Koreanische Literatur und deutsche Literaturkritik Ein Fazit des Frankfurter Gastlandauftritts 2005* Alljährlich wird auf der Frankfurter Buchmesse der Literatur eines Staats oder einer Region ein Schwerpunkt gewidmet. Dies bedeutet für Kulturjournalisten die Herausforderung, über ihnen zumeist bis zu diesem Zeitpunkt unbekannte Schriftsteller mit einer ihnen ebenso unbekannten literarischen Tradition zu berichten. Über die gesellschaftlichen Verhältnisse, unter denen und über die geschrieben wird, haben die Journalisten häufig kaum genaue Vorstellungen. Sie stehen also vor der schwierigen Aufgabe, ihrem Publikum etwas zu vermitteln, was sie selbst gerade erst und auch bei gutem Willen bestenfalls halb gelernt haben. Hier soll es darum gehen, wie dieses Problem im Jahr 2005, beim südkoreanischen Buchmessenauftritt, gelöst wurde. Beabsichtigt ist zweierlei: erstens eine Analyse der deutschen Textsorten und Textstrategien; zweitens ein Blick darauf, welche koreanischen Bücher zu deutschen Leseerwartungen passen. 1) Im Idealfall führt die Analyse zu einer verbesserten Praxis. Dies ist hier * Für Unterstützung bei der Materialsuche danke ich Prof. Dr. Lie Kwang Sook (Nationaluniversität Seoul); Dr. Yoon Buhan (Korean Literature Translation Institute, Seoul); Dr. Günther Butkus (Pendragon Verlag, Bielefeld); Prof. Dr. Jung Mi-Kyeung (Kyonggi Universität, Suwon). 1) Die vollständigen Ergebnisse der Untersuchung werden – voraussichtlich 2010 – in einem von Marion Eggert herausgegebenen Sammelband im Harrassowitz Verlag erscheinen.
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Koreanische Literatur und deutsche Literaturkritik
Ein Fazit des Frankfurter Gastlandauftritts 2005*
Alljährlich wird auf der Frankfurter Buchmesse der Literatur eines Staats
oder einer Region ein Schwerpunkt gewidmet. Dies bedeutet für Kulturjournalisten
die Herausforderung, über ihnen zumeist bis zu diesem Zeitpunkt unbekannte
Schriftsteller mit einer ihnen ebenso unbekannten literarischen Tradition zu
berichten. Über die gesellschaftlichen Verhältnisse, unter denen und über die
geschrieben wird, haben die Journalisten häufig kaum genaue Vorstellungen.
Sie stehen also vor der schwierigen Aufgabe, ihrem Publikum etwas zu
vermitteln, was sie selbst gerade erst und auch bei gutem Willen bestenfalls
halb gelernt haben.
Hier soll es darum gehen, wie dieses Problem im Jahr 2005, beim
südkoreanischen Buchmessenauftritt, gelöst wurde. Beabsichtigt ist zweierlei:
erstens eine Analyse der deutschen Textsorten und Textstrategien; zweitens
ein Blick darauf, welche koreanischen Bücher zu deutschen Leseerwartungen
passen.1)
Im Idealfall führt die Analyse zu einer verbesserten Praxis. Dies ist hier
* Für Unterstützung bei der Materialsuche danke ich Prof. Dr. Lie Kwang Sook
(Nationaluniversität Seoul); Dr. Yoon Buhan (Korean Literature Translation Institute,
Seoul); Dr. Günther Butkus (Pendragon Verlag, Bielefeld); Prof. Dr. Jung Mi-Kyeung
(Kyonggi Universität, Suwon).
1) Die vollständigen Ergebnisse der Untersuchung werden – voraussichtlich 2010 – in einem
von Marion Eggert herausgegebenen Sammelband im Harrassowitz Verlag erscheinen.
kaum wahrscheinlich: Auf deutscher Seite gibt es mediale Zwänge und einen
Arbeitsrhythmus, der auch ökonomisch bestimmt ist. Anmerkungen von
Seiten der Wissenschaft dürften angesichts dessen auf wenig Interesse stoßen.
Für die koreanische Seite ergeben sich zwar einige Hinweise darauf, was mit
Hoffnung auf einen Publikumserfolg zu übersetzen ist. Aber will man das?
Es gibt ja drei mögliche Kriterien für die Auswahl zu übersetzender Texte:
erstens, was kommt gut an; zweitens, was repräsentiert die Kultur des
Ausgangslandes; und drittens, was ist literarisch wertvoll. Mit meinem Ansatz
kann man allenfalls die erste Frage beantworten. Die viel wichtigere aber
wäre die nach der literarischen Bedeutung, und diese ist durch eine Analyse
der Literaturkritik kaum zu beantworten.
Ich habe mich in meiner Arbeit auf Printmedien beschränkt Beiträge in
Radio und Fernsehen folgen völlig anderen Gesetzen. In diesem Aufsatz
beschränke ich mich noch weiter, indem ich nur ausgewählte Aspekte
benenne. Ich lasse ganz weg, welche Gruppen von Personen in den Medien
zu Wort kommen, welche Textsorten verwendet werden, wie durch
Illustrationen ein bestimmtes Koreabild erzeugt wird. Statt dessen möchte ich
folgende Punkte genauer vorstellen:
Welches Verhältnis von nationalkulturellem Wesen und historischem Wandel
zeigt sich in den Beiträgen?
Helfen Vergleiche mit westlichen Autoren?
Wie lassen sich Mechanismen von Lob und Ablehnung herausfinden?
Gibt es Regeln, nach denen sich Favoriten der deutschen Literaturkritik
herausstellen?
Naheliegend wäre auch die Frage: Wie wird die Qualität einer Übersetzung
bewertet? Doch kann wohl kaum einer der Rezensenten Koreanisch und
bleibt es bei allgemeinen Urteilen wie „holprig“2) oder „lebendig“.3) Eine
Frage wie: „Schreiben die so, oder ist es nur schlecht übersetzt?“4) dagegen
ist unfreundlich, zeigt aber immerhin ein gewisses Problembewußtsein.
Zusammengefaßt kann man sagen: Die koreanischen Originale lagen den
Rezensenten nicht vor und wären auch fast immer nicht verstanden worden.
Übersetzungskritik fand nicht ernsthaft statt.
. Kultur oder Geschichte und Gesellschaft?
Inwieweit wird also Kultur, inwieweit wird Gesellschaft und Geschichte
als bestimmender Faktor ausgemacht? Beim Versuch, diese Frage zu
beantworten, zeigt sich zunächst ein nationaler Unterschied. Vor allem bei
manchen jener Koreaner, die im Buchmessenumfeld in deutschsprachigen
Medien zu Wort kamen, findet sich eine gewisse Selbstkulturalisierung; und
auch dort zum Teil generationenspezifisch. Deutsche Autoren hingegen sind
in dieser Hinsicht überwiegend vorsichtig, soweit sie nicht sogar zugunsten
von Geschichte und Gesellschaft ganz auf die Vorstellungen einer Nationalkultur
verzichten.
Die Buchmessenbeilage der Neuen Zürcher Zeitung nimmt nicht nur durch
Umfang und Anzahl der Korea gewidmeten Beitrag eine Ausnahmestellung
ein, sondern auch dadurch, daß allein hier mehrere Personen koreanischer
Herkunft direkt zu Wort kommen. Dabei gibt es unterschiedliche Positionen:
Kim Young Ha schreibt, so sein Titel, über „Korea in seiner wahren Gestalt“,
und die sei die Gestalt der Hauptstadt Seoul, an der er vor allem Modernität
2) Susanne Messmer: Ein Käsecroissant als Riss im Glück. In: die tageszeitung, 19.10.2005.
3) Katrin Hillgruber: Fixsterne am Nachthimmel. In: Der Tagesspiegel (Berlin), 16.10.2005.
4) Georg Patzer: Misthaufen, Grillenhinterbeine, eine Baumfrau und eine Reise. In:
Stuttgarter Nachrichten, 18.10.2005.
und Geschwindigkeit hervorhebt.5) Auf der anderen Seite versucht der Lyriker
Hwang Chi Woo, eine spezifisch koreanische Ästhetik aufzuzeigen. Diese
zeichne sich durch den Verzicht auf europäische Erhabenheit und durch die
Eigenschaften der „Unvollendetheit und Offenheit“ aus.6) Hoo Nam Seelmann,
eine regelmäßige Beiträgerin der Zeitung, versucht, von grammatischen
Eigenarten des Koreanischen ein spezifisch koreanisches Verhältnis zur Welt
herzuleiten.7)
Man könnte in der Entgegensetzung vom Kim Young Ha (geb. 1968) und
Hwang Chi Woo (geb. 1952) einen generationenspezifischen Bruch vermuten;
daß Ko Un (geb. 1933) in einem Interview auf die Frage dem „Lebensgefühl“,
der „Identität“ der Koreaner sich entsprechend positioniert, scheint dies zu
unterstreichen. Ko sieht diese Identität einerseits in dem sogenannten
„Han“-Gefühl, einer Einheit aus „Traurigkeit und Bitterkeit“, und andererseits
einem „lustige[n] Temperament“.8) Allerdings beschränkt sich Hwang Sok-
yong (geb. 1943) in einem Artikel für Die Zeit ganz auf politische Aspekte
der Konstellation von nord- und südkoreanischer Literatur,9) und Yi Munyol
5) Kim Young Ha: Korea in seiner wahren Gestalt. Seoul – eine Metropole der rasenden
Geschwindigkeit. In: Neue Zürcher Zeitung, 15./16.0.2005; antitraditional ist auch Kims
Beitrag im Tagesspiegel (Berlin) vom 19.10.2005: Schuhe, die die Welt bedeuten.
6) Hwang Chi Woo: Berühren bitte. Kleiner Versuch über die koreanische Ästhetik. In:
Neue Zürcher Zeitung, 15./16.0.2005.
7) Hoo Nam Seelmann: Einübung ins Geschehen. Die Dinge sind in uns, und wir sind in
den Dingen – über die koreanische Sprache. In: Neue Zürcher Zeitung, 15./16.0.2005.
Seelmann arbeitet ein passives Geschehenlassen als Wesen der koreanischen Seele
heraus, was in einem merkwürdigen Kontrast zu dem Aktivismus steht, den die Artikel
über Seoul benennen. Andernorts benennt Seelmann durchaus historische Faktoren als
bestimmend für die Entwicklung der koreanischen Literatur, vgl. ders.: Geschichte,
Brüche und Gegenwart. Die koreanische Literatur im Prozess großer gesellschaftlicher
Veränderungen. In: Forum Kommune, Oktober / November 2005, S. 83-88.
8) Wenn man seine Mutter trifft, muß man sie töten. Ein Gespräch mit dem koreanischen
Dichter Ko Un über Vorbilder, Diktatorenlyrik und den Buddhismus. In: Süddeutsche
Zeitung, 10.9.2005.
9) Hwang Sok-yong: Unsere Literatur ist eins! In: Die Zeit, 11.8.2005. In einem anderen
(geb. 1948) distanziert sich im Schlußsatz seines historisch ausgerichteten
Beitrags für die Neue Zürcher Zeitung von der „veraltete[n] Idee der kulturell
autarken Nation“.10) Der Befund ist also uneinheitlich und fügt sich nur
teilweise einem Generationenschema.
Westliche Autoren greifen allenfalls zögerlich auf das Konzept der
kulturellen Identität zurück. Nur sehr selten wird es als Mangel benannt, daß
es der koreanischen Literatur an Fremdheit fehle. Ebenfalls selten gibt es
eine Mischung aus Distanzierung von kulturalistischen Muster einerseits und
Anknüpfung an sie andererseits. So referiert Susanne Messmer in der taz,
was das Han-Gefühl ausmache, und fügt sie im Konjunktiv hinzu: „Wäre
außerdem an der leicht fahrlässigen Charakterzusammenfassung auch nur ein
Krümel Wahrheit, nach der die Koreaner in Bezug auf ihre Empfindsamkeit
die Italiener des fernen Ostens sind man käme dem, was in diesem Herbst
rund um den Länderschwerpunkt der Frankfurter Buchmesse an koreanischer
Literatur ins Deutsche übertragen wurde, einigermaßen nah.“11)
Es handelt sich um eine Rhetorik, die sich gegen den Vorwurf der
Stereotypisierung abzusichern versucht, um im gleichen Satz doch mit den
Stereotypen zu operieren. Anders als hier kann das Kulturkonzept
erkenntnisgewinnend eingesetzt werden, wenn es historisiert und auf einen eng
umgrenzten Bereich bezogen wird. So zeigt sich für den Literaturkritiker Jörg
Drews zwar besonders in der Lyrik ein „vielfältiger Kampf um eine spezifische
koreanische Identität“, den er im folgenden Absatz wohlbegründet gerade an Ko
Un und Hwang Chi Woo festmacht; Drews ist übrigens einer der wenigen
Gespräch bezeichnet Hwang sich als „Kosmopoliten“, der „Tradition und Moderne mit
universaler Perspektive“ betrachten wolle, „um mit den Bürgern dieser Welt zu
kommunizieren.“ (Mit den Bürger der Welt kommunizieren. In: Buchkultur 101
(Oktober / November 2005), S. 22.
10) Yi Munyol: Zeit der Heimsuchungen. Die koreanische Literatur des 20. Jahrhunderts hat
viele Heimsuchungen erlebt. In: Neue Zürcher Zeitung, 15./16.0.2005.
11) Susanne Messmer: Ein Käsecroissant als Riss im Glück. In: die tageszeitung, 19.10.2005.
Rezensenten, die sich bereits vor 2005 mit koreanischer Literatur befaßt haben und
entsprechend sachkundig waren. Entgegen nationalistischer Indienstnahmen versteht
er diesen Kampf zum einen als Reaktion auf die Kolonial- und Kriegsgeschichte,
zum anderen hebt er hervor, daß diese Identität sowohl durch den Rückgriff auf
„traditionelle Sprechweisen und poetische Muster“ als auch durch den auf
„westliche Lyrik von Rimbaud bis zur Konkreten Poesie“ angestrebt werde.12)
Was hier als Wissen formuliert ist, kann sich in der regionalen Presse auch als
Frage finden. Zu einer Lesung von Lee Sung-U und Bae Suah in Bielefeld heißt
es: „Gleichwohl blieb der in der anschließenden Diskussion aufgeworfene
Stellenwert der literarischen Tradition in den vorgestellten Erzählungen mangels
Vergleichsmöglichkeiten letztlich unbeantwortet. Welche sprachlichen Bilder,
welche Erzählperspektiven sind neu, welche traditionell?“13)
Eine Strategie der Literaturvermittlung läßt sich aus all dem nicht ableiten.
Es besteht keine Einigkeit, in welchem Maße Literatur überhaupt nationale
Besonderheiten aufweisen soll; den Kulturalismen kann man die Position von
Sylvia Bräsel entgegensetzen, die den Übersetzungen aus dem Koreanischen
die „Auseinandersetzung mit ‚Menschheitsmustern’“ attestiert und die die
Gedichte Hwang Tong-gyus dafür lobt, daß sie „über den Sinn des Lebens
jenseits der Kulturgrenzen nachdenken“ lassen.14) Es läßt sich auch überhaupt
nicht vorhersehen, was als fremd wahrgenommen wird: So heißt es über die
dtv-Sammlung „Koreanische Erzählungen“, deren Mitherausgeberin Bräsel ist,
in einer Rezension: „So kann der westeuropäische Leser etwas erkennen von
dem, was koreanische Mentalität ausmacht.“15) Über dieselben Erzählungen
12) Jörg Drews: Enter Korea. In: buchjournal 3/2005, S. 76-79, hier S. 78.
13) Marcus Ostermann: Korea, das unbekannte Land. In: Neue Westfälische, 20.10.2005.
14) Sylvia Bräsel: Tradition und Moderne in einem geteilten Land. In: Das Parlament,
17.10.2005.
15) Rena Lehmann: Der koreanischen Seele nachgespürt. In: Rhein-Zeitung, Koblenz,
21.10.2005.
erfährt man woanders: „Alles ganz selbstverständlich, und wären da nicht die
fremd klingenden Namen, es könnte direkt bei uns um die Ecke spielen.“16)
Angesichts solcher Unwägbarkeiten ist es verständlich und wahrscheinlich
auch seriöser, wenn die Mehrzahl der deutschen Beiträger sich auf Geschichte
und Politik des Landes konzentriert. Dies ist sowohl in vielen Überblicksartikeln
der Fall als auch fast durchgehend in den Rezensionen zur Prosa bei der
Prosa bieten sich Inhaltsangaben als Gelegenheit an, historische oder
landeskundliche Hintergründe zu schildern.
Angesichts der Schärfe der Konflikte, die in der Tat die koreanische
Geschichte und damit die Literatur bestimmten, eignet sich sogar eine sonst
häufig als eher weltabgewandt-subjektiv gelesene Gattung wie die Lyrik dazu,
sie als Widerspiegelung gesellschaftlicher Verhältnisse aufzufassen. Dafür
können drei Darstellungsweisen dienen. Die erste besteht darin, die gemessen
an deutschen Verhältnissen große Popularität der Gattung mittels ihrer Funktion
zu erklären, daß sie eine nationale Identität konstituiere. Diese Version ist
relativ selten und trägt auch nur für eine Minderheit der Dichter, wie für Ko
Un oder Hwang Chi Woo, und überhaupt nicht etwa für Hwang Tong-gyu, auf
den sich ja auch Bräsel beruft.
Häufiger ist die zweite Version, die einem beliebten Darstellungsformat
und dem Wissensstand der Verfasser entspricht, nämlich der Sammelrezension.
Die Sammelrezension bietet keinen Raum dafür, auf ästhetische Eigenarten
der einzelnen Autoren oder gar einzelner Gedichte einzugehen, auch fehlen
zumeist Vergleichmöglichkeiten aus der koreanischen Literatur. Eine behelfsmäßige
literaturhistorische Reihung, die sich an den Daten der politischen Geschichte
orientiert, stellt eine mögliche Lösung dieser Probleme dar.17)
16) ds: Wo kein Tourist jemals hinkommt. In: Passauer Neue Presse, 21.10.2005.
17) Vgl. etwa Steffen Gnam: Wo der Nebel Schnee von gestern ist. In: Frankfurter
Allgemeine Zeitung, 15.10.2005; Hoo Nam Seelmann: Geschichte, Brüche und
Gegenwart. Die koreanische Literatur im Prozess großer gesellschaftlicher Veränderungen.
Drittens besteht die Möglichkeit, über das Schicksal einzelner Autoren die
rettende Vermittlung zu bekannten Fakten herzustellen. Daß der eigentlich
unpolitische Modernist Yisang von den japanischen Kolonialherren inhaftiert
wurde und 1937 kurz nach seiner Freilassung starb, daß Ko Un und Kim
Chi-ha als Kämpfer gegen die Militärdiktatur in den 1970er Jahren
eingekerkert wurden, verweist auf die gesellschaftliche Repräsentanz der
Gattung.18)
Insgesamt ergeben sich drei Topoi zu Geschichte und Gesellschaft. Erstens
erscheint die Abfolge von Kolonialisierung, Krieg, Teilung und Kampf gegen
die Diktatur als grundlegend für das Werk der älteren Generationen. All das
läßt sich einem deutschen Publikum mühelos darstellen; ein Bezug zur
eigenen Geschichte wird vor allem über das Motiv der Teilung gesucht. Das
ist konsequent, denn Deutschland war nie kolonialisiert und kannte zwar
Kriege, aber keinen, in dem Bürgerkrieg und ausländische Intervention
zusammentrafen. In der NS-Diktatur waren anders als in Südkorea Ansätze
zu einer literarischen Gegenöffentlichkeit vollständig unterdrückt, so daß es
eine analoge Widerstandsliteratur nur im Exil und damit unter völlig anderen
Bedingungen gab.
Allerdings ist die Teilung zwar das Schicksal ganz weniger und sich
deshalb vielleicht nahestehender Nationen, doch ermöglicht sie nur bedingt
eine Parallelisierung zum Eigenen: Die Isolation zwischen Nord und Süd ist
seit mehr als einem halben Jahrhundert so konsequent durchgesetzt wie es
die zwischen Ost und West niemals war. So nimmt zwar eine ganze Reihe
In: Forum Kommune, Oktober / November 2005, S. 83-88; Fridolin Furger: Südkoreas
diffiziler Weg in die Moderne. In: Der Landbote, 18.10.2005; Ralph Umard: Literatur
der Wunden. In: tip 22/2005, S. 74-75.
18) Vgl. dazu die pointierte Bemerkung bei Katharina Borchardt: Blüten der Freiheit. In:
Die ZeitLiteratur, 13.10.2005, man könne „die Geschichte des modernen Korea und
seiner Literatur durchaus als eine Geschichte der Inhaftierung seiner Dichter schreiben“.
von Artikeln die nationale Teilung zum Ansatzpunkt,19) doch sind zu Recht
fast immer die Unterschiede betont.20)
Zweitens verweisen die Artikel auf die rasche Industrialisierung und damit
gesellschaftliche Modernisierung der letzten Jahrzehnte. Anschaulich werden die
Folgen in der modernen Stadt Seoul, die besonders in Reisereportagen als
beispielhaft technisiert, als hektisch erdrückend auftaucht.21) Im Bereich der
Literatur führt dies zum Zerfall tradierter Ordnungen und in jüngster Zeit zu
einem Individualismus, was westlichen Vorstellungen von einem „normalen“
Ablauf von Literaturgeschichte durchaus entspricht: Nach einer Phase ideologischer
Kämpfe im Vollzug der Industrialisierung geraten bei wachsendem Wohlstand
persönliche Probleme ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Gleichzeitig zerfallen
patriarchale Familienordnungen und gewinnt ein weiblicher Blick an Gewicht.22)
19) Vgl. etwa Tilman Spreckelsen: Asiaten schreiben vor. In: Frankfurter Allgemeine
Zeitung, 22.7.2005; Anke Zimmer: Unter dem Eis. In: Fuldaer Zeitung, 15.10.2005;
Rainer Traub: Träume vom besseren Leben. In: Spiegel Special 6/2005, S. 26-32, hier
S. 26; Tilmann Eberhardt: Korea: geteiltes Land – geteilte Aufmerksamkeit. In: Literaturblatt
Sept./Okt. 2005, S. 5-7, hier S. 5; Monika Bent: Endstation 38. Breitengrad. In:
Märkische Allgemeine, Potsdam, 18.10.2005; dku: Gefangen in den Schmerzen eines