1 Ludwig van Beethoven: Sechs Bagatellen op. 126 Komplexität in der Einfachheit Bachelorarbeit Komposition und Musiktheorie, Schwerpunkt Musiktheorie V033100 vorgelegt von Lovorka Ivanković 0673116 Universität für Musik und darstellende Ku nst Graz Institut 1: Komposition, Musiktheorie, Musikgeschichte und Dirigieren Betreuer: Univ. Prof. Dr. phil. Christian Utz
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Ludwig van Beethoven: Sechs Bagatellen op. 126 · den Stücke verbindet eine Tonartenfolge im Großterzzyklus: G – g – Es – h – G – Es, wie dies auch in den Klaviervariationen
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Ludwig van Beethoven: Sechs Bagatellen op. 126
Komplexität in der Einfachheit
Bachelorarbeit
Komposition und Musiktheorie, Schwerpunkt Musiktheorie V033100
vorgelegt von Lovorka Ivanković
0673116
Universität für Musik und darstellende Kunst Graz
Institut 1: Komposition, Musiktheorie, Musikgeschichte und Dirigieren
Betreuer: Univ. Prof. Dr. phil. Christian Utz
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Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung 3
2. Bagatelle 4
2.1. Geschichte der Bagatelle 4
2.2. Die Bagatelle bei Beethoven 5
3. Beethovens Sechs Bagatellen op. 126 7
3.1. Entstehung und musikgeschichtlicher Kontext 7 3.2. Gesamtanlage des Zyklus 8
Ausgangspunkt meiner Bachelorarbeit waren die für ein so „einfaches“ Genre wie die
Bagatelle uncharakteristischen Merkmale in Ludwig van Beethovens Sechs Bagatel-
len op. 126 (1823/24), die dieser Sammlung einen wichtigen Platz neben den anderen
großen Werken in Beethovens Spätwerk geben. Gewissermaßen könnten wir diese
Bagatellen als Skizzen für die letzten Streichquartette verstehen. Denn sie beinhalten
das Material, das in diesen Quartetten auf viel breiterem Raum weiterentwickelt wird.
Das spiegelt sich etwa in den extremen Lagen (1. Bagatelle), dem starken Kontrast
zwischen heftigen Figuren und weichen, melodischen Elementen (2. Bagatelle), im
raschen Tempowechsel (6. Bagatelle: Presto – Andante amabile e con moto) und
anderen Besonderheiten, die bei dieser schlichten Gattung noch stärker zum Ausdruck
kommen als in groß angelegten Werken. Scharf kontrastierende Gegenüberstellungen
treten nicht nur zwischen den einzelnen Stücken, sondern auch innerhalb dieser auf.
Obwohl schon einige Musikwissenschafter (Jürgen Uhde, Erwin Ratz, Theo
Hirsbrunner u.a.) sich mit diesem Zyklus auseinandergesetzt haben, erschien es mir
wichtig, diese Aspekte von Komplexität und Modernität gesondert darzulegen. In der
vorliegenden Arbeit werde ich daher versuchen, die oben erwähnten „uncharakteristi-
schen“ Merkmale und die Besonderheiten dieses Zyklus aufzuzeigen.
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2. BAGATELLE
2.1. Geschichte der Bagatelle
Der Begriff Bagatelle wurde erst im 17. Jahrhundert im Bereich der Musik verwendet.
Er bezeichnete ganz einfache Vokalstücke mit nicht zu ernstem Charakter. Instrumen-
tale Bagatellen galten als kurze, anspruchslose Kompositionen.
Der erste Instrumentalsatz mit der Bezeichnung Bagatelle erschien 1692 in den Pièces
en trio (pour les flutes, violon et dessus de viole) von Marin Marais (Abb. 1). Dabei
handelt es sich um einen Triosatz, „in dem alle St. am thematischen Geschehen
beteiligt sind. Beide Formteile beginnen mit dem gleichen, aufsteigenden Thema. Im
zweiten Tl. wird dann das Thema in einem langen mittleren Abschnitt der Themen-
kopf in Umkehrung verarbeitet.“1 Es gibt keine Tempoangabe, bekannt ist nur das
Metrum (3/4-Takt).2
Abb. 1 Marin Marais, Pièces en trio, 1er dessus
Im 18. und 19. Jahrhundert wurde die Bagatelle noch immer als eine schlichte Kom-
position verstanden. „Für Form und Charakter von Bagatellen gab es viele Möglich-
keiten: Tanz- und Liedsätze, Märsche, Sizilianos, kleine Rondos, Capricen, Scherzi
u.a., die in Ausdruck und Wesen niedlich, ansprechend, hübsch, freundlich, anmutig
1 Schneider, Bagetelle, Sp. 1109. 2 Ebda.
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[…] sein konnten bzw. sollten.“3 Beethoven gab diesem Genre mit seiner ersten
Bagatellensammlung op. 33 (1802) eine ganz neue Bedeutung: „Letztlich bedeutete
namentlich das op. 33 eine völlige Neudefinition des Gattungsbereichs, indem das
Kleinformat auf eine Ranghöhe gehoben wurde, die bis dahin innerhalb der Klavier-
musik ausschließlich die Sonate besetzt hatte.“4 Die Komponisten nach Beethoven
entwickelten die Form weiter. So haben einige von ihnen – wie z.B. Camille Saint-
Saëns, Antonin Dvořak, Jean Sibelius – technisch und musikalisch anspruchsvolle
Bagatellen komponiert. Die Sechs Bagatellen für Streichquartett op. 9 von Anton
Webern (1911-1913) stellen den Höhepunkt der Gattung dar. Sie zählen zu den
bedeutendsten Werken der Neuen Musik.
2.2. Die Bagatelle bei Beethoven
Das Komponieren von Bagatellen erstreckt sich – wenngleich auch nicht kontinuier-
lich – über Beethovens gesamte Schaffenszeit. Nach den Einzelstücken – WoO 52 in
c-Moll (1797) und WoO 56 in C-Dur (etwa 1804) und zwei Sammlungen – Sieben
Bagatellen op. 33 (1802) und Elf Bagatellen op. 119 (1820-1822) entstanden die
Sechs Bagatellen op. 126 (1823/1824), die als Beethovens letztes wichtiges Klavier-
werk gelten.
Schon bei seiner ersten Bagatelle – WoO 52 – zeigte Beethoven, dass er dieses Genre
nicht bloß als etwas Triviales auffassen wollte. Denn dieses Stück war ursprünglich
als Intermezzo der c-Moll Klaviersonate op. 10, Nr. 1 geplant. Ein Einfügen in die
Sonate hätte jedoch ihre knappe Gesamtkonzeption in Frage gestellt, „die allein durch
die Tatsache der Viersätzigkeit an Schlagkraft verloren haben könnte.”5
Die bereits erwähnten Bagatellen op. 33 reichen in sehr frühe Jahre zurück. Beetho-
ven wählte für diese Sammlung einige kurze Klavierstücke aus, die noch in der erste
Epoche seines Schaffens (den Bonner Jahren) entstanden sind. Obwohl der Autograph
die eigenhändige Datierung 1782 trägt, beweisen die Skizzen von einigen der sieben
Bagatellen (lediglich für die Nr. 2 und Nr. 4 sind keine Skizzen nachweisbar), dass es
3 Raab, Bagatellen, S. 78. 4 Edler, Jenseits der Klaviersonate, S. 255. 5 Uhde, Beethovens Klaviermusik 1, S. 56.
6
sich um einen Schreibfehler handelt. „Entwürfe zu den übrigen Stücken von Opus 33
indes finden sich erst in Skizzenbüchern, die Beethoven nicht vor 1800 benutzte.“6 In
dieser Zeit bemühte sich Beethoven um eine Neuorientierung in seinem Schaffen. Im
Jahr 1803 sagte er zu seinem Schüler Carl Czerny: „Ich bin nur wenig zufrieden mit
meinen bisherigen Arbeiten. Von heute an will ich einen neuen Weg einschlagen.”7
Obwohl in op. 33 „keineswegs aufsehenerregende musikalische Erfindungen”8 auf-
scheinen, können wir nicht sagen, dass es sich um unbedeutende Stücke handelt. Denn
„die rauhe, von durchdringender Willenskraft geprägte Betonung ist es, die diesen
Stücken sogleich des Beethovensche Siegel aufprägt. Gegenüber kleinen Stücken von
Mozart entsteht hier – auch in den lyrischen Partien – durchweg der Eindruck von
stämmiger Kraft.“9
Die Entstehung von op. 119 erstreckt sich insgesamt über etwa fünfundzwanzig Jahre.
Obwohl es uns die Opuszahl so glauben machen möchte, zählen die Elf Bagatellen
weder zu den späten Werken, noch sind sie ein Zyklus. Es handelt sich um eine
Zusammenstellung von Klavierstücken, die – aufgrund ihrer langen Entstehungszeit –
vom Stil her deutlich verschieden sind. Die Bagatellen Nr. 7–11 erschienen im Juni
1821 im dritten Teil von Friedrich Starkes Wiener Pianoforteschule. Das ganze Opus
wurde in den Jahren 1823–1824 in kurzen Abständen bei drei Verlegern in Wien,
Paris und London veröffentlicht.
6 Hiemke, Klaviervariationen, Bagatellen, Einzelsätze, S. 434. 7 Geck, Beethoven und seine Welt, S. 11. 8 Uhde, Beethovens Klaviermusik 1, S. 74. 9 Ebda.
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3. Beethovens Sechs Bagatellen op. 126
3.1. Entstehung und musikgeschichtlicher Kontext
Als Ciclus von Kleinigkeiten10 komponierte Beethoven in den Jahren 1823 und 1824
die Sechs Bagatellen op. 126, die letzte seiner drei Bagatellensammlungen (op. 33, op.
119 und op. 126). Da der Zyklus nach Beendigung zweier großer Werke – der 9.
Sinfonie und der Missa solemnis – entstand, verwirrte der bescheidene Titel Beetho-
vens Zeitgenossen. Denn Bagatellen galten als einfache, schlichte Kompositionen.
Das Unverständnis reichte bis hin zu spöttischen Bemerkungen: „Wer keine Sonaten
mehr komponieren kann, begnügt sich eben mit Bagatellen wie Fantasien und Varia-
tionsreihen.“11 Es fiel vielen Beobachtern offenbar schwer zu verstehen, warum ein
großer Meister seine Aufmerksamkeit einer solch anspruchslosen musikalischen
Gattung widmete.
Schon bei den Bagatellen op. 119 hatte Beethoven Probleme mit der Publikation des
Werks. Der Verleger Peters wollte sie nicht veröffentlichen, er hatte Angst „dass ich
mich nicht der gefahr aussetzten mag, in den Verdacht zu gerathen, daß ich einen
Unterschleif gemacht und Ihren Namen jenen Kleinigkeiten fälschlich vorgesetzt
habe, denn daß dieses Werkchen von dem berümhten Beethoven sey, werden wenige
glauben.“12 Beethoven hatte aber ganz klare Vorstellungen von seinen Kleinigkeiten.
Sein op. 126 beschrieb er in einem Brief an den Verleger Schott in Mainz mit den
bekannten Worten: „6 Bagatellen oder Kleinigkeiten für Klavier allein, von welchen
wohl manche etwas ausgeführter u. wohl die Besten in dieser Art sind, welche ich
geschrieben habe.“13
Im Gegensatz zu den op. 33 und op. 119 griff Beethoven bei diesem Werk nicht auf
älteres Material zurück, obwohl er eine Zeitlang mit dem Gedanken spielte, eine
umgearbeitete Fassung des Klavierstückes Für Elise dazu zu verwenden. Viele
Skizzen und Überarbeitungen zu diesem Werk beweisen „dass es sich bei Beethovens
Bagatellen keineswegs um spontan niedergebrachte Geistes- oder Gedankenblitze,
skizzenhafte oder al fresco-Stücke handelt.“14 In diesen mehr oder weniger kurzen
Form ist aber nur scheinbar klar. Der Beginn des zweiten Teiles (T. 27, vgl. Abb. 9)
der Bagatelle bringt eigentlich nichts Neues, das Tonmaterial der Schlussgruppe (T.
16–26) – die durchgehende Achtelpulsation – wird hier weitergeführt.
25 Ratz, Einführung in die musikalische Formenlehre, S. 172 26 Uhde, Beethovens Klaviermusik, Bd.1, S. 180. 27 Ratz, Einführung in die musikalische Formenlehre, S. 173.
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Abb. 9, T. 27–42
Doch erreicht Beethoven mittels Charakterwechsel (Allegro zu cantabile) eine ganz
andere Atmosphäre: „Seine hochdramatische Steigerung bei geringsten satztechni-
schen Mitteln und innerhalb solch kleiner Form ist auch bei Beethoven einzigartig.“28
Da das neue Thema an die Schlussgruppe anknüpft, kann man nicht von einem
Seitensatz sprechen, „umso mehr als die modulatorische Anlage den Charakter eines
Überleitenden noch verstärkt. Trotz seiner bis zu einem gewissen Grade periodischen
Struktur ist dieser Abschnitt am ehesten im Sinne eines einleitenden Teiles der Durch-
führung zu verstehen.“29 Nach der Beruhigung im decrescendo beginnt der zweite
Abschnitt des zweiten Teiles mit einem energischen Anfangsmotiv in forte: „Seine
Struktur zeigt unbedingt durchführungsartige Züge.“30 Mittels des dreitönigen Kopf-
motivs aus T. 1 baut Beethoven eine achttaktige Sequenz (T. 43–50, vgl. Abb. 10).
Abb.10, T. 43–50
Die langen Pausen, die zwischen jeder Stufe auftreten, unterbrechen den bisherigen
Entwicklungsprozess des Tonmaterials. Dieser Abschnitt verarbeitet nicht nur das
motivisch-thematische Material des Beginns, er steht ihm auch in seiner Gegenüber-
28 Uhde, Beethovens Klaviermusik 1, S. 180. 29 Ratz, Einführung in die musikalische Formenlehre, S. 173. 30 Ebda.
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stellung der zwei kontrastierenden Elemente nahe. Hier geschieht das aber auf einer
anderen Ebene – in einer Auseinandersetzung von Ton und Pause (vgl. Abb. 11).
Abb. 11
1. TEIL, VS (T. 1–8) 2. TEIL, 2. ABSCHNITT (T. 42–49)
Unterbrechungen
Unterbrechungen
Kontrastierendes Material Ton – Pause
Sechzehntel in f – Achtel in p Bewegung – Ruhe
absteigende Linie – aufsteigende Linie erste Oktave – zweite Oktave
Nirgendwo im Stück gibt es so viel Freiraum nur auf einen Platz konzentriert. Ein
kleines Muster für dieses Verfahren war im doppelten Auftakt (T. 16/17) der Schluss-
gruppe vorbereitet. Ab T. 50 (vgl. Abb. 10) wird die Dichte des Satzes wieder er-
reicht. Da die Pausen allmählich kürzer werden, wird der Abstand zwischen den
einzelnen Erscheinungen des Motivs immer kleiner, so weit, bis sie völlig verschwin-
den. Dieser Moment erscheint in T. 55, wo die Figurationen der beiden Hände so nahe
zueinander kommen, dass alles zu einer ununterbrochenen, aufsteigenden Linie
übergeht (Abb. 12).
Abb. 12, T. 51–57
Den Abschnitt, der danach folgt, könnten wir nur im abstrakten Sinn als „Reprise“
bezeichnen. Vielmehr wirkt er als eine Weiterentwicklung der Durchführung. Den
großen – aus dem Anfangsmotiv abgeleiteten – Sextsprüngen, die sich in dem riesen-
haft erweiterten Klangraum frei bewegen, ist die Bewegungslosigkeit – ausgedrückt
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durch den Orgelpunkt bzw. der Umspielung der Dominante – im Bass gegenüberge-
stellt. Der Stimmentausch in T. 62 (Umspielung des d in der rechten Hand, Umrisse
des Themas in der linken Hand), der danach folgt, zieht eine Parallele zur Reprise der
ersten Bagatelle, wo das gleiche Verfahren angewendet wurde (Abb. 13).
Abb. 13, T. 57–77
Der „sukzessive[r] Klangabbau“31 wird in der Coda (T. 78, vgl. Abb. 14) weiter
fortgesetzt. Die Bewegung wird konsequent von Sechzehntel über Achteltriolen zu
Vierteln verlangsamt. Der Umfang der Stimmen wird in die enge Lage geführt, die
Dynamik von heftigen sforzandi zum piano abgeschwächt.
31 Hiemke, Klaviervariationen, Bagatellen, Einzelsätze, S. 442.
20
Abb. 14, T. 78–89
Die kantable viertaktige Melodie am Beginn der Coda (T. 78–81) bezieht sich un-
missverständlich auf die Schlusstakte der Exposition (T. 23–26, vgl. Abb. 15).
Abb. 15
T. 23–26
T. 78–81
Hier folgt aber noch eine Wiederholung in der Moll-Tonika (T. 82–85, vgl. Abb. 14).
Diese letzte Phrase (T. 86–89) bringt die endgültige Beruhigung des Stückes. Wie
bereits in der ersten Bagatelle soll „der ganze Mittelteil und die Wiederaufnahme der
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Motivik des Hauptteils mit seinen problematischen Aspekten“32 erneut gespielt
werden.
3.3.3. 3. Bagatelle Es-Dur
An das ruhige Ende der zweiten knüpft die dritte Bagatelle an. Sie ruft uns „die
lyrische Stimmung des Kopfsatzes“33 ins Gedächtnis zurück. Ihr Charakter ist aber
nicht die einzige Verbindung zwischen den beiden Bagatellen 1 und 3. Ihre Form hat
zahlreiche Analogien zur ersten Bagatelle (vgl. Abb. 16).
Abb.16
1. BAGATELLE (47 T.) 3. BAGATELLE (52 T.)
16 T. ERSTER TEIL 16 T.
periodischer Aufbau des Themas (8+8 T.)
periodischer Aufbau des Themas (8+8 T.)
15 T. MITTELTEIL 12 T.
motivisch-thematische Arbeit mit variiertem, abgespaltenem
Kopfmotiv,
fantasieartige Kadenz
motivisch-thematische Arbeit mit variiertem, abgespaltenem Kopfmotiv und Kontrapunkt
der Nebenstimmen (T. 4-8),
fantasieartige Kadenz
7 T. REPRISE 16 T.
das Thema erscheint variiert
zunächst im Bass (oktaviert),
dann in der rechten Hand
das Thema erscheint variiert und figuriert
zunächst im Bass, dann in der rechten Hand
8 T. CODA 9 T.
motivisch-thematische Verarbeitung des Anfangsmo-
tivs
motivisch-thematische Verarbeitung des Anfangsmotivs
Gegenüber dem komplexen Organismus der vorigen Bagatelle sind hier die Funktio-
nen der einzelnen Abschnitte ganz deutlich dargelegt. Die sechzehntaktige Periode
des A-Teils (T. 1–16, vgl. Abb. 17) hat die Tendenz, sich zur Höhe hin zu entwickeln.
Der Orgelpunkt auf der Tonika, der sich über die ersten vier Takte des Vordersatzes
(T. 1–8) erstreckt, hält aber die dichten dreistimmigen Akkorde fest.
32 Hirsbrunner, 6 Bagatellen für Klavier op. 126, S. 274. 33 Hiemke, Klaviervariationen, Bagatellen, Einzelsätze, S. 442.
22
Abb. 17, T. 1–16
Trotzdem steigt die Musik von der Tiefe (T. 1–8) über die enge mittlere Region (T. 9–
16) bis in die ganz hohen Lagen der Reprise (ab T. 36) auf. Schon das Tonmaterial
des Mittelteils (T. 17–27, vgl. Abb. 18) beruhigt diese entfernten Sphären. An dieser
Stelle (T. 20–23) ergibt sich ein weitgespannter Klang, dessen leerer Innenraum durch
die nachfolgenden Passagen der Kadenz (T. 23–25) aufgefüllt wird.
23
Abb. 18, T. 17-27
Dadurch wird auch die Kraft des Orgelpunktes geschwächt bzw. gebrochen. Das
Material kann sich jetzt frei im Raum bewegen. Wie in der ersten Bagatelle ist diese
Kadenz eine Vorbereitung für die nachfolgende Reprise. „Diesen Takten fehlt jede
Zielstrebigkeit, sie scheinen mit ihrem Wogen zwischen den hohen und tiefen Lagen
und dem reichlichen Pedalgebrauch in sich zu ruhen und keiner Fortsetzung zu
bedürfen.“34
Der Übergang zur Reprise wird aber mittels eingeschobenen zweitaktigen Rezitativen
verfeinert bzw. unmerklicher gemacht. Die Repetition des b2 (T. 27, vgl. Abb. 19)
wird in einen zarten Triller umgewandelt, der den Orgelpunkt des Anfangs ersetzt.
Obwohl das Thema auf dem zweiten, also leichten, nachschlagenden Sechzehntel
erscheint, können wir es doch deutlich erkennen.
34 Hirsbrunner, 6 Bagatellen für Klavier op. 126, S. 275.
24
Abb. 19, T. 27–32
Nur vier Takte später erscheint das Thema dann ganz deutlich in der Oberstimme (T.
32, vgl. Abb. 20). Hier beginnt eine dichte motivisch-thematische Arbeit, die bis zum
Schluss der Bagatelle andauert. Die Melodietöne verschwinden langsam unter der
Zweiunddreißigstelfiguration. Die Episode von T. 35–43 ist auch unter zeitlichem
Aspekt eine Synthese der bisherigen Geschehnisse.
Abb. 20, T. 32–43
25
Die Beweglichkeit bzw. der Rhythmus ihrer Figuren erinnert an die Arpeggi der
Kadenz (vgl. Abb. 18). Während die Arpeggi sich aber im weiten Raum bewegen,
entwickelt sich das Material der Episode nur in den hohen Lagen. Dadurch entsteht
ein Eindruck von Statik und gleichzeitiger Beweglichkeit: Statisch ist die Musik im
Sinne der Beschränkung des Materials auf einen bestimmten Tonraum. Auch durch
den Orgelpunkt in der Unterstimme wird dieser Eindruck verstärkt. Beweglich ist sie
aber doch, weil sich die Figurationen des Themas ständig weiter entwickeln und so
eine gewisse Zielstrebigkeit ausprägen. Der Zeitverlauf „stellt sich nicht in gleichmä-
ßigem Verfließen dar; ein musikalisches Subjekt überläßt sich ihm nicht im Einver-
ständnis mit dem Vergehen (wie so oft in der Rhythmik des 18. Jahrhunderts). Viel-
mehr sind die Beethovenschen Gestalten innerhalb des Zeitverlaufs tätig, indem sie
ihre Bewegung beschleunigen oder auch der Strömung entgegenarbeiten, wie ein
Schwimmer im Fluß.“35
Aus den höchsten Lagen des Klaviers senkt sich das Material allmählich in die tiefen
Lagen des Beginns herab. In der Coda (T. 44–52, vgl. Abb. 21) geht die Zweiunddrei-
ßigstelfiguration in die linke Hand über.
Abb. 21, T. 44–52
35 Uhde, Beethovens Klaviermusik 1, S. 11.
26
Damit wird das Prinzip der Variation beendet. In der Kadenz (T. 48) wird das Kopf-
motiv sequenziert und auf beide Hände im Pianissimo aufgeteilt. „Eine rein klang-
sinnliche Komponente manifestiert sich hier, die aber an die Grenzen der pianisti-
schen Möglichkeiten stößt.“36
3.3.4. 4. Bagatelle, h-Moll
Das längste Stück des Zyklus besteht aus zwei kontrastierenden Abschnitten. Nach
„h-Moll, [der] schwarzen Tonart“37 folgt der zweite trioartige Teil in H-Dur (T. 52–
105), der wieder von der Reprise des h-Moll-Teils (T. 106–162) abgelöst wird – diese
Folge von Moll und Dur in derselben Grundtonart (Variante) befestigt den eindeuti-
gen Scherzo-Charakter dieser Bagatelle. Danach erscheint noch einmal der unverän-
derte zweite Teil, mit dem die Bagatelle ohne Coda endet. Das Stück wird eröffnet
mit einem schlichten zweitaktigen Kopfmotiv (T. 1–2, vgl. Abb. 22) und seiner
variierten Wiederholung (T. 3–4). Daran schließt sich eine Unisono-Fortspinnung an
(T. 5–7), die durch ihre Tonart (G-Dur) und durch die Einstimmigkeit zum kontra-
punktisch verarbeiteten Anfang (T. 1–4) in starkem Kontrast steht. Das Thema wirkt
in seiner „rüden Art wie eine Bourée aus dem Zeitalter des Barocks“. 38
Abb. 22, T. 1-8
36 Hirsbrunner, 6 Bagatellen für Klavier op. 126, S. 275. 37 Beethoven, zit. nach Uhde, Beethovens Klaviermusik 1, S. 187. 38 Hirsbrunner, 6 Bagatellen für Klavier op. 126, S. 275.
27
Nach der Wiederholung dieses achttaktigen Gedankens erscheint das Thema im Bass
(T. 9, e-Moll, vgl. Abb. 23), aber anstelle der Unisono-Fortspinnung tritt nun neues
Tonmaterial, bestehend aus Achtelgruppen in Erscheinung, „deren sperrige Synkopen
pianistischen Spätstil Beethovens.“49 Das Tonmaterial bleibt aber nur wenige Takte in
diesen neu erreichten weiten Lagen. Allmählich senkt sich die Melodik und die Hände
kommen wieder nahe zueinander.
Abb. 30, T. 22-32
Zwei Überleitungstakte (T. 33 und 34, vgl. Abb. 31), die daran anschließen, bilden
eine kurze Rückleitung in die Reprise. Sie durchbrechen den sonst regelmäßigen
achttaktigen Ablauf dieser Bagatelle. Dieser „Verzicht auf die Dehnung der Periodik,
wie man sie bei den Rückleitungen der ersten und dritten Bagatellen von op. 126
antraf, wirkt besonders subtil und stellt das Neue in einem sich sonst demütig konven-
tionell gebenden Stück dar.“50
Abb. 31, T. 33-34
In ganz hoher Lage setzt die verkürzte Reprise (T. 35–42, vgl. Abb. 32), die nur den
variierten Vordersatz des A-Teils bringt, ein. Gleichzeitig wirkt sie auch als Coda.
Diese Überlappung der Formteile erinnert an die erste Bagatelle, wo die ersten Takte
(bzw. der Vordersatz) der Reprise zugleich die Kadenz des Mittelteils bilden.
49 Hirsbrunner, 6 Bagatellen für Klavier op. 126, S. 276. 50 Ebda.
37
Abb. 32, T. 35-42
3.3.6. 6. Bagatelle, Es-Dur
Im letzten Stück des Zyklus findet man das Spiel mit den Kontrasten ins Extreme
gesteigert: ein hektisches sechstaktiges Presto (vgl. Abb. 33), das am Anfang und am
Ende des Stücks steht, umrahmt das lyrische Andante amabile e con moto.
Abb. 33, T. 1-6
Der Satz besteht hauptsächlich aus einer Aneinanderreihung von Dreitaktern. In den
anderen Bagatellen dominiert dagegen im Prinzip die „Viertaktigkeit als [das] tragen-
38
de Gerüst der Konstruktion.“51 In der Durchführung (T. 22–32, vgl. Abb. 36) wird die
Dreitaktigkeit das einzige Mal durchbrochen (3+3+3+2 oder 3+3+2+3 T.). Die da-
durch entstehende Verkürzung wird auch deutlich als Abweichung von der Norm
wahrgenommen. Die Reprise, die danach folgt (T. 33), bringt die konsequente Anei-
nanderreihung von Dreitaktern zurück. Sie stellt aber keine bloße Wiederholung des
Expositionsteils dar, vielmehr wirkt sie als eine motivisch-thematische und harmoni-
sche Weiterentwicklung der Durchführung. Der Gestus der Coda (ab T. 54) schließt
an den Schluss der Reprise an (T. 51–53) und verarbeitet ihn bis zum höchsten
Espressivo (T. 59–62). Als Ende der Bagatelle bringt Beethoven noch einmal das
wilde Presto des Anfangs.
Die dreiteilige Form des Satzes ist regelmäßig auf drei Gruppen von 21 Takten
aufgeteilt. Nur die Durchführung widerspricht der Symmetrie (Abb. 34).52
Abb. 34
21 T.
Presto-Vorspiel +
Thema
(T. 1–6, 7–21)
11 T.
Durchführung
(T. 22–32)
21 T.
Reprise
(T. 33–38, 39–53)
21 T.
Coda+
Presto-Vorspiel
(T. 54–68, 69–74)
= 74 T.
6 T. //: 15 T. :// //: 11 T. 6 T. + 15 T. :// 15 T. + 6 T.
Das Andante amabile e con moto beginnt mit einem dreitaktigen Motiv, aus dessen
Variationen das Material des A-Teils (T. 7–21, vgl. Abb. 35) abgeleitet wird. Aus
dem Frage-Antwort-Typ der ersten beiden Dreitakter (T. 7–12) entwickelt sich in den
folgenden Dreitaktern eine Sequenz. Auf diese Weise bilden beide Phrasen (T. 7–12
und 13–18) das Verhältnis von Thema und Entwicklung aus. Dabei bleibt die themati-
sche Substanz der Dreitakter erhalten. Die relative Stabilität der ersten Phrase (T. 7–
12) wird mittels eines Tonika-Orgelpunkts und der Pausen, die die Gestalt zerklüften,
erreicht. Danach kommt die Harmonik in Fluss, die Akkorde wechseln fast auf jeder
Achtelnote. Das Material entwickelt sich unter einem wellenförmigen, aufwärts
gerichteten Bogen. Der Satz wird plötzlich dichter. Die Sechzehnteltriolen des schlie-
ßenden Dreitakters stellen das Muster für die rhythmische Struktur des nachfolgenden
Mittelteils bereit.
51 Ebda., S. 277. 52 Ratz, Einführung in die musikalische Formenlehre, S. 178.
39
Abb. 35, T. 7-21
Der Mittelteil bringt kein neues Thema, von seiner Funktion her wirkt er wie eine
Durchführung (vgl. Abb. 36). Der große Abstand zwischen den Händen, der schon am
Anfang der Bagatelle zu bemerken ist, wird hier weiterentwickelt. Die Oberstimme
strebt nach hohen Lagen, während die Unterstimme in die Tiefe zieht. Dadurch
verbreitert sich der Raum. Die Terzen, die in der mittleren Lage zwischen den beiden
voneinander weit entfernten Stimmen hervortreten, füllen den Zwischenraum aus.
Nach dem ersten Dreitakter in B-Dur, folgt die Modulation nach c-Moll. Die nächste
Phrase (T. 25–32, vgl. Abb. 36) durchbricht wie dargestellt die das ganzen Stück
beherrschende Dreitakt- bzw. Sechstakt-Gliederung.
40
Abb. 36, T. 22-32
Die Reprise steigt aus tiefen Klangregionen (T. 33, vgl. Abb. 37) empor, bis sie den
Klangraum ganz ausfüllt (T. 49 und 50, vgl. Abb. 37). Dadurch geht sie deutlich über
die schlichte Exposition hinaus. Außerdem verändert sie durch Anwendung einer
neuen Variationsgestalt (T. 39–41) die Substanz des A-Teils. Daraus entwickelt sich
eine sechstaktige Skalenbewegung (T. 39–44) die „in Terzparallelen verläuft und in
ihrer Bewegung einen weiträumigen Bogen beschreibt.“53 Mit dem Auftreten der
Sequenz (T. 45) befreit sich die Musik vom pendelnden Orgelpunkt (As1 – Es) der
linken Hand, der zuvor jede harmonische Bewegung unterbindet. In dieser Phrase
erscheint nun die Haupttonart (Es-Dur) zum ersten Mal wieder. Die Reprise beginnt
auf der Subdominante (As-Dur), moduliert nach f-Moll, und erst kurz vor der Coda
wird Es-Dur erreicht (T. 48). In der Schlussgruppe (T. 51) erklingt wieder der Achtel-
rhythmus im Bass, „der nun nicht mehr wie anfangs als Bewegungssteigerung, son-
dern gerade als Beruhigung empfunden wird.“54
53 Hiemke, Klaviervariationen, Bagatellen, Einzelsätze, S. 443. 54 Uhde, Beethovens Klaviermusik 1, S. 198.
41
Abb. 37, T. 33-53
Diese Achtelbewegung geht über auf die Coda (T. 54, vgl. Abb. 38) und entwickelt
sich bis zu T. 59, wo die Intensität des Satzes ihren Höhepunkt erreicht. Plötzlich und
unerwartet fällt das Tonmaterial in die Ruhe des Beginns zurück (T. 63).
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Abb. 38, T. 54-74
Am Schluss steht noch einmal das furiose Presto „dessen akkordische Fanfaren das
Stück und auch den Zyklus beschließen, als falle ein Vorhang.“55
55 Hiemke, Klaviervariationen, Bagatellen, Einzelsätze, S. 443.
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4. Schlusswort
Die Worte Arnold Schönbergs im Vorwort zu Anton Weberns Bagatellen op. 9
können auch Wesentliches zu Beethovens Zyklus op. 126 offen legen: „Man bedenke,
welche Enthaltsamkeit dazu gehört, sich so kurz zu fassen. Jeder Blick lässt sich zu
einem Gedicht, jeder Seufzer zu einem Roman ausdehnen. Aber: einen Roman durch
eine einzige Geste, ein Glück durch ein einziges Aufatmen auszudrücken: solche
Konzentration findet sich nur, wo Wehleidigkeit in entsprechendem Maße fehlt.“56
Erstaunlich an Beethovens Sechs Bagatellen op. 126 ist die Art und Weise, mit der
Beethoven Neues und Altes zusammenbringt. So sind in der vierte Bagatelle die
Formen barocker Tänze (Bourrée und Musette) verarbeitet und gleichzeitig gebro-
chen. Die dabei vorgenommenen „inneren“ Veränderungen scheinen die „äußere“
Form des Stücks nicht zu beeinträchtigen. Wir können deutlich die Grenzen der
einzelnen Abschnitte bestimmen. Von ihrem „barocken“ Material her lässt sich eine
Parallele von der vierten zur zweiten Bagatelle ziehen, deren rasche Sechzehntel am
Beginn toccatenartig wirken. Das zweite Stück ist aber hinsichtlich seiner Form weit
problematischer. Wir dürfen uns nicht von der Übersichtlichkeit des ersten Teils
irritieren lassen – danach folgt der viel längere zweite Teil, dessen Funktion mehrdeu-
tig ist und sich nicht unmittelbar erschließt. Formale Mehrdeutigkeit findet sich auch
im ersten Stück im Übergang zur Reprise. Dieselbe Doppeldeutigkeit der ersten vier
Takte der Reprise (die sowohl Ende der Kadenz aus dem Mittelabschnitt als auch
Vordersatz des Themas der Reprise bezeichnen können) finden wir auch in der
fünften Bagatelle. Dort überlappen sich aber nicht nur einige Takte, sondern ganze
Formteile des Stückes (Reprise und Coda). Trotzdem kommt das Thema hier, im
Unterschied zur ersten Bagatelle, klar zum Ausdruck. Eine echte Reprise weist aber
nur die vierte Bagatelle auf. Bis auf eine fünftaktige Erweiterung und die Auslassung
der Wiederholung ist sie identisch mit der Exposition. Die Reprise der sechste Baga-
telle wiederum wirkt eher wie eine Weiterentwicklung der Durchführung, aber auch
hier können wir das Thema noch immer klar erkennen, während in der zweite Baga-
telle das Thema in der Reprise extrem verändert auftritt. Nichtsdestoweniger weisen
diese zwei Stücke Ähnlichkeiten auf. In beiden Fällen wurde das Material des Mitte l-
teils aus der Schlussgruppe der Exposition übernommen. Diese motivische Beschrän-
56 Webern, 6 Bagatellen für Streichquartett op. 9, Wien, Universal Edition A. G., 1924, S. 1.
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kung ist aber in beiden Stücken durch einen Überraschungseffekt gebrochen: der
plötzliche Abbruch der Dreitakt- bzw. Sechstakt-Gliederung in der sechsten Bagatelle
und die unerwartet langen Pausen in der zweiten. Beim ersten, dritten und fünften
Stück wird im Mittelteil das Material des Anfangs weiterentwickelt. Die vierte Baga-
telle bringt in ihrem Mittelteil ebenfalls bereits zuvor verwendetes Material (Synko-
pen), aber da Beethoven dieses in einem anderen Kontext (als Begleitung, nicht als
Hauptstimme wie in der Exposition) bringt, nimmt man es als etwas Neues wahr.
Solche Beziehungen zwischen den Sätzen lassen, zusammen mit den markanten
Kontrasten zwischen den Satzcharakteren, die sechs Stücke zu einem Zyklus werden.
Die hier vorgelegten Analysen der Bagatellen haben wichtige Besonderheiten aufge-
deckt: Die ungewöhnlichen Gegenüberstellungen von nahezu allen Parametern des
musikalischen Satzes (Lage, Rhythmus, Dynamik u.a.), die im Verlauf des Zyklus
immer wieder hervortreten, lassen sich im Zusammenhang mit dem Paradox deuten,
den der Titel Bagatellen und deren Entstehungszeit bilden: Bagatelle ↔ Spätwerk.
Hier sind zwei Extreme einander gegenübergestellt: eine schlichte Formgestalt – mit
der sich Komponisten (wenn überhaupt) am Anfang ihres Schaffens beschäftigten –
und die letzte Schaffensperiode, in der höchst komplexe und reife Werke entstehen.
Beethovens Bagatellen op. 126 sind also ein Sonderfall. Durch sie bekam das Genre
eine ganz andere, neue Bedeutung; die Gattung der Bagatelle wurde auf ein hohes
Niveau gehoben, für das es in der Musikgeschichte vor Beethoven kein Vorbild gab:
„Auch vermeintlich kleine Kunst kann großes Theater sein.“57
57 Hiemke, Klaviervariationen, Bagatellen, Einzelsätze, S. 444.
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