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Rupert Dörflinger Landschaft mit Ichthyosaura. Freuds Ur-Szene 221 Rupert Dörflinger (Stuttgart) Landschaft mit Ichthyosaura. Freuds Ur-Szene (2. Folge)* Landscape with Ichthyosaura. Freud’s primordial scene Ein Aufriß der Arbeit findet sich in der Einleitung in Heft 1 / 2011. Im 1. Kapitel, Ichthyosaura, wurden die Informationen über sie präsentiert, die sich Freuds Jugendbriefen entnehmen lassen. Zwei Motive scheinen für Freud bestimmend gewesen zu sein: Der Wunsch, durch eine Handbewe- gung Ichthyosauras sexuell stimuliert zu werden, und der, sie gemeinsam mit anderen »niederzumachen«. Diese Motive werden nun zunächst in Freuds Text »Über Deckerinnerungen« (1899a) und dann im »Bruchstück einer Hysterie-Analyse« (1905e), seiner Analyse des »Falls Dora«, weiterverfolgt. Gliederung der Arbeit: 1. Folge : Einleitung – 1. Ichthyosaura (Heft 1 / 2011) 2. Folge: 2. »Über Deckerinnerungen« – 3. Dora (Heft 2 / 2011) 3. Folge: 4. Moses – 5. Auf der Akropolis – 5.1. Gradiva – 5.2. »Das Unheimliche« – 5.3. Eine Erinnerungsstörung – 6. Die geopferte Frau – Schluß – Literaturverzeichnis (Heft 3/4 / 2011) 2. »Über Deckerinnerungen« 1899, als Freud Die Traumdeutung (1900a) vollendete, verfaßte er auch den knappen, etwas über 20-seitigen Text »Über Deckerinnerungen« (1899a), von dessen Sonderstellung schon die Rede war: Er erschien erneut 1925 in Freuds Gesammelten Schriften, nachdem Freud in der Traumdeutung einen Hinweis entfernt hatte, der klar machte, daß er von sich selbst handelte. Die erste Möglichkeit, das dort behandelte Material aufzunehmen, hätte Zur Psy- chopathologie des Alltagslebens (1901b) geboten, wo Freud ähnliche Phäno- mene beschrieb. Er unterließ es aber. Freud fragt in der Schrift nach dem Verhältnis der frühesten Kindheits- erinnerungen zu einschneidenden Erlebnissen aus derselben Zeit, mit denen sie in Beziehung stehen, die sie aber nicht direkt wiedergeben, und kommt dabei auf Fälle, in denen überhaupt keine Beziehung zu solchen Erlebnissen vorzuliegen scheint, wohl aber zu viel späteren. Den größten Teil des Aufsat- zes nimmt dann die Geschichte eines 38-jährigen Akademikers ein, »der sich trotz seines fernab liegenden Berufs ein Interesse für psychologische Fragen bewahrt« und sogar (man soll annehmen, auf Freuds Vorschlag hin) die wis- senschaftliche Studie gelesen hat, die Freud seinem Aufsatz zugrunde legt. * Bei der Redaktion eingegangen am 15. Januar 2009
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Landschaft mit Ichthyosaura. Freuds Ur-Szene (2. Folge)

Mar 28, 2023

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Page 1: Landschaft mit Ichthyosaura. Freuds Ur-Szene (2. Folge)

Rupert Dörflinger Landschaft mit Ichthyosaura. Freuds Ur-Szene 221

Rupert Dörflinger (Stuttgart)

Landschaft mit Ichthyosaura. Freuds Ur-Szene (2. Folge)*

Landscape with Ichthyosaura. Freud’s primordial scene

Ein Aufriß der Arbeit findet sich in der Einleitung in Heft 1 / 2011. Im 1. Kapitel, Ichthyosaura, wurden die Informationen über sie präsentiert, die sich Freuds Jugendbriefen entnehmen lassen. Zwei Motive scheinen für Freud bestimmend gewesen zu sein: Der Wunsch, durch eine Handbewe-gung Ichthyosauras sexuell stimuliert zu werden, und der, sie gemeinsam mit anderen »niederzumachen«. Diese Motive werden nun zunächst in Freuds Text »Über Deckerinnerungen« (1899a) und dann im »Bruchstück einer Hysterie-Analyse« (1905e), seiner Analyse des »Falls Dora«, weiterverfolgt.

Gliederung der Arbeit:1. Folge : Einleitung – 1. Ichthyosaura (Heft 1 / 2011)2. Folge: 2. »Über Deckerinnerungen« – 3. Dora (Heft 2 / 2011)3. Folge: 4. Moses – 5. Auf der Akropolis – 5.1. Gradiva – 5.2. »Das

Unheimliche« – 5.3. Eine Erinnerungsstörung – 6. Die geopferte Frau – Schluß – Literaturverzeichnis (Heft 3/4 / 2011)

2. »Über Deckerinnerungen«

1899, als Freud Die Traumdeutung (1900a) vollendete, verfaßte er auch den knappen, etwas über 20-seitigen Text »Über Deckerinnerungen« (1899a), von dessen Sonderstellung schon die Rede war: Er erschien erneut 1925 in Freuds Gesammelten Schriften, nachdem Freud in der Traumdeutung einen Hinweis entfernt hatte, der klar machte, daß er von sich selbst handelte. Die erste Möglichkeit, das dort behandelte Material aufzunehmen, hätte Zur Psy-chopathologie des Alltagslebens (1901b) geboten, wo Freud ähnliche Phäno-mene beschrieb. Er unterließ es aber.

Freud fragt in der Schrift nach dem Verhältnis der frühesten Kindheits-erinnerungen zu einschneidenden Erlebnissen aus derselben Zeit, mit denen sie in Beziehung stehen, die sie aber nicht direkt wiedergeben, und kommt dabei auf Fälle, in denen überhaupt keine Beziehung zu solchen Erlebnissen vorzuliegen scheint, wohl aber zu viel späteren. Den größten Teil des Aufsat-zes nimmt dann die Geschichte eines 38-jährigen Akademikers ein, »der sich trotz seines fernab liegenden Berufs ein Interesse für psychologische Fragen bewahrt« und sogar (man soll annehmen, auf Freuds Vorschlag hin) die wis-senschaftliche Studie gelesen hat, die Freud seinem Aufsatz zugrunde legt.

* Bei der Redaktion eingegangen am 15. Januar 2009

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Diesen Mann läßt Freud nun seine eigenen frühen Erinnerungen – brillant und stilsicher – rekapitulieren und dabei auf eine stoßen, die ihm »gleichgül-tig, ihre Fixierung unverständlich« erscheint. Ich lasse sie hier folgen:

Ich sehe eine viereckige, etwas abschüssige Wiese, grün und dicht bewachsen; in dem Grün sehr viele gelbe Blumen, offenbar der gemeine Löwenzahn. Oberhalb der Wie-se ein Bauernhaus, vor dessen Tür zwei Frauen stehen, die miteinander angelegentlich plaudern, die Bäuerin im Kopftuch und eine Kinderfrau. Auf der Wiese spielen drei Kinder, eines davon bin ich (zwischen zwei und drei Jahren alt), die beiden anderen mein Vetter, der um ein Jahr älter ist, und meine fast genau gleichaltrige Cousine, seine Schwester. Wir pflücken die gelben Blumen ab und halten jedes eine Anzahl von bereits gepflückten in den Händen. Den schönsten Strauß hat das kleine Mädchen; wir Buben aber fallen wie auf Verabredung über sie her und entreißen ihr die Blumen. Sie läuft weinend die Wiese hinauf und bekommt zum Trost von der Bäuerin ein großes Stück Schwarzbrot. Kaum daß wir das gesehen haben, werfen wir die Blumen weg, eilen auch zum Haus und verlangen gleichfalls Brot. Wir bekommen es auch, die Bäuerin schnei-det den Laib mit einem langen Messer. Dieses Brot schmeckt mir in der Erinnerung so köstlich und damit bricht die Szene ab. (Freud, 1899a, S. 540 f.)

Es folgt ein Dialog der beiden Männer in bester platonischer Tradition, in dem sie sich der Bedeutung, der »Wahrheit« dieser Szene schrittweise nähern. Nachdem sein Gesprächspartner noch einmal sein Befremden zum Aus-druck gebracht hat, fragt ihn Freud, ob er diese Erinnerung schon in der Kindheit gehabt habe, oder ob sie aus späteren Zeiten stamme. Der Mann sieht plötzlich klarer und erzählt die Geschichte seiner Kindheit, den frühen Abschied von seinem Geburtsort, das triste Leben in einer »große[n] Stadt« und die ersten Ferien in seinem Geburtsort »mit siebzehn Jahren«, bei denen er sich in die Tochter seiner Gastgeber verliebt habe. »Das Mädchen reiste nach wenigen Tagen ab in das Erziehungsinstitut, aus dem sie gleichfalls auf Ferien gekommen war, und diese Trennung brachte die Sehnsucht erst recht in die Höhe« – übrigens noch ein Beweis, daß Freud, als er von Freiberg nach Roznau fuhr, dort nicht Gisela gesucht haben kann.

Bernfeld wurde durch die Angaben des vermeintlichen Patienten über seine ersten Lebensjahre auf die Spur Freuds gebracht. Hier stimmten alle Details: der ländliche Geburtsort, die Krise im Wirtschaftszweig des Vaters, der Umzug – der in Wirklichkeit eine mehrmonatige Zwischenstation in Leipzig einschloß – in die »große Stadt« Wien, als Freud drei Jahre alt war. Sein Ferienaufenthalt in Freiberg mit sechzehn Jahren war ebenfalls bekannt, Freud hatte 1926 an den dortigen Bürgermeister davon geschrieben. Schließ-lich wußte Bernfeld von Freuds Besuch 1875 in England, auf den auch der Patient in »Über Deckerinnerungen« zu sprechen kommt: »drei Jahre spä-ter« nach den Ferien in seinem Geburtsort sei er »auf Besuch bei meinem Onkel« gewesen und habe dort die Spielkameraden seiner frühen Jahre wie-dergesehen. Bernfeld macht darauf aufmerksam, daß diese im Fall Freuds freilich nicht Vetter und Cousine waren, sondern Neffe und Nichte – die Kinder seines wesentlich älteren Halbbruders Emmanuel aus der ersten Ehe

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seines Vaters, der mit seiner Familie und einem weiteren Halbbruder von Leipzig aus nach England gezogen war.

Die Entdeckung, die Bernfeld mitzuteilen hat, ist also Freuds Verliebtheit in die Tochter seiner Gastgeber. Auf sie konzentriert sich auch die Deutungs-arbeit der beiden Männer in Freuds Text, wenn auch nicht nur: Der Pati-ent berichtet von seinem jugendlichen Wunsch, daß er als Kind an seinem Geburtsort hätte bleiben können, um so kräftig wie die Brüder des Mäd-chens zu werden und sie schließlich heiraten zu können. »Sonderbar, wenn ich sie jetzt gelegentlich sehe – sie hat zufällig hieher geheiratet, – ist sie mir ganz außerordentlich gleichgültig, und doch kann ich mich genau erinnern, wie lange nachher die gelbe Farbe des Kleides, das sie beim ersten Zusam-mentreffen trug, auf mich gewirkt, wenn ich dieselbe Farbe irgendwo wieder sah.« (a.a.O., S. 543)

Sie verkörpert somit das gesunde »Landbrot«, das die Kinder am Ende der erinnerten Szene essen. An dieses Brot knüpft sich aber auch noch eine andere Assoziation: Der Patient erinnert sich in Verbindung mit der Reise zu seinem »Onkel« an einen Plan, den sein Vater »wohl« mit diesem geschmie-det habe, daß er seine Cousine heiraten und sich beim Onkel niederlassen solle. Als er später lange brauchte, um mit seiner Arbeit Fuß zu fassen, habe er »wohl manchmal« an diese Fürsorge des Vaters gedacht, der ihm einen sicheren »Brotberuf« verschaffen wollte. Diese Assoziationskette bleibt aber etwas vage.

Die beiden fassen nun ihre bisherigen Ergebnisse zusammen, wie sich spätere – das gelbe Kleid des Mädchens und die Gedanken ums »Brot« – und frühere Eindrücke in der Phantasie verbunden haben; es gehe um Hun-ger und um Liebe, wobei letztere – so Freud im Text – durch die Blumen ja nur angedeutet sei. Sein Patient widerspricht ihm heftig: »Jetzt verstehe ich erst! Denken Sie doch: einem Mädchen die Blumen wegnehmen, das heißt ja: deflorieren. Welch ein Gegensatz zwischen der Frechheit dieser Phantasie und meiner Schüchternheit […].« (a.a.O., S. 546 f.) Die Frechheit der Phanta-sie wird in der Folge zum wesentlichen Grund dafür erklärt, daß die jugend-lichen Wünsche in eine Kindheitserinnerung verdrängt worden seien: »Das Verlockendste an dem ganzen Thema ist für den nichtsnutzigen Jüngling die Vorstellung der Brautnacht; was weiß er von dem, was nachkommt. Diese Vorstellung wagt sich aber nicht ans Licht, die herrschende Stimmung der Bescheidenheit und des Respekts gegen die Mädchen hält sie unterdrückt.« (a.a.O., S. 547)

Die hier so schlüssig vorgetragene Deutung widerspricht jedoch Freuds eigenem Verhalten in seinen jungen Jahren – und zwar dem Verhalten, das er an den Tag legte, sobald es um Ichthyosaura ging. Im Entwurf zum Hoch-zeitscarmen hat er die Umarmung der Liebenden in der Hochzeitsnacht deutlichst vor Augen, und auch das Hochzeitscarmen selbst hält darauf zu. Ich zitiere die letzten Zeilen, die Klimax des Ganzen:

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Glücklich seien sie beide und reich sei gesegnet ihr Brautbett– beide untadligen Stamms, an Schönheit prangend und Reichtum –.Segen erfülle ihr Haus, nie raste am Herde der Braten,nie sei leer des Papiers die eiserngefestete Kassa,und so mögen sie beide das Los vollenden des Lebensgleich den Insekten und Würmern, die unsere Erde bevölkern,ungestörter Atmung begabt und Nahrungsaufnahme,nie von dem Geiste berührt, das wünscht die Academía.

(Freud, 1989a, S. 153)

Die »Insekten und Würmer« evozieren ein Bild wilden Paarungsverhaltens. Weder zeigen diese Zeilen eine große Zurückhaltung noch gar »Bescheiden-heit und Respekt«.

Der Patient gesteht nun zu, daß die frühe Erinnerung seine Wünsche »nach dem Deflorieren und nach dem materiellen Wohlergehen« zum Aus-druck gebracht habe, bezweifelt aber, daß an der Kindheitsszene überhaupt noch etwas echt sei. Freud erklärt ihm, daß für solche Erinnerungen durch-aus echtes Material benutzt werde und daß es schließlich Elemente darin gebe, die sich nicht auf Späteres zurückführen ließen: »So z. B. wenn der Vetter Ihnen mithilft, die Kleine der Blumen zu berauben. Könnten Sie mit einer echten Hilfeleistung beim Deflorieren einen Sinn verbinden?« (Freud, 1899a, S. 549) Außerdem verweist er auf »die Gruppe der Bäuerin und der Kinderfrau oben vor dem Haus«. Der Patient verneint eine spätere Bedeu-tung dieser Elemente.

Der vereinte Überfall der beiden Jungen auf das Mädchen ist die Kulmi-nation der ganzen Szene, und er wird hier als »Rest« behandelt, der sich nicht in die übrige Interpretation füge! Freud mußte es eigentlich besser wissen. Er kommt in der Traumdeutung auf eine ähnliche Szene zu sprechen, es handelt sich um den letzten eigenen Traum, den er dort vorstellt und interpretiert – und zugleich den ältesten, den wir von ihm kennen:

Ich selbst habe seit Jahrzehnten keinen eigentlichen Angsttraum mehr gehabt. Aus mei-nem siebenten oder achten Jahr erinnere ich mich an einen solchen, den ich etwa dreißig Jahre später der Deutung unterworfen habe. Er war sehr lebhaft und zeigte mir die geliebte Mutter mit eigentümlich ruhigem, schlafendem Gesichtsausdruck, die von zwei (oder drei) Personen mit Vogelschnäbeln ins Zimmer getragen und aufs Bett gelegt wird. Ich erwachte weinend und schreiend und störte den Schlaf der Eltern. (Freud, 1900a, S. 589)

Aus den Angaben zu Beginn (Alter von sieben oder acht Jahren plus dreißig) ergibt sich, daß Freud den Traum deutlich vor der Abfassung von »Über Deckerinnerungen« gedeutet haben muß. Am 24. März 1898 schrieb er an Wilhelm Fließ, daß im Traumbuch »auch der Angsttraum berührt« werde, der ihn folglich zu dem Zeitpunkt beschäftigte. Die Deutung, die er in der Traumdeutung schließlich vorstellt, ist weitreichend: Die Vogelköpfe seien der illustrierten Bibel seiner Eltern entnommen; über die sexuelle Bedeu-tung der »Vögel« sei er erst kurz davor durch einen Nachbarsjungen aufge-

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klärt worden; das Gesicht der schlafenden Mutter sei von seinem Großvater hergenommen, den er vor seinem Tod im Koma habe liegen sehen; die auf die Mutter verschobene Angst sei die Folge seiner eigenen sexuellen Lust. – Er fühlt sich also am Ende der Deutung mit dieser sexuellen Lust wieder allein. Über den anderen Jungen schreibt er: »Sonst aber liefert mir die Ana-lyse die Erinnerung an einen ungezogenen Hausmeisterjungen, der mit uns Kindern auf der Wiese vor dem Hause zu spielen pflegte, und ich möchte sagen, der hieß Philipp. Es ist mir dann, als hätte ich von dem Knaben zuerst das vulgäre Wort gehört, welches den sexuellen Verkehr bezeichnet […].« (ebd.)

Dieselbe Wiese, auf der auch die Deckerinnerung spielt! Nur daß sie hier nicht an einem Hang liegt. Aber es stellt sich sowieso die Frage nach der Kohärenz der Deckerinnerung, die durch die »viereckige« Wiese fast künst-lich hergestellt scheint. Wie glaubhaft ist der Überfall zweier dreijähriger Jungen (John war im August 1855 geboren, Freud im März oder Mai 1856, die Szene müßte im Frühjahr 1859 gespielt haben) auf die damals zweieinhalb-jährige Schwester des einen, der vom jüngeren der beiden in solcher Deut-lichkeit erinnert wird? An welchem Hang in der Umgebung Freibergs kann sie gespielt haben, wo dieses in einer recht flachen Gegend liegt, während der Hang und die »Berghütten«-Stimmung eher auf Roznau verweisen?

Didier Anzieu, der in Freuds Selbstanalyse und die Entdeckung der Psychoanalyse (letzte Bearbeitung 1988) die Reihenfolge rekonstruiert, in der Freud die von ihm analysierten eigenen Träume träumte, findet für die Zeit nach der Analyse des Angsttraums – die zwischen Sommer 1897 und Sommer 1898 stattgefunden habe – und vor »Über Deckerinnerungen« von Anfang 1899 in mehreren Träumen Übergänge zwischen den beiden Sze-nen: Nachdem die Wiese zuerst in der Assoziation zum Angsttraum auf-getaucht war, hatten abschüssige Räume im Sommer 1898 in zwei Träumen eine Rolle gespielt, »Abort im Freien« und »Graf Thun«. Im ersten spült Freud auf einer Anhöhe eine lange Bank voller Kothaufen mit seinem Harn-strahl sauber (Freud, 1900a, S. 471 f.); im zweiten, »Graf Thun«, flieht er vor zwei Begegnungen – mit dem damaligen österreichischen Premierminister und mit einer alten Haushälterin – aus einem Palast, eine Treppe hinunter und dann einen steilen Weg hoch, und nach einer verhinderten Bahnfahrt hält er einem blinden alten Mann ein Uringlas hin (a.a.O., S. 214 ff.). Zu Beginn hatte der Premierminister über den Huflattich als Lieblingsblume der Deutschen gelästert. Anzieu sieht den Huflattich als Verschiebung von Löwenzahn, französisch »pissenlit« (pisse-en-lit) wegen seiner harntreiben-den Eigenschaften, was auf das Urinthema später im Traum vorausweist. Mit Huflattich und Löwenzahn ist aber ebenfalls auf die »gelben Blumen« der Deckerinnerung, die Freuds Patienten an seine Jugendliebe erinnern, hin-gezielt, und die Farbe Gelb kommt in noch weiteren Träumen vor, bis ihre Bedeutung in »Über Deckerinnerungen« aufgelöst wurde.

Aktueller Anlaß des Traums »Graf Thun« war, daß Freud bei einer

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Bahnfahrt eingeschlafen war, auf der er keine Toilette zur Verfügung hatte – beim Einsteigen hatte er noch den Premierminister gesehen. Die Gefahr des Einnässens läßt ihn an eine Geschichte denken, die ihm aus seiner frühen Kindheit erzählt worden war und in der er auf Vorwürfe wegen seines Bett-nässens eine grandiose Auskunft gegeben hatte. Im Traum »Abort im Frei-en«, wo Freud wie der Herkules der Sage viel »Mist« wegspült, aber mit sei-nem eigenen Urin, während Herkules dafür einen Fluß umleiten muß, – ging es unverkennbar um Grandiosität. Auf der Eisenbahnfahrt, die den zweiten Traum brachte, war Freud, damals sechsfacher Familienvater und unwil-lig, seine Frau noch einmal zu schwängern, zu einem ersten Urlaub alleine mit seiner Schwägerin unterwegs … (Anzieu beharrt darauf, daß entgegen mancher Vermutungen Freud und seine Schwägerin keine sexuelle Bezie-hung gehabt haben können (Anzieu, 1990, S. 274), Beweis ist ihm ein Traum aus dieser Zeit, in dem statt eines Liebespaars ein Geschwisterpaar auftritt; seither hat sich jedoch ein eindrucksvoller Beleg für die sexuelle Beziehung gefunden.1)

Die Angst wurde durch urethrale Selbstbehauptung bezwungen, der Unflat (ein Wort, das für Anzieu ebenfalls in »Huflattich« anklingt) wegge-spült, am Ende bleibt in »Über Deckerinnerungen« eine sublimierte sexuelle Szene übrig, in die Kindheit verschoben und zugleich eine freie Gebirgsluft atmend; das Problematische daran, daß sich mehrere Männer zunächst (in Freuds Angsttraum) an der Mutter und später, in der »Deckerinnerung«, an seiner kleinen Nichte zu schaffen machen, verschwindet zugunsten der ödi-palen Mutterliebe, die von Freud selbst und niemandem sonst ausgeht. Diese in der Traumdeutung ausgesprochene Konsequenz wird in »Über Deckerin-nerungen« nicht formuliert, ihr Platz bleibt unbesetzt. Wie Freud dort statt dessen fortfährt, davon gleich.

Der Angsttraum um seine Mutter hatte die Gestalt Philipps, seines älte-ren Halbbruders evoziert – Freud erinnert seinen Namen als den des Haus-meisterjungen –, von dem unklar ist, ob er ein Verhältnis mit seiner Mutter hatte; er könnte sogar Freuds Vater gewesen sein. Aufgrund der unklaren Vaterschaft entsteht eine sexuelle Verwirrung um die Mutter, in die sich Freud selbst mit einreiht – er spricht von »zwei (oder drei) Personen mit Vogelschnäbeln« – und die den familiären Hintergrund abgegeben haben

1 Maciejewski hat im Gästebuch des Hotels im Schweizer Maloja, wo Freud 1898 mit seiner Schwägerin übernachtete, entdeckt, daß er sie als seine Frau ausgab. Der Eintrag ist in Maciejewski, 2006, S. 166 reproduziert, 2008 hat er ihm ein eigenes Buch gewid-met. – Man kann sich angesichts dieses Befundes fragen, welche Form Freuds sexuel-le Beziehung zu seiner Schwägerin gehabt haben mag, da er sie sicher genauso wenig schwängern wollte wie seine Frau. Seine im 1. Kapitel berichtete »Erinnerung« an die sexuelle Stimulation durch die Kinderfrau lag zur Zeit des Urlaubs fast ein Jahr zurück. Er wird in der Zwischenzeit ein etwas entspannteres Verhältnis zu seinen Wünschen gefunden haben, obwohl es bei weitem noch nicht offen und unproblematisch war, wie gleich gezeigt werden soll.

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könnte für seinen späteren Wunsch, sich zusammen mit anderen einer Frau zu bemächtigen.

Das »Spätere«, das Freuds Deckerinnerung zugrunde liegt, weist hier doch wieder auf etwas Früheres zurück; die Phantasie, in der Freud sich mit anderen über Ichthyosaura hermacht, hat ihre Wurzel in der angstbesetzten Vorstellung, daß mehrere phallische Gestalten, die Figuren mit den Vogel-schnäbeln, sich an der Mutter vergreifen.2 Die Angst, die die Szene auslöst, scheint dabei nicht nur von ihrem sexuellen Charakter herzurühren, sondern auch von Freuds Unsicherheit über die Identität seines Vaters, die wiederum dem Traum zugrundezuliegen scheint. In der Zeit, in der Freud den Ödipus-komplex »entdeckte« und die machtvolle Rolle des Vaters für das Seelenle-ben des Kindes betonte, tauchte auch dieser Traum wieder auf, der die Posi-tion des Vaters überraschend in Frage stellte: Wie, wenn seine Vaterschaft gar nicht feststeht? Mußte seine Autorität dann nicht besonders gegen diese Infragestellung verteidigt werden? Und mußte die Liebe zur Mutter nicht plötzlich gegen mehrere sexuelle Konkurrenten behauptet werden, mit denen man sich vielleicht besser verbündete …3

2 Das Buch, worin Freud die Vogelköpfe gefunden hatte, war die Israelitische Bibel von Ludwig Philippson (2. Aufl. Leipzig 1858), die mehrere Holzschnitte nach ägypti-schen Darstellungen mit vogelköpfigen Figuren enthielt. Alexander Grinstein gibt in On Sigmund Freud’s Dreams (1968) die Abbildungen wieder, die besonders zu Freuds Angsttraum beigetragen haben dürften, und erörtert sie in ihrem Kontext; zwei der Abbildungen begleiten das 2. Buch Samuel, die Geschichte Davids und seines Offiziers Joab, der erst Davids Verbündeten Abner und dann seinen Sohn Absalom tötet, wobei beide Male auch Davids Frauen im Spiel sind; eine dritte hat mit dem Verbot anderer Götter im Dekalog zu tun (a.a.O., S. 449-455). Grinstein weist auf den hier auffälligen Namen Philippson hin (a.a.O., S. 455) und darauf, daß Freud von seinem Angsttraum auf den Kastrationstraum eines Patienten kommt, worin es auch um eine als gewalttätig erlebte Szene elterlichen Verkehrs geht, und von diesem zum »komische[n] Beispiel«, so Freud selbst, der von einem anderen beschriebenen Angstträume eines Jungen, die Freud selbst auf dessen unterdrückte Masturbationwünsche zurückführt, während der von ihm zitierte Autor als Ursache einen (reversiblen) Gehirnschaden nennt, der durch einen syphilitischen Vater vererbt werden könne (a.a.O., S. 457 ff., vgl. Freud, 1900a, S. 590 ff.).

3 André Green widmet Freuds Angsttraum in seinem Vortrag »Die tote Mutter« von 1980 einige luzide Überlegungen: Die auch schon von anderen bemerkte Fehlleistung Freuds – der tote Großvater kann kein Vorbild für die Mutter im Traum abgegeben haben, wenn Freud diesen im angegebenen Alter geträumt hat, weil er erst anderthalb bis zwei Jahre später starb – ist ihm Hinweis darauf, daß hier Freuds Bruder Julius eine Rolle spielt, der geboren wurde, als Freud anderthalb war, und ein halbes Jahr spä-ter starb. Freud habe ihn als »Philippson« angesehen, als Sohn seines älteren Halbbru-ders. Neben seinem Vater Jakob und Philipp als zweiter Vaterfigur sei er derjenige, der durch die Formulierung »zwei (oder drei)« mit ins Blickfeld gerate. So wie er Julius zum Sohn des Halbbruders gemacht habe, habe er später Moses, den er bei der Analyse einer Fehlleistung, des Vergessens des Namens Julius Mosen, mit Julius assoziierte (vgl. Brief an Fließ vom 26. August 1898), zu einem Ägypter gemacht, zum Sohn eines frem-

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Andererseits konnte Freud zwar von seinen sexuellen Wünschen gegen-über seiner Mutter reden, aber nicht von den Wünschen, in denen er sich mit anderen zusammen am Werk sah. Das eine hatte theoretische Weihen, das andere blieb ein Rest, den theoretisch zu durchdringen er vermied. Die Sze-ne, die ihm sein Angsttraum vor Augen führte und die er in der Deckerinne-rung zu einem vordergründig »harmlosen« Kinderspiel herabgestimmt hat-te, beinhaltete eine potentielle Gewalttätigkeit, der Freud anscheinend 1899 theoretisch noch nicht gewachsen war. Lebensgeschichtlich bezogen sich der Traum wie die der Deckerinnerung zugrunde liegenden, auf Ichthyosaura bezogenen Phantasien auf ein Alter, in dem sich die Frage moralisch ver-antwortlichen Handelns stellt, während das ödipale Drama, das Freud als theoretischen Hintergrund seiner Analysen konstruierte, idealerweise schon auf einer anderen Ebene zum Abschluß kommt (durch Verdrängung, den »Untergang des Ödipuskomplexes«), bevor man moralisch verantwortlich wird.

Ichthyosaura steht somit für das, was in »Über Deckerinnerungen« ungesagt bleibt – mit weitreichenden Konsequenzen für Freuds Theorie, wie ich gerade zu zeigen versucht habe. Sie ist aus meiner Sicht der Bedeu-tungskern dieses Textes. Auch die »Gruppe der Bäuerin mit der Kinder-frau oben vor dem Haus«, laut Freud neben dem gemeinsamen Überfall der zweite sinnlose »Rest«, der die Realität der Deckerinnerung verbürge, läßt sich von ihr her verstehen: Die beiden Frauen verkörpern die Zweiheit von Mutter und Kinderfrau, die in Freuds frühen Erinnerungen eine große Rolle spielt: die Kinderfrau ist ihm manchmal fast wichtiger als die Mutter. Hier kann diese Zweiheit jedoch als Hinweis darauf verstanden werden,

den Vaters. Philipps angenommener »Inzest« mit der Mutter sei andererseits Vorbild gewesen für Freuds eigene Phantasien, die Mutter zu erobern. (Green, 1983, S. 262-264) – Green bringt also selbst am Ende seiner Ausführungen Freud als Mitkonkurrenten um die Mutter ins Spiel, was er aber nicht weiterverfolgt, da er mit Anzieu Freuds Erklä-rung, daß der Traum eine sexuelle Bedeutung habe, in Frage stellt: Er handle tatsächlich von der »Angst um den Tod der Mutter« (a.a.O., S. 264), von einer Angst, die durch eine Depression der Mutter ausgelöst sei (a.a.O., S. 240). Ich möchte dennoch Freuds eigene Deutung nicht ganz hintanstellen. Weshalb sollte die Reihe der der Mutter (in Freuds Phantasie) sexuell zugetanen Gestalten nichts Sexuelles bedeuten? Eventuell handel-te es sich um eine Reaktionsbildung auf den drohenden Verlust der Mutter. – Green weist ferner darauf hin, daß Freud sich bei seinen Inzestwünschen mit Julius (!) Caesar identifizierte (a.a.O., S. 264; vgl. Freud, 1900a, S. 403, 487; Freud verweist dabei nicht, wie Green meint, auf Livius; Caesars Inzesttraum wird von Sueton, De vita Caesarum, Kap. 7 der Caesarbiographie – dies die von Freud wiedergegebene Fassung – sowie – ähnlich – von Plutarch und Cassius Dio zitiert); das legt aber nahe, Freud und Julius auch schon im Angsttraum verschmolzen zu sehen, so wie Freud später nicht nur Julius, sondern auch sich selbst mit Moses identifizierte; auch demzufolge hätte er als »Philipp-son« wie als dritte Gestalt am Bett der Mutter sich selbst mitgedacht. – Zu Freuds Ver-schmelzung mit Julius in seiner Wahrnehmung des Moses Michelangelos und zum Ver-hältnis dieser Identifikation zu seinen Ichthyosaura-Phantasien siehe das 4. Kap., Moses.

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daß sich hinter der von Freuds Deutung in den Fokus gerückten Gisela Fluss noch ein anderes Mädchen verbirgt, das hier tatsächlich die größere Rolle spielt …

Nachdem Freud und sein Patient dessen überwertige Erinnerung aus ihrer Sicht erfolgreich gedeutet haben (die »später« zustande gekommene orale und sexuelle Bedeutung der Bilder; die unerklärbaren Reste als Zei-chen, daß die Erinnerung dennoch echt ist), versuchen sie sich an zwei Sze-nen, die in der besagten, von beiden gelesenen Studie als früheste Erinne-rungen von zwei Informanten berichtet werden. Die erste, mit einem oralen Thema, verfolgen sie nicht weiter, bei der zweiten geht es um einen Ast, den der Betreffende auf einem Spaziergang im Beisein vieler abgebrochen hat. Freuds Patient bemerkt, daß »sich einen ausreißen« ja eine »recht bekannte, vulgäre Anspielung auf die Onanie« sei. Gegen diese Deutung spreche aber die Öffentlichkeit der Szene. Freud berichtigt ihn, daß gerade das die unbe-wußte Bearbeitung der Szene sei, um sie harmlos zu machen. »[V]iele fremde Leute« bedeute »Geheimnis«. Sein einziger Vorbehalt gegen die Deutung ist, daß die Geschichte von einem Franzosen berichtet wird, so daß er nicht wis-se, ob die Assoziation des »sich einen Ausreißens« auch auf ihn zutreffe. Sie sei erst mal ein Scherz.

Wieder wird eine öffentliche Szene zu einer privaten, nur einen einzelnen betreffenden erklärt. Als sollten damit Zweifel, die bei der vorangegange-nen Diskussion des Überfalls aufgetaucht sein könnten – ob sein öffentlicher Charakter tatsächlich so unter den Tisch gekehrt werden kann – suggestiv in eine Richtung gelenkt werden.

Bei der Erörterung von Ichthyosauras Bedeutung für Freud hatte ich bereits auf das »Spiel der Hände« in seinen Eindrücken von ihr hingewie-sen. Hier taucht das Thema der manuellen Betätigung also wieder auf, und es wird explizit von Masturbation gesprochen. Während es Freud wie gesagt um den Anspekt der Privatheit zu gehen scheint, macht der Passus zugleich zweierlei deutlich: Zum einen liegt es nahe, die Szene der Deck-erinnerung (gemeinsamer Überfall mehrerer Jungen auf ein Mädchen), wenn ihr einmal der kindliche Charakter wieder genommen ist, selbst als Inhalt von Masturbationsphantasien anzunehmen. Zum anderen kann man Freuds Erinnerung an Ichthyosaura – daß sie den ungeschickten Jungen mit ihrer Hand von einer gefährlichen Bewegung abhält – ihrerseits als sexu-elle Phantasie sehen, bei der die Hemmung (die ebenfalls wenigstens die Öffentlichkeit einer Zweiersituation bedeutet) zugleich als sexuelle Stimu-lation erlebt wird.

Fast dreißig Jahre nach »Über Deckerinnerungen« hat Freud in einem Text, der formal große Ähnlichkeit mit diesem zeigt, eine solche Phantasie sogar ausformuliert. In »Dostojewski und die Vatertötung« (1928b) handelt er zunächst von Dostojewskis mörderischer Wut auf den sehr gewalttätigen Vater, die, nachdem dieser von seinen Leibeigenen erschlagen wurde, außer-dem durch ein großes Strafbedürfnis ergänzt worden sei. In Dostojewskis

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Epilepsie wie in seinen Romanen, die im Vatermord in Die Brüder Karama-sow kulminierten, komme diese Konstellation zum Ausdruck.

Nach dieser – sagen wir: erwartbaren – Ableitung wechselt Freud jedoch die Szene. Um Dostojewskis Spielsucht zu erklären, erörtert er abschließend eine Novelle von Stefan Zweig, Vierundzwanzig Stunden aus dem Leben einer Frau. Eine verwitwete Frau, auf ihren einsamen Reisen in ein Kasi-no gelangt, wird dort »von dem Anblick zweier Hände fasziniert, die alle Empfindungen des unglücklichen Spielers mit erschütternder Aufrichtigkeit und Intensität zu verraten schienen.« (Freud, 1928b, S. 416) Sie schläft mit dem Mann und gibt ihm Geld für ein neues Leben – Geld, das er gleich wie-der verspielt. – Wieder der unvermittelte Übergang zum – von Freud auch direkt angesprochenen – Thema Masturbation, wieder eine Phantasie, in der sie keine Angelegenheit einer privaten, zurückgezogenen Betätigung bleibt. Und, wie in der frühen Ichthyosaura-Szene, die Frau, die »eingreift«, um eine Gefahr zu beheben, aber dadurch erst recht das gefährliche Verhalten (die Masturbation, das »Spielen«) stimuliert.

Einige Wochen nachdem Freud seinem Freund Fließ von der sexuellen Stimulation durch seine Kinderfrau geschrieben hatte, greift er das Thema wieder auf und notiert:

Es ist mir die Einsicht aufgegangen, daß die Masturbation die einzige große Gewohn-heit, die »Ursucht« ist, als deren Ersatz und Ablösung erst die anderen Süchte nach Alkohol, Morphin, Tabak etc. ins Leben treten. Die Rolle dieser Sucht ist in der Hyste-rie ganz ungeheuer, vielleicht ist hier mein noch ausstehendes großes Hindernis ganz oder teilweise zu finden. (22. Dezember 1897)

Es scheint aber, als sei das Thema für Freud selbst ein Hindernis geblieben. In seinem Brief kommt er nach dieser Eröffnung überraschend auf skatolo-gische Themen, es löse sich ihm »alles (ein neuer Midas!) in – Dreck« auf; er berichtet von den Mitteilungen einer Patientin über brutale Mißbrauchserleb-nisse in ihrer frühen Kindheit (womit er die vieldiskutierte Behauptung, daß er seine Verführungstheorie einige Monate zuvor zurückgenommen habe, Lügen straft), nennt diese Geschichte aber abschließend »Schweinereien«; und er läßt in den nächsten Monaten eine Reihe von Briefen folgen, denen er »Drekkologische Berichte« beifügt, wie er sie, stets griechische Buchstaben verwendend, nennt. Sind es die Kothaufen, die er im Traum vom Sommer 1898 »Abort im Freien« mit seinem Harnstrahl wegspülen muß, bevor er sich sexuell wieder normal fühlen kann?

Ich lasse einen Vorgriff und einen Rückgriff folgen. Der Vorgriff: Insge-samt drei Mal schreibt Freud bei der Ankündigung seiner »Drekkologischen Berichte« nur noch die Anfangsbuchstaben »Dr«. Man hat argumentiert, daß bei der Wahl des Pseudonyms »Dora« für Freuds berühmten Fall die grie-chische Bedeutung des Worts, »Gabe(n)«, wichtig gewesen sei, da Freuds Patientin zwischen zwei oder, mit Freud, drei Männern als Gabe zirkulierte. Ich behaupte, daß Freud auch die ersten beiden Konsonanten des in grie-

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chischen Buchstaben gedachten Wortes Dreck aufgegriffen hat, und daß das wiederum mit dem Masturbationsthema zu tun hat, das in der Behandlung »Doras« prominent war.

Der Rückgriff: Im Zeichen des »Kots« standen Freuds Ichthyosauraphan-tasien in gewisser Weise von Anfang an; man erinnere sich (vgl. Kap. 1), daß Scheffels Gedicht Der Ichthyosaurus, dem Freud das Bild der Ichthyosaura verdankte, seiner Selbstauskunft zufolge auf einem »Koprolithen« notiert war – versteinertem Kot!

Nachdem in der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung im Sommer 1912 mehrere Monate über Onanie diskutiert worden war, schrieb Freud ein »Schlußwort der Onanie-Diskussion« (1912f), in dem er, für ihn ungewöhn-lich, von den »Schädliche[n] Wirkungen der Onanie« handelt (Freud, 1912f, S. 342). Neben mehreren anderen (organischen und psychischen) schädlichen Folgen nennt er die »Ermöglichung der Fixierung infantiler Sexualziele und des Verbleibens im psychischen Infantilismus. Damit ist dann die Disposi-tion für den Verfall in Neurose gegeben.« (ebd.) Ein Schreckbild?

Freud beendet »Über Deckerinnerungen« mit einer grundsätzlichen Erörterung der frühen Kindheitseindrücke, die er von Überarbeitungen und tendenziösen Verfälschungen geprägt sieht:

Durch solche Einsicht verringert sich in unserer Schätzung der Abstand zwischen den Deckerinnerungen und den übrigen Erinnerungen aus der Kindheit. Vielleicht ist es überhaupt zweifelhaft, ob wir bewußte Erinnerungen aus der Kindheit haben oder nicht vielmehr bloß an die Kindheit. (Freud, 1899a, S. 553)

Er unterscheidet zwischen den Deckerinnerungen, bei denen das auslösen-de Ereignis vor dem erinnerten stattfand – er nennt sie »rückläufig« – und denen, bei denen es jüngeren Datums ist – dies sind die »vorgreifenden« (a.a.O., S. 551); und er erweckt den Eindruck, als käme den vorgreifenden (mit dem Beispiel aus seiner eigenen Kindheit vorneweg) das weitaus stär-kere Gewicht zu. Eissler zufolge ist dieses Beispiel aber fast der einzige Fall einer vorgreifenden Deckerinnerung in Freuds ganzem Werk (Eissler, 1978, S. 468)4: Als einzigen weiteren nennt er Freuds Erinnerung an die Aufforde-rung seiner einstigen Kinderfrau, ihr seine kleinen Münzen zu geben, in Zur Psychopathologie des Alltagslebens – »ein Detail, das selbst wieder auf den Wert einer Deckerinnerung für Späteres Anspruch machen kann« (Freud, 1901b, S. 59), ohne daß Freud dieses Spätere angibt. Von Patienten habe er nie solche Erinnerungen berichtet.

Weshalb kommt Freud sonst nie auf vorgreifende Deckerinnerungen zu sprechen? Lag in dieser theoretischen Formulierung eine weitere – aber sich zum Bisherigen doch ganz gut fügende – Gefahr für sein Werk, die ihn, nach der ersten Veröffentlichung, zu einer so langen Zurückhaltung dieses Textes bewog?5

4 Erstaunlicherweise vertauscht Eissler »rückläufig« und »vorgreifend«.5 Das zeitliche Verhältnis von Eintragung von Erinnerungsspuren, Ausgestaltung einer

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3. Dora

Anders als über Ichthyosaura sind wir über die Identität »Doras« und über ihre Lebensumstände bestens informiert: Freuds Patientin kannte das Buch, in dem er von ihr gehandelt hatte, das 1905 erschienene »Bruchstück einer Hysterie-Analyse« (1905e), und sprach darüber, als sie viele Jahre später (im März 1923) einen Schüler Freuds, Felix Deutsch, konsultierte. 1957, zwölf Jahre nach ihrem Tod, veröffentlichte dieser einen Aufsatz über ihre (angebliche) Erfahrung mit Freud – ich notiere den Vorbehalt, weil Deutsch Freuds Behandlung einen besseren Erfolg und seiner Patientin ein günstige-res Urteil darüber attestiert, als tatsächlich vorlagen. (Mahony, 1996, S. 15 f.) Die seither zusammengetragenen Informationen wurden von Patrick Maho-ny 1996 umfassend dargestellt und erörtert: In Freud’s Dora: A Psychoana-lytic, Historical and Textual Study stellt er die an der Geschichte Beteiligten und die Handlungsorte vor und rekonstruiert Freuds Behandlung, deren Ablauf an einer hier wichtigen Stelle in dessen eigenem Text undurchsichtig bleibt.

Ida Bauer wurde am 1. November 1882 in Wien geboren, ein gutes Jahr nach ihrem Bruder und einzigem Geschwister Otto, der später als Leitfigur der österreichischen Sozialdemokratie berühmt wurde. 1888 zog die Familie nach Meran, wo sie sich mit den Zellenkas anfreundete, einer Industriellen-familie wie sie selbst. Idas Vater Philip, bereits syphiliskrank – 1892 mußte ihm eine Netzhaut entfernt werden, später litt er unter Lähmungserschei-nungen – begann 1894 eine Affäre mit der ihn betreuenden Peppina Zellen-ka, der Ehefrau. Im selben Jahr war er zusammen mit Hans Zellenka, dem

Phantasie und bewußter Bedeutungsgebung nach Freud wird seit einiger Zeit unter dem von diesem geprägten Begriff der Nachträglichkeit diskutiert. In »Aus der Geschichte einer infantilen Neurose« (1918b [1914]), seiner Fallgeschichte des »Wolfsmanns«, prä-sentiert er den Zusammenhang der genannten drei »Phasen« entsprechend einem Sche-ma, das er seit dem »Entwurf einer Psychologie« (1950c [1895]) entwickelt hatte: Ein anfangs unverständliches traumatisches Geschehen wird in einem zweiten Schritt – oft noch vom kleinen Kind – in einer Phantasie bearbeitet, bevor das Ganze vom reiferen Menschen, teilweise viele Jahre später, durchdacht und interpretiert wird (Freud, 1918b, S. 72). Nachdem Freud 1897 große Zweifel an seiner bisherigen Verführungstheorie gekommen waren, der Auffassung, daß Neurotiker an den Auswirkungen früher sexu-eller Übergriffe litten, entfernte er sich in »Über Deckerinnerungen« am weitesten von dem Gedanken, daß frühe Erfahrungen überhaupt eine ursächliche Rolle für die Aus-bildung einer Neurose spielten; die realen Erinnerungsspuren ermöglichen nun der von woanders hergenommenen Phantasie lediglich, sich überhaupt als Erinnerung aus dieser frühen Zeit zu präsentieren; Freud entwickelt hier »eine Konzeption einer Übersetzung ohne Original […], wie sie in dieser Deutlichkeit bei ihm sonst nicht zu finden ist« (Kirchhoff, 2009, S. 166). Man kann Freuds nachfolgende »große Krankengeschichten« möglicherweise sogar als Versuche deuten, nach dieser Infragestellung der frühkind-lichen Ätiologie der seelischen Erkrankungen dieselbe wieder zu etablieren, was ihm in der ersten solchen Geschichte, der gleich zu erörternden mit seiner Patientin »Dora«, noch nicht gelang.

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Ehemann, zum ersten Mal bei Freud. Idas Mutter zog sich depressiv zurück. Im Frühjahr oder Sommer 1896, als Ida dreizehn war, wurde sie von Hans Zellenka, der für ihrer beider Alleinsein gesorgt hatte, umarmt und geküßt, sie wehrte ihn energisch ab. Zwei Jahre später wird sie von den Zellenkas in ihr Feriendomizil an einem Alpensee eingeladen, womöglich dem Gardasee. Sie wird, wie schon häufig, von Kopfschmerzen und einem nervösen Husten geplagt, worauf ihr Vater sie auf dem Weg dorthin ebenfalls Freud vorstellt. Am Ferienort erfährt Ida vom Hausmädchen der Zellenkas, daß der Ehe-mann und Familienvater sie verführt und dann sitzen gelassen habe. Wenig später macht er bei einem Spaziergang am See auch Ida einen »Antrag«, den sie mit einer Ohrfeige beantwortet. Sie erzählt ihren Eltern von dem Vorfall, die ihr aber nicht glauben – Zellenka selbst streitet die Geschichte ab. Im folgenden Jahr stirbt Idas engste Vertraute, eine Tante väterlicherseits. Ida wohnt eine Zeitlang bei deren Familie in Wien. 1900 ziehen auch ihre Eltern dorthin zurück, die Zellenkas folgen ihnen Wochen später nach. Die inzwi-schen attraktive, kluge, vielseitig interessierte Ida ist dauerhaft verstimmt; die Eltern finden einen Abschiedsbrief; im Streit mit dem Vater wird sie ohn-mächtig. Der Vater wendet sich erneut an Freud und schickt Ida zu ihm, worauf der sie von Oktober bis Dezember 1900 regelmäßig sieht.

Freud glaubte Ida ihre Geschichte aufs Wort, kann aber andererseits am Verhalten Hans Zellenkas (den er »Herr K.« nennt) nichts Verwerfliches finden, sondern wundert sich im Gegenteil über Idas Ablehnung. Ich gebe hier Freuds vielfach zitierte Kommentare wieder, als Hintergrund für das Folgende. Über Idas Reaktion auf die erste Überwältigung durch Zellenka schreibt er:

Das war wohl die Situation, um bei einem 14jährigen unberührten Mädchen eine deut-liche Empfindung sexueller Erregtheit hervorzurufen. […] Jede Person, bei welcher ein Anlaß zur sexuellen Erregung überwiegend oder ausschließlich Unlustgefühle hervor-ruft, würde ich unbedenklich für eine Hysterica halten […]. (Freud, 1905e, S. 186 f.)

– Freud macht »Dora«, worauf ebenfalls schon oft hingewiesen wurde, sowohl in den beiden Situationen, in denen sie »Herrn K.« abwehren muß, wie für die Zeit der Behandlung ein Jahr älter, als sie tatsächlich war. Über die »Szene am See« schreibt er:

Ich fand es überhaupt noch der Erklärung bedürftig, daß sie sich durch die Werbung K.s so schwer gekränkt gefühlt, zumal da mir die Einsicht aufzugehen begann, daß die Werbung um Dora auch für Herrn K. keinen leichtsinnigen Verführungsversuch bedeutet hatte. Daß sie von dem Vorfalle ihre Eltern in Kenntnis gesetzt, legte ich als eine Handlung aus, die bereits unter dem Einflusse krankhafter Rachsucht stand. Ein normales Mädchen wird, so sollte ich meinen, allein mit solchen Angelegenheiten fertig. (a.a.O., S. 257)

Welche ernsthaften Absichten konnte Zellenka gehabt haben?»Dora« war Freud zufolge sowohl in ihren Vater verliebt, dem ihre frü-

hen Masturbationsphantasien galten, wie in Zellenka, dessen Geschenke sie

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nach dem ersten Verführungsversuch lange entgegennahm, nach dem zwei-ten allerdings ablehnte; und schließlich sogar in dessen Frau Peppina, mit der sie – so Freud – zunächst ihrem Mann zuliebe Freundschaft schloß, dann zunehmend um ihrer selbst willen, aber diese Spur kann Freud aufgrund der Kürze der Behandlung nicht zu seiner Zufriedenheit aufklären. Daß sie Zel-lenka nach dessen Liebeserklärung eine Ohrfeige gegeben hat, erklärt Freud damit, daß dieser genau wie zu seinem Hausmädchen auch zu Ida gesagt hatte: »Sie wissen, ich habe nichts an meiner Frau« (a.a.O., S. 261) – und wie das Mädchen behandelt zu werden, sei für Ida dann doch zu viel gewesen.

Ein großer Teil von Freuds Bericht dreht sich um die Interpretation zwei-er Träume, die Ida ihm im Verlauf der Behandlung erzählte. Wichtig ist hier der erste:

In einem Haus brennt es, erzählte Dora, der Vater steht vor meinem Bett und weckt mich auf. Ich kleide mich schnell an. Die Mama will noch ihr Schmuckkästchen ret-ten, der Papa sagt aber: Ich will nicht, daß ich und meine beiden Kinder wegen deines Schmuckkästchens verbrennen. Wir eilen hinunter, und sowie ich draußen bin, wache ich auf. (a.a.O., S. 225)

Ida erklärt, sie habe diesen Traum schon öfter gehabt, zumal nach der »Szene am See« mit Zellenka. Freud möchte von ihr ein Zugeständnis, daß sie ihn damals zum ersten Mal geträumt habe, das sie ihm aber nicht gibt. Er erfährt, daß Ida nach besagter Szene einen Mittagsschlaf machte und beim Aufwachen Zellenka vor ihrem Bett stehen sah. Sie besorgte sich einen Schlüssel für ihr Zimmer, der aber wieder wegkam. Von da an hatte sie es – an den wenigen Tagen, die sie noch bei den Zellenkas blieb – stets eilig, aus ihrem Zimmer zu kommen. Das alles spricht für ihre Abwehr Zellenkas, aber Freud sucht nach der Wunscherfüllung, die der Traum ihm zufolge zum Ausdruck bringen muß, und findet sie auch: Der Teil, daß die Mutter ihr Schmuckkästchen für sich retten will, ist seiner Meinung nach als Ergebnis mehrerer Verschiebungen und Entgegensetzungen zu verstehen, die darauf hinauslaufen, daß in Wirk-lichkeit sie – und nicht die Mutter – ihr Schmuckkästchen, also ihr Genitale Zellenka – und nicht dem Vater, wenigstens nicht auf dieser oberflächlichen Ebene – anbietet. Er trägt ihr die Deutung vor, aber Ida hält nichts davon.

Weil sie im Zug ihrer Assoziationen das einstige Bettnässen ihres Bruders zur Sprache gebracht hat, nimmt Freud an, auch sie sei Bettnässerin gewesen und habe folglich masturbiert. Ida weist Freuds diesbezügliche Argumen-te zurück, aber sie bietet ihm eine »Symptomhandlung«, durch die er sich bestätigt fühlt, indem sie eines Tages mit ihren Fingern in einer Geldbör-se spielt, während sie auf seiner Couch liegt. »Diese Symptomhandlung mit dem Täschchen war nicht der nächste Vorläufer des Traumes. Die Sitzung, die uns die Traumerzählung brachte« usw. (a.a.O., S. 240): Der Leser, der Freuds Erläuterungen gefolgt ist, wundert sich, schien es doch, als habe er den Traum bereits hinter sich und nehme an Freuds Interpretationen teil, wie der sie nacheinander auch Ida vortrug. Was ist geschehen?

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Mahony macht auf die tatsächliche Reihenfolge der Ereignisse aufmerk-sam: Idas Spiel mit dem Geldbeutel geht dem Traum »In einem Haus brennt es« um zwei (Behandlungs-)Tage voraus. Am Tag, nachdem sie ihm von dem Traum berichtet hat, macht er ein »Experiment« mit ihr, das allerdings nicht zum gewünschten Ergebnis führt. Freud schreibt:6

Ich begann die Erörterung hierüber [über seine Vermutung, daß es im Traum um ihr Masturbieren gehe] mit einem kleinen Experimente, das wie gewöhnlich gelang. Auf dem Tische stand zufällig ein großer Zündhölzchenbehälter. Ich bat Dora, sich doch umzusehen, ob sie auf dem Tische etwas Besonderes sehen könne, das gewöhnlich nicht darauf stände. Sie sah nichts. Dann fragte ich, ob sie wisse, warum man den Kindern verbiete, mit Zündhölzchen zu spielen.

»Ja, wegen der Feuergefahr. Die Kinder meines Onkels spielen so gerne mit Zünd-hölzchen.«

Nicht allein deswegen. Man warnt sie: »Nicht zündeln« und knüpft daran einen gewissen Glauben.

Sie wußte nichts darüber. (a.a.O., S. 233)

Die Szene findet sich mehrere Seiten vor dem Bericht über Idas »Symptom-handlung«, so daß man nicht leicht daran denkt, daß diese Freud zu seinem Experiment veranlaßt haben dürfte. Freud hatte gesehen, wie Ida mit etwas spielte, das ihr Genitale symbolisierte, und er wünschte sich, daß sie dasselbe mit etwas tat, das für seines stand.

Dazwischen liegt Idas Traum, so daß sich die Frage aufdrängt, was er – nun, nicht mit Idas Vater oder mit Zellenka, sondern mit Freud zu tun hat.

Ida selbst weist Freud darauf hin, daß es bei ihrem Traum auch um ihn gehen könne. Am Tag nach seinem Experiment, zwei Tage nch ihrem Traum-bericht, ergänzt sie diesen um ein Detail, das ihm sofort wichtig erscheint: Beim Aufwachen von ihrem Traum habe sie jedesmal Rauch gerochen. Sie bemerkt dazu, daß ja ihr Vater und Zellenka Raucher seien, »wie übrigens auch« Freud. (a.a.O., S. 235) Die Geruchsempfindung habe sie auch schon nach der Szene am See gehabt.

Da sie weitere Auskünfte verweigerte, blieb es mir überlassen, wie ich mir diesen Nach-trag in das Gefüge der Traumdeutung eintragen wolle. Als Anhaltspunkt konnte mir dienen, daß die Sensation des Rauchens als Nachtrag kam, also eine besondere Anstren-gung der Verdrängung hatte überwinden müssen. Demnach gehörte sie wahrscheinlich zu dem im Traum als dunkelsten dargestellten und bestverdrängten Gedanken, also dem der Versuchung, sich dem Mann willig zu erweisen. Sie konnte dann kaum etwas anderes bedeuten als die Sehnsucht nach einem Kusse, der beim Raucher notwendiger-weise nach Rauch schmeckt; […] Nehme ich endlich die Anzeichen zusammen, […] so komme ich zur Ansicht, daß ihr eines Tages wahrscheinlich während der Sitzung einge-fallen, sich einen Kuß von mir zu wünschen. (a.a.O., S. 235 f.)

6 Mahony, 1996, S. 82 f. – Für Mahony sind Idas Symptomhandlung und Freuds dar-auf folgendes Experiment durch eine »fantasy of holding or containment« verbunden, gleichzeitig weist er auf den Druck hin, den Freud auf Ida ausgeübt habe (S. 83). Er wird dabei vielleicht Ida gerecht, aber er unterschätzt m. E. Freud.

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Mahony weist an dieser Stelle darauf hin, daß Ida schon vor der »Szene am See« bei Freud gewesen war und die Rauchempfindung beim Aufwachen demnach schon vom ersten Auftreten des Traums an auch durch Freud aus-gelöst gewesen sein kann.7 Freud selbst bezieht sich in dieser Deutung jedoch ganz auf die Gegenwart, vielleicht zu Recht. Nur daß man den Beginn von Idas Traum, »Es brennt in einem Haus«, keineswegs auf ein sexuelles »Bren-nen« der Träumerin beziehen muß, die laut Freud an ihm, dem Analytiker interessiert war, und auch nicht auf das Entflammtsein Zellenkas: Er paßt genauso auf Freud selbst, in dessen Haus Ida ihre Analysestunden verbrach-te. Zunächst ist auch hier eine Art »Bett«, auf dem sie liegt und vor dem Freud – verraucht – gestanden haben mag; vor allem aber hat sie ihn durch ihr geistesabwesendes Fingern in der Geldbörse dazu verleitet, nach dem Traum sein merkwürdiges »Experiment« mit ihr vorzunehmen, bei dem sie – über die Phantasien, die er mit dem Streichholzbehälter verband – indirekt ihn sexuell befriedigt hätte, woran er auch schon vor dem Traum gedacht haben mag. In Freuds Haus »brannte« es, seitdem er gesehen (oder besser die Idee) hatte, daß sie sozusagen öffentlich vor ihm masturbierte, und ihr Traum dürfte die Reaktion darauf gewesen sein.

Freud schreibt nicht, daß er Ida auch seine Deutung ihres Kußwunsches vorgetragen hätte, statt dessen steigt er hier, wie der Leser erst nachträglich rekonstruieren kann, in die Zeitschleife ein, die ihn wieder zu den Tagen vor Idas Traum zurückführt. – Ich denke, man kann sich fragen, ob Ida den auffällig postierten Streichholzbehälter nicht doch gesehen hat und die Antwort auf Freuds Frage, weshalb Streichhölzer gefährlich seien, kannte. Immerhin hatte sie kurz davor auf eine sexuelle Deutung von ihm erwidert, sie habe »gewußt, daß Sie das sagen würden« (a.a.O., S. 231). Aber sie wird nach dem, was sie erlebt hatte, an seinen Wünschen kein großes Interesse gehabt haben.

Hätte Freud, der sich am Ende seines Fallberichts vorwirft, Idas Über-tragung auf ihn nicht ausreichend berücksichtigt zu haben, mehr noch als das seine eigene Übertragung auf sie übersehen? Daß er den Ablauf der Behandlung in der Wiedergabe so entstellte, könnte dafür sprechen, daß er Ida nicht nur das Handeln überlassen wollte, sondern daß sie überhaupt den Wunsch, ihn sexuell zu befriedigen, an seiner statt empfinden sollte. Falls er diesen Wunsch selber gar nicht bewußt wahrgenommen hätte, hätte es sich mit dem Begriff von Melanie Klein und Wilfred Bion um einen Versuch gehandelt, Ida damit projektiv zu identifizieren. Das wiederum spräche für die unaufgelöste Akuität der hier verhandelten Themen für Freud.

7 Mahony, 1996, S. 79. – Mit Bezug auf Freuds gegenüber Ida geäußerte Maxime »Wo Rauch ist, ist auch Feuer« (Freud, 1905e, S. 235) schreibt Mahony: »We can only con-jecture about the deeper countertransferential meaning and transferential impact of Freud’s maxim, which he repeated to Dora often« (Mahony, a.a.O., S. 79). Hier soll es um Freuds eigene Übertragung gehen.

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Aber ob sich das Ganze von seiner Seite bewußt abspielte oder nicht – jedenfalls sollte Ida, die schon das »Handeln« für ihn übernommen hatte, auch noch die Last seiner Deutungen tragen. Als sie aber bei beidem eine Grenze zog, reagierte er zunehmend gereizt.

Freud fand in Idas Geschichte genau die Konstellation wieder, die seinen Angsttraum ausgemacht hatte (vgl. Kap. 2): Ihr Vater hatte sie seinem Freund Zellenka als Entschädigung für dessen Frau zur Verfügung gestellt – sowohl Freud wie sie selbst sahen das so (a.a.O., S. 193) –, sie wurde also bereits von zwei Männern als sexuelles Objekt gehandelt, bevor Freud sich selbst ins Spiel brachte; die Formulierung, daß sich »zwei (oder drei)« Männer an ihr zu schaffen machten, trifft den Sachverhalt verblüffend genau.

Freuds erste Erwähnung Idas in einem Brief an Fließ vom 14. Oktober 1900 hat schon viele Leser wegen ihrer kruden sexuellen Metaphorik beein-druckt. Freud schreibt: »Die Zeit war belebt, hat auch wieder einen neuen und für die vorhandene Sammlung von Dietrichen glatt aufgehenden Fall eines 18jährigen Mädchens gebracht.« Wie in »Über Deckerinnerungen« (vgl. Kap. 2) legt er auch hier die Phantasie nahe, daß mehrere männliche »Glieder« auf das Mädchen eindringen.

Mahony sieht darüber hinaus Idas Funktion für die psychoanalytische Bewegung als fortgesetzten Mißbrauch:

Die frühe blinde Akzeptanz des Falls Dora könnte sogar ihren Anteil zu Freuds Urhor-dentheorie beigetragen haben. In der Therapie und in seinem Schreiben fuhr er fort, Dora zu mißbrauchen und für seine Version Akzeptanz von seinen Kollegen und spä-teren Analytikern zu erwirken. Die psychoanalytische Deutungstradition hielt die Urhordendynamik aufrecht, bei der die Brüder sich dem unterwarfen, was der Vater mit Frauen tun wollte. Wenn der Fall Dora wirklich eine maßgebliche klinische Erfahrung in Freuds Beziehungen mit Frauen war, dann war er auch eine maßgebliche problemati-sche [untoward] Erfahrung in der psychoanalytischen Bewegung. (Mahony, 1996, S. 63)

Mahonys Formulierung paßt freilich auch auf Freuds Verhalten gegenüber seiner Tochter Anna, die er vor dem, was er mit der Behandlung Ida Bauers in Gang gesetzt hatte, gerade schützen wollte.

Ich füge noch einen Exkurs aus Anlaß der »Dietriche« an. Risto Fried verweist auf das Thema des Zugangs zum Herz einer Frau und Freuds frühe Sorge, dafür nicht richtig ausgerüstet zu sein, wie sie in einem Brief an seine Verlobte vom Anfang ihrer Verlobungszeit aufscheint:

Ich glaube es besteht eine generelle Feindschaft zwischen den Künstlern u. uns Arbei-tern im Detail der Wissenschaft. Wir wissen, daß jene in ihrer Kunst einen Dietrich besitzen, der alle Frauenherzen mühelos aufschließt, während wir gewöhnlich vor den seltsamen Zeichen des Schlosses ratlos dastehen u. uns quälen müssen, auch erst für eins den passenden Schlüssel zu finden. (11. Juli 1882) (Fried, 2004, S. 553)8

8 Fried, 2004, S. 533. – Freuds Brief wird zitiert von Jones, 1953-57, Bd. 1, S. 139. Er ist in den in Freud, 1960a veröffentlichten Briefen an Martha Bernays ebenfalls nicht erhalten.

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Viele Jahre später, in den Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (1916-17a), schrieb er vom Künstler, diesmal ohne Schloßmetaphorik:

Kann er das alles leisten, so ermöglicht er es den Anderen, aus den eigenen unzugänglich gewordenen Lustquellen ihres Unbewußten wiederum Trost und Linderung zu schöp-fen, gewinnt ihre Dankbarkeit und Bewunderung und hat nun durch seine Phantasie erreicht, was er vorerst nur in seiner Phantasie erreicht hatte: Ehre, Macht und Liebe der Frauen. (Freud, 1916-17a, S. 391)

An der späteren Stelle schreibt Freud nicht mehr von der Schwierigkeit seiner eigenen Bemühungen, und die Erklärung, daß der Zugang zu den Herzen der anderen über die Erschließung ihrer Lustquellen führt, soll vermutlich einen positiven Vergleich mit seiner eigenen Arbeit nahelegen. Bis dahin war es aber ein weiter Weg, und der Brief an Fließ vermittelt noch immer den Ein-druck von etwas Unehrenhaftem, Zweitklassigem – aber auch von Raffinesse und der Bereitschaft, sich über gesellschaftliche Regeln hinwegzusetzen.

Woher rührt Freuds Gefühl der Zweitklassigkeit, als er sich gegenüber einem Künstler behaupten zu müssen glaubt, der sich gleichfalls um seine Verlobte zu bemühen scheint? Handelt es sich um dasselbe Ohnmachtsge-fühl, aus dem heraus ihm auch Ichthyosaura über so viele Jahre fremd und unerreichbar blieb, obwohl sie ihm alles bedeutete? Weshalb war sein bester Schulfreund ein »Ausländer« aus Rumänien, der nur zum Schulbesuch in Wien war? Weshalb identifizierten sich beide in ihren Briefen mit zwei »Hund[en] im Hospital von Sevilla« (so Freuds häufige Angabe auf Spa-nisch), nach einer Erzählung von Cervantes – in der die beiden (sprechenden und klugen) Hunde Cipion und Berganza sich allerdings in Valladolid auf-halten? Weshalb gelang Freud erst eine Liebesbeziehung, als er eine Partne-rin aus Wandsbek bei Hamburg gefunden hatte? Schon in Ichthyosaura, von der gar nicht auszuschließen ist, daß sie aus Wien stammte,9 hatte er sich nur außerhalb, in Roznau verlieben können. Das geographische Dreieck Rumä-nien – Spanien (Sevilla) – Hamburg verweist außerdem auf das ganz ähnliche Athen – Spanien (Alhama bei Granada) – Schottland (Loch Ness) im viel späteren Akropolis-Aufsatz …

Man stößt hier auf Anzeichen eines tiefliegenden Unbehagens, das viel mit der Stadt Wien zu tun hatte, aber nicht nur. Nicolas Rand und Maria Torok schlagen als Erklärung vor, daß das Selbstbewußtseins der Freuds beschädigt war, seit ein Bruder von Freuds Vater Jakob, Josef Freud, im Frühjahr 1866 beschuldigt wurde, Mitglied einer international agierenden Falschmünzerbande zu sein. In der Wiener Presse wurde ausführlich über den Prozeß berichtet. Die österreichischen Behörden hatten Hinweise, daß auch Freuds Halbbrüder in Manchester in die Affäre verstrickt waren, und

9 Am 25. März 1872 teilte Freud seinem Freund Silberstein mit, daß er zufällig Ichthyo-sauras Bruder getroffen habe – in Wien. Selbstverständlich kann dieser sich dort aus ganz banalen Gründen aufgehalten haben. Ichthyosaura selbst wird von Freud nie mit Wien in Verbindung gebracht.

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beantragten eine Untersuchung, aber die englischen Behörden lehnten ab.10 Freud habe noch jahrzehntelang Angst gehabt, vom Schatten dieser Ereig-nisse eingeholt zu werden.

10 Die Dokumente der Affäre wurden zuerst 1977 in den Wiener Polizeiarchiven erforscht und seither in mehreren Veröffentlichungen beschrieben, vgl. Rand & Torok, 1995, S. 231.