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VERÖFFENTLICHUNGEN DES INSTITUTS FÜR HISTORISCHE ANTHROPOLOGIE E.V heraus g e g eben von PETER BURSCHEL CHRISTOPH Bdr2 herausgegeben von Ma Böhlau Verlag Wien · Köln · Weimar 2011
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Kultsklaven bei den Igbo in Südostnigeria

Apr 03, 2023

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Kolja Möller
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Page 1: Kultsklaven bei den Igbo in Südostnigeria

VERÖFFENTLICHUNGEN

DES INSTITUTS FÜR HISTORISCHE ANTHROPOLOGIE E.V

herausgegeben von

PETER BURSCHEL CHRISTOPH MARX

Bandr2

herausgegeben von

Marx

Böhlau Verlag Wien · Köln · Weimar 2011

Page 2: Kultsklaven bei den Igbo in Südostnigeria

Südostnigeria

Johannes Hamischfeger

Grenze zur

Die Kosmologie vieler afrikanischer Völker kreiste um den Gegensatz von

W ildnis und Zivilisation. Anders als im heutigen Europa war die Natur meist

mit Unreinheit, Krankheit und Tod assoziiert; die Sphäre der Kultur dagegen,

die den Menschen als Schutzraum diente, sollte rein und wohlgeordnet sein,

war sie doch dazu bestimmt, die Kräfte der Wildnis zu bändigen. Das Verhältnis

zur Natur hing natürlich vom Habitat und der Lebensweise der Menschen ab.

Am bedrohlichsten wirkte die umgebende Tier- und Pflanzenwelt aus der Per­

spektive von Hackbauern, die in den tropischen Regenwäldern siedelten und

sich einer übermächtigen, wild wuchernden Natur ausgesetzt sahen. Ihr Leben

war geprägt durch die nie enden wollende Anstrengung, die Gehöfte vor gefähr­

lichen T ieren zu schützen und die Felder rein zu halten von wilden Pflanzen. 1

Die Igbo - ein Volk von etwa 25 Millionen Menschen im Südosten des heu­

tigen Nigeria- leben seit unvordenklichen Zeiten in der Regenwaldzone West­

afrikas, doch haben sie schon in vorkolonialer Zeit die ursprüngliche Vegetation

weitgehend zurückgedrängt. Das Igbo-Gebiet gehört zu den am dichtesten be­

siedelten Regionen Afrikas. Konflikte um Land waren vermutlich die wichtigste

Ursache für die vielen Kriege, die das 19. überschatteten.2 Um ihre

Felder zu verteidigen, hatten die Menschen ihre isolierten Gehöfte aufgegeben und waren in Dörfer zusammengezogen. Doch mit der Zunahme an Gewalt

hatten Siedlungen mit einigen Hundert ·Bewohnern nicht mehr ausreichenden

Schutz geboten, und so waren „Städte" entstanden, die freilich nichts Urbanes

hatten, sondern bloß Ansammlungen von Dörfern waren, oft mit Gräben, Wäl­

len und anderen Befestigungsanlagen umgeben.3 Trotz der allgemeinen Land-

Iliffe 19% S. 86-87.

2 Isichei 1977, S. 75, 78-79. - Die Ethnologin Green, die Mitte der 193oer Jahre

in der dicht besiedelten Region um Owerri forschte, berichtete, dass die Bauern nicht mehr in der Lage waren, genügend Lebensmittel zu produzieren: "Tue

demand for food is ourrunning the home-produced supply". "Tue pressure of

popularion on the land is so great that every square yard of it belongs to a definite

small land-owning group" (1964, S. 42, 34). Basden 1983, S. 210-2n; Henderson 1972, S. 98-102; Isichei 1977, S. 75, 84-86.

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Johannes Harnischfeger

knappheit haben sich bis heute am Rande der Ortschaften Reste von Wildnis er­halten, meist nur einige Hektar Wald, die niemand roden durfte. In diese Areale von bad bush schaffte man all die Dinge, die zu gefährlich waren, um sie in den Gehöften und den umliegenden Feldern aufzubewahren. Besonders wirksame Zaubermittel wurden hier deponiert, dazu die Leichen von Menschen und Tie­ren, die einen unreinen Tod gestorben waren. Außerdem befanden sich in dieser Wildnis die zentralen Schreine jener Gottheiten, die die Siedlungen schützten, und gleich neben diesen Schreinen siedelten oft Kultsklaven, Osu genannt, die dem Dienst der Götter geweiht waren.4

Die Osu bildeten eine Kaste von Unberührbaren, die damit betraut waren, die Schreine sauber zu halten sowie andere niedere Tätigkeiten zu verrichten. Wenn eine Person einen bösen, unreinen Tod gestorben war, etwa durch Erhän­gen, war es Aufgabe der Osu, die Leiche vom Strick zu lösen und in den evil

forest zu schleifen.5 Auf Geheiß der Priester zogen sie auch in die umliegenden Ortschaften, um Opfergaben oder Schulden einzutreiben, doch ansonsten war es ihnen verboten, die Umgebung ihres Schreins zu verlassen. Sie lebten von den Resten der Speisen, die ihrer jeweiligen Gottheit geopfert wurden, hatten aber auch die Möglichkeit, ein wenig Landwirtschaft zu betreiben, freilich abseits der übrigen Felder, auf jenem Land, das ihrem Gott oder ihrer Göttin gehörte.

Ein Teil jener Personen, die man zwang, den Göttern zu dienen, waren habi­tuelle Diebe oder Mörder, die von den eigenen Angehörigen verstoßen wurden. 6

Doch die meisten Osu waren ohne eigenes Verschulden in religiöse Knechtschaft geraten. Wenn eine Stadt- oder Dorfgemeinde einem ihrer Schutzgötter einen Osu stiften wollte, konnte sie dafür einen gewöhnlichen Sklaven nehmen, am besten eine Person, die man auf einem weit entfernten Markt gekauft hatte. Die Initiative dazu ging in der Regel von der betreffenden Gottheit selber aus, die durch ihre Priester oder einen Wahrsager verkünden ließ, welches Opfer sie verlangte. Besonders in Zeiten der Bedrängnis, bei Epidemien oder Hungers­nöten, reichte ein gewöhnliches T ieropfer nicht aus. Ein Menschenopfer war nötig, und die Priester erklärten, ob es ein Mann oder eine Frau sein sollte, und ob die Person auf der Stelle getötet oder als ein lebendes Opfer dem Schrein ge­weiht werden musste.

Den Göttern zu opfern war im Übrigen nicht nur eine Angelegenheit gan­zer Gemeinden. Auch einzelne Personen oder Familien, die unter einem Über-

4 Henderson 1972, S. 176, 272.

5 Nwakanma 1995, S. 15.

6 Idika 1983, S. 23; Okeke 1986, S. 34-35.

Kultsklaven bei den Igbo in Südostnigeria

maß an Krankheit oder Missgeschick mochten durch einen Priester oder Wahrsager dass sie eine bestimmte Gottheit durch ein Menschenopfer beschwichtigen mussten. Oft genügte es, einen Sklaven zu kaufen und ihn dem Priester zu übergeben. Manchmal jedoch verlangte die Gottheit, dass die betrof­fene Familie einen ihrer eigenen Angehörigen opferte. Neben all diesen unfrei­willigen Osu gab es schließlich noch Personen, die sich aus eigenem Entschluss in religiöse Knechtschaft begaben. Wer Grund sich vor den Nachstellun­gen seiner Feinde zu fürchten, oder wer sich durch Krieg oder Hunger bedroht sah, hatte oft nur die sich in einen Schrein zu flüchten. Sobald er sich göttlichem Schutz unterstellt hatte, war er sakrosankt. Niemand wagte es, sich an ihm zu vergehen, doch dafür war er für immer in den Besitz der Gott­heit übergegangen. 7

Neben den menschlichen Osu gab es noch T ier-Osu, meist Ziegen oder Kühe. Zum Zeichen, dass sie einer Gottheit geweiht waren, schnitt man ihnen das rechte Ohr ab und setzte sie auf dem Schreingelände aus. Ein solches T ier zu töten oder zu verletzen war tabu. Selbst wenn es in Gärten und Feldern herumstreunte und von den Früchten ließ man es gewähren, denn man fürchtete, sonst den Zorn der Gottheit zu erregen. 8 Ähnlich verfuhr man mit menschlichen Osu. Der Person wurde das rechte Ohr abgeschnit­ten (in manchen Gegenden auch nur ein Teil des Ohrs oder ein Finger),9 und der Priester appellierte an die sie möge den Unglücklichen als Osu annehmen, alles Böse auf ihn richten und dafür die Gemeinschaft der Opfern­den verschonen: alles Unheil fern von uns, unseren Frauen und unse­ren Kindern, und lass statt dessen diesen Osu alles Ungemach tragen".10 In der Regel durfte der Geweihte sich nie wieder waschen und die Haare schneiden, so dass er schon von weitem als ein Verstoßener kenntlich war.11 Der Dreck und Gestank, der ihn umgab, mahnte daran, sich von ihm fernzuhalten, ja er provozierte physischen Ekel.

7 Okeke 1986, S. n-12, 29-30, 35, 51, 82; Henderson 1972, S. 273; Idika 1983, S. 24;

Onwubiko 1993, S. 29; Metuh 1991, S. 76-77.

8 Okorocha 1987, S. 146-147; Basden 1966, S. 247; Meek 1937, S. 127; Metuh 1991,

S.76.

9 Okeke 1986, S. 38, 60; Idika 1983, S. 23, 25; Metuh 1991, S. 77; Jinehu 1981, S. 8;

Onwubiko 1993, S. JI.

IO Zitiert nach Idika 1983, S. 23; vgl. Arinze 1970, S. 91; Metuh 1991, S. 77.

II Okeke 1986, S. 59, 61; Onwubiko 1993, S. 31-32; Okorocha 1987, S. 149; Jinehu

1981, s. 13.

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306 Johannes Harnischfeger

Nicht alle Osu mussten sich in einem solchen Zustand der Verwilderung

präsentieren. Besser erging es jenen, die innerhalb der Dörfer lebten, am Rande

der Marktplätze, wo es ebenfalls Schreine gab. Zu den besser gestellten Osu ge­

hörten schließlich noch jene, die einem Familienschrein oder dem persönlichen

Schrein eines wohlhabenden Mannes gehörten. Ihre Funktion war freilich die­

selbe, nämlich als eine Art Sündenbock die Strafe der Götter auf sich zu ziehen.

Wenn dem Schreinbesitzer und seiner Familie Unheil drohte, flehte er zu seinen

Hausgöttern und Ahnen, ihren Zorn an dem Osu auszulassen: „Was immer ihr

mir antun wollt, nehmt diesen Osu und tut es mit ihm. "12 Der Schreinbesit­

zer übertrug dem Osu lästige rituelle Pflichten, ließ ihn aber auch ganz profane

Dienste tun. So mussten manche Osu die Häuser bewachen, wenn die Schrein­

besitzer auf den Feldern arbeiteten. Im Gegensatz zu gewöhnlichen Sklaven,

die es im 19. Jahrhundert in großer Zahl gab, waren sie jedoch nicht gezwun­

gen, landwirtschaftliche Tätigkeiten zu verrichten. Kein Freigeborener hätte eine

Speise angerührt, die durch die Hand eines Osu gegangen war. Deshalb lebten

auch jene Osu, die einer Familie angegliedert waren, abgesondert von den Ge­

höften der Freigeborenen auf ihrem je eigenen abgezäunten Gelände, das sie nur

mit Erlaubnis ihres Besitzers verlassen durften. Sie hausten hier in primitiven

Unterkünften, durften sich keine besseren Hütten bauen und waren von allen

sozialen Aktivitäten des Dorfes ausgeschlossen. 13 Als Ausgestoßene bewegten sie

sich jenseits der Gesetze, die für Menschen galten. Osu, die einem Marktschrein

angehörten, streunten auf dem Markt herum und nahmen sich einfach von den

ausgelegten Waren. Andere stahlen Früchte auf den Feldern, und die Besitzer

mussten es stumm erdulden. Nur auf Geheiß der Gottheit durfte ein Kultsklave

gestraft werden.14 Wer ihn eigenmächtig tötete oder verletzte, riskierte überna­

türliche Strafe. Im schlimmsten Fall musste er eines seiner Kinder opfern oder

selbst die Stelle des getöteten Sklaven einnehmen.15

12 Zitiert nach Okorocha 1987, S. 148.

13 Green 1964, S. 23-24; Okorocha 1987, S. 147-149.

14 Die Strafe der Götter konnte allerdings sehr grausam und abschreckend sein:

"Some [Osu] were horribly mutilated. One has seen lads with mouths so distort­

ed by gags that they were rendered permanently incapable of clear utterance; eyes

injured until they were almost sightless, and legs broken and left to set in dis­

torted positions, these atrocities having been inflicted to prevem escape" (Basden

1983, s. 106) .

15 Okeke 1986, S. 30-31, 55-57, 99; Basden 1966, S. 247-248; Henderson 1972,

S. 272; Nwakanma 1995, S. 15; Idika 1983, S. 24; Jinehu 1981, S. 13.

Kultsklaven bei den Igbo in Südostnigeria

Unberührbar waren die Osu also in einem doppelten Sinn: Niemand wagte

sich dem Eigentum einer Gottheit zu vergreifen. Und niemand moch-

ihnen nahe da sich ihre Unreinheit übertrug. Durch ihre rituelle

r-"'"'""1"',.."""' unterschieden sie sich von gewöhnlichen Sklaven, die oft in den

t1aus!lLalt ihres Besitzers waren und am Familienleben teilnahmen.

uruca.vJ.HH'-H, die im Haushalt arbeiteten, dienten oft als Konkubinen, wurden

förmlich geheiratet und konnten auf diese Weise, zusammen mit ihren

„,„u_. ..... „.„u, den Status von Freien erwerben. Auch den männlichen Sklaven wur­

zuweilen die Freiheit geschenkt, oder sie fanden Gelegenheit, sich freizu­

kaufen. Dagegen konnte kein Osu hoffen, dass er oder einer seiner Nachkom­

men je wieder Teil der menschlichen Gemeinschaft wird. 16 Die Osu wurden

anEtStltcn gemieden, da der bloße Kontakt mit ihnen ansteckend war. Wer

ihre Hütten betrat oder mit ihnen aß, trank oder schlief, wurde unwiderruf­

lich selbst ein Osu.17 Die die den Umgang mit ihnen regelten, waren

freilich von Region zu Region unterschiedlich strikt gefasst. Und nicht immer

die von Tabus so fatale Folgen. Der Religionswissenschaftler

Metuh berichtet, dass er als Kind einmal über die ausgestreckten Bei­

ne eines Osu hinweg lief. Doch dieses Malheur wurde rechtzeitig bemerkt;

der musste die unbedachten Schritte wieder zurückgehen, rückwärts

die Beine des Osu schreitend, und dadurch wurde er vor Ansteckung

bewahrt.18

Die

Das schuf unermessliches Leid auf der einen Seite, Abscheu

Furcht auf der anderen. Warum leistete sich die Igbo-Gesellschaft die­

sen in zwei feindliche Hälften zerrissen zu sein? Die Osu brachten ja

keinen direkten Nutzen, da sie weder ökonomisch noch sexuell ausgebeu­

wurden. Bei anderen Völkern im heutigen Nigeria war die Kultsklaverei

.-.����··-�� un.oeKa:nnr, und selbst in manchen Igbo-Regionen wurde sie nicht

16 Okeke 1986, S. 64; Obasi 1989, S. 18. - Das galt für die Osu im engeren Sinn:

Osu-Oha oder Urne genannt. Daneben gab es noch andere Kategorien von Kult­

deren Elend nicht ganz so ausweglos war (vgl. Okorocha 1987, S. 159,

149). 17 Okeke 1986, S. 31, 64; Onwubiko 1993, S. V, 29; Jinehu 1981, S. 14, 24; Henderson

1972, S. 272-273; Dike 2002, S. 25-26.

18 Metuh 1991, S. 88.

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308 Johannes Harnischfeger

praktiziert. 19 Die meisten Interpreten hatten zudem den Eindruck, dass

die Osu-Kaste nicht in die Igbo-Gesellschaft mit ihrem egalitären, „ultra­

demokratischen"20 Ethos hineinpasse: "[lt is] so foreign to the general trend

of Ibo tribal life [ ... J. Tue Osu system seems to be one of the few native

institutions which serves no useful purpose from no matter what angle one

considers it". 21

Folgt man der Theorie von Mary Douglas, dann ließe sich dem Osu-Sys­

tem, auch wenn es vielen als eine „kulturelle Verirrung"22 erschien, eine nützli­

che Funktion zusprechen. Vielleicht stabilisierte es die soziale Ordnung, indem

es die Grenze zwischen Wildnis und Zivilisation markierte. Das auffilligste

Merkmal der Osu war ja, dass sie gezwungen wurden, ohne wesentliche In­

stitutionen der Igbo-Zivilisation auszukommen. Da sie sozial entwurzelt wa­

ren, für immer getrennt vom Land ihrer Väter, fehlte ihnen der Schutz und

die spirituelle Führung der Ahnenkulte. Sie durften keine Ehrentitel erwerben

und wurden nicht in Altersklassen oder Maskengesellschaften initiiert. Sie be­

saßen keine eigenen Schreine, um auf die Welt der Götter Einfluss zu neh­

men, sondern fungierten - ähnlich wie Ziegen, Kühe und andere Opfertie­

re - als willenlose Objekte in den Kulten der anderen. Durch den Entzug all

dieser kulturellen Errungenschaften waren sie gezwungen, an einer Art sozi­

alem Experiment teilzunehmen. Sie lebten vor den Augen der Freigeborenen

in einem Zustand künstlich herbeigeführter Verwilderung. Die Igbo-Gesell­

schaft inszenierte also mit Hilfe der Osu ihre eigene Gegenwelt: nicht als ein

ursprüngliches oder künftiges Paradies, im Einklang mit der Natur, wie es das

europäisch-christliche Denken imaginierte, sondern als negative Utopie, als

Alptraum menschlicher Verrohung. Gut möglich, dass der Anblick dieser pri­

mitiven, kümmerlichen Existenz die Freigeborenen daran mahnte, nicht abzu­

lassen in ihrer Anstrengung, die fragile Ordnung der Zivilisation aufrecht zu

erhalten. Vor allem dürfte es sie in ihrer Entschlossenheit bestärkt haben, das

zu verteidigen, was durch die Kämpfe rivalisierender Igbo-Gruppen am meis­

ten bedroht war, die Kontrolle über Land. Freigeborene nannten sich Diala,

19 Basden 1966, S. 252; Okeke 1986, S. 25-26, 49; Okorocha 1987, S. 288-289; Nwa­

kanma 1995, S. 15. - In Ghana gibt es bis heute „rituelle Sklavinnen". Die meisten dieser 5.000 Frauen, die in Schreinen lebten, wurden jedoch von internationalen

Hilfsorganisationen freigekauft (Midgley 2002, S. 32).

20 Arinze 1970, S. 7, 74; Oguejiofor 1996, S. 23.

21 S. Leith-Ross 1937, S. 207, 219. - Uchendu 1965, S. 89; Onwubiko 1993, S. V

22 Onwubiko 1993, S. V

Kultsklaven bei den Igbo in Südostnigeria

Herren des Landes. Sie hatten das Privileg, dort zu leben, wo ihre Väter be­

stattet waren. 23 Kultsklaven dagegen in geringerem Maß auch gewöhn­

liche Sklaven) waren eine Ansammlung von Entwurzelten, ohne den Schutz

ihrer Verwandtschaftsgruppe und damit rechtlos: "a man without a clan is a

man without citizenship".24 Wenn niemand da war, ihren Tod zu rächen oder

bei Raub und Diebstahl zu verlangen, waren sie der Willkür

anderer ausgeliefert.

Funktionalistische Erklärungen, die dem Osu-System eine die Gesellschaft

stabilisierende Funktion zusprechen, führen jedoch nicht weit. Sie verraten uns

nichts über die Entstehung dieser und sie erklären nicht, warum die

Nachkommen der Osu heute immer noch stigmatisiert sind, obwohl sie sich in

ihrer Lebensweise den Freigeborenen längst angepasst haben und damit nicht

mehr den Verlust von Zivilisiertheit verkörpern. Gehen wir zunächst der Frage

nach, wie die Kultsklaverei entstanden sein mag. Sichere Erkenntnisse sind hier

nicht zu gewinnen, ist doch das Osu-System ein so alter Teil der Igbo-Kultur,

dass sich keine Erinnerungen an seine Anfange erhalten haben.25 Der anglika­

nische Missionar George der sich als einer der ersten mit dem Osu­

Thema beschäftigte, vermutete, dass die Osu dank ihrer Nähe zu den Göttern

ursprünglich hohes Ansehen genossen. Doch ihr Prestige und die Einkünfte, die

sie aus ihrem Amt zogen, mögen den Neid ihrer Mitbürger erregt haben, und

so verbreiteten sich Gerüchte, dass ein Fluch auf ihnen laste und der Kontakt

mit ihnen verunreinige.

23 Die vollen Rechte eines Freigeborenen besaß nur, wer auf die Stelle deuten konn­te, an der seine Nabelschnur begraben war (Uchendu 1965, S. 59; Henderson 1972, S. 182-183). Als „Söhne des Landes" kontrollierten die Diala die Kulte der

Erdgöttin Ala und waren dadurch mit der Aufgabe betraut, die Erde rein zu hal­ten. Personen, die durch Aussatz, Hexerei oder einen anderen unreinen Tod ge­storben waren, durften nicht in der heimatlichen Erde bestattet werden, sondern

wurden im bad bush verscharrt. Ohne ein ehrenhaftes Begräbnis aber blieben sie

ausgeschlossen vom Reich der Ahnen und konnten nicht in ihren Nachkommen wiedergeboren werden. Auch die Leichen von Sklaven und Fremden wurden in

die Wildnis geschafft, so dass ihre Kinder kein Recht auf das kultivierte Land be­

anspruchen konnten. Durch den Kult, die Erde rein zu halten, wurde also auch die Reinheit der Land besitzenden Gruppe bewahrt.

24 Onwubiko 1993, S. 13.

25 Leith-Ross 1937, S. 2rn; Onwubiko 1993, S. 3, 71; Okeke 1986, S. 24, 26, rn5. -Isichei (1977, S. 6) hält die Kuhsklaverei für ein rezentes Phänomen, nennt aber keine Gründe für diese Vermutung.

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3ro Johannes Harnischfeger

Die Idee von der vornehmen Herkunft der Osu ließ sich durch historische Quellen nicht belegen,26 trotzdem ist sie in die Fachliteratur eingeflossen.27 Für Autoren, die gegen die Diskriminierung durch das Kastensystem zu Felde zogen (und nicht zuletzt für die Osu selbst), war es offenbar eine attraktive Vorstel­lung, dass Kultsklaven durch ihren Dienst für die Gemeinschaft anfangs Respekt und Anerkennung verdienten. Doch mir scheint, die Annahme, dass das Osu­System ursprünglich segensreich war und erst durch die Intrigen seiner Gegner „entartete",28 beruht auf einem christlichen Missverständnis. G. T. Basden, der als Missionar in den Dienst Gottes getreten war, konnte sich nicht vorstellen, dass man durch die Nähe zu den Göttern unrein wurde und dass Kultsklaven zu­gleich heilig und verflucht waren. Aus christlicher Perspektive war es plausibler anzunehmen, dass sich die Osu einst durch einen „aufrechten Charakter" und eine „fromme Lebensführung" auszeichneten.29 Hatten sie nicht eine ähnliche Rolle gespielt wie Christus, das Lamm Gottes, das die Sünden der Menschen auf sich genommen und für sie gelitten hatte?30

Gegen diese Deutung spricht, dass die Igbo-Religion in keiner ihrer Insti­tutionen dem Leid und der Versagung Würde verlieh. Wer mehr als andere an Krankheit litt, wer in seinen geschäftlichen Unternehmungen scheiterte und niedergedrückt durchs Leben schritt, der erregte den Verdacht, dass ein Fluch der Götter, ein böser Zauber oder rituelle Unreinheit auf ihm laste. Das Elend, das die Armen und Verzweifelten anzogen, verkörperte eine zerstörerische Kraft, die zudem ansteckend sein mochte, so dass es ratsam schien, die Nähe der Un-

26 Basden (1966, S. 252) nennt als wichtigstes Indiz, dass ein Priester in der Nsukka­Region, der den Kult der Gottheit ,,Adolo" leitete und in hohem Ansehen stand, Osu genannt wurde. Nach meinen eigenen Forschungen über den Adoro-Kult ist diese Angabe falsch.

27 lsichei 1977, S. 47-48; Leith-Ross 1937, S. 2n, 214; Okeke 1986, S. 19, 58-59; Okorocha 1987, S. 149; Nwakanma 1995, S. 15; Obasi 1989, S. 18.

28 Leith-Ross 1937, S. 215; Basden 1966, S. 249. - Okeke (1986, S. 49) spricht von einem „Coup", der die Osu in ihr späteres Elend stürzte.

29 Basden 1966, S. 25r. - Agbo (2002, S. 18-19) schreibt über die ursprünglichen Osu: "They were chosen from the most promising children of a lineage. [ .. . ] they were the best of the stock, without any blemish. [ ... ] Then, Igbos from other towns ran to the protection of deities in other towns to avoid being sold out. Peo­ple with blemish, even lepers willingly ran to the shrine for immunity. [ .. . ] . So they bastardised the osu concept".

30 Den Vergleich zwischen Christus und den Osu zieht Nwakanma (1995, S. 15), der Basdens Argumentation fortführt. Ähnlich Okorocha (1987, S. 159).

Kultsklaven bei den Igbo in Südostnigeria 3n

etülckJlid1en zu meiden. Die Vorstellung, Leid freiwillig auf sich zu nehmen, sich quälen, um für eigene oder fremde Vergehen zu büßen, war die-

L.11::uJ:1.c:11 fremd: "[Tue believe that material success is a supernatural that poverty is nothing but a curse".31 Das Wort für „gut", mma,

bedeutete zugleich schön, reich und verknüpfte also das Ethische mit kOJ�oeirlKhernWohlbefinden und mit Lebenskraft. Da die Religion der Igbo le­oe11st1e1�lhe:nd. und diesseitig orientiert war, dienten ihre Gebete und Rituale vor

Schaden von sich abzuwenden. Dazu will es gut passen, dass wohl-"'""VH''-H· die es sich leisten einen Osu zu opfern, wenig Be-

den Fluch der Götter auf andere abzuwälzen. Die Kultsklaverei '"" •�''"' • nur eine von mehreren Institutionen, um Unglück auf andere

ubertrae:en. Reinigungsrituale erfüllten denselben Zweck, und sie konnten 1Yle�nschc�no1pti::rn verbunden sein. In Onitsha - einer Stadt am Ni­

der 1857 die erste christliche Missionsstation unter den Igbo ent­- konnten Missionare beobachten, wie die Stadt jedes Jahr von ritueller

u.uu ... J..cui::.u.u.i::. gesäubert werde. Zu diesem Zweck fesselte man einen Sklaven ein Seil und schleifte ihn durch die Straßen des Ortes. Durch die Unreinheit, der Körper verwandelte er sich in etwas Verfluch-

tes, so dass die Zuschauer ihn mit und Verwünschungen überhäuften, ihn ::ic.t11a��en traktierten und mit Steinen bewarfen. Am Ende seines Martyri-

ums warf man ihn in den damit die Unreinheit davon geschwemmt wur-Oder man brachte die Leiche in den bad bush, wo sie nicht beerdigt wurde,

sondern verrottete. 33

Kultsklaven

das Beispiel der Reinigungsriten zeigt, war die Verachtung, den Osu entgegenschlug, nichts Ungewöhnliches oder der Igbo-Religion

Fremdes. Es ist also nicht dass die Osu ursprünglich in ho­hem Ansehen standen und erst durch den Neid ihrer Mitmenschen der Äch-

3r Oguejiofor 1996, S. 81-82. 32 Bastian 1993, S. 138. - Das Bild des Gekreuzigten, der Schmerzen erduldet, hat

auch die Christen unter den Igbo nie fasziniert, so dass es fast nirgendwo zu se­hen ist. Basden 1983, S. 231-233; Basden 1966, S. 69, 73-74; Henderson 1972, S. 390, 402-404.

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312 Johannes Harnischfeger

afokas verbreitet,34 ohne dass sich bei ihnen ein Kultsklaventum entwickelt hätte. W ie kommt es, dass die Igbo einen Teil der Menschen, die sie den Göttern opferten, nicht töteten, sondern als Sklaven an die Schreine fesselten? Die Herkunft des Osu-Systems wird sich wohl nicht klären lassen, doch mir scheint, es lassen sich Faktoren benennen, die zu seiner Verbreitung beitru­gen. Große Kolonien von Kultsklaven entstanden vor allem an den Schreinen mächtiger Gottheiten, die als Orakel dienten. 35 Wahrscheinlich begünstigte

die Konkurrenz zwischen Orakeln die Kultsklaverei, denn mit der Zahl der

Osu, die eine Orakelgottheit an sich zog, wuchs ihr Prestige. Betrachten wir,

um den Zusammenhang von Orakeln und Kultsklaven zu untersuchen, die

Göttin Adoro, deren Schrein nur drei, vier Kilometer vom Campus meiner früheren Universität entfernt lag. Als Schutzgöttin von Alor Uno, einer An­sammlung von 31 Dörfern, war Adoro schon in vorkolonialer Zeit berüchtigt, da sie - wie es hieß - selbst in weit entfernten Ortschaften Menschen tötete. Gerade diese Reputation machte sie für die Bewohner von Alor Uno ,.,.,..,..„„ 17·rnr

gab sie ihnen doch Sicherheit. Als „Kinder Adoros" konnten sie sich auch au­ßerhalb der eigenen Siedlung relativ frei bewegen, da niemand es wagte, sich an ihnen zu vergreifen. Die überlegene Macht Adoros hatte aber noch einen weiteren Vorteil. Sie ermöglichte es der Göttin, als ein Orakel zu fungieren. Zerstrittene Parteien, die ihre Dispute um Land, Erbschaftsangelegenheiten oder Hexerei nicht selbst beilegen konnten, reisten oft von weit her nach Alor Uno, um vor dem Schrein Adoros Eide abzulegen. Wer die Unwahrheit sagte, erregte durch seinen Meineid den Zorn der Göttin, so dass er innerhalb eines Jahres (oder einer Frist von wenigen Monaten) starb. Der Tod mochte durch eine gewöhnliche Krankheit oder einen Unfall herbeigeführt sein; als eigent­liche Ursache aber galt der Fluch Adoros, und deshalb verlangten die Priester, dass der Verstorbene mit all seinem Besitz nach Alor Uno geschafft wurde. Leichen, die zum heiligen Hain Adoros geschleift wurden, ließ man einfach im Busch liegen und bedeckte sie mit etwas Sand. In Okija, wo ebenfalls eine berühmte Orakelgottheit residierte, wurden die Leichen mumifiziert und of­fen ausgestellt, so dass Schreinbesucher mit eigenen Augen sehen konnten, wie viele Personen durch die Macht des Orakels ihr Leben lassen mussten.36 Je mehr Leichen eine Gottheit an ihren Aufenthaltsort gezogen hatte, desto

34 Law 1985. 35 Uchendu 1965, S. 89.

36 Der Schrein von Okija geriet in die Schlagzeilen, als die Polizei dort bei einer

Razzia 63 Leichen entdeckte (Newswatch [Lagos], u. Oktober 2004, S. 20).

Kultsklaven bei den Igbo in Südostnigeria

... "'"'"'!-''-„"'- konnte sie verlangen: "[Tue] power to harm is the basis of their

1 h„,„,_„,",..„ der Verstorbenen, die um einen Schrein herum lagen, verkün­

noch eine weitere erschreckende Botschaft. Sie erinnerten jeden, der sich

tiell112:rwm näherte, dass die Angehörigen der Opfer keine spiritu­

oder magischen Gegenmittel gefunden hatten, um die Forderungen des

Orakels abzuwehren. Sie hatten nicht gewagt, ihre Söhne oder Töchter in der

heimischen Erde beizusetzen, sondern warfen die Leichen davon, so

die Leichen von Hexen oder Leprakranken. Ohne die Ehre einer richtigen

öestattu.ng konnten sich die Verstorbenen nicht in Ahnen verwandeln, und da-

waren sie für immer davon ausgeschlossen, in ihren Familien wiedergebo­

zu werden. Statt von ihren Nachkommen verehrt zu werden, irrten sie als

unrul'.ug1e, bösartige Geister durch die Wildnis. Die Menschen versuchten ih­

aus dem Weg zu gehen, doch Adoro und andere Götter zogen diese Geis­

an ihre Schreine. Auf diese Weise potenzierten sie ihre Stärke und

steigerten den Schrecken, den sie verbreiteten.38 Auf Menschen, die ein Orakel

Richter über sich einsetzten, wirkte diese Aura ungezügelter Gewalt anzie­

denn eine aggressive, selbstbewusste Gottheit, die keinen Gegenspieler zu

ließ sich nicht und war bei der Entscheidung von

Orakelstätten standen miteinander in Konkurrenz um Kunden. Deshalb

mussten sie Wege für ihre Dienstleistungen zu werben. Adoro zum

demonstrierte ihre Macht nicht nur in jenem wilden Busch, der den

sondern auch an weit entlegenen Orten. Wenn sie eine Person

sie den Besitz des Opfers, und das schloss sein Gehöft mit

Die Häuser oder Hütten mussten verlassen werden, und wenn Adoro die

ueoa110e nicht der Familie des früheren Besitzers zurückerstattete, verfielen sie

wurden allmählich von Busch überwuchert. Ein solches Stück Wildnis in­

einer blühenden Siedlung war ein unheimlicher Anblick. Es erinnerte

ne'wo,nrn:r daran, dass niemand es wagen konnte, einen Gegenstand zu be­

der der Göttin verfallen war. Indem die Dorfbewohner dieses Tabu be­

"''"'�"·'""'·"'"'' erkannten sie die Macht der Gottheit an und machten sie damit zu ei­

sozialen Realität. Der Zorn Adoros aber war damit noch nicht gestillt. Um

ve1·nH1ae:rn, dass sie weitere Mitglieder der Familie tötete, musste man ihr als

eine(n) Osu weihen, in der Regel ein Mädchen oder eine junge

Henderson 1972, S. n5, 122-123.

S. n5, 272.

Page 8: Kultsklaven bei den Igbo in Südostnigeria

314 Johannes Harnischfeger

Frau aus der Familie des Getöteten. Für das Orakel war dieses lebende Opfer ein wichtiges Mittel öffentlicher Selbstdarstellung, denn das Leid der Geopferten kündete von dem Triumph der Göttin. Nur die spirituelle Überlegenheit Ado­ros hielt die Unglückliche in diesem Zustand der Verdammnis fest. So wie all die anderen Osu, die das Orakel um sich versammelt hatte, war sie der lebende Beweis, dass sich ihre Familie und ihr Clan der souveränen Macht Adoros hat­ten beugen müssen.

Die Angst vor den Göttern

An einem der Adoro-Schreine gab es noch um 1990 eine Kolonie von Frauen, die der Göttin dienten.39 Adoro besaß jedoch so viele Sklaven, dass schon in vorkolonialer Zeit viele in eigene Dörfer am Rand von Alor Uno angesiedelt wurden. Als eine Art lebender Schutzwall waren sie dazu bestimmt, die Freige­borenen vor Angriffen zu schützen. Krieger und Sklavenjäger, die in die Dörfer eindrangen, sollten zuerst auf die Osu treffen, und auch feindselige spirituelle Kräften sollten von den Sklaven absorbiert werden. Nach der Emanzipation der Osu erwies sich die marginale Lage ihrer Dörfer eher als ein Vorteil, denn ihre Bewohner konnten leichter als die Freigeborenen im Zentrum des Ortes entlegene Ländereien urbar machen und bewirtschaften. Die Freigeborenen klagen heute jedenfalls darüber, dass sich die Osu (oder ihre Nachkommen) seit der Kolonialzeit mehr Land angeeignet haben, als ihnen zustehe. Manche Osu haben es auch zu Wohlstand gebracht, denn zu Anfang des 20. Jahrhun­derts, als die britische Eroberung das lokale Machtgefüge verschob, waren sie die ersten, die sich dem Christentum zuwandten und Missionsschulen besuch­ten. V iele zogen in die neu entstehenden Städte, wurden Händler oder arbeite­ten für die Kolonialverwaltung. In Alor Uno, wie in vielen anderen ländlichen Regionen, leben sie allerdings weiterhin geächtet, in abgesonderten Dörfern und Gehöften.

Jedem Bürger von Alor Uno, der sich durch das Gewirr von Pfaden bewegt, das die Dörfer verbindet, ist stets bewusst, ob er sich gerade auf dem Territori­um der Osu oder Diala befindet. Was die Menschen voneinander trennt, sind freilich imaginäre Grenzen, die für Außenstehende nicht sichtbar sind, denn die ehemaligen Sklaven unterscheiden sich in ihrem Aussehen und ihrer Lebenswei­se nicht von den übrigen Bewohnern Alor Unos. Da sie fast die Hälfte der Be-

Kulrsklaven bei den Igbo in Südostnigeria

40 sich aber weiterhin marginalisiert sehen, sind sie bemüht, die po.l1nscbLe Macht im Ort zu erringen. Während der Kolonialzeit hatte die briti­

einen Osu zum Häuptling vonAlor Uno eingesetzt, doch 1976, nach Interregnum ein Nachfolger gewählt wurde, konnten die Diala

ihren Kandidaten durchsetzen. Von der Rivalität zwischen den Bevölkerungs­gruppen wird jedoch nach außen kaum etwas sichtbar. Man vermeidet es, über die der Osu öffentlich zu diskutieren, und die Führer der verfeinde­ten Hälften treten auch nicht als Vertreter der Osu und Diala auf 41 Aber gerade

der Konflikt im Verborgenen schwelt, drängt er sich in die verschiedensten relie:iö:sen und politischen ein. So haben die Osu die Katholische Kir­che von Alor Uno unter ihre Kontrolle gebracht, während die Freigeborenen die Al1LE:1lkalusc:he Kirche dominieren. Auch die Lokalpolitik ist von dieser Rivalität überschattet. Anfang der l 990er als die Militärregierung den Übergang zur Demokratie einleitete und zwei Parteien gründen ließ, übernah-men Osu die lokale Führung der Social Democratic Party, während sich die Diala

National Republican Convention organisierten. In anderen ländlichen Regionen kam es, ganz vereinzelt, zu gewaltsamen

Konflikten mit einigen Toten. So überfielen Diala 1995 das Osu-Dorf Umuo­vertrieben die Bewohner von ihrem Land und zwangen sie, in einem Flücht-

11ne:s1agi::r Aufnahme zu suchen. Die Osu von Umuode hatten dagegen protes­dass es ihnen nicht erlaubt war, den lokalen Markt zu benutzen, und dabei

waren sie mit ihrer Petition vor die nigerianische Menschenrechtskommission gezogen.42 Nach einem Gesetz aus dem Jahr 1956 ist es verboten, Osu zu dis­knm1rue:re11, ja es steht sogar unter Strafe, sie Osu zu nennen. Doch das Gesetz wurde nie angewandt, 43 und das Igbo-Establishment zeigt wenig Interesse, den Nachkommen der Osu gleiche Rechte zu erkämpfen. Der berühmteste Igbo-

40 Anderswo ist ihr Bevölkerungsanteil deutlich geringer. Nach Leith-Ross (1937,

S. 209) sind mehr als 3 Prozent der Igbo die Nachkommen von Kultsklaven.

Nwosu (!999, S. 3) spricht von ro bis 15 Prozent. Aber das sind willkürliche

Schätzungen. 41 In einer Studie von Ezema (!990) über die Konflikte um das Häuptlingsamt in

Alor Uno ist ausgiebig von den Fraktionskämpfen die Rede, aber es wird nie

dass hier die Nachkommen von Sklaven gegen Freigeborene kämp­fen. Die Sympathie des Verfassers ist offenkundig auf Seiten der Osu, aber er

kaschiert ihre Identität, indem er sie die „Progressiven" oder die „Gebildeten" nennt.

42 Agbaegbu 2000, S. 23-26; Dike 2002, S. IO-II.

43 Obasi 1989, S. 19; Okeke 1986, S. n3-n6; 123-124.

Page 9: Kultsklaven bei den Igbo in Südostnigeria

316 Johannes Harnischfeger

Politiker, Ex-General Ojukwu, sprach sich sogar offen gegen eine Gleichstellung aus: "Every Igbo man knows that some of them should have no claim to leader­ship because their forefathers were objects of rituals and do not qualifyfor public glare. 1 mean the osu". 44 Mit dem Übergang zur Demokratie 1999, nach 15 J ah­ren Militärherrschaft, hat sich das Schicksal der Osu oft nicht verbessert. Solange in den fünflgbo-Bundesstaaten Militärgouverneure regierten, die auf die Inter­essen der Bevölkerungsmehrheit wenig Rücksicht nahmen, profitierten die Osu manchmal von staatlicher Protektion. Die Bürger von Umuode zum Beispiel erhielten das Recht, eine eigene Kommunalverwaltung aufzubauen, doch als 1999 ein Igbo zum Gouverneur gewählt wurde, verloren sie ihre Autonomie und

wurden wieder unter die Verwaltung der umliegenden Diala-Dörfer gestellt.45 Verglichen mit der vorkolonialen Zeit ist die heutige Diskriminierung mil­

de und in der Regel wenig spektakulär. In der Anonymität der Großstädte ist es

ohnehin nicht möglich, die alten Schranken aufrecht zu erhalten. Wer ein Res­taurant besucht oder an einem kirchlichen Gottesdienst teilnimmt, kann nicht wissen, ob die Person neben ihm ein Osu ist. Selbst in ländlichen Regionen des

Igbolands haben sich die meisten daran gewöhnt, mit den Osu zu essen oder die Kirchbänke zu teilen. Im Übrigen aber meidet man näheren Umgang mit ihnen, und vor allem Heiraten sind weiterhin tabu. Gegen diese Scheu, enge persönliche Beziehungen einzugehen, lässt sich mit juristischen Mitteln wenig bewirken. Nigerias westlich geprägte Verfassung erkennt die Absonderung durch Ständeschranken natürlich nicht an; jeder ist frei zu heiraten, wen er will. Aber genau aus diesem Grund kann niemand genötigt werden, eine(n) Osu zu heira­ten. Ähnlich steht es in wirtschaftlichen und politischen Dingen: Freigeborene, die auf den Markt gehen, können nicht gezwungen werden, bei Osu-Händlern zu kaufen. Und wenn sie sich an demokratischen Wahlen beteiligen, haben sie das Recht, ihre Stimme nicht einem Osu zu geben.

Da gesetzliche Vorschriften wenig bewirken, rufen Kritiker nach Aufklä­rungskampagnen, um Vorurteile abzubauen und die Mentalität der Menschen zu ändern.46 Doch das Problem liegt nicht in einem Mangel an W issen und

Bildung. Unter den Dozenten meiner früheren Universität in Nsukka war die Angst vor Diskriminierung so stark, dass niemand offen als Osu auftrat und gegen Benachteiligung ankämpfte. Wahrscheinlich gibt es unter Igbo-lntel­lektuellen, -Politikern und -Geschäftsleuten viele Osu, doch als die Zeitschrift

44 Zitiert nach Obasi 1989, S. 18. 45 Agbaegbu 2000, S. 25. 46 Dike 2002, S. 65-67, 73-75; Okeke 1986, S. 124-

Kultsklaven bei den Igbo in Südostnigeria

tvews1wa;tcfl über das „Kastensystem" recherchierte, fand sich niemand unter ih­der seine Identität preisgegeben hätte.47 Die Betroffenen reden nicht über

ihre in der Hoffnung, das Geheimnis ihrer Identität zu wahren und Anlass zur Diskriminierung zu geben. Da die Osu-Minderheit es nicht

der Hand sich durch kollektive Aktionen von dem Stigma zu befreien, die Betroffenen durch individuelle Strategien der Ächtung zu entgehen.

sind aus ihrer Heimatregion in andere Teile Nigerias migriert, manche ha-sogar Igbo-Identität abgelegt und sind zum Islam konvertiert.48

"'''-L•U-"•'-L' die an das unverschuldete Leid der Osu erinnern, empören sich über Indifferenz und Heuchelei der politischen Elite: Statt gegen die Apartheid in

Südafrika zu protestieren, hätten sie sich besser dafür eingesetzt, die eigene in-1\piartneJta zu überwinden.49 Mit dieser Kritik an den politisch Verantwort­

die wenig Anlass sehen, sich mit der stillschweigenden Diskriminierung Osu zu befassen, verbindet sich der Aufruf an die Opfer, sich nicht länger

verstecken. Doch was hätten Professoren, Politiker oder Geschäftsleute da-sich zu outen und die Vorurteile ihrer sozialen Umgebung anzuprangern?

Dass die der Osu ungerecht ist, mag niemand bestreiten. Die """"""'""'"'""""in sozial Reine und Unreine bringt auch niemandem einen erkenn-

so dass kaum sie engagiert verteidigt. Selbst jene Igbo-'ld.1.iv,uL.:1..u,,,,...,,,i, die für den Erhalt ihres kulturellen Erbes kämpfen, wissen nicht,

das Kastenwesen gut war: "There are several things which we don't un­

derstand [ . . . ]. 1 think however that we must give respect to these things which

don't understand or face peril".50 "Osu happens to be an ancient and sacred

in lt is such norms that give society its basis and balance. [ ... ] think Osu is an aberration in that sense [ ... ] a people must have their

their thinking''. 51 Wahrscheinlich wäre die große Mehrheit der Igbo froh, wenn es unter ih­

keine Osu mehr gäbe, nur wissen sie nicht, wie sie sich von dem be-

Obasi 1989, S. 17. - Hinweise auf verborgene Osu-Affiliationen zirkulieren im

Internet. So war auf einer Igbo-Website zu lesen, dass der Bruder der Ministerin

Dr. Kema Chime mit einer Osu verheiratet sei, was den Schluss nahe lege, dass er

selbst und damit auch seine Schwester Osu sind (http, S.//messageboard.biafra­

nigeriaworld.com/ultimatebb.cgi?ubb=get_topic;f=1;t=oooo29, 5. 8. 2008).

Onwubiko 1993, S. 75; Obasi 1989, S. 17-18. Dike 2002, S. 45, 6, 24, 30; Nwosu 1999, S. r; Okeke 1986, S. 46, 127, 130, 136.

50 ein Dozent an der Universität Nsukka, in Nwakanma 1995, S. 10.

51 Prof. Obiora Udechukwu von der Universität Nsukka, in Nwakanma 1995, S. IO.

Page 10: Kultsklaven bei den Igbo in Südostnigeria

Johannes Harnischfeger

drückenden Erbe befreien sollen.52 Fragt man Freigeborene nach den Gründen für ihre Zurückweisung der Osu, stößt man auf eine diffuse, aber tief verwur­zelte Angst: "I would never have anything to do with an osu because they are

spirits. [ ... ] I will never touch one. They are dangerous people".53 Das Erschre­ckende an ihnen ist immer noch die Nähe zu den Göttern. Wer sich eng an einen Osu bindet und ihn - vielleicht nur aus Gedankenlosigkeit - verletzt oder mit ihm in Streit gerät, muss mit spirituellen Sanktionen rechnen, denn die Osu gelten weiterhin als Eigentum der Götter. Darin dürfte auch einer der Gründe liegen, warum die meisten Freigeborenen zögern, sich für die Eman­zipation der Osu einzusetzen. Denn wer den Göttern nehmen will, was ihnen gehört, muss ihre Rache fürchten.54

Igbo-Politiker und traditionelle Herrscher, die auf das Osu-Thema ange­sprochen werden, plädieren meist dafür, das Problem auf sich beruhen zu las­sen, da die alten Distinktionen früher oder später ohnehin in Vergessenheit geraten werden. Lange Zeit sah es tatsächlich so aus, als würde sich mit der Ausbreitung des Christentums und moderner Erziehung die „Tyrannei der al­ten Glaubensvorstellungen" auflösen. 55 Die meisten Igbo sind heute Christen, doch ihre spirituelle Welt hat sich nicht grundlegend geändert. Sie beten zum Gott der Bibel, der stärker zu sein scheint als die Götter ihrer Väter, aber die meisten vertrauen nicht darauf, dass der Allmächtige sie vor dem Zorn der alten Götter bewahren kann, und deshalb vermeiden sie es, die Eigentümer der Osu zu provozieren. Für den katholischen Erzbischof von Owerri ist die fortgesetzte Ächtung der Osu ein Zeichen, dass die Kirche versagt hat: "Igbo are yet to be thoroughly evangelised. [Osu discrimination] is part of the ata­vistic heritage still holding us in bondage" .56 Neben den großen Missionskir­chen sind aber in den letzten Jahren viele charismatische Kirchen entstanden, die einen radikalen Bruch mit der „heidnischen" Tradition verlangen. In Alor Uno waren es zwei Mitglieder einer solchen Kirche, der Assemblies of God, die es als erste im Ort wagten, das alte Tabu zu missachten und über die Kasten­grenzen hinweg zu heiraten. Die Eltern der Braut nahmen an der Hochzeit im Dezember 1996 freilich nicht teil, hatten sie doch ihre Tochter vergeblich da­vor gewarnt, einen Osu zu heiraten. Und es scheint, sie hatten mit ihrer War-

52 Nwosu 1999, S. 2. 53 Zitiert in Obasi 1989, S. 16. 54 Okeke 1986, S. 105, 137; Dike 2002, S. 3, 33.

55 Onwubiko 1993, S. 24, 6; Arinze 1970, S. 92 . 56 InAgbo 2002, S. 19.

Kultsklaven bei den Igbo in Südosmigeria

Recht. Denn als die Frau ihr erstes Kind zur Welt brachte, starb Kind bald darauf die Mutter.57

wv•<UJl;:;'- die den alten Göttern Macht über sich einräumen, haben sie die Osu zu fürchten. Das einzig verlässliche Mittel, den Zauber zu bre-

der die Osu gefangen besteht ihre Besitzer - die Götter - zu entmachten. In Alor Uno wagte N gozi Ogbu, eine christliche Prophetin, die-

radikalen Schritt, als sie am 1. Februar 1995 mit ihren Anhängern zum Adoro-Schrein stürmte und die gesamte Anlage zerstörte. Ngozi war selbst ein

der Göttin. Es hieß, Adoro habe ihre Eltern getötet, und deshalb wurde die Tochter dazu bestimmt, den Fluch der Familie auf sich zu nehmen und Osu zu werden. Doch das Mädchen entzog sich diesem Schicksal, rannte davon und

eine die nackt umherirrte und am Straßenrand Essensreste aufsammelte. Ihr Leben nahm erst eine Wende, als ihr in einer Vision Jesus er­

ve.rK1rn<1ete, dass sie dazu berufen sei, ihre Mitmenschen zu befreien. sich stets geweigert hatte, eine Osu-Identität anzunehmen, führte sie

gegen Adoro nicht als einen Aufstand der Ausgestoßenen. Eine Osu-Rebellion anzuführen wäre auch aussichtslos gewesen, denn es hätte die Gräben zwischen den Bevölkerungsgruppen nur vertieft. Ngozi wählte stattdes-

eine andere Strategie: Sie betonte den christlichen Charakter ihrer Botschaft, pr<JPaLg1i::rte einen Kreuzzug gegen das „Heidentum" und appellierte dabei an alle

Unos - Osu wie Diala- sich von der Vergangenheit zu befreien. Trotz ihrer Militanz argumentierten N gozi und ihre Anhänger im Wesentli­

pr�Lgn1at1scJh.. Sie mochten nicht bestreiten, dass Adoro einst eine nützliche ::>c11ut:zg-<Jttlln der Gemeinde gespielt habe, doch heute wirke sie eher

ein Fluch. Durch die massive Präsenz heidnischer Kräfte sei Alor Uno rück­staindlger als alle umliegenden Gemeinden. Es gebe keine Strom- und Wasser-

57 Okorocha (r987, S. 275-276) berichtet von einem umgekehrten Fall. Eine Osu­Frau, die kurz davor war, einen Freigeborenen zu heiraten, erhielt Drohbriefe mit der Warnung, dass sie bei der Geburt des ersten Kindes sterben werde. Und der Mann, ein evangelikaler Christ, wurde von seinem Vater bedrängt:

Lhnst1anL1tv is Christianity, but an osu is an osu. This is not Christianity, it is sornerhinLe: deeper. lt is a matter of life and death". Die bekannteste literarische l:re:mururlg einer Liebe zwischen einer Osu und einem Freigeborenen findet sich in dem Roman von Chinua Achebe: No Longer at Ease.

Page 11: Kultsklaven bei den Igbo in Südostnigeria

320 Johannes Harnischfeger

versorgung, nicht einmal eine richtige Sekundarschule.58 Von Adoro und ihren Opfergaben profitierten nur die Priester und eine Clique alter Männer, die die Schiedssprüche des Orakels zu ihren Gunsten manipulierten. Zudem werde der Schrein von Hexen und Zauberern missbraucht, die Unschuldige töteten und die äußeren Umstände der Morde so arrangierten, als hätte Adoro die Unglück­lichen gerichtet. Für die Mehrheit der Bevölkerung dagegen bringe der Adoro­Kult eher Nachteile. Gerade weil die Göttin in weitem Umkreis gefürchtet war, besaßen die Bewohner von Alor Uno eine üble Reputation. Wer ihnen zu nahe kam - das bestätigten mir Bürger umliegender Ortschaften - riskierte, mit der Schutzgöttin in Konflikt zu geraten. Die Menschen in der Nsukka-Region mie­den es daher, jemanden aus Alor Uno zu heiraten, so als wären alle Bewohner des Ortes Osu.

Ngozis Kritik am Adoro-Schrein ließ sich von einer Maxime leiten, die den Igbo aus ihrer religiösen Tradition vertraut ist: Ein Kult, der mehr Schaden als Nutzen anrichtet, hat keine Existenzberechtigung, so dass man sich besser von ihm trennt. Außerdem brachte sie die Idee ritueller Unreinheit ins Spiel, indem sie die Adoro-Anhänger mit Hexerei und anderen okkulten Kräften in Verbin­dung brachte. In ihrer Ablehnung des Adoro-Kults berief sich die Prophetin also nicht auf christliche Dogmen wie den Absolutheitsanspruch des monothe­istischen Gottes, der keine falschen Götter neben sich duldet. Stattdessen über­setzte sie den Gegensatz von wahren und falschen Göttern in Kategorien, die den Igbo besser vertraut sind, nämlich rein und unrein. Da N gozi ohnehin nur recht oberflächliche Bibel-Kenntnisse besaß, wäre es abwegig gewesen, als Eife­rin für die strikte Auslegung religiöser Wahrheiten aufzutreten. Alles Doktrinäre lag ihr fern, aber ihr Kampf um Reinheit konnte ebenfalls totalitäre, unduldsa­me Züge annehmen. Auf N gozis Geheiß mussten sämtliche Dörfer Alor Unos von den Relikten des „Heidentums" gesäubert werden. In jedes Gehöft drangen ihre Anhänger ein, bewaffnet mit Äxten und Macheten, um die Familienschrei­ne zu zerstören und die Häuser nach Zaubermitteln zu durchsuchen.59 Was sie

58 Die Freigeborenen hatten darauf beharrt, für Osu und Diala getrennte

Sekundarschulen zu errichten, und der Streit darüber hatte das Schulprojekt

verzögert. 59 Von Zaubermitteln geht, ähnlich wie von ritueller Unreinheit, eine ansteckende

Wirkung aus. Deshalb können Reinigungskampagnen nur gelingen, wenn alle

verdächtigen Objekte beseitigt werden. In den Worten von Ngozis Anhängern:

"You cannot burn other people's charms and hide you own." Solange einzelne

Personen oder Familien darauf beharren, ihre jujus zu behalten, kann niemand

Kultsklaven bei den Igbo in Südostnigeria 321

dem Dunkel hervorzerrten, wurde auf den Marktplatz gebracht und öffent­awsgestelit. Am Ende ihrer cleansing campaign ließ sie all die religiösen und

m<1g1:scllten Objekte aus dem Ort schaffen und verbrennen. Im Unterschied zu den Adoro-Priestern mochte sie nicht den heiligen Hain der Göttin dazu be­

die gefährlichen Objekte aufzunehmen, aber sie wählte, um das in Unreine, Böse zu verbannen, einen ähnlich signifikanten Ort: ein

außerhalb der Gemeinde, das verrufen war, weil dort ein Ritual­mord und mehrere andere Verbrechen geschehen waren.

Ngozis Reinigungskampagne rief natürlich Widerstand hervor. Aus der Per­cnt'>lrriu„ der Traditionalisten war sie selber eine unreine, marginale Person, die durch den Fluch Adoros gezeichnet war: eine Frau ohne Kinder und ohne festes J..,,J.JlJ.AIJHJLu.1.0 ... u, die zwar geheiratet hatte, aber ihren Mann, einen LKW-Fahrer,

wieder verlassen hatte. Im Rahmen der traditionellen Religion gab es für sie keine Möglichkeit, Respektabilität zu gewinnen. Nur im Namen des frem­den christlichen Gottes konnte sie sich gegen die soziale Ächtung auflehnen. Und nur durch das Prestige des Christentums konnte sie sich von dem Verdacht rernw,asc:hen. mit sinisteren Kräften im Bunde zu stehen. Ngozi hatte nämlich nach der Erstürmung des Adoro-Schreins viele Funktionen des zerstörten Ora­kels übernommen. Sie entschied Streitfälle, identifizierte Diebe, Mörder und

wusste Regen herbeizubeten oder zu vertreiben. Und sie ließ sich für all

diese Dienstleistungen so als wäre sie eine professionelle Wahrsagerin oder Zauberin. Doch als ein Medium des Heiligen Geistes trat sie mit dem An­

eine reine, lautere Kraft zu verkörpern. All die Zeichen christlicher t'ro1m1mE�ke1tt: die Bibeln, Rosenkränze und weißen Gewänder ihrer Gläubigen

aus dem Zwielicht okkulter Kräfte herauszutreten und den Ver­dacht zu zerstreuen, selbst eine Hexe zu sein.

In Alor Uno, wie in anderen Teilen des Igbolands, gibt es keinen Konsens über Reinheit und Unreinheit. Rivalisierende Gruppen suchen sich gegenseitig als unrein zu definieren. Wer sich dabei durchsetzt, ist eine Frage der Macht. Als Ngozi 1994 nach Alor Uno kam, um ihre Vision von Reinheit durchzuset­zen, suchte sie gleich die Konfrontation mit ihren Widersachern. Sie zog vor das Haus ihres Onkels, der im Verdacht stand, der „Präsident" des lokalen „Hexen-

sich sicher fühlen. Da den Objekten nicht anzusehen ist, ob sie defensiven oder

aggressiven Zwecken dienen, müssen sich die Bewohner benachbarter Gehöfte

vor ihnen schützen, indem sie sich ihrerseits magische oder spirituelle Mittel

zulegen, und damit verbreitet sich der Fluch okkulter Gewalt (vgl. Girard 1987, S. 46-61, 87).

Page 12: Kultsklaven bei den Igbo in Südostnigeria

322 Johannes Harnischfeger

clubs" zu sein, und rief ihm zu, er solle zu ihr kommen, niederknien und Jesus

annehmen. Der stolze, wohlhabende Mann mochte sich natürlich nicht seiner

Nichte unterwerfen, vielmehr donnerte er zurück, sie sei weniger Wert als sein

Urin; innerhalb von zwei Wochen werde sie sterben. Doch zehn Tage später, auf

dem Weg zu seinen Feldern, fiel er einfach tot um. Für die Dorfbewohner, die

den Showdown verfolgt hatten, war offensichtlich, dass Ngozi ihren Widersa­

cher mit Hilfe des Heiligen Geistes getötet hatte. Die Prophetin bestand auch

darauf, die Leiche wie etwas Unreines, Verfluchtes zu behandeln. Damit der Ver­

storbene über seinen Tod hinaus geächtet blieb, rief sie die Dorfbewohner dazu

auf, seiner Beerdigung fernzubleiben.

Ihre Gegenspieler formierten sich jedoch wieder und zerstörten das Zent­

rum für Geistheilungen, das sie mitten im Ort, gleich neben dem Marktplatz

errichten ließ. Auf dem Grundstück war ursprünglich das Haus ihrer Eltern

gestanden, doch nach deren Tod hatte niemand gewagt, es zu betreten, so dass

das Gemäuer verfiel und schließlich von W ildnis überwuchert war. N gozi hat­

te die Ruine beseitigt und den Busch gerodet, um auf dem verwunschenen

Gelände ihr spirituelles Zentrum zu errichten: einen Ort der Reinheit, an dem

Gläubige sich von bösen, zerstörerischen Kräften befreien sollten. Doch der

Angriff der Traditionalisten verwandelte das umstrittene Gelände wieder in ein

Trümmerfeld. Das Scheitern von N gozis Mission wurde offensichtlich, als sie

im Dezember 1999, mit kaum dreißig Jahren, überraschend starb. Die meisten

Bewohner von Alor Uno waren überzeugt, dass Adoro sie gerichtet hatte, doch

ihre Anhänger weigerten sich, ihren Leichnam den Schreinpriestern auszuhän­

digen, und gaben ihr ein ehrenvolles Begräbnis. Als ich ihr Grab besuchte, sah

ich kein Kreuz, sondern einen Sessel, mit weißem Tuch bedeckt, darauf eine

Bibel und ein Schwert.

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