S. von Bismarck Klinik für Kinder- und Neugeborenenchirurgie Klinikum Neukölln Kindeswohlgefährdung aus Sicht des Kinder-/Klinikarztes
Jan 09, 2016
S. von Bismarck
Klinik für Kinder- und Neugeborenenchirurgie Klinikum Neukölln
Kindeswohlgefährdung aus Sicht des Kinder-/Klinikarztes
Kindeswohlgefährdung
Allgemeines
• Kinderarzt in der Klinik– Kennt Familie nur im Ausnahmefall, häufig wechselndes Personal,
Anlaufstation bei Unfällen/Verletzungen oder akuten Erkrankungen
• Niedergelassenen Kinderarzt– Kennt Familie in der Regel, ist die erste Anlaufstation für Eltern bei
Erkrankung oder kleineren Verletzungen
• Zeitdruck, kurze Beobachtungszeit, „geschöntes“ Verhalten, Zweitmeinung schwierig
Kindeswohlgefährdung
• Kindesvernachlässigung – Ungenügendes Kümmern, emotionale Vernachlässigung,
ungenügende Beaufsichtigung
• Körperliche Kindesmisshandlung • Sexueller Missbrauch von Kindern
– Sexuelle Handlungen vor, mit und an Kindern
Körperliche Kindesmisshandlung
Häufigkeit
• Bei 10% aller verletzten Kleinkinder V.a. KM• 16% der dreimonatigen Säuglingen sind vernachlässigt• 10% aller Knochenbrüche sind Folge von KM• Wiederholungsgefahr mit Zunahme der Intensität
– deswegen Früherkennung besonders wichtig• Misshandlungsgefahr auch für Geschwisterkinder
Körperliche KindesmisshandlungFallbeispiel
• 2,5 Jahre, angeblich vor drei Tagen beim Spielen mit einem Hund in eine Sandkiste geprallt
Körperliche Kindesmisshandlung
Anamnese-Auffälligkeiten
• Diskrepanz zwischen Vorgeschichte und Befund• Fehlende, unpassende, unpräzise, wechselnde
Erklärungsmuster • Verzögerter Arztbesuch• Konsultation wechselnder Ärzte/Ambulanzen• Zugehörigkeit zu einer Risikogruppe
Warnaussagen: „schreit ständig, trinkt nicht, ist schwierig, wird nicht sauber, ich kann nicht mehr...“
Körperliche Kindesmisshandlung
• Extrem ängstlich, gehemmt, passiv • Auffällige Eltern-Kind-Interaktion• Erdulden klaglos schmerzhafte Eingriffe• Überhöflich, angepasst• Eisige Wachsamkeit (frozen watchfulness)• Hyperaktives, aggressives, asoziales oder destruktives
Verhalten
Verhaltensauffälligkeiten des Kindes
Körperliche Kindesmisshandlung
• Säuglinge, Kleinkinder < 3 a
• Ungewollte, unerwünschte Kinder
• Nach Geburt von der Mutter getrennte Kinder (Frühgeborene)
• Angeborene Anomalien, Fehlbildungen, Missbildungen
• Retardierte Kinder
• Verhaltensauffällige Kinder (Ursache ? Wirkung?)
• Chronisch kranke Kinder
• Schreikinder und Schreibabies
• Pflegekinder, Stiefkinder
Risikofaktoren-Kinder
Körperliche Kindesmisshandlung
• Sehr junge alleinerziehende Elternteile
• Kurz aufeinander folgende Schwangerschaften
• Unfähigkeit der richtigen Einschätzung einer normalen Entwicklung
• Unrealistisch hohe Erwartungen an das Kind
• Soziale Randgruppen
• Materielle Schwierigkeiten, sozialer Stress
• Alkoholismus, Drogen, Sucht
• Psychische / psychiatrische Störungen
• Vorgeschichte eigener Misshandlung
Risikofaktoren-Eltern
1. Hauterscheinungen (90% aller Kinder)
2. Knochenbrüche
3. Kopfverletzungen
4. Bauchverletzungen
Körperliche Kindesmisshandlung
Betroffene Organsysteme
Körperliche Kindesmisshandlung
• Mehrere Blutergüsse unterschiedlichen Alters• Handabdrücke• Abdrücke von Gegenständen• Bißspuren
DD: Gerinnungsstörungen, angeborene Hautveränderungen, andere Hauterkrankungen, ethnische-kulturelle Besonderheiten
Hauterscheinungen
Körperliche Kindesmisshandlung
Hauterscheinungen und Körperregionen
Körperliche Kindesmisshandlung
Eintauchverbrühungen uniform, glatte scharfe BegrenzungLok: beide Hände, beide Füße, Po
Hauterscheinungen bei Verbrennungen10% aller KM
Kontaktverbrennungenscharf begrenzt Lok: häufig verdeckte Stellen
Körperliche Kindesmisshandlung
• Bei 10-50% misshandelter Kinder• gewalttätige KM• besonders bei Kleinkindern < 3 a • lange Röhrenknochen, Rippen• 43% der Knochenbrüche unerwartet
Knochenbrüche
Bauchverletzungen
Selten, aber potentiell tödlich (0,5-2%)2. häufigste Todesursache bei KM
Körperliche Kindesmisshandlung
Kopfverletzungen: 10-20%
Häufigste misshandlungsbedingte Todesursache!
• Schütteltrauma: Gehirnblutungen
besonderes Risiko: Schreialter 6 Wo - 4 Mon
Minor forces do not produce major trauma
Körperliche KindesmisshandlungBeispiel
• 2,5 Jahre
• Vorstellung drei Tage nach Unfall
• Verletzungszeichen auf beiden Gesichtshälften
• „geformte“ Prellmarken
• Eltern im Methadon-Ersatzprogramm
Körperliche KindesmisshandlungBeispiel
• 8 Jahre
• striemenartige Blutergüsse/Prellmarken
• Einnässen
• Mutter arbeitslos und alleinerziehend
Körperliche KindesmisshandlungBeispiel
• 5 Jahre
• alleinerziehende Mutter
• 3 Geschwister
• Kind hat auf den Teppich uriniert
Kindeswohlgefährdung
Problemlage
• Zeit- und Wirtschaftsdruck
• Gefahr des Übersehens (Nichtsehenwollen)
• Unzureichende Erfahrung typischer Verletzungsmuster
• Angst vor Fehlern /ungerechtfertigter Beschuldigung
• Angst vor Vertrauensverlust
• Fehlendes Vertrauen in die Möglichkeiten des Sozialsystems
Kindeswohlgefährdung
Handlungsmöglichkeiten und -konflikte
• Wiederbestellen– fortbestehendes Risiko, hilft das langfristig ?
• Zweitmeinung einholen– Wie erkläre ich es den Eltern ? Von wem ? Und was dann ?
• Anzeigen– Ist es so schlimm? Hilft es dem Kind ?
• Melden– Jugendamt, wer ist zuständig ? Was machen die?
• Weiterleiten– welche der 50 Adressen ?
Körperliche Kindesmisshandlung
Vorgehen
• Keine unmittelbare Konfrontation
• Bestmögliche Dokumentation der Beobachtungen und Äußerungen
• Schützen des Kindes
• Weitere Diagnostik und Abklärung veranlassen
• Modell Österreich: – Kind unter dem Verdacht auf eine ernstzunehmende Krankheit im
Einverständnis stationär einweisen/aufnehmen
– Kinderschutzgruppe informieren
Mitglieder• Ärzte, Pflegepersonal, Psychologen, Sozialarbeiter
Aufgaben• Präzise medizinisch fundierte Aussage• Betreuung interdisziplinär mit dem Jugendamt• Schutz im Sinne des Kindes• Hilfe statt Strafe
Vorteile• Verteilung der Verantwortung und Belastung• Arbeit mit dem familiären Bezugssystem• Vernetzung von Hilfen• Förderung der Eigenverantwortlichkeit
Kinderschutzgruppe am Kinderzentrum
Verdacht KM
nein
ja
Kinderschutzgruppe
Entlassung
Hilfs- und Sozialplanphase
Behandelnder Arzt
Kinderschutzgruppe
Abklärungsphase
Kinderschutzgruppe
Kooperation mit
den Eltern
Meldung an das Jugendamt
Unterstützende Maßnahmen
Engmaschige Kontrollen
Teambildung
Hilfs- und Sozialplanphase
Kindeswohlgefährdung
Besondere Schwierigkeiten
• Brotlos
• Daten- und Informationsaustausch
• Andere Mediziner
• Jugendämter
• Schwer überschaubare Vielfalt
Danke für ihre Aufmerksamkeit
Interdisziplinäres Symposium Kinderschutz
Klinikum Neukölln• 02.12.2006, 9-16 Uhr
• Niedergelassene Kollegen
• Regionale kindermedizinische Einrichtungen
• Jugendämter
• Kinder- und Jugend- (schutz-)Einrichtungen
• Interessierte