. 518 f.). Wie diese physischen Reaktionen und kognitiven Prozesse ab-
laufen und was in welcher Weise Einfluss auf sie nimmt, kann nicht kommuniziert werden.
Emotionen und ihr Auftreten können mit Worten nicht umfassend und exakt beschrieben
werden, da sie zum Großteil im Unterbewusstsein entstehen. Kognitive Prozesse haben viele
unterbewusste Komponenten, welche bei der traditionellen Marktforschung nicht integriert
werden, da auch die Marktforscher mit den traditionellen Forschungsmethoden keine Mög-
lichkeit haben, diese kognitiven Prozesse zu analysieren.
Für den traditionellen Marktforschungsbereich bedeutet das, dass lediglich das Verhalten
und die Reaktionen untersucht werden, die von den Marketingforschern beobachtet und von
den Probanden beschrieben werden können. Somit können lediglich der Prozess des Treffens
4 Eine detaillierte Beschreibung der einzelnen traditionellen Forschungsmethoden wird hier nicht vorgenom-
men, da sie für den Kontext der Darstellung nicht relevant ist. Beschrieben sind die einzelnen Methoden und Instrumente z.B. in KREUTZER, 2010.
2 Theoretische Grundlagen des Marketings
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einer Kaufentscheidung und die damit verbundenen sichtbaren Reaktionen untersucht wer-
den, nicht aber, was diese Entscheidung vor dem Bewusstwerden auslöst und beeinflusst.
Erkenntnisse darüber sind für den Marketingbereich jedoch relevant, da aufbauend darauf
das Konsumverhalten besser nachvollzogen und möglicherweise auch beeinflusst werden
kann. Schüller und Fuchs unterscheiden diesbezüglich in Bedürfnisse und Erwartungen: Er-
wartungen sind vernunftgebunden und somit an bewusste Prozesse geknüpft, während Be-
dürfnisse emotionsgebunden sind und im Unterbewusstsein entstehen (SCHÜLLER,
FUCHS, 2009, S. 33). Mit der traditionellen Marktforschung können Erwartungen beschrie-
ben werden. Es ist allerdings nicht möglich, (unterbewusste) Bedürfnisse zu entschlüsseln,
da keine Analyse kognitiver Prozesse stattfindet.
Das bedeutet jedoch nicht, dass in der traditionellen Markforschung keine Verbindung zwi-
schen dem Treffen einer Kaufentscheidung und unterbewussten bzw. kognitiven Prozessen
gesehen wird. Diese Prozesse können zwar mit den traditionellen Methoden nicht aus neu-
ronaler Perspektive untersucht werden, werden aber in Form von hypothetischen Erklärun-
gen mit der Entscheidungsfindung in Zusammenhang gebracht (SCHÜLLER, FUCHS,
2009, S. 33).
Mit der Zunahme der Digitalisierung hat sich der Marketingbereich in die Richtung von
Marketing 4.0 entwickelt (eigene Darstellung nach KOTLER, 2017, S. 47):
Diesbezüglich argumentieren die Entwickler von Neuromarketing so, dass die Bedeutung
von Emotionen und des Unterbewusstseins für eine Kaufentscheidung in der Tat auch in der
traditionellen Marktforschung anerkannt wird. Dort ist dies aber auf die Annahme be-
schränkt, dass Menschen ihre kognitiven Prozesse beschreiben können (MORIN, 2011, S.
133). Die Emotionen der Menschen sind ihnen jedoch nicht bewusst zugänglich und somit
nicht mit Hilfe der klassischen Marktforschungsmethoden messbar. Durch neuroökonomi-
sche Verfahren wurde es, wie Kenning beschreibt, erstmals möglich, aus organischer Per-
spektive Einblicke in Entscheidungs- und Wahrnehmungsprozesse zu erlangen, ohne inter-
personelle Zustände rekonstruieren zu müssen. Dies stellt einen entscheidenden Unterschied
zum traditionellen Marketing dar, wo Phänomene häufig an Interaktionssituationen unter-
sucht werden (RAAB, GERNSHEIMER, SCHINDLER, 2009, S. 22f.). Durch eine metho-
dische Erweiterung der Marktforschung um eine neurowissenschaftliche Perspektive können
auch kognitive Prozesse analysiert werden.
Es ist allerdings (weiterhin) fraglich, ob ein Einbezug der Neurowissenschaft überhaupt nö-
tig ist. Möglicherweise liefern die Methoden von z.B. Marketing 4.0 schon so umfangreiche
und informationsstarke Ergebnisse, dass Neuromarketing lediglich bestätigen würde, was
die Forschung um die traditionellen Methoden liefert. Mit Big Data ist es möglich, durch die
statistische Generierung von Mustern Annahmen über Bedürfnisse und Präferenzen von
Konsumenten zu treffen. Somit können die traditionellen Marketinginstrumente das momen-
tane Kaufverhalten besser erfassen und treffsichere Aussagen über das und zukünftige Kauf-
verhalten machen. Somit ist es kritisch zu hinterfragen, ob eine neurowissenschaftliche Un-
tersuchung des Konsumentenverhaltens für eine Optimierung des Marketings überhaupt not-
wendig ist. Entgegen dem, was die Entwickler und Befürworter von Neuromarketing kom-
munizieren, stellt dieses eventuell keine Revolution für den Marketingbereich dar.
Im Fokus des Neuromarketing stehen insgesamt, genau wie beim traditionellen Marketing,
ökonomische Fragestellungen z.B. nach dem Konsumverhalten, den
3 Neuromarketing in Abgrenzung zum traditionellen Marketing
16
Konsumentenpräferenzen, der Markenbindung, der Effizienz von Marketingstrategien und
der Möglichkeit zur Gewinnmaximierung. Gesundheitswissenschaftliche und medizinische
Problemstellungen stehen somit nicht im Fokus, obwohl medizinische Untersuchungen
durchgeführt werden (s. Kapitel 5). Falls das bedeutet, dass Neuromarketing das Wohl der
Konsumenten in den Hintergrund stellt und rein ökonomische Ziele verfolgt, muss dieses
Vorgehen aus ethischer Perspektive reflektiert werden.6
Insgesamt kann Neuromarketing den Marketingtreibenden gegenüber den traditionellen
Marketingmethoden den Vorteil bieten, Möglichkeiten zum Erkennen, Verstehen und Kon-
trollieren unterbewusster Entscheidungsprozesse auf Basis neurowissenschaftlicher Er-
kenntnisse zu liefern. So können die physiologischen Reaktionen des Gehirns auf Werbung
bzw. Produkte und Marken erforscht werden. Dadurch werden Prozesse der Entscheidungs-
findung sichtbar, die bisher nicht untersucht werden wurden. Kurz: Neuromarketing erwei-
tert das traditionelle Marketing um die Perspektive der Neurowissenschaften. Ob die Unter-
suchung des Gehirns jedoch tatsächlich relevant ist, um das Marketing effektiver zu gestal-
ten, ist fraglich und wird im Folgenden noch näher reflektiert. Möglicherweise bieten die
Entwicklungen der Digitalisierung genug Möglichkeiten, den Marketingbereich im Rahmen
der traditionellen Methoden, also ohne Hinzuziehen der Neurowissenschaft, hinsichtlich der
Vorhersagekraft und Beeinflussbarkeit von Konsumentenverhalten zu optimieren.
6 s. Kapitel 5.3, Kapitel 6.2. und Kapitel 7.
4 Die Relevanz neurowissenschaftlicher Erkenntnisse für den Marketingbereich
17
4 Die Relevanz neurowissenschaftlicher Erkenntnisse für den Marketingbereich
Der Forschungsgegenstand der Neurobiologie ist das menschliche Gehirn. Dieses wird als
das komplexeste System des Körpers angesehen (MORIN, 2011, S. 131). Bei der Forschung
stehen nicht nur der Aufbau und die organischen Funktionsweisen im Blick, sondern auch,
wie verschiedene Prozesse im Gehirn bezüglich der Wahrnehmung und Empfindung ablau-
fen und miteinander verknüpft sind (MORIN, 2011, S. 132 ff.).
Die Erkenntnisse der Neurobiologie sind laut Häusel bedeutend für das Marketing bzw. die
Marktforschung, da durch sie deutlich wird, welche neuronalen Strukturen im Gehirn vor-
handen sind, wie diese zusammenwirken und ob diese verhaltenswirksam sind (HÄUSEL,
2012, S. 9ff). Es soll also gezeigt werden, ob und wie neuronale Strukturen im Gehirn das
Kaufverhalten beeinflussen. Neuromarketing kann somit die Basis von Modellen sein, die
erklären, warum ein Konsument ein bestimmtes Produkt kauft (MORIN, 2011, S. 132). Nach
Seßler konnte durch die Marktforschung herausgefunden werden, dass Kaufentscheidungen
sowohl aus rationalen als auch aus emotionalen Gründen stattfinden (SEßLER, 2013, S. 15
ff.). Für das Marketingmanagement bedeutet das, dass man neben der Demografie, Lebens-
situation, etc., auch die Emotionsstrukturen der Konsumenten erkennen und verstehen sollte,
um ihre Kaufentscheidungen besser prognostizieren und beeinflussen zu können.
Dies kann jedoch nicht allein durch Neuromarketing erklärt werden. Marketing 4.0 erhöht,
wie eingangs beschrieben (vgl. Kapitel 2.1), die Treffsicherheit des traditionellen Marke-
tings hinsichtlich der Beschreibung und Prognose des Kaufverhaltens der Konsumenten. Es
gilt also die Frage zu klären, ob die Untersuchung neuronaler Strukturen im Neuromarketing
diesbezüglich überhaupt in erheblichem Maße aussagekräftigere Informationen liefert, als
es die Optimierung der traditionellen Methoden möglich macht.
Durch neurowissenschaftliche Untersuchungen wurde herausgefunden, dass die neuromag-
netische Hirnaktivität in Abhängigkeit von der emotionalen Aufladung eines Warenbildes
variiert: Die Hirnaktivität verstärkt sich mit zunehmender emotionaler Aufladung. Marke-
tingmaßnahmen ohne emotionale Aufladung scheinen für das Gehirn weniger Bedeutung zu
haben als solche, durch die emotional wirkende Reize gesendet werden. Es wird folglich
4 Die Relevanz neurowissenschaftlicher Erkenntnisse für den Marketingbereich
18
angenommen, dass Emotionen die Basis des menschlichen Verhaltens darstellen. (z.B. SEß-
LER, 2013, S. 19f.)
Zu dieser Erkenntnis kam man jedoch auch schon vor der Entwicklung des Neuromarke-
tings. Im traditionellen Marketing fließt die Bedeutung von Emotionen in Form von Hypo-
thesen und Annahmen in die Erklärung von Verhalten ein. Durch die neurowissenschaftliche
Untersuchung wurde somit kein revolutionärer Wandel hervorgerufen, sondern lediglich be-
stätigt, wovon schon lange ausgegangen wurde.
Durch den Einsatz neurowissenschaftlicher Methoden können in den Untersuchungen auf
die Probanden extrinsisch wirkende Faktoren wie die Beeinflussung durch dominante Grup-
pen, Stress, Belohnungsreize etc., herausgefiltert werden (PRADEEP, 2010, S. 11). Durch
die Untersuchung der kognitiven Prozesse kann z.B. die Wirkung verschiedener Verpa-
ckungsfarben auf die Kaufentscheidung analysiert werden, ohne dass der Proband aktiv eine
Antwort äußert, die eventuell davon beeinflusst ist, welche Farbe gerade modern ist. Es wird
sich somit allein auf seine persönliche Reizempfänglichkeit konzentriert. Dies bietet gegen-
über dem traditionellen Marketing die Möglichkeit einer detaillierteren Untersuchung ein-
zelner Entscheidungsfaktoren. Es ist allerdings fraglich, inwieweit eine isolierte Untersu-
chung einzelner Faktoren/ Variablen ein aussagekräftiges Bild über das Treffen einer Ent-
scheidung liefert, da Entscheidungen oft vom Zusammenspiel mehrerer Variablen abhängen
(vgl. Kapitel 7). Es kann somit sein, dass eine Person kognitiv zwar besser auf die Farbe
Blau reagiert, aber doch die rote Verpackung kaufen wird, weil ihr wichtig ist, „trendige“
Produkte zu kaufen.
Insgesamt können durch die Erkenntnisse neurowissenschaftlicher Forschung die Annah-
men und hypothetischen Erklärungen der traditionellen Marktforschung bestätigt werden.
Zudem können die neuronalen Prozesse genau abgebildet werden, was das Verständnis der
Beschaffenheit von Reizen, Emotionen und Co erhöht. Neuromarketing bietet somit die
Möglichkeit, mehr Informationen über die Wirkung von Marketing zu generieren. Ob diese
Informationen allerdings tatsächlich neue Erkenntnisse und die Möglichkeit für Innovatio-
nen im Marketingbereich liefern oder tatsächlich eher bestätigen, was man schon lange an-
genommen hat, ist fraglich.
4 Die Relevanz neurowissenschaftlicher Erkenntnisse für den Marketingbereich
19
4.1 Die Bedeutung des Aufbaus des Gehirns für das Neuromarke-ting
Da es im Neuromarketing u.a. darum geht, herauszufinden, an welchen Stellen im Gehirn
marketingrelevante Prozesse ablaufen und wie diese Prozesse aussehen, ist ein kurzer (gro-
ber) Überblick über den Aufbau des Gehirns relevant.
4.1.1 Das Gehirn
Das Gehirn kann im Wesentlichen in den Thalamus und den Hypothalamus unterteilt wer-
den. In beiden Regionen findet die Verarbeitung von Informationen statt. Informationen sind
in diesem Kontext als kognitive Reize zu verstehen, die verschiedene physische Reaktionen
hervorrufen.
Im Thalamus werden die Informationen, die von den Augen, den Ohren, der Haut, den in-
neren Organen und den Gelenken und Muskeln gesendet werden, sortiert und gefiltert. Da-
nach werden die Signale an höhere Gehirnregionen weitergeleitet. Der Thalamus ist außer-
dem für das Steuern der Aufmerksamkeit und des Bewusstseins zuständig. (RAAB, GERNS-
HEIMER, SCHINDLER, 2014, S. 169)
Interessanter für das Neuromarketing ist nach Häusel jedoch der Hypothalamus (HÄUSEL,
2014, S. 252). Dieser ist als Bestandteil des limbischen Systems (Kapitel 3.1.2) an der Steu-
erung von Emotionen beteiligt. Im Hypothalamus werden emotionale Prozesse mit bewuss-
ten physischen Abläufen (z.B. Fluchtreflexen nach Empfangen eines Reizes, der die Emo-
tion Angst auslöst) verknüpft. Anhand von Kenntnissen über die Funktionsweise und den
Aufbau des Hypothalamus können somit die kognitiven Prozesse einer (emotionsgesteuer-
ten) Kaufentscheidung analysiert werden (HÄUSEL, 2014, S. 252).
4.1.2 Das limbische System
Unter der Bezeichnung des limbischen Systems sind nach Häusel alle Gehirnstrukturen zu-
sammengefasst, die mit der Entstehung und Verarbeitung von Reizen zu tun haben. Es
nimmt Einfluss auf das Gedächtnis, das Lernen und die Motivation und zentriert Gefühle,
wie z.B. Angst, Ekel, Freude oder Wut. (HÄUSEL, 2014, S. 50)
4 Die Relevanz neurowissenschaftlicher Erkenntnisse für den Marketingbereich
20
Laut Seßler werden in diesem Teil des Gehirns die Emotionen verarbeitet (SEßLER, 2013,
S. 30 ff.). Sie werden in „Motive“ (SEßLER, 2013, S. 30) umgesetzt, was bedeutet, dass sie
konkreter auf ein Objekt, die Zeit und den Raum ausgerichtet werden. So wird ein innerer
Erregungszustand in ein spezifisches Verhalten bzw. eine physische Reaktion entwickelt.
Das limbische System ist für das Marketing insofern relevant, als es sich hierbei um den Ort
handelt, an dem eine emotionale Erregung beim Treffen einer Kaufentscheidung beteiligt
ist. Durch die Untersuchung des limbischen Systems kann ermittelt werden, welche Reize
eine bestimmte Emotion auslösen, aus der der Konsum eines Produktes resultiert. Das Wis-
sen darüber kann die Effektivität und Effizienz von Marketingmaßnahmen steigern, da er-
kenntlich wäre, welche Reize man senden müsste, um eine Kaufentscheidung zu beeinflus-
sen.
4.2 Die Bedeutung der Funktionsweise des Gehirns für das Neu-romarketing
Um zu verstehen, wie man sich kognitive Prozesse aus marketingtechnischer Sicht zu Nutze
machen kann, wird die Funktionsweise des Gehirns nun kurz erläutert.
4.2.1 Die limitierte Kapazität zur Verarbeitung von Reizen
Relevant für den Marketingbereich ist laut Hein und Henning die neurowissenschaftliche
Erkenntnis, dass die Kapazität des menschlichen Gehirns zur gleichzeitigen perzeptuellen
Verarbeitung7 verschiedener Reize limitiert ist (HEIN, HENNING, 2007, S. 112 ff.). Das
bedeutet im ökonomischen Kontext, dass die Konsumenten marketingrelevante Informatio-
nen, z.B. mittels Werbung, nur begrenzt aufnehmen, verarbeiten und in Reaktionen (Kauf-
entscheidungen) umsetzen können.
Hein und Henning erklären diese Limitationen damit, dass eine unbegrenzte Verarbeitung
von Informationen nicht möglich ist (HEIN, HENNING, 2007, S. 112 ff.). Je kürzer die
Zeitspanne zwischen dem Eintreffen von zwei Reizen im Gehirn ist, desto mehr
7 Unter perzeptueller Verarbeitung versteht man das Wahrnehmen und gegebenenfalls Wiedererkennen von Objekten und/ oder Ereignissen aus der Umgebung einer Person.
4 Die Relevanz neurowissenschaftlicher Erkenntnisse für den Marketingbereich
21
verschwimmen die Informationen der beiden Reize. Es können also weniger Informationen
unabhängig voneinander verarbeitet werden, was zu Fehlern in der Informationsaufnahme
führt.8
Mit der neurowissenschaftlichen Kenntnis darüber, welche Reize eine Kaufentscheidung (in
gewünschter Weise) beeinflussen und welche Informationen dazu nicht relevant sind, kön-
nen die Marketingmethoden bezüglich ihres Informationsgehaltes entsprechend angepasst
werden. Die Hirnforschung trägt aus ökonomischer Sicht somit dazu bei, die Marketingme-
thoden wirksamer zu gestalten, indem irrelevante Reize bzw. Informationen ermittelt und
nicht mehr gesendet werden. Marketingmaßnahmen können dadurch insofern effizienter
werden, dass (wirksame) Reize nur in der reizempfänglichen Zeitspanne gesendet werden,
um die Aufmerksamkeit der Konsumenten für die Informationsaufnahme zu optimieren. So
kann durch das Senden wirksamer Reize Einfluss auf das Kaufverhalten einer Person ge-
nommen werden.
An dieser Stelle ist die Umsetzbarkeit des Sendens rein relevanter Reize in der reizempfäng-
lichen Phase von 800ms jedoch anzuzweifeln. Es ist nicht nachgewiesen, wie hoch die An-
zahl der Reize ist, die wirksam auf das Treffen einer Kaufentscheidung sind. Somit ist auch
nicht gesagt, dass diese Anzahl innerhalb einer Zeitspanne von 800ms, was 0,8s und somit
ca. 0.0133min entspricht, überhaupt gesendet werden kann. Zwar kann ein effizienteres Sen-
den von Reizen, was nach den Befürwortern von Neuromarketing eine Reizreduktion impli-
ziert, einen positiven Effekt auf die Konsumenten haben, allerdings ist fraglich, ob es über-
haupt auf dem beschriebenen Wege möglich ist, die Informationsaufnahme der Konsumen-
ten zu beeinflussen.
8 Die limitierte Gehirnkapazität ist neurowissenschaftlich dem Unterschied zwischen der psychologischen
Refrektärperiode und der neuronalen Refrektärzeit geschuldet. Die psychologische Refrektärperiode be-zeichnet in der Aufmerksamkeitsforschung nach Welford ein Zeitintervall, in dem ein Reiz verarbeitet wer-den kann. Die neuronale Refrektärzeit bezeichnet die Phase nach einer Aktivierung des Gehirns, in der keine Reize geleitet werden können. Die Refrektärzeit folgt nach einer Periode und ist um einiges länger. Vergehen zwischen dem Eintreffen zweier Reize weniger als 800ms, können die Informationen nicht un-abhängig voneinander verarbeitet werden. Die zweite Periode würde in diesem Fall beginnen, bevor die Refrektärzeit abgelaufen ist. Es kommt zu Fehlern in der Verarbeitung, da das Gehirn noch nicht bereit ist, neue Reize zu verarbeiten. (HEIN, HENNING, 2007)
4 Die Relevanz neurowissenschaftlicher Erkenntnisse für den Marketingbereich
22
Aufgrund der Komplexität des Gehirns kann durch neurowissenschaftliche Erkenntnisse
zwar kein direkter Einfluss auf die perzeptuelle Verarbeitung bzw. neuronale Kapazität ge-
nommen werden, aber die Art und Weise optimiert werden, wie aufmerksamkeitswirksame
Informationen übertragen werden.
4.2.2 Das implizite und das explizite System
Das Gehirn besteht, wie im Folgenden noch näher erläutert wird, physisch aus verschiedenen
Hirnteilen. Diese sind bezüglich ihrer Funktionsweise jedoch nicht komplett unabhängig
voneinander zu betrachten, da sie alle emotional strukturiert und vernetzt sind. Das Gehirn
lässt sich in ein implizites und ein explizites System unterteilen:
Im impliziten System laufen automatische und unbewusste Prozesse ab. Es handelt sich um
eine Art „Autopilot“ (HÄUSEL, 2007, S. 94), der Sinneseindrücke entschlüsselt, analysiert
und bewertet. Der Autopilot umfasst das Gedächtnis, die Wahrnehmung, Emotionen, Ein-
stellungen und Assoziationen. Darauf aufbauend werden intuitive Entscheidungen getroffen.
Das Treffen dieser Entscheidungen geschieht automatisch und ohne die Lenkung durch die
jeweilige Person. Diese ist sich dem Prozess der Entscheidungsfindung nicht bewusst und
nimmt diese erst in physischer Form wahr, wenn sie bereits automatisch bzw. unbewusst
getroffen wurde. Insgesamt werden laut Häusel ungefähr 95% aller Entscheidungen auf
diese Weise getroffen. Somit ist das implizite System maßgeblich an Konsumentscheidungs-
prozessen beteiligt.
Das implizite System leitet das Lernen, die nonverbale Kommunikation und die Speicherung
von Markenbotschaften. Dabei werden Sinneseindrücke danach bewertet, welche Assozia-
tionen sie hervorrufen (SCHEIER, HELD, 2007, S. 127 ff.). Das Senden verschiedener
Reize kann positive oder negative Assoziationen wecken. Positive Assoziationen wirken be-
lohnend, weshalb Marketingbotschaften Reize senden sollten, die positive Assoziationen
hervorrufen. Der Konsument assoziiert mit dem Kauf des beworbenen Produkts eine Beloh-
nung, was den Kauf wahrscheinlicher macht. Je höher das durch den Reiz assoziierte Beloh-
nungsgefühl ist, desto eher wird eine Markenbotschaft gespeichert und desto wahrscheinli-
cher wird der Kauf eines Produkts.
Dass das Unterbewusstsein einen wichtigen Einfluss auf das Treffen von Entscheidungen
hat und, dass verschiedene Reize entweder positive oder negative Emotionen bzw.
4 Die Relevanz neurowissenschaftlicher Erkenntnisse für den Marketingbereich
23
Assoziationen wecken, wird auch im traditionellen Marketing angenommen. Die Neurowis-
senschaft liefert diesbezüglich somit keine grundlegend neuen Erkenntnisse, sondern bestä-
tigt die bestehenden Annahmen und beschreibt, wie diese Prozesse ablaufen. Es handelt sich
bei Neuromarketing somit weniger um eine Innovation, als eher um die Möglichkeit der
Informationsbeschaffung in einem bisher im Zusammenhang mit Marketing nicht untersuch-
tem Gebiet (dem Gehirn).
Aufgrund des entscheidenden Einflusses des impliziten Systems auf Konsumentscheidungen
ist es für Marketingstrategen sinnvoll, seine Funktionsweise aus neurowissenschaftlicher
Perspektive zu entschlüsseln. So lässt sich erkennen, welche Reize Assoziationen in Form
von Belohnungen auslösen. Die Werbebotschaften können dann mit eben diesen Reizen be-
stückt werden und so in ihrer Wirksamkeit erhöht werden. Neuromarketing kann das tradi-
tionelle Marketing auf diese Weise erweitern, stellt aber, wie schon erwähnt, in diesem Fall-
keine Innovation dar.
Im expliziten System laufen laut Häusel alle bewussten und steuerbaren kognitiven und emo-
tionalen Vorgänge ab. Es wird als „Pilot“ (HÄUSEL, 2007, S. 94). bezeichnet, der die Er-
gebnisse des Autopiloten hinterfragt, Entscheidungen im Notfall korrigiert und bei Störun-
gen eingreift. Der Pilot umfasst das Denken, die Vernunft, die Sprache und Fakten. In diesem
System kommt es zum Überdenken einer Konsumentscheidung bzw. zu ihrer Rationalisie-
rung, Reflexion und Rechtfertigung. Da in dieses System nur einen geringen Anteil aller
Kaufentscheidungen einer Person beeinflusst, sollte man sich bei der Analyse von Kaufent-
scheidungen eher auf das implizite System konzentrieren (KREUTZER, MERKLE, 2008,
S. 308 ff.). Die Analyse des expliziten Systems kann zwar, einfacher als die Analyse des
impliziten Systems, durch Befragung oder Beobachtung stattfinden, bietet jedoch keinen
Zugang zum Unterbewusstsein.
Für die Untersuchung des expliziten Systems ist somit keine neurowissenschaftliche For-
schung nötig.
Bezüglich der Wirkung eines Reizes sind die beiden Systeme jedoch nicht getrennt vonei-
nander zu betrachten. Ein Reiz trifft zuerst auf das implizite System, wo er sofort entschlüs-
selt, analysiert und bewertet wird (sofortige Antwort). Innerhalb von 5 Sekunden wird eine
dem Reiz entsprechende Assoziation gebildet, die der Person nach 5 Sekunden entweder im
4 Die Relevanz neurowissenschaftlicher Erkenntnisse für den Marketingbereich
24
Treffen einer Entscheidung oder der Weiterleitung des Reizes ins explizite System bewusst-
wird. Somit gelangt jeder Reiz zuerst ins implizite System und nur ein geringer Anteil der
Reize ins explizite System. Entscheidungen im impliziten System werden somit schneller,
intuitiv bzw. automatisch getroffen, während der Entscheidungsprozess im expliziten Sys-
tem länger dauert und bewusst (durch Reflektieren, Vergleichen etc.) stattfindet.
Abbildung 2: Die Wirkung von Reizen im impliziten und expliziten System9
Es wird also kommuniziert, dass eine Beobachtung des expliziten Systems (durch traditio-
nelles Marketing) nicht ausreicht und die Untersuchung des impliziten Systems (durch Neu-
romarketing) nötig ist, um das Kaufverhalten einer Person umfangreich verstehen und prog-
nostizieren zu können. Wie in Kapitel 2.2 beschrieben kann durch traditionelles Marketing
tatsächlich nicht direkt untersucht werden, was im Gehirn der Konsumenten passiert. Es ist
jedoch auch fraglich, ob dies überhaupt notwendig ist, oder ob die Wirksamkeit von Marke-
ting und Prognostizierbarkeit des Konsumentenverhaltens nicht auch durch die Optimierung
der traditionellen Methoden (durch Big Data, nutzerspezifisches Online-Marketing, etc.) in
ausreichendem Maße erhöht werden kann.
4.2.3 Die Funktionsweise von Codes
Produkte können anhand ihrer physischen Eigenschaften, z.B. ihres Geruchs oder ihrer
Farbe, eine mentale Ebene im Gehirn aktivieren und so die Einstellung zu einem Produkt
beeinflussen bzw. die Entscheidung zum Kauf erleichtern (RAAB, GERNSHEIMER, 2009,
S. 214 ff.).
9 Eigene Darstellung, aufbauend auf SCHEIER, HELD, 2009
sofortige Antwort
< 5 Sekunden
ca. 5 Sekunden
> 5 Sekunden
(unendlich)
Implizites System/
Autopilot
Explizites System/
Pilot Reiz
4 Die Relevanz neurowissenschaftlicher Erkenntnisse für den Marketingbereich
25
In der Neurobiologie wird in diesem Zusammenhang von sog. Codes gesprochen (SCHEI-
ER, HELD, 2012, S. 62). Diese können symbolisch, sensorisch, episodisch und/ oder sprach-
lich sein und lösen eine bestimmte Reaktion aus (SCHEIER, HELD, 2012, S. 62). Codes im
Neuromarketing sind Reize, die aktiv gesendet werden, um ein bestimmtes Verhalten her-
vorzurufen. Hier ist besonders der Priming-Code von Bedeutung (SCHEIER, HELD, 2012,
S. 62). Priming heißt ins Deutsche übersetzt „Bahnung“. Darunter wird die Beeinflussung
der Verarbeitung eines Reizes verstanden, indem durch implizite subtile Signale gewisse
Assoziationen im Gehirn aktiviert werden. Es werden so - zum Großteil unbewusst - einem
(Werbe-)Reiz gewisse Assoziationen, Vorerfahrungen und Gedächtnisinhalte zugeordnet,
indem das Gehirn vorher durch einen Code (in Form eines Reizes) dafür empfänglich ge-
macht wurde. Es besteht auf diese Weise die Möglichkeit, gezielt gewisse Assoziationen zu
einem Produkt hervorzurufen und so manipulierend auf das Verhalten - also auf das Treffen
einer Kaufentscheidung - einzuwirken.
Die gesendeten Codes wirken durch die Bildung von Assoziationen im impliziten System
und rufen somit intuitive Entscheidungen hervor, ohne dass diese im expliziten System re-
flektiert bzw. hinterfragt werden. Aus der Sicht des Marketings kann auf diese Weise wirk-
sam auf das Konsumentenverhalten eingewirkt werden.
Bei dieser Annahme wird jedoch ignoriert, dass neben den beschriebenen Codes auch extrin-
sische Einflüsse bei der Entscheidung zum oder gegen den Konsum eines Produktes wirken.
So kann es z.B. sein, dass jemand durch einen Code und die damit verbundenen Assoziatio-
nen ein starkes Bedürfnis nach einem Produkt bekommt, es jedoch nicht kauft, da sein
Budget nicht reicht. Selbst wenn durch Neuromarketing möglich ist, Bedürfnisse zu wecken,
gibt dies keine Sicherheit, dass der Konsum stattfindet. Es muss somit zusätzlich (mit her-
kömmlichen Methoden) untersucht werden, in welcher Situation sich der Konsument befin-
det, welches Budget er zur Verfügung hat, etc. Möglicherweise haben die extrinsischen Fak-
toren einen derart großen Einfluss auf das Kaufverhalten, dass der Fokus auf die Beeinflus-
sung des Unterbewusstseins nicht der Schlüssel zur Optimierung des Marketings ist.
4.2.4 Das Balance-, Dominanz- und Stimulanzsystem
Ein Ergebnis der Neurobiologieforschung, welches sich die Neuroökonomen zu Nutze ma-
chen, ist die neurobiologische Zielgruppensegmentierung nach Häusel. Durch diese lassen
sich Emotionen in zwei Segmente unterteilen (HÄUSEL, 2012, S. 85):
4 Die Relevanz neurowissenschaftlicher Erkenntnisse für den Marketingbereich
26
1. Trait: In diesem Segment befinden sich alle dauerhaft bestehenden und stabilen Per-
sönlichkeitsmerkmale.
2. State: Dieses Segment beinhaltet momentabhängige und vorübergehende Stimmun-
gen, die von der jeweiligen Situation, Tageszeit, Verfassung und den Erlebnissen
einer bestimmten Person beeinflusst werden.
Für das Marketing sind die State-Emotionen von größerer Bedeutung, da diese veränderbar
sind und nur sie durch Marketingmaßnahmen beeinflusst werden können.
Zudem lassen sich Handlungsempfehlungen für Marketingstrategen aussprechen, die auf der
Zuordnung von Emotionen in verschiedene Motivsysteme aufbauen:
• Das Balance-System beinhaltet Bedürfnisse nach Zugehörigkeit, nach einem geord-
neten Leben, der Vermeidung von Risiko, nach Ruhe und Harmonie. Werden diese
Bedürfnisse angesprochen und befriedigt, entsteht bei der jeweiligen Person ein Ge-
fühl von Sicherheit und Geborgenheit. (HÄUSEL, 2014, S. 43 f.)
• Dem Dominanz-System werden Wünsche nach Macht, Durchsetzung, Anerken-
nung, Status und Autonomie sowie nach der Vermeidung von Fremdbestimmung
zugeordnet. Um dieses System zu aktivieren, müssen beim Kunden Gefühle wie
Stolz und Überlegenheit in Aussicht gestellt werden. (HÄUSEL, 2014, S. 78 f.)
• Zudem wurde noch das Stimulanz-System definiert, unter das Bedürfnisse nach Ab-
wechslung, Neuem und Individualität fallen. Langweile und Reizarmut sollen ver-
mieden werden und das Erleben von Spaß und Abenteuer suggeriert werden, um die-
ses System zu aktivieren. (HÄUSEL, 2016, 43 f.)
Diese Systeme wirken nicht bei jedem Menschen gleich, d.h., dass bei jeder Person ein an-
deres Motivsystem dominiert und reizempfänglicher als die anderen Motivsysteme ist.
Durch Hirnforschung kann ermittelt werden, welches System bei einer Person mit welchen
Reizen am besten zu erreichen ist. Das kann sich das Marketing zu Nutze machen, indem
man entsprechende Reiz-Zielgruppen bildet, die ihrer Empfänglichkeit nach mit verschiede-
nen Reizen angesprochen werden. So können Marketingstrategien individueller und wirksa-
mer gestaltet werden.
4 Die Relevanz neurowissenschaftlicher Erkenntnisse für den Marketingbereich
27
Die Grundbedürfnisse (Sexualität, Schlaf, Nahrung, Bindung und Fürsorge) sind dagegen
bei prinzipiell jedem Menschen vorhanden.10 Diese sichern das Überleben und tragen zur
Weiterentwicklung bzw. Fortpflanzung bei. Die Grundbedürfnisse sind somit leichter zu
entschlüsseln als die Motivsysteme einer Person. Aus der Perspektive des Marketings ist es
dennoch sinnvoller, die Motivsysteme zu analysieren und auf sie Einfluss zu nehmen, da es
bei dem Großteil der angebotenen bzw. umworbenen Produkte am Markt nicht um die Si-
cherung der Grundbedürfnisse geht. Mit der Analyse der Motivsysteme können somit Be-
dürfnisse ermittelt werden, die über die Grundbedürfnisse hinausgehen. Durch die Kenntnis
des einflussreichsten Motivsystems kann erkannt werden, wie diese Bedürfnisse am besten
bewusst gemacht bzw. geweckt werden können.
Auch an dieser Stelle handelt es sich im Endeffekt (anders als von u.a. Häusel kommuniziert)
nicht um neue Erkenntnisse, sondern um die Verknüpfung von bestehenden psychologischen
Konzepten mit den Erkenntnissen der Neurowissenschaft. Zudem stellt sich die Frage nach
der Umsetzbarkeit bzw. Anwendbarkeit dieser Erkenntnisse. Jede Person müsste sich den
neurowissenschaftlichen Untersuchungen aussetzen und zudem müsste dem Unternehmen,
welches die Forschung in Auftrag gegeben hat, im Nachhinein dauerhaft erkenntlich ge-
macht werden, welcher Reiz-Zielgruppe diese Person zugeordnet wurde. Das erscheint nicht
praktikabel.
4.3 Die Rolle von Emotionen
Emotionen sind innere Empfindungen, die positiv oder negativ wahrgenommen werden kön-
nen. Beispiele sind u.a. Freude, Trauer, Überraschung oder Angst. Sie werden durch neuro-
nale Prozesse gebildet und werden dem Menschen durch ein Zusammenspiel verschiedener
physischer Reaktionen (z.B. Schweißausbruch, Lachen, Weinen, etc.) und Gedanken (z.B.
Interpretationen, Erinnerungen, etc.) bewusst. Emotionen setzen sich aus dem Empfangen
eines Reizes und der sich daraus entwickelnden kognitiven Komponente zusammen. Diese
kognitive Komponente kann eine Erfahrung, Erinnerung, Interpretation oder Bewertung
sein. Die kognitive Komponente wird dadurch beeinflusst, welche Stimmung durch den Reiz
10 Ausgenommen sind Menschen mit gesundheitlichen Störungen.
4 Die Relevanz neurowissenschaftlicher Erkenntnisse für den Marketingbereich
28
ausgelöst wird: Positiv empfundene Emotionen unterstützen meist eine positive Bewertung
einer Sache, negatives Empfinden eher negative Bewertungen.11
Das Empfangen eines Reizes geschieht unbewusst im impliziten System. Die kognitive
Komponente liegt im expliziten System. Laut Scheier und Held korrelieren implizite und
explizite Aktivierung nur gering (r=19) miteinander (KREUTZER, 2008, S. 307 f.). Somit
muss eine unbewusste (implizite) Aktivierung nicht ins Bewusstsein gelangen.
Im impliziten System kann ein Vielfaches mehr an Informationen verarbeitet werden, als es
im expliziten System der Fall ist: Vor allem, wenn eine Person unter Zeitdruck steht, von
Reizen überflutet wird, wenig Interesse an einer Sache hat oder sich bezüglich einer Ent-
scheidung (z.B. aufgrund starker Ähnlichkeit zweier Produkte) unsicher ist, übernimmt das
implizite System die „Entscheidungsmacht“ (SCHEIER, 2008, S. 309 ff.). Da im impliziten
System mehr Informationen (in Form von Emotionen) verarbeitet werden und nur wenige
von ihnen ins Bewusstsein gelangen, spielen Emotionen bei der Entscheidungsfindung einer
Person eine größere Rolle als kognitive, bewusste Prozesse.
Für den einzelnen Menschen ist nicht bewusst nachvollziehbar, welcher Reiz eine bestimmte
Emotion im impliziten System und die darauffolgende physische Reaktion (und gegebenen-
falls eine Entscheidung) auslöst. Er kann die Emotion lediglich mit einem Auslöser12 in Ver-
bindung bringen, ist sich aber überwiegend nicht darüber bewusst, dass bereits eine implizite
Aktivierung zur Entscheidungsfindung stattgefunden hat.
Emotionen sind somit stark entscheidungsrelevante Variablen. Ökonomisches Handeln rich-
tet sich also nicht nur an der Rationalität, sondern auch an den Emotionen und Motivfeldern
der Konsumenten aus. Der Wunsch nach dem Kauf eines Produktes kann durch ein Unter-
nehmen besser ausgelöst bzw. verstärkt werden, wenn die Emotionen eines Menschen ange-
sprochen werden: Der Mensch assoziiert durch die gesendeten Reize einen bestimmten Ge-
fühlszustand, der scheinbar durch den Kauf des Produktes erreicht werden kann. Vor allem
Marketingmethoden, die negative Emotionen verringern und positive Emotionen wecken
11 Eine allgemeingültige, wissenschaftliche Definition von Emotionen gibt es (bisher) nicht. Die vorliegende
Umschreibung des Begriffs wurde aufbauend auf verschiedenen Quellen selbst verfasst: SCHERER, 1997; MERKLE, KREUTZER, 2008; BOSCH, SCHIEL, WINDER, 2006
12 Mit Auslöser ist hier z.B. ein Gegenstand, eine Farbe, ein Geruch, ein Geräusch setc. gemeint.
4 Die Relevanz neurowissenschaftlicher Erkenntnisse für den Marketingbereich
29
(z.B. das Zeigen eines Werbespots mit einer glücklich wirkenden Familie) , sind gegenüber
dem Senden von informativen Daten ohne emotionale Komponente (z.B. technische Daten)
wirksam.
Da dem Menschen dies oft erst anhand seiner physischen Reaktion bewusstwird, kann er
laut Diplompsychologe Bischof nicht antizipieren, ob der Reiz gezielt durch die Marketing-
kampagne eines Unternehmens gesendet wurde, oder ob die Emotion tatsächlich durch das
Produkt bzw. seine Eigenschaften ausgelöst wurde (BISCHOF, 2001). Aus ethischer Per-
spektive kann sich hier das Problem der Manipulation ergeben.13
Um die emotionalen Strukturen des Gehirns eines Menschen darzustellen und analysieren
zu können, wird die Technik des Neuroimaging angewendet. Dies wird von Gruber folgen-
dermaßen erläutert: Durch Neuroimaging kann die Hirnregionen-übergreifende Steuerung
durch neuronale Netzwerke abgebildet werden. Die Netzwerkkonstellation ist variabel, was
bedeutet, dass Individuen für identische kognitive Aufgaben unterschiedliche Lösungsstra-
tegien entwickeln. Man kann die Netzwerkkonstellationen und ihre wechselseitigen Bezie-
hungen entschlüsseln und darstellen. Dies beschränkt sich jedoch auf rein physiologische
Vorgänge und keine kausalen Zusammenhänge. (GRUBER, 2016, S. 5 ff.)
Es ist also (bisher) nicht möglich, mittels Neuroimaging festzustellen, warum das Gehirn
eines Individuums eine bestimmte Netzwerkkonstellation aufweist und was diese beein-
flusst. An dieser Stelle können die Lösungsfindung bzw. Entscheidungsfindung nicht beein-
flusst werden. Es kann jedoch dargestellt werden, wie diese Konstellationen aussehen und
wie und wo bestimmte Reize auf die kognitiven Systeme wirken.
4.3.1 Die Rolle der Emotionen bei der Markenbindung
Neuromarketing kann die Bindung der Kunden an eine Marke effektiver gestalten, da die
Marketingtreibenden neurowissenschaftliche Erkenntnisse darüber erhalten, welche Kom-
ponenten der Darstellung einer Marke die kognitiven Prozesse der Entscheidungsfindung
einer Person besonders beeinflussen. Das bedeutet, dass erkennbar wird, was ein Konsument
besonders an einer Marke schätzt und wie das Marketing aussehen muss, um die Bindung
an die Marke zu sichern.
13 Das ethische Problem der Möglichkeit zur Manipulation wird in den folgenden Kapiteln diskutiert.
4 Die Relevanz neurowissenschaftlicher Erkenntnisse für den Marketingbereich
30
Ob dazu jedoch Erkenntnisse über und die Einflussnahme auf die neuronalen Strukturen im
Gehirn einer Person wichtig sind, ist fraglich. Wie schon erläutert (vgl. Kapitel 2.1) kann
Markenbindung z.B. auch durch Empfehlungen von Freunden oder Familienmitgliedern ent-
stehen. Die Wirkung dieser Empfehlung basiert zwar auf der emotionalen Verbundenheit
mit und dem Vertrauen zu diesen Personen, bedarf aber keiner Untersuchung und direkten
Einwirkung auf neuronale Prozesse durch die Marketingtreibenden.
Die emotionale Bindung eines Konsumenten an eine Marke stellt für ein Unternehmen einen
bedeutenden Wettbewerbsvorteil dar. Meffert und Buhmann definieren eine Marke als ein
Bild von einem Produkt oder einer Dienstleistung in der Psyche eines Konsumenten, mit
dem bestimmte Eigenschaften und Werte verbunden werden (MEFFERT, BUHMANN,
1998, S. 82). Durch fMRT-Untersuchungen (vgl. Kapitel 5.2.2) wurde der sog. „Lieblings-
dukte und Dienstleistungen sollen durch den Einbezug der Neurowissenschaft somit besser
den Bedürfnissen der Konsumenten entsprechen. Damit kann eine Erhöhung der Zufrieden-
heit der Konsumenten angestrebt werden, wobei es sich um ein ethisch legitimes Ziel han-
delt.
Durch die Anpassung der Werbemethoden entsprechend den neurowissenschaftlichen Er-
kenntnissen wird das Ziel verfolgt, den Werbeprozess durch noch gezieltere Ansprache der
Emotionen, Bedürfnisse und Reizempfänglichkeit der Konsumenten effektiver zu gestalten.
Dies ist zunächst kein ethisch problematisches Ziel. Da es bei Effektivitätsfragen immer
auch um Kosten geht, kann das Wohl der Konsumenten verglichen mit den Profitzielen der
Unternehmen aber in den Hintergrund geraten: Neuromarketing-Methoden zur Verbesse-
rung des Profits können sich negativ auf das Wohl der Konsumenten auswirken.
Möglicherweise zielen die Methoden nicht auf eine Stärkung der Konsumentensouveränität,
sondern auf eine Schwächung dieser durch die Lenkung der Bedürfnisse und des Verhaltens
der Konsumenten ab: Mit der Anwendung von Neuromarketing kann durch die Einbindung
der Emotionen das Ziel verfolgt werden, keine rationalen, sondern im impliziten System
erzeugte Entscheidungen hervorzurufen. Durch Neuromarketing ist es (verglichen mit den
traditionellen Marketing-Methoden) möglich, die Entscheidungsfindung einer Person zu
6 Die Neuromarketing-Methoden
60
unterstützen, da durch die bloße Übermittlung von Informationen nur das explizite System
angesprochen wird. Da nach den neurowissenschaftlichen Erkenntnissen die Entscheidungs-
findung zum Großteil aber im impliziten System stattfindet, sind die Methoden des Neuro-
marketings nötig, um dieses anzusprechen. Dies kann insofern eine Schwächung der Kon-
sumentensouveränität bedeuten, als die Konsumenten durch das Werben der Unternehmen
mit emotionalisierten Botschaften unbewusst zu einem bestimmten Verhalten getrieben wer-
den. Ihre Entscheidungsmacht kann so reduziert werden und sie haben keine Chance, die
Produzentenseite zu beeinflussen, wie es beim Vorhandensein von Konsumentensouveräni-
tät ist.
Ethisch relevant ist die Frage, inwieweit es die Neuromarketing-Methoden den Produzenten
ermöglichen, die Bedürfnisstrukturen und allgemeinen gesellschaftlichen Wertmuster zu be-
einflussen, indem sie Assoziationen in den Gehirnen der Konsumenten konstruieren, die zei-
gen, was z.B. Status ist. Somit könnten die Unternehmen durch Neuromarketing soziale
Kontrolle ausüben und zu Gunsten der Generierung von Gewinnen die Konsumentensouve-
ränität einschränken. Inwiefern die Ziele in einer Einschränkung des freien Willens, der Ge-
nerierung von Bedürfnissen und der Manipulation der Konsumenten liegen, wird im Folgen-
den diskutiert.
6.2.1.1 Die gezielte Einflussnahme auf den freien Willen
Der Wille eines Menschen wird durch neuronale Eigenschaften seines Gehirns bestimmt.
Urteilsvermögen, Rationalität und moralisches Verständnis sind von den emotionalen Rah-
menbedingungen abhängig, denen ein Individuum ausgesetzt ist. Durch eine Beeinflussung
der emotionalen (neuronalen) Prozesse einer Person kann somit die Möglichkeit bestehen,
den Willen dieser Person zu lenken. Da die Neuromarketing-Methoden genau an dieser
Stelle ansetzen, wie z.B. Häusel und Scheier und Held ihre Modelle beschreiben (vgl. Kapi-
tel 6.1), kann Neuromarketing mit dem Ziel der Beeinflussung des freien Willens einer Per-
son angewendet werden. Hierbei geht es vor allem um den „Konsum-Willen“.
Die Verfolgung dieses Ziels bedeutet insofern gleichzeitig eine Einschränkung der Konsu-
mentensouveränität, als der (Konsum-)Wille einer Person zu ökonomischen Zwecken instru-
mentalisiert wird: Der Mensch hat kein bewusstes Verlangen nach einem Produkt und ist in
seinem Wohlbefinden durch den Nicht-Konsum nicht bewusst eingeschränkt. Das Verlan-
gen wird durch die Neuromarketing-Methoden geweckt und ist somit nicht natürlich ins
6 Die Neuromarketing-Methoden
61
Bewusstsein geraten, sondern von den Marketingtreibenden erzeugt und/ oder bewusst ge-
macht worden. Es wird so ein Zustand hervorgerufen, der vom Konsumenten nicht (bewusst)
erwünscht war, was eine Einschränkung des freien Willens und eine Bevormundung bedeu-
ten kann.
Mit der Einflussnahme auf den freien Willen können jedoch auch gemeinwohlfördernde
Ziele verfolgt werden: Die Anwendung von Neuromarketing kann darauf abzielen, schädli-
chen Konsum (z.B. von Alkohol, Waffen etc.) zu mindern oder den Konsum von z.B. ge-
sundheitsförderlichen Produkten zu erhöhen, indem entsprechend auf die neuronalen Struk-
turen eingewirkt wird.
Auch bei der Absicht, das Wohlbefinden der Gesellschaft zu erhöhen, handelt es sich aber
um eine Einschränkung des freien Willens. Es ist ethisch nicht legitim, jemandem aufzu-
zwingen, „glücklicher“, „zufriedener“, „gesünder“ etc., zu leben. Auch mit Maßnahmen, die
ein „gutes Leben“ fördern können, wird die Freiheit der selbstbestimmten Entscheidungen
und somit die Konsumentensouveränität durch Neuromarketing eingeschränkt.
Die gemeinwohlfördernden Ziele können außerdem als moralische Legitimation zur Anwen-
dung der Methoden gedeutet werden. Zum einen gibt es keine allgemeingültige Definition
des „guten Lebens“, die für jeden Menschen gleichermaßen gilt, an der sich die Anwender
von Neuromarketing orientieren können. Zum anderen bedeutet eine Einschränkung des
freien Willens immer eine Verletzung der Grundrechte und ist somit nicht legitim. Wird mit
der Anwendung von Neuromarketing das Ziel der Beeinflussung des freien Willens verfolgt,
ist es als ethisch verwerflich einzuordnen.
6.2.1.2 Die Generierung von Bedürfnissen
Mit der Anwendung von Neuromarketing kann u.a. das Ziel verfolgt werden, das Verhalten
der Konsumenten zu beeinflussen. Durch den Einbezug der Neurowissenschaft kann besser
ermittelt werden, wie sie zu Käufern gemacht werden können - durch die Methoden soll dies
in die Tat umsetzbar gemacht werden. Anders als im Falle der Anpassung von Produkten
und Dienstleistungen wird laut Henning mit der Anpassung der Werbemethoden das Ziel
verfolgt, den Konsum zu erhöhen, um den Unternehmensgewinn zu steigern (HENNING,
2006, S. 120). Die Werbemaßnahmen sollen effektiver werden, indem die Emotionen der
Konsumenten instrumentalisiert werden. Die Emotionen sind in diesem Fall ein Mittel der
6 Die Neuromarketing-Methoden
62
Neuromarketing-Methoden dazu, das Konsumverhalten zu beeinflussen. Die Methoden set-
zen nicht an den (bewussten) Erwartungen (vgl. Kapitel 2.1), sondern am impliziten System
der Konsumenten an. Sie greifen somit in deren unmittelbaren, persönlichen Lebensbereich
ein, ohne, dass die Konsumenten etwas davon merken sollen. Es geht in diesem Fall nicht
um die Bereitstellung von Informationen zur Unterstützung einer rationaler Entscheidungs-
findung, sondern um einen gezielten Eingriff in die Autonomie der Konsumenten, was somit
aus ethischer Perspektive problematisch ist.
Ethisch verwerflich kann die Ausrichtung der Neuromarketing-Methoden am Unterneh-
mensgewinn laut Brandt sein, da sie zu Konsumzwang bzw. übermäßigem Konsum führen
können (BRANDT, 2011, S. 3). Es wird in diesem Fall darauf abgezielt, den „Kauf-Knopf“
der Konsumenten zugunsten der Unternehmen zu drücken: Die Anbieter reden den Verbrau-
chern die Wichtigkeit immer neuer Produkte durch psychologische Tricks ein. Es geht in
diesem Fall nicht mehr um die Deckung der Grundbedürfnisse, sondern rein um die Ver-
mehrung des Konsums zu Gewinnzwecken. Die Unternehmen haben somit Verkaufsabsich-
ten, obwohl der Markt bereits (nahezu) gesättigt ist. Das bedeutet, dass die Konsumenten
eigentlich kein Verlangen nach neuen Produkten und Dienstleistungen haben und diese Be-
dürfnisse erst erzeugt werden müssen, damit sie zu einer Konsumentscheidung führen. Neu-
romarketing kann insofern mit dem Ziel der Vermehrung des Konsums verfolgt werden.
Man verspricht sich durch den Einbezug der Neurowissenschaft bessere Möglichkeiten zum
Wecken von Bedürfnissen, als es mit traditionellen Marketingmethoden möglich ist.
Von der Anwendung von Neuromarketing erwarten Unternehmen sich also, dass ihnen der
„Kauf-Knopf“ der Konsumenten zugänglich ist und sie diesen betätigen, ohne dass die Kon-
sumenten es merken bzw. etwas dagegen tun könnten - die Souveränität liegt in diesem Fall
bei den Produzenten und die Konsumenten haben keine Macht, die Produzentenseite zu be-
einflussen.
Auch an der Stelle ist hinzuzufügen, dass es keine Beispiele und somit keinen Beweis dafür
gibt, dass durch Neuromarketing der Kauf-Knopf gefunden und betätigt werden kann. Das
damit verfolgte Ziel in Form der Herbeiführung von (übermäßigem) Konsum ist ethisch ver-
werflich. Allerdings scheint es sich hierbei eher um ein Versprechen der Neuromarketing-
Entwickler an die Unternehmen, als um ein bestehendes Tool zu handeln. In diesem Fall
handelt es sich also einen Marketing-Trick der Neuromarketing-Entwickler, der den
6 Die Neuromarketing-Methoden
63
Unternehmen mehr verspricht, als tatsächlich möglich ist. Die Wirksamkeit wird durch den
Eindruck vermittelt, dass es sich um eine wissenschaftlich begründete Methode handelt. Dies
entspricht jedoch nicht der Realität, da in Wirklichkeit nur einzelne neurowissenschaftliche
Erkenntnisse zur Legitimation der Methoden einfließen.
Im Neuromarketing wird die Marktfunktion der Information durch die Konstruktion von As-
soziationen ersetzt. Die Konsumenten können so den Nutzen der Produkte nicht richtig ein-
schätzen und handeln allein auf Basis emotional beeinflusster Strukturen. Die Entwickler
der Neuromarketing-Methoden, z.B. Häusel und Scheier und Held, versprechen, dass die
Konsumenten durch die Bildung von Assoziation einen bestimmten emotionalen Zustand
mit einem bestimmten Produkt verbinden: Die Konsumenten bekommen vermittelt, durch
den Konsum eines Produktes eine bestimmte (positive) Gefühlslage erreichen zu können.
Laut Scheier und Held kann Konsum ein Ungleichgewicht in den Gehirnsystemen von Kon-
sumenten ausgleichen. Ist z.B. das Dominanz-System (vgl. Kapitel 2.2) eines Menschen
stark aktiv, kann dies durch den Kauf eines Statussymbols, der das Dominanz-System be-
friedigt, ausgeglichen werden (SCHEIER, 2008, S. 314). Das bedeutet, dass Unternehmen
gezielt Reize in die verschiedenen Systeme im Gehirn senden können, die diese aktivieren
und die Konsumenten so zum Handeln, also zum Konsumieren, bringen können, um das
entstandene (durch die Unternehmen erzeugte) Ungleichgewicht auszugleichen. Dieses Un-
gleichgewicht bzw. eher die Beseitigung des Ungleichgewichts kann mit einem Bedürfnis
gleichgesetzt werden. Das bedeutet, dass Unternehmen auf diese Weise gezielt Bedürfnisse
wecken können, ohne dass diese „natürlich“ entstanden sind. Diese Bedürfnisse kann man
also als Konstruktionen der Unternehmen in den Köpfen der Konsumenten verstehen.
Ethisch problematisch ist dies, da es eine gezielte Täuschung der Konsumenten bedeutet.
Neuromarketing wird in diesem Fall angewendet, um die Emotionen und Reizempfänglich-
keit der Konsumenten mit dem Ziel auszunutzen, Bedürfnisse zu wecken, die per se nicht
vorhanden sind. Diese Bedürfnisse existieren zwar möglicherweise im Unterbewusstsein,
können aber aus Konsumentensicht mit einem nicht vorhandenen Bedürfnis gleichgesetzt
werden, da sie unbewusst sind. Erst durch die Neuromarketing-Methoden sollen sie ins Be-
wusstsein gelangen und auf diese Weise geweckt werden. Das schränkt die Souveränität der
Konsumenten ein, da sie das Marktgeschehen nicht durch ihre eigenen (bewussten) Bedürf-
nisse und Präferenzen steuern, sondern durch die, die von den Unternehmen erzeugt wurden.
Somit tragen die Produzenten die Souveränität.
6 Die Neuromarketing-Methoden
64
Ethisch problematisch ist dies, abgesehen von dem Täuschungscharakter auch deshalb, da
sich dieses Ziel negativ auf das bewusste Wohl des Konsumenten auswirken kann. Der Kon-
sum hat in diesem Fall einen Belohnungscharakter, was bedeutet, dass durch Neuromarke-
ting vermittelt wird, dass dieser Zustand bei Nicht-Konsum nicht erreicht werden kann. Das
kann das Wohl von Menschen schmälern, bei denen Bedürfnisse geweckt werden, deren
Befriedigung mittels Konsums sie sich nicht leisten können. Sowohl ihre Unzufriedenheit
als auch soziale Ungleichheit kann so steigen.16 Neuromarketing kann in diesem Fall unter-
stützen, das Glückempfinden einer Person vom Konsum abhängig zu machen.
Dazu muss allerdings gesagt werden, dass das Senden von Reizen an bestimmte Gehirnare-
ale nicht möglich ist. Es kann lediglich gemessen werden, wo ein Reiz eine Aktivierung im
Gehirn hervorruft. Somit können sie durch Neuromarketing auch nicht in einen bestimmten
emotionalen Zustand versetzt werden, der ein Bedürfnis nach einem spezifischen Produkt
auslöst. Somit ist es auch nicht möglich, durch Neuromarketing das Unterbewusstsein be-
wusst werden zu lassen, wie es von Häusel und Co. versprochen wird. Das mit dem Verspre-
chen verfolgte Ziel und die Anwendung der Neuromarketing-Methoden aus diesen Zwecken
ist aus den genannten Gründen ethisch verwerflich, allerdings stellt die Anwendung von
Neuromarketing diesbezüglich keine größere Gefahr dar, als die herkömmlichen Marketing-
Methoden.
Neuromarketing kann auch den Konsum gefährlicher Produkte wie Waffen oder Drogen an-
treiben. Der Anteil der adipösen Bevölkerung steigt, was mit der Schaffung von Bedürfnis-
sen nach (ungesunden) Lebensmitteln zusammenhänge (ULMANN, CAKAR, YILDIZ,
2015, S. 1278). Inwieweit dies nun tatsächlich mit den Neuromarketing-Methoden zusam-
menhängt wurde bisher nicht nachgewiesen, allerdings ist das Ziel, durch die Anwendung
von Neuromarketing schädlichen Konsum zu generieren, als ethisch verwerflich einzustu-
fen.
Neuromarketing könnte in diesem Kontext die ethische Problematik der traditionellen Mar-
ketingmethoden vergrößern, da die Transparenz der Werbung durch Neuromarketing
16 Auf die detaillierte Beschreibung der Folgen der Weckung von Bedürfnissen bzw. der Generierung von
erhöhtem Konsum wird hier verzichtet, da diese nicht allein durch Neuromarketing entstehen. Neuromar-keting kann lediglich eine Möglichkeit darstellen, einen Beitrag zur Generierung von Bedürfnissen zu leis-ten.
6 Die Neuromarketing-Methoden
65
geringer sein soll bzw. ist. Die Konsumenten können noch weniger unterscheiden und re-
flektieren, welches Bedürfnis bzw. welcher Konsumwunsch eine emotionale Konstruktion
der Unternehmen ist und was von ihnen selbst kommt. Bei einer Ausrichtung des Neuromar-
ketings am Unternehmensgewinn kann genau das das Ziel sein: die Souveränität und Auto-
nomie der Konsumenten und die Transparenz am Markt einzuschränken, um „blinden“ Kon-
sum voranzutreiben.
Insgesamt kann jedoch der soziale Charakter des Konsums nicht außer Acht gelassen wer-
den. Die Präferenzen eines Menschen entstehen zwar individuell im Gehirn, können jedoch
durch äußere Umstände, die Kultur, die Familie etc. stark beeinflusst werden. Die Orientie-
rung am Umfeld ist somit ein entscheidender Faktor für den Konsum. Das bestätigt wie be-
reits erwähnt die Tatsache, Kunden im Internet weniger auf Marketingbotschaften und mehr
auf den F-Faktor reagieren (KOTLER, 2017, S. 47). Es gibt bisher keine Beispiele dafür,
dass ein „Eindringen“ ins Gehirn den Konsum besser beeinflusst, als der F-Faktor.
6.2.1.3 Gezielte Manipulation
Die auf neurowissenschaftlichen Erkenntnissen aufbauende Gestaltung der Werbung kann
laut Henning auch zum Ziel haben, die Reizüberflutung zu mindern und Fehlkäufe der Kon-
sumenten zu vermeiden. In der Werbung werden nur noch wirksame Reize gesendet und den
wahren Bedürfnissen der Konsumenten entsprechende Produkte umworben. (HENNING,
2006) Da es sich beim Neuromarketing um kein neutrales Tool handelt, sondern um eine
Möglichkeit, die auf die Erhöhung des Konsums zur Steigerung des Unternehmensgewinns
abzielt, erscheint dieses Ziel im ökonomischen Kontext weniger realistisch. Im Gegenteil
kann Neuromarketing eher dazu genutzt werden, das Verhalten der Konsumenten zu steuern,
ohne dass diese sich dessen bewusst sind. Das Ziel ist aus diesem Gesichtspunkt die Mani-
pulation der Konsumenten.
Allerdings ist fraglich, wie diese Manipulation in die Tat umgesetzt werden soll. Um Neu-
romarketing wirksam zu machen, muss der Konsument am point of sale identifiziert und
einer Zielgruppe zugeordnet werden, um dann entsprechende Reize gesendet bekommen.
Das ist allein deshalb nicht umsetzbar, da nicht jeder Konsument mit neurobiologischen Me-
thoden untersucht werden kann - schon gar nicht am point of sale direkt, da dafür Messungen
direkt am Gehirn nötig wäre. Somit kann die Werbung zwar im Vorfeld auf die Mehrheit
der untersuchten Konsumenten ausgerichtet werden, indem anhand der Untersuchung dieser
6 Die Neuromarketing-Methoden
66
statistisch ermittelt wird, welche Reize am besten wirken. Damit werden jedoch nicht die
„wahren Bedürfnisse“ der Konsumenten ermittelt, sondern (genauso wie bei den herkömm-
lichen Marketing-Methoden) Heuristiken bezüglich der Bedürfnisse und Präferenzen gebil-
det.
Neuromarketing kann die Gefahr mit sich bringen, Manipulationsmöglichkeiten in unvor-
hersehbarem Ausmaß zu fördern: Es kann die Möglichkeit bestehen, bestimmte Stimuli zu
senden, die zu bestimmten Reaktionen (Käufen) führen (McDOWELL, DICK, 2013, S. 27).
Neuromarketing wirkt in diesem Fall manipulierend statt informierend - und zwar in größe-
rem Ausmaß als traditionelle Methoden. Ziel der Unternehmen ist in diesem Fall somit, nicht
über die Produktmerkmale und -eigenschaften „von außen“ auf das Verhalten der Konsu-
menten einzuwirken, indem man sie selbst entscheiden lässt, welches Produkt am besten
ihren Präferenzen entspricht (Information). Neuromarketing soll in diesem Fall die Chance
bieten, direkten und vor allem unbemerkten Einfluss auf den Entscheidungsprozess zu neh-
men, um ihn den eigenen Zielen nach zu beeinflussen (Manipulation).
Hierbei handelt es sich vorranging jedoch mehr um ein Ziel, als um eine realistische Mög-
lichkeit, da das Senden von bestimmten Stimuli nicht dazu genutzt werden kann, eine vorher
festgelegte Stelle im Gehirn zu treffen und dadurch eine gewünschte Reaktion hervorzuru-
fen. Neuromarketing werden somit größere Wirkungsfähigkeit zugesprochen, als tatsächlich
vorliegt. Gezielte Manipulation ist nichtsdestotrotz ein ethisch verwerfliches Ziel.
Wie von Lee und Butler beschrieben, wird die Entscheidungsfindung durch Überlebens- und
Belohnungsmechanismen beeinflusst (LEE, BUTLER, 2010, S. 130 f.). Unternehmen kön-
nen sich dies zu Nutze machen, indem sie in der Werbung darstellen, was als Belohnung
wahrgenommen wird bzw. was den Konsumenten suggeriert, zum Überleben „nötig“ zu
sein. Neuromarketing kann dies möglich machen: Reize, mit denen Konsumenten Beloh-
nung assoziieren, aktivieren Hirnareale stärker, was die Werbeanzeige attraktiver erscheinen
lässt. Durch die Kenntnis darüber, welche Areale im Gehirn auf welche Reize reagieren,
können Emotionen abgebildet werden. Darauf aufbauend können die Werbebotschaften laut
Lee und Butler gezielt mit gewissen Reizen aufgeladen werden, die im Gehirn die gewünsch-
ten Emotionen wecken (LEE, BUTLER, 2010, S. 130).
6 Die Neuromarketing-Methoden
67
Die Methoden des Neuromarketings werden in diesem Fall dazu genutzt, eine Kaufentschei-
dung bei den Konsumenten hervorzurufen, ohne dass diese etwas davon mitbekommen sol-
len. Wer nicht bewusst kaufen will, kann kaufbereit gemacht werden. Sie sollen in ihrer
Konsumentensouveränität also bewusst eingeschränkt werden. Der Konsum soll auf Auto-
piloten gestellt werden - bzw. die Unternehmen zu Piloten gemacht werden.
6.2.2 Reflexion der Umsetzbarkeit der Neuromarketing-Methoden
Anhand der zwei ausgewählten Methoden (Limbic® und Brand-Code-Managementä) wird
nun diskutiert, wie die jeweils verfolgten Ziele in der Praxis aussehen, welche Konsequenzen
sie auf die Konsumenten und ihre Souveränität haben können und wie die Umsetzung der
Methoden aus ethischer Perspektive bewerten werden kann.
6.2.2.1 Reflexion Limbic®
Die Forschung hinter Limbic® hat zum Ziel, unterbewusste Entscheidungsstrukturen zu ent-
schlüsseln (vgl. Kapitel 6.1.1). Dies kann dazu beitragen, die Konsumenten „gläsern“ zu
machen, da sie anhand ihrer emotionalen Strukturen auf einer Karte abgebildet und je nach
Reizempfänglichkeit verschiedenen Emotionstypen zugeordnet werden. So kann eine Über-
sicht erstellt werden, welcher Konsumententyp mit welchen Reizen angesprochen werden
sollte, um den Konsum eines bestimmten Produktes wahrscheinlicher zu machen. Das be-
deutet für den Einzelnen, dass er bezüglich seiner Reizempfänglichkeit durchschaubar, also
gläsern, ist. Außerdem kann Limbic® in diesem Fall negative Konsequenzen für seine Sou-
veränität darstellen, da es eine Einschränkung seiner Privatsphäre und Handlungsfähigkeit
bedeutet und der „Kauf-Knopf“ zugänglich gemacht werden kann. Voraussetzung dafür ist
jedoch, dass Limbic® tatsächlich das leistet, was es verspricht.
Sollte es auch den Versuchsteilnehmern möglich sein, die Ergebnisse der Untersuchungen
einzusehen, können sie somit auch etwas über sich selbst und ihre Emotionsstrukturen er-
fahren. Ob das jedoch zu ihrer Souveränität beiträgt, ist fraglich, da sie sich in diesem Fall
ihrem Konsumtyp zwar bewusst sind, ihre Entscheidungen letztendlich trotzdem implizit
und nicht zwangsläufig bewusster getroffen werden. Für die Unternehmen sind die Erkennt-
nisse somit besser verwertbar und können ihnen mehr Souveränität verschaffen, da die Kon-
sumenten mit den Erkenntnissen weniger anfangen können, als sie. Sie wissen mehr über die
Emotionen und Entscheidungsprozesse der Konsumenten als diese selbst.
6 Die Neuromarketing-Methoden
68
Allerdings ist es nicht möglich, personenbezogene Daten in den Karten abzubilden. Sie stel-
len somit nur einen Querschnitt der Versuchsstichprobe dar und können zum jetzigen Zeit-
punkt auch noch nicht auf die Allgemeinheit übertragen werden. Es ist möglich, durch den
Einbezug von Emotionen die Konsumenten spezifischer in verschiedene Gruppen einzuord-
nen und darauf aufbauend gezieltere Marketinginstrumente zu entwickeln. Damit sich dies
negativ auf den Einzelnen auswirkt, müssen die Unternehmen aber entsprechende Daten
über ihre Konsumenten besitzen. Die Konsumenten müssen dem zustimmen, was bedeutet,
dass sie selbst für ihr „Durchschaubarsein“ verantwortlich sind.
Diese Neuromarketing-Methode bzw. ihre Anwendung kann ethisch verwerflich sein, wenn
das Ziel ist, die Privatsphäre des einzelnen Konsumenten einzuschränken. Seine emotionalen
Strukturen könnten auf den Karten abgebildet werden, um sichtbar zu machen, wie sein
Kaufverhalten beeinflusst werden kann. Ziel wäre somit die Einschränkung seiner Autono-
mie und Souveränität, um die Gewinne des Unternehmens zu maximieren.
Die Anwendung von Limbic® bietet laut Häuser momentan (noch) keine Möglichkeit, die
Konsumenten durchschaubar zu machen und ihre „Kauf-Knöpfe“ zu entschlüsseln (HÄU-
SER, 2012). Es wurden zwar einige Erkenntnisse bezüglich der neuronalen Emotions- und
Bedürfnisstrukturen der Konsumenten erzielt, allerdings konnten diese bisher nicht in wirk-
same Marketing-Tools umgesetzt werden. Das kann bedeuten, dass die Entwickler und Ver-
treiber von Limbic® mehr versprechen, als durch die Methode überhaupt möglich ist, und
der Einbezug der Neurowissenschaft als Verkaufsargument und Legitimation der Methode
gesehen werden kann.
Die Methode an sich stellt in diesem Fall zwar keine Gefahr negativer Konsequenzen für die
Konsumenten dar, allerdings kann es zur Täuschung der Verwender von Limbic® aufgrund
fehlender Wirksamkeit kommen. Unabhängig davon sind die mit der Methode verfolgten
Ziele als ethisch verwerflich einzustufen.
6.2.2.2 Reflexion Brand-Code-Management
Bezüglich des Brand-Code-Managementäs kann ähnlich argumentiert werden:
Das Brand-Code-Managementä (vgl. Kapitel 6.1.2) kann die Konsumenten gläsern ma-
chen, wenn ihre emotionalen Motive offengelegt werden. Das bedeutet, dass, ähnlich wie
bei Limbic®, Erkenntnisse über die Funktionsweise ihrer Emotionen und ihr
6 Die Neuromarketing-Methoden
69
Unterbewusstsein erlangt werden. Durch die Ermittlung der emotionalen Motive wird deut-
lich, welche Codes besonders gut in den kognitiven Strukturen verarbeitet bzw. entschlüsselt
werden können. Diese Informationen haben die Konsumenten selbst nicht über sich, da sie
im unbewussten Teil ihrer Gehirne vorliegen. Sie können durch die entsprechende For-
schung zwar etwas darüber erfahren, allerdings finden die Untersuchungen zu kommerziel-
len Zwecken statt und gelangen somit an die Unternehmen. Diese erhalten so einen Einblick
in den direkten persönlichen Lebensbereich der Konsumenten und haben zum Ziel, deren
„Kauf-Knopf“ durch die Ermittlung wirksamer Codes zu finden.
„Nachhaltige“ Verhaltenssteuerung bedeutet, dass Unternehmen mit neurowissenschaftli-
chen Methoden ihre Marken so positionieren, dass diese die Dominanz- oder Stimulanz-
Systeme der Konsumenten aktivieren, um einen Konsumwunsch zu erzeugen, durch den die
Aussicht auf „Belohnung“ (in Form von z.B. größerer Autonomie) suggeriert wird. (SCH-
EIER, HELD, 2012, 178 ff.)
Es ist jedoch auch bezüglich des Brand-Code-Managementäs momentan noch der Fall, dass
die gewonnenen Daten bisher keine Auswirkungen auf die Konsumentensouveränität haben.
Es konnten zwar verschiedene Motivgruppen und entsprechende Codes ermittelt werden,
allerdings hat dies bisher keine Auswirkungen auf das Wohl und die Souveränität des ein-
zelnen Konsumenten.
Da die Umsetzbarkeit nicht gegeben ist und auch nicht absehbar ist, inwieweit es zu einer
Durchleuchtung und Beeinflussung von Konsumenten kommen kann, kann es sich beim
Brand-Code-Managementä statt um eine realisierbare Neuromarketing-Methode auch um
ein mehr oder weniger wirkungsloses Produkt handeln: Der Einbezug der Neurowissen-
schaft kann als Legitimation und Vermarktungswerkzeug für das Brand-Code-Manage-
mentsä bewertet werden. In diesem Fall können die kommunizierten Ziele als Werbemittel
gesehen werden, deren Darstellung Unternehmen zur Anwendung des Neuromarketing-
Tools bringen soll. Neuromarketing ist dann an sich weniger als Marketing-Methode, son-
dern eher als Verkaufsargument für das Brand-Code-Managementä anzusehen.
Unabhängig von der tatsächlichen Umsetzbarkeit sind die Ziele, die mit der Methode erzielt
werden sollen, als ethisch problematisch einzustufen. Forschung mit dem Ziel,
6 Die Neuromarketing-Methoden
70
Konsumenten „gläsern“ zu machen und ihren „Kauf-Knopf“ zu finden und diesen in der
Praxis (ohne ihr Bewusstsein dessen) zu betätigen, kann, wie schon beschrieben, negative
Konsequenzen für das Wohl der Betroffenen bedeuten (vgl. Kapitel 6.2).
Auch das Brand-Code-Managementä ist somit noch nicht ausgereift genug, um eine Gefahr
für die Konsumenten darzustellen - die damit verfolgten Ziele sind jedoch teilweise ethisch
verwerflich.
7 Reflexion der Vorteile von Neuromarketing gegenüber dem traditionellen Marketing
71
7 Reflexion der Vorteile von Neuromarketing gegenüber dem traditionellen Marketing
Abgesehen von der Reflexion der Ziele und der möglichen Auswirkungen von Neuromar-
keting auf die Konsumentensouveränität ist auch eine Reflexion dessen sinnvoll, inwieweit
die erläuterten neuen Methoden einen Vorteil gegenüber den traditionellen Methoden dar-
stellen bzw. ob sie überhaupt (in der dargestellten Form) umsetzbar sind.
Bisher gibt es nicht genügend aussagekräftige Studien, anhand derer man die Wirksamkeit
von Neuromarketing auswerten kann. Laut Morin befindet sich die Forschung bezüglich der
Effektivität von Neuromarketing in einem „embryonic state“ (MORIN, 2011, S. 134), also
in einem noch nicht ausgereiften Stadium.
Durch die Einbehaltung bzw. das Fehlen von Forschungserkenntnissen bzw. von Aussagen
über die Verwendung von und Nützlichkeit dieser im Marketing, kann deren Tragweite für
den Marketingbereich von der Öffentlichkeit nicht abgeschätzt werden. Die Meinung der
Gesellschaft bildet sich auf Grundlage dessen, was die Neuromarketing-Betreiber der Ge-
sellschaft zugänglich machen, und zusätzlich auf den Meinungen von Kritikern. Das kann
eine fundierte ethische Diskussion eindämmen und sogar verhindern.
Der Einbezug der Neurowissenschaft kann eine Legitimation für das Verfolgen ethisch und
moralisch fragwürdiger Marketingpraktiken darstellen. Der neurowissenschaftliche Hinter-
grund gilt in diesem Fall bei der Gesellschaft als inoffizielle Garantie für die Rechtmäßigkeit
der Methoden, weshalb die tatsächliche Legitimität erst gar nicht hinterfragt wird. Die neu-
rowissenschaftliche Forschung stellt in diesem Fall einen Deckmantel für (auch illegitime)
Marketingpraktiken dar. Neuromarketingforschung ist in dem Fall eine Antwort auf die Le-
gitimationskrise bezüglich Unternehmen als verantwortungslose, manipulierende und kon-
sumanheizende Marktakteure.
Es ist allerdings nicht belegt, dass der Einbezug der Neurowissenschaft überhaupt nennens-
werten Einfluss auf die Wirksamkeit von Marketing und somit auf die Konsumenten hat
bzw. ob Neuromarketing sowohl in Forschung als auch Anwendung effektiver ist als das
traditionelle Marketing. Wie in den voranstehenden Kapiteln erläutert sind die Methoden
des Neuromarketing bisher nicht genug ausgereift, um traditionelle Marketinginstrumente
7 Reflexion der Vorteile von Neuromarketing gegenüber dem traditionellen Marketing
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zu ersetzen. Laut Conejo, Khoo, Tanakinjal und Yang handelt es sich momentan eher um
eine Spekulation, dass Neuromarketing-Methoden wirksamer seien als das traditionelle Mar-