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D ie Berichterstattung während der „heißen“ Phase der Katastrophe war gerade in den ausländischen Medien gekennzeichnet von Verzerrung und Panikmache. In den Köpfen vieler Deutscher hat sich so ein Zerrbild dessen, was sich in Japan abgespielt hat, festgesetzt. Während Ausländer immer die Ruhe und Beherrschtheit der japanischen Bevölkerung priesen, hat selbstverständlich ein Großteil der Be- völkerung die Ungewissheit um die weitere Entwicklung in den Atomanlagen mit Angst und Schrecken erfüllt. Dennoch gehen die meisten Japaner überaus souverän, gut informiert und nüch- tern mit den Bedrohungen um, die sich durch die nukleare Kata- strophe in Fukushima ergeben. D ie Atomkatastrophe von Fukushima hat in der Bevölkerung Tokios ganz unterschiedliche Reaktionen ausgelöst. Wäh- rend viele Ausländer das Land verlassen haben, sind andere lediglich für kurze Zeit in die westlichen Landesteile ausgewi- chen. Auch Einheimische – besonders die mit kleinen Kindern – haben versucht, sich der Bedrohung aus der Luft, dem Was- ser und durch Nahrungsmittel zumindest vorübergehend durch einen Aufenthalt im Westen des Landes zu entziehen. Hierbei hat die individuelle Wahrnehmung der Bedrohung natürlich eine entscheidende Rolle gespielt. Die große Mehrheit hat aber wohl in der Überzeugung, dass dem Land am besten gedient ist, in- dem man versucht, den bisherigen Lebensstil – soweit möglich – beizubehalten, gehandelt. Für nicht wenige wird der Mangel an praktischen Alternativen einen Verbleib in Tokio natürlich be- günstigt haben. Für die Bevölkerung Tokios gab und gibt es ja auch lediglich Einschränkungen in der Bequemlichkeit. Die Stromeinsparungs- erfordernisse haben dazu geführt, dass zumindest die äußeren Teile der Präfektur Tokio reihum für drei Stunden am Tag ohne Strom auskommen mussten. Inzwischen gibt es einen neuen „Trend“ in der Stadt der bisher meist völlig übertriebenen Be- leuchtung: Der Charme von Abendessen bei Kerzenlicht wird neu entdeckt. Die Fahrpläne der Bahnen des öffentlichen Nahverkehrs wurden vorübergehend zusammengestrichen. Im Zuge der Dringlichkeit der Versorgung der Menschen in den verwüsteten Landesteilen und aufgrund Einschränkungen durch radioaktiv verstrahlte Le- bensmittel kam es – zumindest verglichen mit dem allzeitigen Überfluss, der vor der Katastrophe herrschte – zu gewissen Eng- pässen bei der Versorgung der Großstadt. Wirkliche Einschrän- kungen mussten aber nur dort hingenommen werden, wo ver- unsicherte Menschen Hamsterkäufe machten. Da der beengte und kostspielige Wohnraum in Tokio kaum Raum und Möglich- keit bietet, „echte“ Vorräte anzulegen und aufgrund kaum ver- breiteter Erfahrung mit der Lagerhaltung, erstreckten sich die Hamsterkäufe oft auf auffallend verderbliche Waren. Natürlich ist verständlich, dass die meisten Verbraucher verunsichert sind – selbst einwandfreie Lebensmittel verrotten auch schon mal in den Regalen, weil nur wenige den Versicherungen der offiziellen Stellen uneingeschränkten Glauben schenken. In dieser Situa- tion ist es für alle Betroffenen schwer, wirklich sachgerecht zu entscheiden – im Zweifelsfall entscheidet man sich eben für den Verzicht. A usländische Medien fragen nun, ob sich die Einstellung der Japaner gegenüber der Atomenergie verändert habe – sie verkennen dabei, dass es auch in Japan schon seit vielen Jahren eine überaus lebendige Anti-Atomkraft-Bewegung gibt. In der Krise hat sich aber die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung als überaus pragmatisch erwiesen: Es ging zunächst darum, die Krise zu überwinden, die in Not Geratenen zu unterstützen und die Aufrechterhaltung des Lebens zu gewährleisten. Trotzdem war der Unmut über die Schlampereien des Kraftwerksbetreibers ebenso ausgeprägt wie die Erkenntnis, dass jeder Einzelne eine Mitschuld an dem Geschehen trägt, weil eine menschenveracht- ende Technologie hingenommen worden ist. Immerhin gibt es seitens der Anteilseigentümer Bestrebungen, den Betreiber der havarierten Atomanlagen in Fukushima dazu zu bewegen, künf- tig komplett aus der Stromgewinnung durch Kernspaltung auszu- steigen. Welche Entwicklung die Anti-Atom-Bewegung in Japan künftig nehmen wird, kann zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht beurteilt werden. Die kritischen Berichte im Fernsehen und in den Printmedien des Landes haben schon seit der ersten Offen- legung der Atomkatastrophe für eine veränderte Wahrnehmung in der Bevölkerung gesorgt. Dass es zumindest bisher nicht zu einem Sturmlauf gegen die Atomkraft gekommen ist, mag dem Fakt zu „verdanken“ sein, dass Massenproteste in Japan einer anderen Dynamik unterlie- gen als in Deutschland – das Aufdrängen der eigenen Überzeu- gung anderen gegenüber wird grundsätzlich nicht als Tugend angesehen, folglich auch vermieden. Für mich persönlich ist die vielleicht überraschendste Erfahrung die, dass wirklich ein ganz wesentlicher Teil des täglichen Energiebedarfs eingespart wer- den kann, ohne dass dies notwendigerweise eine spürbare Ein- schränkung des persönlichen Komforts mit sich bringen muss. Auf diesem Gebiet hat Japan ein ungeheures Einsparungspoten- zial. Es wäre zu wünschen, dass diese Erkenntnis ein neues Ver- hältnis jedes Einzelnen zum Umgang mit den Ressourcen nach sich zieht. Den ungekürzten Bericht finden Sie un- ter ippnw.de/presse/fukushima.html Thomas Gittel ist selbständiger Unternehmensberater und lebt in Japan. Die Auswirkungen des großen Erdbebens hat er in Tokio miterlebt. HIROSHIMA – FUKUSHIMA Lost in Radiation? Leben in Tokio nach der Katastrophe 26
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Lost in Radiation? · 2014. 3. 21. · der Versorgung der Menschen in den verwüsteten Landesteilen und aufgrund Einschränkungen durch radioaktiv verstrahlte Le-bensmittel kam es

Sep 24, 2020

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Page 1: Lost in Radiation? · 2014. 3. 21. · der Versorgung der Menschen in den verwüsteten Landesteilen und aufgrund Einschränkungen durch radioaktiv verstrahlte Le-bensmittel kam es

Die Berichterstattung während der „heißen“ Phase der Katastrophe war gerade in den ausländischen Medien gekennzeichnet von Verzerrung und Panikmache. In den Köpfen vieler Deutscher hat sich so ein Zerrbild

dessen, was sich in Japan abgespielt hat, festgesetzt. Während Ausländer immer die Ruhe und Beherrschtheit der japanischen Bevölkerung priesen, hat selbstverständlich ein Großteil der Be-völkerung die Ungewissheit um die weitere Entwicklung in den Atomanlagen mit Angst und Schrecken erfüllt. Dennoch gehen die meisten Japaner überaus souverän, gut informiert und nüch-tern mit den Bedrohungen um, die sich durch die nukleare Kata-strophe in Fukushima ergeben.

D ie Atomkatastrophe von Fukushima hat in der Bevölkerung Tokios ganz unterschiedliche Reaktionen ausgelöst. Wäh-

rend viele Ausländer das Land verlassen haben, sind andere lediglich für kurze Zeit in die westlichen Landesteile ausgewi-chen. Auch Einheimische – besonders die mit kleinen Kindern – haben versucht, sich der Bedrohung aus der Luft, dem Was-ser und durch Nahrungsmittel zumindest vorübergehend durch einen Aufenthalt im Westen des Landes zu entziehen. Hierbei hat die individuelle Wahrnehmung der Bedrohung natürlich eine entscheidende Rolle gespielt. Die große Mehrheit hat aber wohl in der Überzeugung, dass dem Land am besten gedient ist, in-dem man versucht, den bisherigen Lebensstil – soweit möglich – beizubehalten, gehandelt. Für nicht wenige wird der Mangel an praktischen Alternativen einen Verbleib in Tokio natürlich be-günstigt haben.

Für die Bevölkerung Tokios gab und gibt es ja auch lediglich Einschränkungen in der Bequemlichkeit. Die Stromeinsparungs-erfordernisse haben dazu geführt, dass zumindest die äußeren Teile der Präfektur Tokio reihum für drei Stunden am Tag ohne Strom auskommen mussten. Inzwischen gibt es einen neuen „Trend“ in der Stadt der bisher meist völlig übertriebenen Be-leuchtung: Der Charme von Abendessen bei Kerzenlicht wird neu entdeckt.

Die Fahrpläne der Bahnen des öffentlichen Nahverkehrs wurden vorübergehend zusammengestrichen. Im Zuge der Dringlichkeit der Versorgung der Menschen in den verwüsteten Landesteilen und aufgrund Einschränkungen durch radioaktiv verstrahlte Le-

bensmittel kam es – zumindest verglichen mit dem allzeitigen Überfluss, der vor der Katastrophe herrschte – zu gewissen Eng-pässen bei der Versorgung der Großstadt. Wirkliche Einschrän-kungen mussten aber nur dort hingenommen werden, wo ver-unsicherte Menschen Hamsterkäufe machten. Da der beengte und kostspielige Wohnraum in Tokio kaum Raum und Möglich-keit bietet, „echte“ Vorräte anzulegen und aufgrund kaum ver-breiteter Erfahrung mit der Lagerhaltung, erstreckten sich die Hamsterkäufe oft auf auffallend verderbliche Waren. Natürlich ist verständlich, dass die meisten Verbraucher verunsichert sind – selbst einwandfreie Lebensmittel verrotten auch schon mal in den Regalen, weil nur wenige den Versicherungen der offiziellen Stellen uneingeschränkten Glauben schenken. In dieser Situa-tion ist es für alle Betroffenen schwer, wirklich sachgerecht zu entscheiden – im Zweifelsfall entscheidet man sich eben für den Verzicht.

Ausländische Medien fragen nun, ob sich die Einstellung der Japaner gegenüber der Atomenergie verändert habe – sie

verkennen dabei, dass es auch in Japan schon seit vielen Jahren eine überaus lebendige Anti-Atomkraft-Bewegung gibt. In der Krise hat sich aber die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung als überaus pragmatisch erwiesen: Es ging zunächst darum, die Krise zu überwinden, die in Not Geratenen zu unterstützen und die Aufrechterhaltung des Lebens zu gewährleisten. Trotzdem war der Unmut über die Schlampereien des Kraftwerksbetreibers ebenso ausgeprägt wie die Erkenntnis, dass jeder Einzelne eine Mitschuld an dem Geschehen trägt, weil eine menschenveracht-ende Technologie hingenommen worden ist. Immerhin gibt es seitens der Anteilseigentümer Bestrebungen, den Betreiber der havarierten Atomanlagen in Fukushima dazu zu bewegen, künf-tig komplett aus der Stromgewinnung durch Kernspaltung auszu-steigen. Welche Entwicklung die Anti-Atom-Bewegung in Japan künftig nehmen wird, kann zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht beurteilt werden. Die kritischen Berichte im Fernsehen und in den Printmedien des Landes haben schon seit der ersten Offen-legung der Atomkatastrophe für eine veränderte Wahrnehmung in der Bevölkerung gesorgt.

Dass es zumindest bisher nicht zu einem Sturmlauf gegen die Atomkraft gekommen ist, mag dem Fakt zu „verdanken“ sein, dass Massenproteste in Japan einer anderen Dynamik unterlie-gen als in Deutschland – das Aufdrängen der eigenen Überzeu-gung anderen gegenüber wird grundsätzlich nicht als Tugend angesehen, folglich auch vermieden. Für mich persönlich ist die vielleicht überraschendste Erfahrung die, dass wirklich ein ganz wesentlicher Teil des täglichen Energiebedarfs eingespart wer-den kann, ohne dass dies notwendigerweise eine spürbare Ein-schränkung des persönlichen Komforts mit sich bringen muss. Auf diesem Gebiet hat Japan ein ungeheures Einsparungspoten-zial. Es wäre zu wünschen, dass diese Erkenntnis ein neues Ver-hältnis jedes Einzelnen zum Umgang mit den Ressourcen nach sich zieht.

Den ungekürzten Bericht finden Sie un-ter ippnw.de/presse/fukushima.html

Thomas Gittel ist selbständiger Unternehmensberater und lebt in

Japan. Die Auswirkungen des großen Erdbebens hat er in Tokio miterlebt.

HIROSHIMA – FUKUSHIMA

Lost in Radiation?Leben in Tokio nach der Katastrophe

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