Kindheiten und Jugendzeit im 2. Weltkrieg – lebenslange Folgen?! Vortrag Prof. Dr. Hartmut Radebold
Kindheiten und Jugendzeit im 2. Weltkrieg – lebenslange
Folgen?!
Vortrag Prof. Dr. Hartmut Radebold
Bombenkrieg / Ausbombungen Aufgrund des Bombenkrieges gab es 400 - 570.000 Tote (Frauen, Kinder, Ältere )
mit einer weitaus größeren Zahl von (auch auf Dauer) Verletzten.
7 Mill. wurden obdachlos.
Der Feuersturm betraf ca. 155 größere Städte und ca. 850 kleinere Orte
sowie die größeren Industrieregionen.
In den Städten mit über 100 000 Einwohnern wurden im Durchschnitt
50% der Häuser zerstört.
Die in diesen Städten damals lebenden Kinder/Jugendlichen geben in über 90%
eigene Erfahrungen mit Bombenkrieg/Ausbombungen an.
Zu diesen Erfahrungen zählen zuerst der direkte Heimatverlust und
anschließend der indirekte Heimatverlust durch Evakuierung und erweiterte
Kinderlandverschickung.
Insgesamt wurden über 2 Mill. Kinder bis Kriegsende 1945 evakuiert, davon 850 000 im Alter
von 10 – 14 Jahren in KLV–Lagern. Für die Jüngeren erfolgte eine Mutter- und Kindverschickung
zu Gastfamilien mit der Folge einer häufigen Trennung der Familie.
Friedrich, 2002, Kucklick, 2003 )
Im Ersten Weltkrieg betrugen bei ca. 13 Millionen Kriegsteilnehmern die deutschen militärischen Verluste ca. 2,4 Millionen („Todesquote“ von ca. 17 % ) . Die Soldaten hinterließen 600 000 Witwen, 968 000 Halb-und 65 000Vollwaisen – meist materiell schlecht versorgt und verarmend. Im Zweiten Weltkrieg kamen von mehr als 18 Mill. deutscher Soldaten ca. 5,3 Mill. ums Leben („Todesquote“ von ca. 28 % ) . Von den Angehörigen der Geburtsjahrgänge 1910 bis 1925 starb jeder Dritte als Soldat (ca. 34 % ) . Vom Geburtsjahrgang 1920 kamen 4 von 10 Männern im Krieg ums Leben. In den Ostgebieten kam jede 5. männliche Person ums Leben. Ca. 14 Mill. Menschen verloren zwischen 1944 und 1947 ihre Heimat. Mehr als 0,47 Mill. Zivilisten kamen nachweislich auf der Flucht und während der Vertreibung ums Leben (mehr als die Hälfte Frauen und Kinder). 0,5 Mill. wurden Opfer des Bombenkrieges. Aus dem I. Weltkrieg kehrten ca. 2,5 Mill. Soldaten krank, verwundet, amputiert, traumatisiert zurück. Im Bundesgebiet wurden Ende 1950 über 2,1 Mill. "Kriegsbeschädigte" des I. und II. Weltkrieges registriert mit einer MdE von 60 % (d.h. auf Dauer arbeitsunfähig). Nach Dörr 1998, Overmanns 1999, Friedrich 2002, Seegers 2009
Die Gefallenen/Vermissten hinterließen mehr als 1,7 Mill. Witwen sowie fast 2,5 Mill. Halbwaisen und Vollwaisen. Ungefähr ein Viertel aller Kinder wuchs nach dem II. Weltkrieg auf Dauer ohne Vater auf. Im Frühjahr 1947 befanden sich noch 2,3 Mill. Kriegsgefangene in den Lagern der Alliierten und 900.000 in sowjetischen Lagern. 1947 wurden weitere 350.000 entlassen, 1948 rund 500.000 und 1949 weitere 280.000. Die Gesamtzahl der Vergewaltigungen wird auf ca. 1,9 Millionen geschätzt, davon 1,3 Millionen in den ehemaligen deutschen Ostgebieten und während der Flucht und Vertreibung, 500.000 in der späteren sowjetischen Besatzungszone, 100.000 in Berlin. Nach Dörr 1998, Sander, 1992
Statistische Daten III
Sich möglicherweise traumatisierend auswirkende Ereignisse des II. Weltkrieges und der direkten Nachkriegszeit (für die Jahrgänge 1929-1947)
• Miterleben zahlreicher Bombenangriffe/Ausbombungen, teilweises Miterleben der
Städtezerstörungen/des "Feuersturmes" mit zahlreichen Opfern
• Evakuierungen (zusammen mit der Mutter und weiteren jüngeren Geschwistern) oder Kinderlandverschickungen (mit Trennung von der Mutter und der weiteren Familie)
• Flucht (vor dem näherrückenden Krieg und/oder nach Hause)
• Vertreibung mit zunächst Flucht und späterem Aufwachsen in einer fremden bis feindselig eingestellten Umwelt (Sprache, Religion, Lebensgewohnheiten etc.) mit der Folge häufigem langen Hungers, Verarmung und sozialem Abstieg der Eltern
• Langanhaltende (Kriegsteilnahme und/oder Gefangenschaft) oder dauernde (gefallen, vermisst, an Krankheit verstorben) väterlicher Abwesenheit. Dazu kehrten diese Väter oft physisch/psychisch versehrt/krank zurück und blieben abgekapselt/unerreichbar
• Zusätzlicher Verlust der Mutter (Status als Vollwaise), weiterer Geschwister und näherer Verwandter (insbesondere Großeltern)
• Gewalterfahrung (aktiv/passiv) z.B. Verwundungen, Tötungen, Vergewaltigungen
Statistische Daten IV
Ausmaß möglicher Betroffenheit • Durch den Krieg und seine Folgen kaum beeinträchtigt
aufgewachsene Kinder mit anwesendem Vater (sichere stabile familiale, soziale, materielle und wohnliche Verhältnisse (geschätzt 40 %)
• Kinder mit zeitweiliger väterlicher Abwesenheit und zeitweilig eingeschränkten Lebensbedingungen (geschätzt 30 %)
• Kinder mit langanhaltender oder andauernder väterlicher Abwesenheit bei in der Regel gleichzeitig langanhaltenden beschädigten Lebensumständen (geschätzt 30 %)
Radebold, H. (2000, 2005)
Statistische Daten V
Mögliche/wahrscheinliche Folgen zeitgeschichtlicher Erfahrungen für die Jahrgänge 1945/47 bis 1927/28
Allgemeine: Risiko bei Vaterlosigkeit: Erhebliche psychogene Beeinträchtigung Symptome – diffuse allgemeine Ängste, zielgerichtete Ängste, Panikattacken; – depressive Symptome (leichtere bis mittlere Ausprägung) – somatoforme Beschwerden, Schmerzsyndrome körperliche Beschwerden – Beziehungsstörungen (wiederholte Beziehungsabbrüche bzw. Beziehungsunfähigkeit), – Identitätsstörungen (verunsicherte oder eingeschränkte psychosexuelle Identität); – Einstellungen (vorsichtige, skeptische bis misstrauische Einstellung) – Psychische Müdigkeit – Typische ich-syntone Verhaltensweisen (sparsam, altruistisch, geringe Rücksichtnahme auf sich selbst, freundlich, angepasst, „funktionierend“, planend/organisierend, sich absichernd; abfragbar) - Eingeschränkte Alltagsbewältigung; eingeschränkte Lebensqualität 1. Störungen
a) Spezifische: Partielle oder vollständige Posttraumatische Belastungsstörungen (chronifizierte Form) mit häufiger Komorbidität (Depressionen, Schmerzsyndrome) b) Unspezifische:
2. - Angsterkrankungen, Depressionen, funktionelle/psychosomatische Störungen, körperliche Erkrankungen - Schwere chronifizierte Anpassungsstörungen - Persönlichkeitsveränderungen
3. Weitere Folgen: Partnerschaftlich, familiär, transgenerationell, gesellschaftlich Glaesmer 2014, Radebold 2005 Statistische Daten VI
Epidemiologie psychotherapierelevanter psychischer Störungen über 60 Jähriger
Die Münchner Hochbetagten-Studie untersuchte 1990 85-Jährige und Ältere (Jahrgänge 1905 und älter, d. h. bei Kriegsende 1945 mindestens 40 Jahre alt). Nach der Projektdiagnose litten 24,6 % an einer Depression (davon 54,9 % an einer depressiven Neurose als Ausdruck einer psychoreaktiven Genese). Aktuelle Lebensereignisse wie Verwitwung innerhalb der letzten 12 Monate sowie Auszug des Lebenspartners und Umzug innerhalb der letzten 12 Monate ergaben ein signifikant erhöhtes Depressionsrisiko. Bei Pflegebedürftigkeit verdoppelte sich die Depressionsrate. (Meller et. al. 1997).
Die Berliner Altersstudie (BASE) wurde 1990-1992 durchgeführt an über 70-Jährigen. Insgesamt fanden sich depressive Erkrankungen mit einer Prävalenzrate von 9,1 % (4,8 % Major Depression). Bei Hinzunahme von nach klinischer Einschätzung krankheitswertiger Depressionen (welche die Kriterien für eine spezifizierte DSM III-R-Diagnose jedoch nicht erfüllten) stieg die Depressionsprävalenz auf 26,9 % an. (Wernicke et al., 1997).
Die Prävalenzrate für Angststörungen (phobische Störungen, generalisierte Angststörungen) ist wahrscheinlich höher als 10% (Weyerer, Bickel, 2007).
Für PTBS in Deutschland liegt die Prävalenzrate bei 7,25% (vollständig 3,44%; unvollständig 3,81%)(Maercker et al. 2008)
Die Prävalenzrate für Alkoholismus liegt bei 3,5% (3% Männer; 0,5% Frauen); davon entfälltca. 1/3 auf die late-onset-Form. Im Heimbereich besteht ein hoher Alkoholmißbrauch von 7,5% (Männer 19,3%, Frauen 3,8%). Insgesamt besteht eine hohe Benzodiazepin-und Schlafmittelabhängigkeit auf Grund von Dauermedikation (Weyerer, Bickel, 2007).
Begleitende Psychotherapie wird erforderlich bei schweren körperlichen Erkrankungen sowie bei demenziell Erkrankten und ihren Angehörigen.
Psychosoziale Risikofaktoren KHK
(gemäß Leitlinien der Fachgesellschaften)
Soziale Isolation oder
Mangel sozialer Unterstützung
Psychosozialer Stress am Arbeitsplatz oder in der Familie
Feindseligkeit (inadäquat ausgedrückte oder gehemmte
aggressive Affekte)
Depressivität
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Müdigkeit
Ängstlichkeit
„ungünstiges“ Gesundheitsverhalten
niedriger sozioökonomischer Status
(Albus, Ch., Herrmann-Lingen, Ch. in Uexküll, Kap. 78.1 2011)
Ich – syntone Verhaltensweisen der „Kriegskinder“
(Jahrgänge 1929 – 1945/47)
Vereinsamung aufgrund dieser spezifischen
zeitgeschichtlichen Erfahrungen mit äußerer Freundlichkeit
bei vorsichtigem bis mißtrauischem Verhalten, „lebenslang
allein zurechtkommend“ als Selbst-,Idealbild
Starke Leistungsmotivation bei ständiger Versagensangst,
chronischer Stress („wertlos“ nach Wegfall der
identitätsstiftenden Berufstätigkeit)
Unmöglichkeit Aggressivität auszudrücken bzw. „kalte“
Aggressivität (aufgrund Gewalterfahrungen im Krieg)
Leichtere und insbesondere chronische subdiagnostische
Depressivität (unfähig Kummer, Trauer, Verzweiflung zu
erleben bzw. auszudrücken )
Psychische Müdigkeit
Angstsymptomatik/PTBS
Fehlende Fürsorge für den eigenen Körper (bezüglich
Früherkennung, Compliance, Prävention/Rehabilitation)
Langanhaltende soziale Benachteiligung (z.B. Kinder von
Vertriebenen/Flüchtlingen)(Radebold, H.Die dunklen Schatten unserer Vergangenheit, 2005)