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5/13/2018 Kommen Wir Hier Noch Raus - Tom Hodgkinson (ZEIT 25.8.2011) - slidepdf.com
Ja, sagt der britische Intellektuelle Tom Hodgkinson. Wir lebenzwar im falschen System, aber wir könnten auch anders.VON Susanne Gaschke | 25. August 2011 - 08:00 Uhr
An diesem Augustabend sind die Regenwolken tiefdunkel und bedrohlich. Ein Traktor
älterer Bauart tuckert mit 25 Meilen pro Stunde vor uns her. Überholen unmöglich, wirbefinden uns auf einer einspurigen Straße in Devon, einer wilden, wunderschönen Gegend
drei Stunden westlich von London. Wenn die Bauern ihre Heuernte nicht heute Abend
noch einbringen, müssen sie tage-, vielleicht wochenlang warten, bis die Ballen wieder
getrocknet sind. Man kann sich eben nicht immer aussuchen, zu welcher Tageszeit man
arbeitet.
Tom Hodgkinson, 43, Journalist, Buchautor, Intellektueller, den ich an diesem stürmischen
Abend besuchen will, würde die Notwendigkeiten, die Wind, Wetter und Jahreszeiten
mit sich bringen, verstehen, ja gutheißen – und dies, obwohl er ein erklärter Feind der
Arbeit ist. How To Be Idle (Anleitung zum Müßiggang) heißt sein Bestseller von 2004, undwenn Hodgkinson für irgendetwas Experte ist, dann für den Ausstieg aus dem Hamsterrad
der spätkapitalistischen Wirtschaftsweise. Seine Botschaft, seine Mission, sein Produkt:
radikale Systemkritik.
Toms 200 Jahre altes Farmhaus ist aus grauem Granit erbaut und liegt unterhalb eines
Höhenzuges, der steil zum Atlantik hin abfällt. Es gibt keinen Handyempfang und auch
keine Straßenbeleuchtung in diesem Flecken aus fünf Höfen und einer Kirche. Die einzige
Helligkeit dringt aus dem Küchenfenster des Farmhauses. Und dort in der Küche kann man
Hodgkinson betrachten wie auf einer erleuchteten Bühne: einen schlanken, dunkelhaarigen
Mann in Jeans und T-Shirt, der in aller Seelenruhe allein am Wohnküchentisch sitzt, vor
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Marketinggequatsche, Meetings, hastig verzehrte Sandwiches zum Mittagessen, Konsum
als Trostpflaster für ein uneigentliches Leben und Schulden, um den Konsum zu bezahlen.
Tom Hodgkinson ist eine Art Jamie Oliver des Antikapitalismus. So wie Jamie denpraktisch revolutionären Gedanken durchsetzte, dass jeder Einzelne die Chance hat, durch
Kochen gegen die Fast-Food-Monokultur zu rebellieren, betrachtet Tom die Phänomene
des spätkapitalistischen Alltags und fragt: Muss das so sein? Wer hat verfügt, dass die
Arbeit am besten um neun Uhr morgens beginnt? Wer kann beweisen, dass moderne
Kommunikationstechnologien Zeit sparen? Wer sagt, dass man Karriere machen und
seine Kollegen in Grund und Boden konkurrieren muss? Wer hat den Tod des produktiven
Zwei-bis-drei-Stunden-Mittagessens mit drei Martinis auf dem Gewissen? Wer hat den
Mittagsschlaf verboten? Warum lassen wir uns schlecht behandeln, wenn wir unser
Konto überzogen haben, obwohl die Bank sich just daran dumm und dämlich verdient?
Und warum – warum? – kaufen wir von unserem eigenen, schwer verdienten Geld das
Lieblingsinstrument aller Sklaventreiber: einen Wecker? Hodgkinsons Empfehlung gegen
all diesen Wahnsinn lautet: Hört auf zu jammern! Kündigt eure Jobs, arbeitet frei oder in
Teilzeit! Lernt ein Handwerk, gründet ein Geschäft, baut Gemüse an, zerschneidet eure
Kreditkarten! Zieht aufs Land, wo alles billiger ist. Backt Brot, spielt Ukulele!
Die Einwände gegen dieses lebensreformerische Programm liegen auf der Hand: Ist
es nicht, erstens, total naiv? Kann die Wirtschaft so funktionieren? Na bitte. Und ist es
nicht, zweitens, auch zynisch – angesichts von Arbeitslosigkeit, sozialen Spannungen,
der mangelnden Bildung vieler Jugendlicher, der Angst der Mittelschicht vor dem
wirtschaftlichen Abstieg? Zum Naivitätsvorwurf sagt Hodgkinson, er sei das Gerede über
»Realismus« und die »wirkliche Welt« einigermaßen leid. Was mache denn die »wirkliche
Welt« aus: fette Gewinne für Geschäftsleute? Oder doch eher »Dichtung, Freunde, Natur,
Gott«? Der zweite Vorwurf ist ihm zu sozialdemokratisch-paternalistisch. Prinzipiell
hält er jeden Menschen für fähig, Verantwortung für sein eigenes Leben zu übernehmen.
Selbstbestimmung hat freilich ihren Preis, und Hodgkinson benennt ihn klar: Grundlage für
ein freies Leben ist radikaler Konsumverzicht.
Dabei geht es nicht darum, allen Vergnügungen zu entsagen – aber man darf sich von
seinen falschen Bedürfnissen nicht überwältigen lassen. Das heißt: Weg mit Auto, teuren
Reisen, iPods, Prada-Gürteln und vor allem: weg mit dem Fernsehapparat! »Das Medium
ist die Botschaft«, sagt Hodgkinson, den kanadischen Medienwissenschaftler Marshall
McLuhan zitierend. »Und die Botschaft lautet: Bleib in deinem seelentötenden Job,
und verschleudere dann dein Gehalt und deinen Kredit für teuren Müll!« Für gehetzte
Mittelschichtsangehörige, die der Last des kostspieligen Lebens überdrüssig sind, ist der
Verzicht ohne Zweifel eine attraktivere Vorstellung als für Menschen, die immer mit jedem
Penny rechnen mussten. Aber wird das Konzept des individuellen Downsizing dadurch
falsch? Auch wer sehr wenig hat, kann vermutlich besser in einer Gesellschaft leben, die
Materielles nicht allzu sehr vergötzt.
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Das Unwetter ist vorbei, die Berge von Devon leuchten heidelila. Aber es ist der 5. August
2011, und alle müssen wieder nach London.
In Tottenham passiert mein Taxi den Schauplatz der Schießerei, von dem aus die LondonerUnruhen der vergangenen Wochen ihren Ausgang nahmen. Der Flughafen Heathrow ist
voller gehetzter, mobil telefonierender Menschen. Über endlose Laufbänder werden wir zu
den Outlets für überteuerte Burger, überteuerte Balik-Lachs-Anrichtungen und überteuerte
Handtaschen transportiert. Die britischen Zeitungen titeln »Schwarzer Freitag«, »Märkte
weltweit im Aufruhr« und »Börsen im freien Fall«. 17.20 Uhr nach Hamburg.
Wer lebt richtig? Wer hat recht? Was ist die Wirklichkeit?
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