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Kritik an den "alten" Klassen- und Schichtmodellen – "Horizontale" Soziale Ungleichheiten Wiederholung Mobilität und/oder Reproduktion individueller Klassenlagen und kollektiver Klassenstrukturen Reproduktion individueller Klassenlagen durch verschiedene Kapitalarten, ihre Diversifizierung, Transformation und Vererbung. Fehlende Aspirationen der Unterschicht. Umwälzung kollektiver Klassenstrukturen durch wirtschaftliche Entwicklung Übersicht Inhaltsverzeichnis 1. Kritik an den "alten" Klassen- und Schichtmodellen 2. Vielfalt möglicher Kriterien für soziale Anerkennung beziehungsweise für Lebenszufriedenheit 3. Milieus und Lebensstile: Definition 4. Konkrete Milieu-Modelle (Bourdieu, Sinus etc.) 5. Milieus/Lebensstile determiniert oder nicht-determiniert (durch materielle Lage)? 6. Was heißt Individualisierung (nach Ulrich Beck)? 7. Soziale Ungleichheit und/oder Kulturelle Verschiedenheit?
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Kritik an den alten Klassen- und Schichtmodellen ...b-gill.userweb.mwn.de/Lehrveran/repetit_alt/lv2_fol/F04.pdf · Bourdieu in zusammengefasster, vereinfachter Form: aus Hradil 2004:

Mar 06, 2018

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duongquynh
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Kritik an den "alten" Klassen- und Schichtmodellen – "Horizontale" Soziale Ungleichheiten

WiederholungMobilität und/oder Reproduktion individueller Klassenlagen und

kollektiver KlassenstrukturenReproduktion individueller Klassenlagen durch verschiedene Kapitalarten,

ihre Diversifizierung, Transformation und Vererbung. Fehlende Aspirationen der Unterschicht.

Umwälzung kollektiver Klassenstrukturen durch wirtschaftliche Entwicklung

Übersicht

Inhaltsverzeichnis1. Kritik an den "alten" Klassen- und Schichtmodellen2. Vielfalt möglicher Kriterien für soziale Anerkennung beziehungsweise

für Lebenszufriedenheit3. Milieus und Lebensstile: Definition4. Konkrete Milieu-Modelle (Bourdieu, Sinus etc.)5. Milieus/Lebensstile determiniert oder nicht-determiniert (durch

materielle Lage)?6. Was heißt Individualisierung (nach Ulrich Beck)? 7. Soziale Ungleichheit und/oder Kulturelle Verschiedenheit?

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1. Kritik an den "alten" Klassen- und Schichtmodellen

Geißler 2002: 136f.

Vereinheitlichung der LebensbedingungenFast alle sind abhängig beschäftigt und der soziale Status der Arbeiter hat sich in Richtung der Angestellten angeglichen (höhere soziale Sicherheit) – Klassenunterschied nicht mehr so relevant für die Mehrheit der Bevölkerung.

Durch den steigenden Wohlstand ist der „Fahrstuhl der guten Lebensbedingungen“ eine Etage höher gefahren ("paternoster–Effekt"): Frühere Statussymbole haben an Kraft verloren, da sie heute nahezu allen zugänglich sind.

Auch die Risiken der hochtechnisierten Gesellschaft betreffen heute vielfach alle Gruppen der Gesellschaft - wenn auch meistens in unterschiedlichem Ausmaß (Ulrich Beck: "Not ist hierarchisch, Smog demokratisch.").

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Differenzierung und Diversifizierung der SoziallagenDie Komplexität von sozialen Ungleichheiten nimmt zu: Neue, „horizontale“ Ungleichheitskriterien sind z.B. Alter, Geschlecht, Ethnizität, Staatsbürgerschaft und Region. Bei genauerem Hinsehen fällt jedoch auf, dass diese Kriterien nicht neu sind, sondern unter den Kategorien „Schicht“ und „Klasse“ nur weniger stark wahrgenommen wurden.

Auflösung schichttypischer SubkulturenTraditionelle klassen- und schichttypische Milieus lösen sich auf. Die Menschen sind durch die genannten neuen Entwicklungen und Tendenzen nicht mehr so sehr an die entsprechenden Mentalitäten ihrer Milieus gebunden.

Pluralisierung und Individualisierung der KonfliktlinienKonfliktlinien sind nicht verschwunden, sie wechseln nur schneller. Sie bilden sich nicht mehr nur zwischen Klassen und Schichten aus, sondern zunehmend zwischen spontan sich bildenden Themen- und Interessenkoalitionen.

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2. Vielfalt möglicher Kriterien für soziale Anerkennung beziehungsweise für Lebenszufriedenheit

a) Wem würden Sie Ihre Tochter (gerne) zur Frau geben? Wem Ihren Sohn zum Mann? Welche Eigenschaften sollte der neue Schuldirektor haben?

Für Schwiegersohn/tochter wurden genannt: Ehrlichkeit, Treue, Ehrgeiz, Freigeist, Selbstständigkeit, Zuverlässigkeit, Familienfreundlichkeit, rücksichtsvoll, kompromissbereit, Umgangsformen („Knigge“), „anständiger“ Beruf

Für Schuldirektor wurde genannt: innovativ, verständnisvoll, führungsstark, teamfähig, sozial kompetent, fair, Weiterbildung fördern, Loyalität, konsequent, ehrlich, zugänglich, unparteiisch, kritikfähig, Representationsfähigkeit, Vermittlungsfähigkeit

b) Was ist für Sie erforderlich, um zufrieden zu leben? Es werden genannt: Gesundheit, saubere Umwelt, materielle Sicherheit

(u.a. aufgrund von Bescheidenheit), Familie/Partnerschaft, Freunde, Geborgenheit, Sexualität, interessante Beschäftigung, Wohnraum, Schutz vor Kriminalität/Störung, Freizeit, kulturelles Angebot, Naturschönheit, Infrastruktur, Autonomie, Demokratie,

c) a + b zeigen: Es gibt offenbar mehr Determinanten bzw. Dimensionen für sozialen Status als "Einkommen, Bildung, Berufsprestige" (Schicht) oder "Stellung zu den Produktionsmitteln" (Klasse)

d) Inwieweit sind die unter a + b genannten Determinanten für Anerkennung bzw. Lebenszufriedenheit bloß individuell oder kulturell oder inwieweit sind sie universell verallgemeinerbar ("objektive Lebenschancen")? Es stellt sich nämlich die Frage, inwieweit es sich um Determinanten sozialer Ungleichheit handelt oder um Merkmale kultureller Verschiedenheit bzw. von Individualisierung (vgl. nächste Sitzungen).

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3. Milieus und Lebensstile: Definition

a) alter Milieubegriff

Wortsinn: au milieu de (qc.) [frz.] = mitten in; in der Mitte einer Sache = alter Milieubegriff: Menschen waren früher physisch weniger mobil und waren in ihrer Lebensweise weniger von Massenmedien beeinflusst. Aufgrund der relativ geschlossenen Bewegungskreise und Horizonte entstanden ähnliche Werte, Denk- und Verhaltensweisen.

Beispiel Land: Familie und Bekannte von Bauern leb(t)en auf dem Hof oder in der Nachbarschaft; Dorf, Kirche, Gasthaus etc. befanden sich im direkten Umkreis.

Beispiel Stadt: Arbeitersiedlungen, z.B. im Ruhrgebiet, die von bestimmten Werken errichtet wurden, bedeute(te)n ein relativ geschlossenes Ensemble von Sozialbeziehungen. Berlin: Siemensstadt = Siemensmilieu. Das "bürgerliche Milieu" resultierte aus bürgerlichen Wohnumgebungen in besseren Wohnlagen.

Aus der Nachbarschaft ergaben sich "soziale Kreise", in denen man sich bewegte. Früher wurde man in ein Milieu hineingeboren und verblieb dann meist lebenslang darin. Die Ähnlichkeit der Mentalitäten innerhalb eines Milieus ergab sich durch den engen Kontakt untereinander, man wurde in ein bestimmtes Milieu hineinsozialisiert, meist von Kindesbeinen an. Wer abweicht, wird aus dem Milieuaus gesondert – (Selbst-)Selektion. b) Neuer Milieubegriff (z.B. Sinus)

Bei Sinus handelt es sich um ein Marktforschungsinstitut, das durch repräsentative Umfragen (Stichproben) versucht, innerhalb einer relativ großräumigen Erhebungseinheit (BRD) Milieutypen festzustellen. Dies geschieht per Fragebogen, wobei ca. 2000 Antwortbögen an Rücklauf zur Typisierung notwendig sind, um Repräsentativität zu erreichen.Entsprechend handelt es sich nicht um verräumlichte Milieus. Stattdessen werden per Clusteranalyse (statistisches Verfahren) ähnliches Antwortver-halten und ähnliche Werthaltungen zusammengefasst, ohne dass die betref-

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fenden Personen miteinander in Kontakt stehen. Heute sind Nachbarschaften weitgehend anonym, prägende Sozialkontakte werden stattdessen mithilfe von Verkehrs- und Kommunikationsmitteln oft über weite Strecken aufrecht erhalten. Ähnliche Lebensweisen ergeben sich vornehmlich durch Auswahl der Medien und der Freunde. Entsprechend ist der Verbleib in einem Milieu meist auch zeitlich begrenzt, man wechselt von einem bestimmten Jugendmilieu in ein bestimmtes Erwachsenenmilieu etc.

c) Lebensstile (z.B. Punker, Grufties)Zwischen neuen Milieus und Lebensstilen besteht eigentlich kein Unter-schied, die Begriffe werden oft identisch gebraucht.Lebensstile sind stärker auf aktive ästhetische, politische und moralische Stilisierungen angelegt, mit denen man sich bewusst von anderen abgrenzt.

d) Milieus und Lebensstile sind durch Grenzen markiert

- ästhetisch-kulturelle Grenzen des "guten Geschmacks" - moralische Grenzen "anständigen Verhaltens" - soziale Grenzen "ökonomischer Gleichrangigkeit"

wobei von Milieu zu Milieu diese verschiedenen Abgrenzungsmöglichkei-ten unterschiedlich stark betont werden.

Lamont 1996: 24

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4. Konkrete Milieu-Modelle (Bourdieu, Sinus etc.)Was steht auf den Achsen – wie sind die Modelle konstruiert?

Bourdieu in zusammengefasster, vereinfachter Form:

aus Hradil 2004: 265

oder lieber spiegelverkehrt, um es besser mit der Urfassung (siehe nächste Seite) und der politischen Intuition kompatibel zu machen (vgl. auch Herz 1990: Tabelle 6, Sitzung zu Klassen und Schichten)

Bildungsbürgertum Besitzbürgertumkulturell gebildetes Kleinbürgertum

technisch gebildetes Kleinbürgertum

"alter Mittelstand": kleine Selbständige

Industriearbeiter Landarbeiter

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Bourdieu 1982: Die feinen Unterschiede, S.212f.

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in konsumkultureller Hinsicht wurde dieses Modell von Sinus etwas abgewandelt für Deutschland verwendet. Auf der horizontalen Achse finden sich jetzt (kulturelle) Werte, nicht mehr die Art des Kapitalmix :

Milieu der Konservativen (etwa 5 Prozent der Konsumenten):Das alte deutsche Bildungsbürgertum. Konservative Kulturkritik, humanistisch geprägte Pflichtauffassung und gepflegte Umgangsformen.

Milieu der Etablierten (etwa 10 Prozent der Konsumenten):Das selbstbewusste Establishment. Erfolgs-Ethik, Machbarkeitsdenken und ausgeprägte Exklusivitätsansprüche.

Milieu der Postmateriellen (etwa 10 Prozent der Konsumenten):Das aufgeklärte Nach-68er-Milieu. Liberale Grundhaltung, postmaterielle Werte und intellektuelle Interessen.

Milieu der modernen Performer (etwa 8 Prozent der Konsumenten):Die junge unkonventionelle Leistungselite. Intensives Leben – beruflich und privat, Multi-Optionalität, Flexibilität und Multimedia-Begeisterung.

Milieu der Traditionsverwurzelten (etwa 15 Prozent der Konsumenten):Die Sicherheit und Ordnung liebende Kriegsgeneration. Verwurzelt in der kleinbürgerlichen Welt bzw. in der traditionellen Arbeiterkultur.

Milieu der DDR-Nostalgie (etwa 6 Prozent der Konsumenten):Die resignierten Wende-Verlierer. Festhalten an preußischen Tugenden und altsozialistischen Vorstellungen von Gerechtigkeit und Solidarität.

Milieu der bürgerlichen Mitte (etwa 16 Prozent der Konsumenten):Der statusorientierte moderne Mainstream. Streben nach beruflicher und sozialer Etablierung, nach gesicherten und harmonischen Verhältnissen.

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Milieu der Experimentalisten (etwa 7 Prozent der Konsumenten):Die individualistische neue Bohème. Ungehinderte Spontaneität, Leben in Widersprüchen, Selbstverständnis als Lifestyle-Avantgarde.

Milieu der Konsum-Materialisten (etwa 11 Prozent der Konsumenten):Die stark materialistisch geprägte Unterschicht. Anschluss halten an die Konsumstandards der breiten Mitte als Kompensationsversuch sozialer Benachteiligungen.

Milieu der Hedonisten (etwa 11 Prozent der Konsumenten):Die spaßorientierte moderne Unterschicht. Verweigerung von Konventionen und Verhaltenserwartungen der Leistungsgesellschaft.

Sinus beruft sich bei seiner Modellkonstruktion auf die "Modernisierung" und "Postmodernisierung" von Werten. Theoretisch spielt dabei insbesondere der "Postmaterialismus" eine Rolle:

Hradil 2004: 275

In der Literatur wird der Mischtyp wenig charakterisiert. Es ist zu vermuten, dass es sich um einen neuen, eher erlebnisorientierten statt besitzorientierten Typus handelt, der stark am Markenkonsum orientiert ist - man könnte mit Blick auf die Konsumsoziologie auch von einem neuen, stärker individualisierten Materialismus sprechen.

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5. Milieus/Lebensstile determiniert oder nicht-determiniert (durch materielle Lage)?

Die Frage, ob Milieus durch die Klassen-/Schichtlage determiniert werden, wurde schon von Karl Marx und Max Weber diskutiert. So kann die heutige Debatte zu diesem Thema keineswegs als „neu“ betrachtet werden.

determiniert nicht-determiniertfrüher Marx Weberheute Bourdieu Beck, Hradil

MarxDie Klassen- /Schichtlage determiniert Milieus.Marx unterscheidet:

Klassen = „Klasse an sich“Klassenbewusstsein = „Klasse für sich“ =>Klassenkampf

Dabei geht Marx davon aus, dass sich die "Klasse an sich" objektiv aus der Stellung zu den Produktionsmitteln ergibt. Wenn sich die Arbeiterklasse subjektiv ihrer Lage bewusst wird, kommt es zur politischen Formierung und zum Klassenkampf. Diese Abfolge wurde von Marx für die Zukunft postuliert, aber er hat sie zu seiner Zeit nicht unbedingt so beobachtet.

Weber Gegen Marx unterscheidet Weber drei (bzw. vier) Aspekte und betont deren Divergenz:

Besitzklassen / BerufsklassenStände (private Lebenssituation, man könnte auch sagen Milieu)Parteien (politische Ausdrucksform)

Die Ausprägungen von Berufs-, privater Lebenssituation und politischer Ausdrucksform müssen nicht miteinander korrelieren.

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BourdieuDie Klassen-/ Schichtlage und die damit verbundene Kapitalausstattung determinieren Milieus. Bourdieu geht von drei Kapitalarten (kulturelles, soziales und ökonomisches) aus. Diese beeinflussen den Habitus einer Person und somit ihr Verhalten in der Gesellschaft.

Beck, HradilDie Klassen-/ Schichtlage determiniert die Milieus nicht allein. Neben einer Differenzierung anhand von Schichten ist auch die kulturelle Verschiedenheit zu betonen. Die Individuen entscheiden selbst über ihre Zugehörigkeit zu einem Milieu.

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6. Was heißt Individualisierung (nach Ulrich Beck) ?

a) Ablösung naher, Ersetzung durch Zugehörigkeiten und Abhängigkeiten in Bezug auf entferntere soziale Instanzen: Die Entwicklung vom Dorf ("Kirchturmhorizont") zur Nation zur Globalität ist im wesentlichen durch erweiterte Arbeitsteilung bedingt und von steigender wirtschaft-licher Prosperität begleitet. Im Dorf (d.h. zur Zeit der Agrargesellschaft) gibt es in der Regel nicht allzu viel Auswahl in Bezug auf die wesentlichen Sozialfunktionen: Be-rufswahl, Arbeitsstellen, Familiengründung, militärischer Schutz, Rechtsprechung, Religionsausübung, Konsum etc. Alles ist weitgehend vorgegeben. Mit der Öffnung zur Nation (d.h. zur Zeit der Industriege-sellschaft) geht eine erhebliche Zunahme möglicher Kontakte einher; zugleich werden die Kontakte distanzierter und stärker über Medien (Geld, Macht, Informationsmedien) vermittelt. Herrschaftsausübung z.B. nicht mehr durch einen Gutsherrn in der Nähe, sondern durch Volkssouveränität, verkörpert von auswechselbarem Politpersonal. Ar-beit nicht mehr auf dem elterlichen Bauernhof, sondern vermittelt über regionale und nationale Arbeitsmärkte, abhängig nicht mehr vom Wet-ter, der Gesundheit und der Kinderzahl der Familie, sondern von indidi-viduell weitgehend undurchschaubaren Marktschwankungen und politischen Entscheidungen. Kommunikation nicht mehr so sehr von Angesicht zu Angesicht, sondern über Massenmedien. Die Globalisierung (in der postindustriellen Gesellschaft) stellt einen weiteren Öffnungsschub dar.

b) Mit den zunehmenden Distanzen ergeben sich mehr Wahlmöglichkeiten und eine weniger feste, weniger selbstverständliche Einbindung - z.B. des Ehepartners und der Kinderzahl, des Berufs und des Arbeitsplatzes, der weltanschaulichen und politischen Ausrichtung (bzw. Mitglied-schaft in entsprechenden Vereinen), des Konsums.

c) Mehr Entscheidungsmöglichkeiten bedeuten auch mehr Entschei-dungszwänge. Vielfach fehlt es an Orientierung und entsprechend füh-ren Wahlmöglichkeiten zu Entscheidungskrisen.

d) Außerdem werden wir nun häufiger von den Entscheidungen der ande-

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ren getroffen ("doppelte Kontingenz") - z.B. werden Arbeitsverhältnisse aufgrund von kapitalistischen Marktentwicklungen aufgelöst. Die Emanzipation vom Naturschicksal und die zunehmende soziale Abhängigkeit halten sich ungefähr die Waage, insofern bleibt das Leben schicksalhaft.

d) Obwohl viele "Freisetzungen" also durchaus schicksalhaft sind, werden sie nun oft auf Entscheidung zugerechnet. Vielfach in Form der libera-len Ideologie "Jeder ist seines Glückes Schmied".

e) Die objektive Zunahme der Entscheidungsmöglichkeiten muss von den Individuen nicht notwendigerweise subjektiv als solche erfahren wer-den. Wir treffen oft Entscheidungen, die uns selbstverständlich erschei-nen und uns daher nicht als solche bewusst werden.

f) In der postindustriellen Gesellschaft verlieren darüber hinaus Klassen-unterschiede und nationale Zugehörigkeit ihre subjektive Bedeutung. Die Milieuzugehörigkeit ist tendenziell selbst gewählt und kann sich im Lebenslauf ändern – daher teilweise auch stärkere Altersabhängigkeit des Verhaltens.

g) Mit der Zunahme von Wahlmöglichkeiten (bei gleichzeitiger Kontinui-tät von Schicksalsschlägen) ergeben sich - nach einer industriegesell-schaftlichen Zwischenphase der "Standardbiografie" - heute wieder mehr Patchworkbiografie. Außerdem ist das Patchwork stärker selbst gewählt: Früher kam der Sensenmann, heute kommt der Scheidungs-richter.

h) Der mit der Industrialisierung einhergehende Individualisierungsschub kann als vorwiegend männlich aufgefasst werden - die neolokale Klein-familie organisiert sich um die Berufsbiografie des Familienernährers. Die weibliche Individualisierung ist dagegen ein eher postindustrielles Phänomen (als Folge weiblicher Bildung und Erwerbsarbeit).

i) Distanzierung und Individualisierung führen, wie oben schon ange-merkt, nicht nur zu erweiterten Wahlmöglichkeiten, sondern auch zur Verunsicherung. Auf diese Verunsicherungen reagiert man vielfach mit Retraditionalisierung - z.B. durch Etablierung industriegesellschaftli-cher Milieus (Essen/Margaretenhöhe u.ä.), oder durch verstärkte Hin-wendung zur Religion (Bible Belt, Islamismus u.ä.).

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7. Soziale Ungleichheit und/oder Kulturelle Verschiedenheit ?

Soziale Ungleichheit: Vertikale Unterschiede in einer Gruppe/Werte-gemeinschaft. Unterschiedlich großer Besitz von knappen und allgemein in der Gemeinschaft wertgeschätzten Gütern (Hradil). Zum Beispiel Reliquien - der heilige Rock - im europäischen Mittelalter.

Kulturelle Verschiedenheit: Horizontale Unterschiede in einer Gruppe bzw. zwischen Gruppen: Besitz von Gütern, die von einzelnen oder Gruppen in unterschiedlich hohem Maße wertgeschätzt werden. Zum Beispiel Fan-Artikel heute - das Trikot von Ronaldinho.

Soziale Ungleichheit kann in kulturelle Verschiedenheit transformiert werden, indem die gemeinsame Wertegemeinschaft aufgekündigt wird. Zum Beispiel Islamismus bei Kinder von Migranten, die sich so der Konfrontation mit ihrer sozio-ökonomischen Benachteiligung im Auf-nahmeland subjektiv zu entziehen versuchen. Oder durch ökologisch und moralisch begründete Verachtung, die manche Bildungsbürger gegenüber den materiellen Statussymbolen der Besitzbürger zum Ausdruck bringen.

Umgekehrt lässt sich aber auch fragen, ob es allein auf subjektive Anerkennung und Wertschätzung ankommt, oder ob es nicht doch auch durchschlagende Effekte über die Grenzen von Wertgemeinschaften hinweg gibt, die diese in mehr oder weniger subtile Abhängigkeit zueineinander bringen, etwa aufgrund von Arbeitsteilung oder militärischer Bedrohung. Zum Beispiel kann man die westliche und die islamische Kultur als verschieden betrachten, der Westen ist aber zugleich ökonomisch und militärisch mächtiger als die islamische Welt. Bourdieu betrachtet die Intellektuellen als die "beherrschte herrschende Klasse" im Unterschied zur Bourgeoisie als der "herrschenden Klasse". Es kommt insofern nicht nur auf die subjektive Wertschätzung, sondern auch auf die objektiven Reproduktionsmöglichkeiten für Wertschätzung und Lebensweise an.