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Fürstliche Koordinaten Landesvermessung und Herrschaftsvisualisierung um 1600
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Kartographie als Politik. Die Landesaufnahme in Hessen um 1600, in: Fürstliche Koordinaten. Landesvermessung und Herrschaftsvisualisierung um 1600, hg. v. I. Baumgärtner unter Mitarbeit

Apr 28, 2023

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Floris Biskamp
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Fürstliche Koordinaten

Landesvermessung und Herrschaftsvisualisierung um 1600

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SCHRIFTEN ZUR SÄCHSISCHEN GESCHICHTE

UND VOLKSKUNDEBand 46

Im Auftrag des Instituts für Sächsische Geschichte und Volkskunde e. V.herausgegeben von

Enno Bünz, Winfried Müller, Martina Schattkowsky und Ira Spieker

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Fürstliche KoordinatenLandesvermessung und

Herrschaftsvisualisierung um 1600

Herausgegeben von Ingrid Baumgärtner unter Mitarbeit von Lena Thiel

LEIPZIGER UNIVERSITÄTSVERLAG GMBH2014

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© Leipziger Universitätsverlag GmbH 2014Satz und Umschlaggestaltung: berndtstein I grafikdesign, Radebeul

Druck: DZA Druckerei zu Altenburg GmbHISSN 1439-782X

ISBN 978-3-86583-817-9

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Gerda Henkel Stiftung, Düsseldorf

Umschlagabbildungen:Großes Bild:

Wilhelm Dilich, Herrschaft Eppstein (Kassel, UB-LMB, 2o Ms. Hass. 679, Bl. 47).Kleine Bilder v.l.n.r.:

Zeicheninstrumente: Lineal, Vollkreis-Winkelmesser, Reduktionsmaßstab, um 1570, Messing vergoldet (SKD, Mathematisch-Physikalischer Salon,

Inv.-Nrn. A I 35, A I 46, A I 47, A I 99);Auftragsbussole, Messing, vergoldet, unbekannter Hersteller

(SKD, Mathematisch-Physikalischer Salon, Inv.-Nr. C III c 17);Christoph Trechsler, Wagenwegmesser, Dresden 1584

(SKD, Mathematisch-Physikalischer Salon, Inv.-Nr. C III a 4).

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Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

Winfried MüllerGeleitwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

Ingrid BaumgärtnerLandesvermessung und Herrschaftsvisualisierung. Zielsetzung, Forschungstendenzen und Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13

Der Souverän und seine Kunstkammer

Barbara MarxErgreifen, Begreifen. Das Reißgemach des Kurfürsten August in der Kurfürstlichen Kunstkammer im Residenzschloss Dresden . . . . . . . . . . . . . 31

Wolfram DolzKurfürst August als Geodät und Kartograph . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69

Messen und Kartieren im frühneuzeitlichen Sachsen

Martina SchattkowskyZur Wahrnehmung und Instrumentalisierung lokaler Herrschaftsgrenzen in Kursachsen (16. und 17. Jahrhundert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89

Peter WiegandEin manregister unser landtschafft. Die kursächsische Landes-aufnahme des 16. Jahrhunderts als Herrschaftsinstrument und Repräsentationsmedium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107

Frank ReichertDie kurfürstlich-sächsischen Markscheider Georg Öder die Jüngeren sen. und jun. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147

INHALT

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Kartographie als Herrschaftsmittel in deutschen Territorien

Ingrid BaumgärtnerKartographie als Politik. Die Landesaufnahme in Hessen um 1600 . . . . . . . 189

Johanna LehmannKarten als Informationsträger frühneuzeitlicher Herrschaft. Zwei Regionalkarten des Spessarts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219

Thomas HorstGericht und Herrschaft in Bayern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233

Stephan HoppeDie vermessene Stadt. Kleinräumige Vermessungskampagnen im Mitteleuropa des 16. Jahrhunderts und ihr funktionaler Kontext . . . . . . . . . 251

Kartieren in Italien und den Niederlanden

Laura FederzoniPolitics, Planning and Culture in Italian Cartography around 1600 . . . . . . . . 277

Julien BérardDie Habsburger und die Kartographie der Niederlande im 16. Jahrhundert. Repräsentation, Außenpolitik und kommerzielle Interessen . . . . . . . . . . . . . 299

Tanja MichalskyKarten unter sich. Überlegungen zur Intentionalität geographischer Karten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321

Siglenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341Personen- und Ortsregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343Verzeichnis der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353

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Vorwort

In der Frühen Neuzeit gewannen Messen und Kartieren, geodätische Instrumenteund Risse an Durchschlagskraft, um Handlungsräume zu erfassen und Herrschaft zubeanspruchen. Viele frühneuzeitliche Territorialherren haben aufwändige Vermes-sungen und maßstabgetreue Kartierungen ihrer Länder in Auftrag gegeben oder, wieKurfürst August von Sachsen, sogar höchstpersönlich durchgeführt und eigenhändigaufgezeichnet. Die vorliegende Publikation richtet sich auf diese Praktiken von Ver-messen und Kartieren, auf das Zusammenspiel von geodätischen Instrumenten undschriftlichen Aufzeichnungen, auf die Wechselwirkungen von neuen Technologienund kulturellen Diskursen. Das kursächsische Beispiel lieferte den Anstoß, um die Herrschaftsdurchdringung mittels Geodäsie und Kartographie auch für andereTerritorien des 16. und beginnenden 17. Jahrhunderts kritisch zu hinterfragen sowieden Einfluss von Produktion, Präsentation und Nutzung instrumenteller und karto-graphischer Zeugnisse auf zeitgenössische Herrschaftskonzepte zu erörtern.

Der vorliegende Sammelband versammelt die Ergebnisse der internationalen und interdisziplinären Tagung ‚Kurfürstliche Koordinaten. Landesvermessung undHerrschaftsvisualisierung in frühneuzeitlichen Sachsen‘, die aus einer Kooperationder Universität Kassel mit den Dresdner Museen und der Sächsischen Landes-geschichte der Technischen Universität hervorging und am 21. und 22. Januar 2011im Dresdner Residenzschloss stattfand. Am Zustandekommen von Konferenz undPublikation haben viele Personen und Institutionen mitgewirkt, so dass zunächst einige Worte des Dankes angebracht sind.

Allen voran sei der Gerda Henkel Stiftung für die großzügige Förderung der Tagung und für die finanzielle Unterstützung der Drucklegung gedankt. Ebensowichtig war die vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen der Universität Kassel,der Technischen Universität Dresden und den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden,die sich inhaltlich, organisatorisch und finanziell bis hin zur vorliegenden Veröffent-lichung niederschlug. Denn Vorbereitung und Organisation des Tagungsprojektes erfolgten gemeinsam mit Winfried Müller als dem Vertreter der Sächsischen Landesgeschichte an der Technischen Universität Dresden und des Instituts fürSächsische Geschichte und Volkskunde sowie mit Peter Plaßmeyer vom Mathema-tisch-Physikalischen Salon der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, für den sein Mitarbeiter Wolfram Dolz und seine Mitarbeiterin Yvonne Fritz immer wiederkompetent und mit großer Begeisterungsfähigkeit einsprangen. Der Initiative vonYvonne Fritz war es zu verdanken, dass die Kooperation über die Landesgrenzenhinweg überhaupt zustande kam; ihr gebührt zweifellos auch besondere Anerken-nung für die professionelle Organisation vor Ort. Ein Glanzpunkt war nicht zuletzt

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Vorwort8

der gemeinsame Besuch der von Wolfram Dolz und Yvonne Fritz kuratierten Son-derausstellung des Mathematisch-Physikalischen Salons, bei dem sich beide Aus-stellungsorganisatoren bereitwillig zur Verfügung stellten, um konkrete Streitfragenunmittelbar vor den Exponaten im Kreis der Referenten zu diskutieren. Für die Be-teiligung an den stimulierenden Diskussionen ist neben den Vortragenden auch denDiskussionsleitern, namentlich Winfried Müller (Dresden), Wolfram Dolz (Dresden)und Peter van der Krogt (Utrecht), herzlich zu danken.

Von der anregenden Zusammenarbeit profitierte auch die Drucklegung, die Martina Schattkowsky mit großem Engagement vor Ort betreute. Zu bedauern ist,dass letztlich mehrere Referentinnen und Referenten auf die Verschriftlichung ihrerÜberlegungen verzichten mussten: Yvonne Fritz (Dresden) zum Kartieren von Wäldern und Natur als Instrument der Herrschaftsausübung, Karsten Gaulke (Kassel) zum Nutzen von Vermessungsinstrumenten um 1600 am Beispiel des Triangulationsinstruments Jost Bürgis, Peter van der Krogt (Utrecht) zu Jacob vanDeventers Kartierungen der Niederlande für Kaiser Karl V. und König Philip II.sowie Ute Schneider (Essen) zur Frage der Herrschaft im Werk des flämischen Geo-graphen Abraham Ortelius. So fügte es sich ausgezeichnet, dass einige zusätzlicheBeiträge eingeworben werden konnten. Für die freundliche Aufnahme des Sammel-bandes in die Schriftenreihe des Instituts für Sächsische Geschichte und Volkskundesind wir den Herausgebern Enno Bünz, Winfried Müller, Martina Schattkowsky undManfred Seifert sehr verbunden. Großer Dank gebührt zudem meiner wissenschaft-lichen Mitarbeiterin und Kasseler Doktorandin Lena Thiel für ihre Mithilfe bei derredaktionellen Betreuung des Bandes sowie Tobias Lenk für die Erstellung des Per-sonen- und Ortsregisters.

Kassel, im Herbst 2013 Ingrid Baumgärtner

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Kartographie als Herrschaftsmittel

in deutschen Territorien

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Mit den in Sachsen unter Kurfürst August (1553–1586) und seinen NachfolgernChristian I. (1586–1591), Christian II. (1591–1611) und Johann Georg I. (1611–1656) errungenen Fortschritten in Geodäsie und Kartographie konkurrierten be -kanntlich viele andere deutsche Territorialherren. Weltliche wie geistliche Reichs-und Regionalfürsten entwickelten das Bedürfnis, ihre Herrschaften zu vermessenund im Medium der Karte darzustellen. Sie ließen technisch aufwändige Vermes -sungsinstrumente von größter Kunstfertigkeit herstellen und legten Wert darauf, dieneuesten geometrischen, mathematischen und kartographischen Verfahren anzuwen -den. Ziel war es, den Herrschaftsausbau im eigenen Territorium zu beschleunigenund das neue Wissen für rechtliche, militärische, steuerliche und administrativeBelange nutzbar zu machen. Die Vermessung und Kartierung des Geländes war eingeeignetes Mittel, um die Reichweite herrschaftlicher Maßnahmen auszuloten unddie Zugriffe der Verwaltung auf das Territorium zu verbessern. Dabei wurde zu-sehends deutlich, dass rein textuelle Geländebeschreibungen und aufgezeichneteStatistiken ohne eine graphische Umsetzung den wachsenden Erfordernissen nichtmehr genügen konnten.

Im Folgenden werden diese Zusammenhänge für die hessische Landgrafschaftspezifiziert und am Beispiel des Hofkartographen Wilhelm Dilich vertieft.1 Dieweiteren Beiträge dieses Bandes konkretisieren die Entwicklungen in anderenTerritorien. Denn das Bedürfnis nach Vermessung und Kartierung erfasste früher

1 Vgl. INGRID BAUMGÄRTNER/MARTINA STERCKEN/AXEL HALLE (Hgg.), Wilhelm Dilich. Landtafelnhessischer Ämter zwischen Rhein und Weser 1607–1625 (Schriftenreihe der UniversitätsbibliothekKassel 10), Kassel 2011; INGRID BAUMGÄRTNER, Wilhelm Dilich und die Landtafeln hessischerÄmter, in: ebd., S. 9-35; EDMUND STENGEL (Hg.), Wilhelm Dilichs Landtafeln hessischer Ämter zwi-schen Rhein und Weser. Nach den Originalen in der Landesbibliothek in Kassel, im Staatsarchiv zuMarburg und im Landgräflichen Archiv zu Philippsruhe auf 24 meist farbigen Tafeln und Doppel-tafeln mit 16 Abbildungen im Text, Marburg 1927; DERS., Wilhelm Dilichs Landtafeln hessischerÄmter zwischen Rhein und Weser, in: Zeitschrift des Vereins für hessische Geschichte und Landes-kunde 70 (1959), S. 150-201 bzw. S. 486-537.

INGRID BAUMGÄRTNER

Kartographie als PolitikDie Landesaufnahme in Hessen um 1600

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oder später fast alle Herrschaften.2 Selbst Kirchenfürsten wie der Trierer ErzbischofJohann von der Leyen wandten sich an Kartographen wie den jungen ArnoldMercator, um eine graphische Veranschaulichung beanspruchter Besitzungen – indiesem Fall der Benediktinerabtei Prüm um 1558 – zu erhalten.3 Dazu warenmathematisch-ingenieurwissenschaftliche Daten zur Realtopographie zu sammelnund raumbezogen auszuwerten. In der Konsequenz kreierte die praktische Geo -metrie neue räumliche Steuerungstechnologien, die sich in der Kartographie ebensowie in den Bereichen von Navigation und Kriegstechnik niederschlugen.

Normierte Instrumente waren die Voraussetzung für ebenso normierte Karten,Räume und Bauten. In diesem Sinne hat etwa Wolfgang Schäffner frühneuzeitlicheFestungen als diagrammatische Operationsformen begriffen, die den Raum viel -schich tig modellierten: durch Isolation schützten sie vor Angriffen, im Wirken nachaußen konnten sie politische Ordnungen etablieren, Infrastrukturen schaffen undlokale Verwaltungsräume organisieren.4 Ähnlich funktionierten Karten. Die spatialenKonfigurationen wurden auf dem Papier nicht nur sichtbar, sondern auch verwaltbarund damit besser beherrschbar gemacht. Graphik, Messinstrumente und Technikenwaren Medien, die Räume für Politik und Verwaltung erzeugten oder zumindestaufbereiteten. Dabei standen der Kartographie andere Disziplinen wie Optik, Astro -nomie und Militärtechnik zur Seite. Die Erfassung des Raumes verband sich mit derMessung der Zeit. Aufwändige Sonnenuhren und Quadranten, Bussolen und Weg -messer, Schrittzähler und Reduktionszirkel ergänzten die traditionellen Instrumentewie Zirkel und rechtwinkliges Dreieck, Kompass und Astrolabium. Die in denhöfischen Kunstkammern gesammelten und zur Schau gestellten Objekte verkör -perten das wachsende Wissen und noch mehr: die Beherrschung der Technik und dieMessbarkeit der Welt.

2 Vgl. AXELLE CHASSAGNETTE, Mesurer et décrire: savoir géographique et cartographie dans l’espacegermanique protestant (des années 1530 aux années 1620), in: Revue de l’Institut français d’histoireen Allemagne 2 (2010), S. 194-200.

3 Vgl. FRITZ HELLWIG, Zur älteren Kartographie der Saargegend, in: Jahrbuch für westdeutsche Lan-desgeschichte 3 (1977), S. 193-228; JÜRGEN HARTMANN, Die Moselaufnahme des Arnold Mercator:Anmerkungen zu zwei Karten des Landeshauptarchivs Koblenz, in: Jahrbuch für westdeutsche Landesgeschichte 5 (1979), S. 91-102; ROLAND GEIGER, Die Ämter des Erzbistums Trier zwischenMosel und Blies: Eine Kartenaufnahme von Arnold Mercator aus dem Jahre 1566 in einer ‚Kopie‘von Peter Balthasar von 1776, in: Heimatbuch des Landkreises St. Wendel 26 (1994), S. 125-130;PETER H. MEURER, Les fils et petits-fils de Mercator, in: Marcel Watelet (Hg.), Gérard Mercator cos-mographe: Le temps et l’espace, Antwerpen 1994, S. 370-385; zur späteren Kopie im Atlas des Janvan Schilde vgl. DERS., Die ‚Trevirensis episcopatus exactissima descriptio‘ des Jan van Schilde:Analysen zur ältesten gedruckten Karte von Kurtrier, in: Roland Baumhauer (Hg.), Aktuelle For-schungen aus dem Fachbereich VI Geographie/Geowissenschaften, Trier 1997, S. 285-300.

4 Vgl. WOLFGANG SCHÄFFNER, Diagramme der Macht. Festungsbau im 16. und 17. Jahrhundert, in:Cornelia Jöchner (Hg.), Politische Räume. Stadt und Land in der Frühneuzeit, Berlin 2003, S. 133-165.

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Im Folgenden richtet sich der Blick auf die Bedeutung der frühneuzeitlich-wissen-schaftlichen Landesvermessung und Landeskartierung im Geflecht von Politik undGeschichte. Ziel ist es, das Vorhaben der systematischen Landesvermessung undLandesbeschreibung am hessischen Landgrafenhof in den Jahrzehnten um 1600unter der Frage nach der Interdependenz von Politik und Kartographie zu veran-schaulichen. Dabei geht es erstens um die hessischen Kartierungen im politischenKontext, zweitens um die Wechselwirkungen zwischen Vermessen und Kartierensowie drittens um die Legitimation von Herrschaft im Spannungsfeld von geo-graphischer Darstellung und Geschichte.

1. Politik und Kartographie

Als Landgraf Moritz der Gelehrte von Hessen-Kassel 1592 seine Herrschaft antrat,musste er bald feststellen, dass seine Arrondierungspolitik in vielfacher Hinsicht ge-fährdet war. Die Erbstreitigkeiten mit den anderen Linien des Landgrafenhauses ent-zündeten sich immer wieder neu, die Reibereien mit den Nachbarterritorien nahmenkein Ende, und schon die erste größere militärische Intervention, die in den Jahren1598/99 am Niederrhein erfolgte, scheiterte kläglich. Glanzvolle Hoffeste, die För-derung der Wissenschaften und eine extravagante Hofhaltung überforderten die Finanzkraft seines Landes und ließen nur wenig Spielraum für die notwendigen Verteidigungsmaßnahmen. Der politisch und militärisch nicht immer glücklich agie-rende Landesherr suchte deshalb nach anderen Strategien, um seine auf Expansionausgerichtete Territorialpolitik abzusichern.

Historiographie und Kartographie schienen geeignete Mittel, um eine möglichstumfassende Ausdehnung der Landgrafschaft zu rechtfertigen und die Kasseler Erb-ansprüche gegenüber Hessen-Darmstadt nach dem Aussterben der Linie Hessen-Marburg (1604) zu untermauern. Moritz gab deshalb verschiedene Werke in Auf-trag, deren Ziel es sein sollte, die landgräfliche Territorialpolitik argumentativ zustützen. Dieses Anliegen sollte der um 1571/72 in Wabern geborene Wilhelm Scheffer,genannt Dilich, der schon 1592 nach seinem Wittenberger Studium an den Hof berufen worden war, verwirklichen.5 Eines der in Auftrag gegebenen Werke war die

5 Vgl. HORST NIEDER, Wilhelm Dilich (um 1571–1650). Zeichner, Schriftsteller und Kartograph im höfischen Dienst, Lemgo 2002, S. 10 f.; HORST-PETER BERTINCHAMP, Wilhelm Dilich, ein hessischerTopograph in sächsischen Diensten (1625–1650), in: Sächsische Heimatblätter. Zeitschrift für sächsi-sche Geschichte, Denkmalpflege, Natur und Umwelt 34/1 (1988), S. 31 f.; HOLGER THOMAS GRÄF,Dilich, Wilhelm, in: Kassel Lexikon, Bd. 1: A-K, Kassel 2009, S. 139 f.; BAUMGÄRTNER, Wilhelm Dilich (wie Anm. 1), S. 9-35.

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1605 gedruckte ‚Hessische Chronica‘,6 ein anderes die von 1607 an handgezeichne-ten ‚Landtafeln hessischer Ämter zwischen Rhein und Weser‘, deren auf insgesamt174 General-, Landes-, Ämter- und Spezialkarten angelegtes Programm Moritzselbst entworfen hatte. Beides waren Arbeiten von großer Kraft, obwohl die hand-kolorierten Federzeichnungen des Kartenwerks in mehr als zehn Jahren bis 1617/1625nur zum Teil ausgeführt werden konnten. Freilich fanden beide Ausgaben, nicht zu-letzt aufgrund des raschen Wandels der politischen Lage und zahlreicher persön-licher, finanzieller und politischer Differenzen, nur bedingt ihren Weg zu einem breiteren Publikum.

Die illustrierte Chronik, eine zweibändige topographische Beschreibung Hessensmit Karten und Städteansichten sowie einer Geschichte der Bewohner, erschien beider landgräflichen Hofdruckerei, der Wesselschen Druckerei in Kassel, und erreichtebis 1617 immerhin vier Auflagen. Der Text beschreibt ein scheinbar historisch ge-wachsenes Territorium, das weitläufig ausgreift und erst durch Rhein, Neckar, Thüringer Wald und Weser begrenzt wird. Vorgestellt wird also ein erweitertes Hes-sen, das die Wetterauer Grafschaften und Teile der Kurpfalz inkorporierte und des-sen Anlage schon allein deshalb auf massiven Widerspruch stoßen musste.

In den 1607 begonnenen Landtafeln sollte dieses Programm weiter spezifiziertwerden. Die Landesvermessung sollte das Bewusstsein für die politische Zusam-mengehörigkeit des zersplitterten Raumes weiter schärfen. Deshalb verzeichnete derLandgraf in 136 Punkten genau seine Wünsche. Er ordnete an, welche Gebiete seinKartograph in welcher Größe aufzunehmen habe. Er wünschte sich drei kleinmaß-stäbliche Generaltafeln des Nieder- und Oberfürstentums Hessen-Kassel mit denGrafschaften Katzenelnbogen und Ziegenhain, acht Generaltafeln der als Quartierebezeichneten Landesteile an Diemel, Werra, Fulda, Schwalm, Lahn und Eder, inWaldeck und der Niedergrafschaft Katzenelnbogen, zudem etwa 58 Ämter- undVogteikarten sowie etwa 105 großmaßstäbliche Spezialtafeln einzelner Orte.7 Dilicharbeitete an dieser enormen Herausforderung: von 1607 bis 1609 höchst intensiv,von 1611 bis 1617 nur noch gelegentlich und danach bis 1625 fast gar nicht mehr, sodass die Landtafeln letztlich ein unvollendetes Konvolut von heterogener Konsis-tenz blieben.

6 Vgl. Wilhelm Dilich, Hessische Chronica, 2 Teile, Kassel 1605, ND hrsg. von WILHELM NIEMEYER,1961.

7 Vgl. HStAM, Bestand 17 d, Dilich 1, fol. 10r-13v mit dem unvollständig erhaltenen Verzeichnusderer generall und spezial landttaffeln, so unser verordender geographus Wilhelm Dilichiusverfertigen soll. Vgl. STENGEL, Wilhelm Dilichs Landtafeln 1959 (wie Anm. 1), S. 165-168 bzw. S. 501-504.

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Das Projekt war von allen Beteiligten unterschätzt worden; Dauer und Kosten stiegen kontinuierlich an. Der Landvermesser konnte nach seiner Suspension undGefangennahme im Jahre 1617 immerhin seine Freilassung aus der Kerkerhaft be-wirken, indem er das Unmögliche versprach, nämlich die Kartierungen auf eigeneRechnung fertigzustellen. Die Auseinandersetzungen endeten im März 1625 mit derFlucht Dilichs an den Hof Kurfürst Johann Georgs I. von Sachsen. Der Wechsel nachDresden, den die Turbulenzen des Dreißigjährigen Krieges (1618–1648) begünstig-ten, war mit einer Veränderung des beruflichen Profils hin zum Fortifikations-ingenieur verbunden.8 Bis zu seinem Tod im Jahre 1650 widmete sich Dilich, nachdem er erste Entwürfe für die Ausgestaltung des Riesensaals im DresdenerSchloss unterbreitet hatte,9 sowohl in theoretischen Schriften als auch in praktischenBaumaßnahmen der Militärtechnik und dem Festungsbau, also den vordringlichenAufgaben in jenen stürmischen Jahren, die Sachsen nach dem Übertritt zur katho-lisch-kaiserlichen Seite von 1635 an erlebte.

Die hessischen Landtafelvermessungen und -kartierungen unterstanden der direkten Aufsicht des Landesherrn, der selbst festlegte, in welcher Reihenfolge dieTerritorien aufzunehmen waren. Aufgrund der politischen Zielrichtung verwundertes daher nicht, dass Dilich seine Tätigkeit nach Erhalt des Mandats am 1. September1607 nicht mit den Kerngebieten der Landgrafschaft begann, sondern mit der ehe-maligen Grafschaft Katzenelnbogen und einigen weiter nördlich gelegenen Enkla-ven in den hessischen Rheingebieten (Abb. 1).10 Die strategisch am Rhein positio-nierten Katzenelnbogener Besitzungen, die Anna, Gattin Heinrichs III. von Hessenund Tochter Philipps des Älteren von Katzenelnbogen, bereits 1479 in die Landgraf-schaft eingebracht hatte, waren bei der Erbteilung nach dem Tod des kinderlosenPhilipp II. des Jüngeren von Hessen-Rheinfels (1567–1583) an seinen Bruder Wil-helm IV. von Hessen-Kassel übergegangen. Zu den prunkvollen Burgen und Schlös-sern gehörten die mächtige Spornburg Rheinfels als landgräfliche Hauptfestung am

8 Vgl. NIEDER, Wilhelm Dilich (wie Anm. 5), S. 72-82; EVA-MARIA SENG, Stadt – Idee und Planung.Neue Ansätze im Städtebau des 16. und 17. Jahrhunderts, Berlin 2003, S. 124; BAUMGÄRTNER,Wilhelm Dilich (wie Anm. 1), S. 23 f.

9 Vgl. SENG, Stadt (wie Anm. 8), S. 38-42; PAUL EMIL RICHTER/CHRISTIAN KROLLMANN (Hgg.),Wilhelm Dilich, Federzeichnungen kursächsischer und meissnerischer Ortschaften aus den Jahren1626–1629, 3 Bde., Dresden 1907.

10 Vgl. INGRID BAUMGÄRTNER, Landtafeln hessischer Ämter zwischen Rhein und Weser: Art. zu KasselUB-LMB, 2° Ms. Hass 679, Bl. 19 Burg Hohenstein; Bl. 33 Amt Reichenberg, Amt Rheinfels und St. Goarshausen; Bl. 34-35 Neukatzenelnbogen; Bl. 36 Stadt und Pfandschaft Rhens mit Königsstuhl,in: Rainer Atzbach/Sven Lüken/Hans Ottomeyer (Hgg.), Burg und Herrschaft. Eine Ausstellung desDeutschen Historischen Museums Berlin, Berlin 2010, S. 77-79, Nr. 3.18 a-e. Das Mandat oderPatent findet sich in HStAM, Best. 17d Dilich Nr. 1.

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Rhein11 sowie Neukatzenelnbogen,12 Reichenberg13 und das nicht direkt am Rheingelegene Hohenstein.14 In den Jahren um 1608/09 entstanden auch die Kartierungender zugehörigen Ämter Rheinfels samt Vogtei Pfalzfeld15 und Reichenberg.16 An denäußersten Landesgrenzen gelegen und von starken Nachbarn wie den ErzbistümernTrier und Mainz sowie der Grafschaft Nassau begehrt, waren diese Territorien, diebei hessischen Erbteilungen wiederholt den Besitzer wechselten, grundsätzlich ge-fährdet. Weit entfernt von den niederhessischen Kerngebieten waren sie von Kasselaus nicht leicht zu kontrollieren.

11 Vgl. MELANIE PANSE, Schloss Rheinfels, in: Baumgärtner/Stercken/Halle (Hgg.), Wilhelm Dilich(wie Anm. 1), S. 86-93, Nr. 3-6 zu Bl. 22-25; KARL E. DEMANDT, Rheinfels und andere Katzeneln -bogener Burgen als Residenzen, Verwaltungszentren und Festungen 1350–1650, Darmstadt 1990, S. 407-411; EDUARD SEBALD, Rheinfels in Farben. Wilhelm Dilichs Burgansichten, in: Baudenkmälerin Rheinland-Pfalz 58 (2003), S. 11-16, hier S. 11.

12 Vgl. SUSANNE SCHUL, Burg Katz, in: Baumgärtner/Stercken/Halle (Hgg.), Wilhelm Dilich (wie Anm. 1), S. 94-101, Nr. 7-10 zu Bl. 34-35 u. 50-51.

13 Vgl. VANESSA SCHMIDT, Burg Reichenberg, in: ebd., S. 102-113, Nr. 11-16 zu Bl. 27-32.14 Vgl. STEFAN SCHRÖDER, Schloss Hohenstein, in: ebd., S. 138-147, Nr. 29-33 zu Bl. 15-19.15 Vgl. BETTINA SCHÖLLER, Amt Rheinfels und Vogtei Pfalzfeld, in: ebd., S. 84 f., Nr. 2 zu Bl. 21.16 Vgl. BERND GIESEN, Amt Reichenberg, Amt Rheinfels und St. Goarshausen, in: ebd., S. 82 f., Nr. 1 zu

Bl. 33.

Abb. 1: Rhein-Main-Gebiet der Landgrafschaft Hessen-Kassel, Karte von Lutz Münzer [Quelle: Baum-gärtner/Stercken/Halle (Hgg.), Wilhelm Dilich (wie Anm. 1), Vor- und Nachsatz].

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Der Wunsch nach einer Vermessung und Kartierung dieser bedeutenden Ländereienund Festungen war nicht neu. Schon Moritz‘ Vater, Landgraf Wilhelm IV. von Hes-sen-Kassel, hatte die geographische Beschaffenheit der Niedergrafschaft sofort nachder ersten Inbesitznahme festhalten lassen. Zur verwaltungstauglichen Aufbereitunghatte Wilhelm damals den mathematisch und künstlerisch begabten Arnold Merca-tor, Sohn des berühmten Gerhard, engagiert, der sich unverzüglich dem Auftrag wid-mete. Im März 1584 zeichnete Arnold, vielleicht als Kostprobe, zuerst das Territo-rium des Hospitals Gronau; die Karte wurde später dem Gronauer Salbuch von 1587beigegeben.17 Im Juni 1584 erhielt er weitere Anweisungen, wie er im Amt Rheinfelsvorzugehen habe und welche Unterstützung er dabei erfahren sollte. Der höchstfachkundige Landgraf, der nach Braubach abgereist war, übermittelte seine Anord-nungen brieflich an den zuständigen Amtsträger vor Ort.18 Freilich galt der karto-graphische Ertrag dieser rheinischen Studien, die nicht mehr erhalten sind, 1630 be-reits als vermisst und wir wissen nicht, ob Dilich darauf noch zurückgreifen konnte.

Im Fokus der topographischen Erfassung stand letztlich die geographische Aus-dehnung des gesamten Hessenlandes, mit der Arnold Mercator in einem drittenSchritt im März 1585 beauftragt wurde. Auch dafür gab es Vorbilder, etwa die erstegedruckte, aber noch wenig detaillierte Überblickskarte, die der Marburger Astro-nom und Mathematiker Johannes Dryander (1500–1560) erstellt hatte.19 SebastianMünster hatte sie 1540 für die vierte Rheinkarte seiner lateinischen Ausgabe der‚Geographia‘ des Claudius Ptolemäus verwendet und zehn Jahre später erstmalsvollständig als Holzschnitt in seiner ‚Cosmographia‘ publiziert. Selbst Abraham Ortelius griff 1579 noch auf sie zurück. Freilich waren bis dahin alle Versuche ein-heimischer Fachkräfte, die hessische Herrschaft zu kartieren, entweder im allgemei-nen Überblick oder im Detail stecken geblieben. So kam auch der von etwa 1572 antätige Korbacher Joist Moers (gest. 1625) nicht weiter, als einzelne Liegenschaftenin Waldeck und im Kasseler Umland zu vermessen.20 Der Frankenberger Heinz

17 Vgl. KURT KÖSTER, Die Beziehungen der Geographenfamilie Mercator zu Hessen, in: HessischesJahrbuch für Landesgeschichte 1 (1951), S. 171-192, hier S. 172 f.

18 Vgl. KÖSTER, Die Beziehungen (wie Anm. 17), S. 180.19 Vgl. FRITZ WOLFF, Kartographen – Autographen, Marburg 1990, S. 30-35, hier S. 6-9 zu Dryander,

S. 14-17 zu Sohn und Enkel des Gerhard Mercator; DERS./WERNER ENGEL, Hessen im Bild alterLandkarten, Marburg 1988; MARTINA STERCKEN, Repräsentation, Verortung und Legitimation vonHerrschaft. Karten als politische Medien im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit, in: Baum-gärtner/Dies./Halle (Hgg.), Wilhelm Dilich (wie Anm. 1), S. 37-52, hier S. 44 f. mit Abb. 6.

20 Vgl. KARL SCHÄFER, Leben und Werk des Korbacher Kartographen Joist Moers, in: Geschichtsblätterfür Waldeck 67 (1979), S. 123-177; WERNER ENGEL, Joist Moers im Dienste des Landgrafen Moritzvon Hessen, in: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 32 (1982), S. 165-173; WINFRIED WROZ,Der hessische Landmesser Joist Moers und seine Karte des Kaufunger Waldes (um 1590), in: Mittei-lungen des Vereins für hessische Geschichte und Landeskunde, NF 26 (1993), S. 9-13, Karte S. 20 f.

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Markgraf (gest. 1604)21 konzentrierte sich hingegen auf kleinräumige Aufnahmen inOberhessen. Selbst die Ausbeute des 1587 jung verstorbenen Arnold Mercators warletztlich gering, obwohl dessen Sohn Johann das Unternehmen noch bis 1592, alsobis zum Tod Wilhelms IV., fortsetzte: Nur eine einzige Karte zu Niederhessen, unvollendet, gleichwohl farbig und in hoher Qualität, ist im Hessischen StaatsarchivMarburg aus dieser Produktion erhalten.22 Indessen suchten die landgräflichen RäteMercators große Landtafel von Hessen sowie die Oberhessen-Karte, von der wirnicht wissen, ob sie überhaupt jemals existiert hat, bereits im Dezember 1604 ver-geblich.23

Mit solchen Kartierungen gingen vereinzelt noch weitere Maßnahmen zur Er-fassung der Hoheits- und Nutzungsrechte einher, wie etwa Landesbeschreibungen,Besitz- und Einkünfteverzeichnisse einzelner Ländereien, Grenzprotokolle oderschriftliche Registrierungen bestimmter Güter. Zu erinnern ist nicht nur an Dilichs‚Hessische Chronik‘, sondern auch an ein Inventar des Rheinfelser Mobiliars undHausrats, das der dem Landgrafen treu ergebene Oberamtmann Otto Wilhelm vonBerlepsch, der das gefährdete Rheingebiet verwaltete, erstellen ließ, als 1607 einWechsel im Amt des Burggrafen anstand. Auch Dilichs Kartierung der Flur- undWaldflächen des Gerichts Jesberg am Fuße des Kellerwaldes waren frühere Be-standsaufnahmen vorausgegangen: Grenzbegehungsprotokolle sowie ein Saalbuch,das Landgraf Wilhelm IV. 1585/86 hatte anlegen lassen. Eine Begleitkarte JoistMoers hatte damals bereits die Lage von Grenzmalen, Flur- und Gehölzbezeich-nungen festgehalten, wobei die späteren Vermessungen von 1613 teilweise davonabwichen.24

Zügig in Angriff nahm Dilich auch die Kartierung der linksrheinischen Dorf-schaft Hollnich, einer kleinen hessischen Exklave im nordöstlichen Hunsrück.25 Ihreisolierte Randlage erklärt das Bemühen, die Inkorporation zeichnerisch abzusichern.Ähnliches gilt für die beiden noch weiter im Norden gelegenen Rheingebiete, die

21 Vgl. WOLFF, Kartographen (wie Anm. 19), S. 6-9 zu Dryander, S. 24-27 zu Joist Moers und S. 28 f. zuHeinz Markgraf.

22 Vgl. HStAM, Karten R II Nr. 28 in großem Format (Maße: 138 x 173,5 cm) und schlechtem Er-haltungszustand; WOLFF/ENGEL, Hessen im Bild (wie Anm. 19), S. 8 zu einem Ausschnitt.

23 Vgl. HStAM, Bestand 17 d, Dilich 1, fol. 5; STENGEL, Wilhelm Dilichs Landtafeln 1927 (wie Anm. 1), S. 22 Nr. 1.

24 Vgl. BERND GIESEN, Gericht Jesberg 1613, in: Baumgärtner/Stercken/Halle (Hgg.), Wilhelm Dilich(wie Anm. 1), S. 172 f., Nr. 46 zu Bl. 2, datiert auf 1613; Joist Moers, Das Amt Jesberg, HStAM,Bestand 17e Jesberg Nr. 61; FRITZ WOLFF, Der frühneuzeitliche Wald in der Kartographie, in:Andreas Hedwig (Hg.), „Weil das Holz eine köstliche Ware …“. Wald und Forst zwischen Mittelalterund Moderne, Marburg 2006, S. 39-58, hier S. 46-48 (Moers) u. S. 52-54 (Dilich).

25 Vgl. BERND GIESEN, Hollnich im Hunsrück, in: Baumgärtner/Stercken/Halle (Hgg.), Wilhelm Dilich(wie Anm. 1), S. 114 f., Nr. 17 zu Bl. 20.

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politisch umkämpft waren: erstens die linksrheinische Stadt und PfandschaftRhens,26 die, 1445 an Philipp von Katzenelnbogen verpfändet, 1479 an Hessen über-gegangen war und traditionell zum Erzbistum Köln gehörte, an das die Pfandschaft1629 wieder zurückfiel, sowie zweitens der Bezirk der rechtsrheinischen Stadt Brau-bach27 mit Marksburg28 und Schloss Philippsburg.29

Insgesamt 38 weitgehend maßstabsgerechte Tafeln zu strategisch wichtigen Be-sitzungen in der exponierten westlichen Grenzregion dürfte Dilich in diesen produk-tiven Jahren bis Anfang 1609 erstellt haben. Dem ungeduldigen Moritz lieferte erkurze, als Memorial bezeichnete Zwischenberichte. Am 16. Dezember 1608 meldeteer etwa von Marburg aus, dass von den 45 geplanten Tafeln zur Grafschaft Katzen-elnbogen nur das Gericht selbst, die Pfandschaft Limburg, Ems und ein geringer Anteil des dreiherrischen Amtes Reichenberg fehlten, er diese aber voraussichtlichalle innerhalb eines Monats nachliefern werde.30 Der Landgraf antwortete zehn Tagespäter von Eschwege aus, es wäre besser gewesen, Dilich hätte sich noch mehr ge-tummelt; er solle nun Ziegenhain übergehen und mit der Kartierung des Oberfürsten-tums beginnen.

Politisch brisant war die Lage auch in der Herrschaft Eppstein und im GerichtLiederbach (Abb. 2),31 abgesonderten Exklaven im umstrittenen Rhein-Main-Gebietund im Einflussbereich der Wetterau. Hessen-Kassel hatte diese Gebiete erst 1604nach dem erbenlosen Tod Ludwigs IV. von Hessen-Marburg erhalten. Angesichtsder zahlreichen, auf engstem Raum rivalisierenden Mächte versuchte Landgraf Moritz sogleich mit allen Mitteln, seine dortigen Rechte gegen das ErzbistumMainz, die Reichsstadt Frankfurt und die Grafschaft Nassau zu behaupten. Die Zehr-rechnungen Dilichs lassen sogar vermuten, dass die Vermessungen in der HerrschaftEppstein begonnen worden sind.32 Auch inhaltliche Gründe sprechen für eine solcheAnnahme: Die in Dilichs ‚Chronica‘ manifestierten oberhessischen Machtansprüchehatten den schwelenden Konflikt mit den unabhängigen Wetterauer Reichsständenso zugespitzt, dass die Nassauer den kurpfälzischen Rat Marquard Freher verpflichte-ten, eine Gegenschrift zu verfassen. Das scharfsinnige Werk erschien nach mehr-maliger Überarbeitung im Frühjahr 1608. Landgraf Moritz setzte seine Kundschafter

26 Vgl. BERND GIESEN, Stadt und Pfandschaft Rhens, in: ebd., S. 116 f., Nr. 18 zu Bl. 46.27 Vgl. REBEKKA THISSEN-LORENZ, Bezirk der Stadt Braubach, in: ebd., S. 118 f., Nr. 19 zu Bl. 36.28 Vgl. REBEKKA THISSEN-LORENZ, Marksburg, in: ebd., S. 120-129, Nr. 20-24 zu Bl. 41-45.29 Vgl. MAREIKE KOHLS, Philippsburg, in: ebd., S. 130-137, Nr. 25-28 zu Bl. 37-40.30 HStAM, Bestand 17 d, Dilich 1, fol. 8-9; STENGEL, Wilhelm Dilichs Landtafeln 1927 (wie Anm. 1),

S. 22 Nr. 2.31 Vgl. RALPH A. RUCH, Herrschaft Eppstein, Gericht Liederbach, in: ebd., S. 150-157, Nr. 35-37 zu

Bl. 47-49, Nr. 38 zu Bl. 13.32 Vgl. NIEDER, Wilhelm Dilich (wie Anm. 5), S. 62.

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ein, um die gesamte Auflage aufzukaufen, und drückte gleichzeitig die wenig ver-breitete ‚Hessische Chronica‘ auf den Markt, die die geopolitischen Kontroversenzwischen Kassel und Nassau ausgelöst hatte. Daraus spricht die Entschlossenheit,mit der er sein politisches Anliegen der Arrondierung verfolgte. So scheint er schon1607 seinen Geographen Dilich losgeschickt zu haben, um die Inbesitznahme desexponierten Außenbezirks durch die Vermittlung von Ortskenntnissen zu erleichternund durch eine gezielte kartographische Aneignung gleichsam zu vollziehen.

Wie gefährlich eine Vermessung von Außengrenzen für Leib und Leben des Kar-tographen sein konnte, zeigt eine Episode vom Februar und März 1609. Dilich warim landesherrlichen Auftrag in die hessische Exklave Auburg ganz im Nordosten derLandgrafschaft gereist. In der ehemals zur Lüneburger Grafschaft Diepholz gehörigenAmtsvogtei, die Hessen-Kassel 1585 nach dem Tod Graf Friedrichs von Diepholz,übernommen hatte, war ein Streit mit Philipp Wilhelm von Cornberg, der als unehe-licher Sohn Landgraf Wilhelms IV. Burg Auburg geerbt hatte, um die Gebietshoheitentbrannt. Auf dem Rückweg verhafteten, vermutlich auf dessen Anweisung, Lüne-burger Soldaten den Landvermesser. Man verdächtigte ihn der Spionage und derÜberschreitung der Amtsgrenzen im Zuge seiner Vermessungen. Dilich fürchtete umsein Leben. Um freigelassen zu werden, musste er seine gesamten Aufzeichnungen

Abb. 2: Wilhelm Dilich, Gericht Liederbach [Quelle: Kassel, UB-LMB, 2o Ms. Hass. 679, Bl. 13].

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aushändigen und schriftlich erklären, die Ergebnisse seiner Recherchen nicht gegenBraunschweig-Lüneburg zu verwenden.33

Aufwändige Messarbeiten in fremdem Hoheitsgebiet konnten kaum verborgenbleiben. Im September 1616 sollten auf Befehl des Landgrafen Vermessungen in Plessebeginnen, einer hessischen Exklave im Braunschweiger Territorium, die 1571 Wil-helm IV. als Lehen anheimgefallen war. Der dortige Amtmann Barthold Wintherstwandte sich deshalb am 22. September an Kanzlei und Räte in Kassel, um zu er-fragen, ob er vor den Grenzbegehungen die Erlaubnis der braunschweigischen Seiteeinholen solle oder man auf ein solches Ersuchen verzichten wolle.34 Es ist offensicht -lich, dass Schwierigkeiten zu erwarten waren: Über ein strittiges Gehölz im Grenz -gebiet gab es einen Schiedsspruch zugunsten der Braunschweiger, während die HessenWert darauf legten, die Herrschaft Plesse in der alten Ausdehnung zu beschreiben.Die Braunschweiger hätten in neue Vermessungen wohl kaum eingewilligt.

Angesichts solcher Gefahren wird verständlich, dass sich der Landvermesser beijedem Schritt der fürstlichen Rückendeckung versicherte. Als Wilhelm Dilich im Jahre1611 mit der vermessungstechnischen Kärrnerarbeit in den Niederungen der Schwalmin Ziegenhain35 beginnen wollte (Abb. 3), bot die zentrale Lage im südlichen Nord-hessen einen gewissen Schutz. Trotzdem bat er den landgräflichen Leibarzt Dr. Her-mann Wolff, sich beim Fürsten zu erkundigen, ob er nur die Grafschaft als Territo-rium oder auch Schloss und Festung mit Grund- und Aufrissen erfassen solle.36

Nicht zuletzt ging es in dieser Zone um den Einfluss der alten Reichsabtei Hersfeld,die Moritz 1606 mit seinem ältesten Sohn Otto als Verwalter besetzen und damitpraktisch in die Landgrafschaft eingliedern konnte. Die Ziegenhain-Karte sollte des-halb – wie auch die Zeichnungen der Gerichte Wallenstein und Neuenstein37 – den

33 Vgl. Marburg HStAM, Bestand 17 d, Dilich 1, fol. 16 u. fol. 17; STENGEL, Wilhelm DilichsLandtafeln 1927 (wie Anm. 1), S. 22 Nr. 3-4; STENGEL, Wilhelm Dilichs Landtafeln 1959 (wie Anm. 1), S. 170 f.; NIEDER, Wilhelm Dilich (wie Anm. 5), S. 64.

34 Vgl. STENGEL, Wilhelm Dilichs Landtafeln 1927 (wie Anm. 1), S. 23 Nr. 10. 35 Vgl. CHRISTINA POSSELT, Schloss Ziegenhain, in: Baumgärtner/Stercken/Halle (Hgg.), Wilhelm

Dilich (wie Anm. 1), S. 168 f., Nr. 44 zu Bl. 1; HARTMUT BROSZINSKI, Wilhelm Dilich: Landtafelnhessischer Ämter zwischen Rhein und Weser 1607–1622, in: Ders., Kasseler Handschriftenschätze(Pretiosa Cassellana), Kassel 1985, S. 97-102, Nr. 16, hier S. 99; STENGEL, Wilhelm Dilichs Land-tafeln 1959 (wie Anm. 1), S. 171 f.; NIEDER, Wilhelm Dilich (wie Anm. 5), S. 64.

36 Vgl. Marburg HStAM, Bestand 17 d, Dilich 1, fol. 20; STENGEL, Wilhelm Dilichs Landtafeln 1927(wie Anm. 1), S. 23 Nr. 7 vom 3. Mai 1611; BODO EBHARDT, Die Bedeutung der Aufnahmen WilhelmDilichs für die Burgenkunde, in: Carl Michaelis (Hg.), Rheinische Burgen nach HandzeichnungenDilichs (1607), Berlin 1900, S. 65-78, hier S. 7; WOLFF, Kartographen (wie Anm. 19), S. 32-33.

37 Vgl. REBEKKA THISSEN-LORENZ, Gerichte Neuenstein und Wallenstein, in: Baumgärtner/Stercken/Halle (Hgg.), Wilhelm Dilich (wie Anm. 1), S. 158-161, Nr. 39-40 zu HStAM, Karte P II 15604 undeinem vermisstem Blatt, früher Kassel UB-LMB, Karte A 11 [64; BETTINA SCHÖLLER, GerichtWallenstein 1611, Gericht Neuenstein, in: ebd., S. 162-165, Nr. 41-42 zu Bl. 10 u. Bl. 14; FRITZ

FENNER, Wallenstein in Hessen. Zur Geschichte von Burg und Dorf, Homberg 1973, S. 47.

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Machtzuwachs widerspiegeln, den die Landgrafen erlangt hatten, als sie die tradi-tionellen Ansprüche der Reichsabtei in dieser Region zurückdrängten und das ursprünglich vereinte Gebiet Wallenstein-Neuenstein in zwei Gerichtsbezirke auf-teilten.

Die Landgrafen Wilhelm IV. und sein Sohn Moritz verwendeten Kartographieeindeutig als ein Mittel der Politik, um Grenzregionen zu sichern und Exklaven zubehaupten, um einen Überblick über Besitzungen zu gewinnen und vor allem um diewachsenden Neuerwerbungen in Regierung und Administration einzubeziehen. Füreine Reorganisation der Verwaltungs- und Wirtschaftsstrukturen boten die Land-tafeln eine exzellente Grundlage. Freilich war das Projekt nur bedingt erfolgreich:

Abb. 3: Landgrafschaft Hessen-Kassel ohne Rhein-Main-Gebiet, Karte von Lutz Münzer[Quelle: Baumgärtner/Stercken/Halle (Hgg.), Wilhelm Dilich (wie Anm. 1), Vor- und Nachsatz].

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Die Aufnahme des gesamten Landes dauerte zu lange, um auf brisante Situationenspontan reagieren zu können, und der ungeduldige Moritz besaß nicht den dafür not-wendigen langen Atem. Spätestens 1618 mit Beginn des Dreißigjährigen Kriegestraten andere Erfordernisse wie Verteidigung und Festungsbau in den Vordergrund.Überholt hatte sich das Unternehmen letztlich, als Hessen-Kassel 1623/26 im sog.Marburger Erbschaftsstreit die gesamte Niedergrafschaft Katzenelnbogen, darunterdie beiden Burgen Reichenberg und Rheinfels samt Ämtern, wieder an die kaiser-treue Linie Hessen-Darmstadt abtreten musste.

2. Vermessen und Kartieren

Es ist längst ein Allgemeinplatz, dass die Landgrafen von Hessen an ihrem Hof dieWissenschaften förderten und auch die Kartographie für ihre Zwecke nutzten. Schon1558 soll Melanchton den jungen Landgrafensohn Wilhelm IV. um Hilfe bei der Erstellung einer Deutschlandkarte gebeten haben.38 Wissenschaftler von bestem Rufwie der Mathematiker und Astronom Christoph Rothmann (gest. um 1600), der Instrumentenbauer Jost Bürgi (1552–1632) und der Uhrmacher Eberhard Baldewein(gest. 1593) versammelten sich am Kasseler Landgrafenhof. Werke von NicolausCopernikus und anderen Autoritäten wurden übersetzt. Die Sammlung von Mess-geräten und Werkzeugen für Astronomie, Festungsbau, Geodäsie und Kartographieerfüllte höchste Ansprüche. Bürgis Instrumente wurden später sogar in Gemäldenabgebildet, um dem Porträtierten Fachwissen und berufliche Autorität zuzuweisen.39

Wilhelm Dilich muss den berühmten Messtechniker, der von 1579 bis 1604 undauch später immer wieder am Kasseler Hof wirkte, persönlich gekannt haben.40

Im Zuge der geodätischen und kartographischen Herrschaftsdurchdringungbemühten sich technisch versierte, vielseitig gebildete Gelehrte, die einschlägigenTerritorien entweder für einzelne Karten oder im Zuge von Kampagnen zu ver mes sen,Grenzkonflikte maßstabsgetreu zu kartieren und Hoheits- wie Besitzansprüche exakt

38 Vgl. u. a. JÜRGEN HAMEL, Die astronomischen Forschungen in Kassel unter Wilhelm IV. Mit einerTeiledition der deutschen Übersetzung des Hauptwerkes von Copernicus um 1586 (Acta HistoricaAstronomiae 2), Frankfurt am Main 2002, S. 1; KARSTEN GAULKE (Bearb.), Der Ptolemäus von Kassel. Landgraf Wilhelm IV. von Hessen-Kassel und die Astronomie (Kataloge der Museums-landschaft Hessen Kassel 38), Kassel 2007.

39 Vgl. BAUMGÄRTNER, Wilhelm Dilich (wie Anm. 1), S. 24 zu Sebastian Furcks Porträt von Johann Wilhelm Dilich (1636), der den universellen Reduktionszirkel des Jost Bürgi in der Rechten hält; beiNIEDER, Wilhelm Dilich (wie Anm. 5), S. 12 fälschlich als Porträt von Wilhelm Dilich ausgewiesen.

40 Vgl. BETTINA SCHLEIER, Wilhelm Dilichs Bremer Chronik, in: Bremisches Jahrbuch 73 (1994), S. 12-47, hier S. 32.

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zu dokumentieren.41 Sie machten es zu ihrer Aufgabe, die Landesgeographie mitBergen, Flüssen, Nutzflächen, Siedlungen und Einzelbauten zu veranschau lichenund den herrschaftlich besetzten Raum mittels Toponymen zu konkretisieren. Ver -messungen sollten Verwaltungsmaßnahmen vorbereiten oder Ortstermine bei Grenz -streitigkeiten vor Gericht ersetzen. Vor allem die Landesaufnahmen setzten groß -räumige systematische Vermessungen im Gelände voraus. Die Ergebnisse wur den inProtokollen und Skizzen festgehalten, ehe die Originalzeichnungen entstan den, dieim Einzelfall sogar in Holzschnitten oder Kupferstichen vervielfältigt wurden.

Die Vermessungstechnik war ein eigenständiges Handwerk. Es galt, nicht nureinfache Geräte wie Zirkel, Peilkompass, Bussole und Messkette, sondern auchkomplizierte Instrumente richtig anzuwenden. Den technischen Fortschritt belegenzahlreiche, noch erhaltene Messinstrumente zur Höhen- und Entfernungsmessung,42

wie zum Beispiel Routen- und Winkelmesser, mechanische Wagenwegmesser, geometrischer Quadrant und Reduktionszirkel. Neu war etwa das Triangular, das – selbst wenn der Gebrauchswert des von Jost Bürgi in Kassel entwickelten Instru-ments in der Forschung umstritten ist – exakte Winkel- und Entfernungsmessungenermöglichen sollte.43 Auch der neuartige Reduktions- oder Proportionalzirkel half,komplexe Rechenvorgänge durchzuführen und landschaftliche Verhältnisse maß-stabsgetreu aufzuzeichnen. Der Schweizer Mechaniker Jost Bürgi, der am KasselerHof solche technischen Geräte baute, soll um 1604 sogar ein Gestell zum perspekti-vischen Zeichnen entworfen haben. Dabei scheint eine Kompilation am Zeichen-tisch ebenso üblich gewesen zu sein wie eine eigenständig, im zeitraubenden Mess-verfahren gewonnene Kombination aus Kompasspeilung und Triangulation.44 Die

41 Vgl. UTE SCHNEIDER, Geowissenschaften: Kartographie und Geodäsie, in: Stephan Günzel (Hg.)unter Mitarbeit v. Franziska Kümmerling, Raum. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2010, S. 24-33, hier S. 24.

42 Vgl. REINHARD GLASEMANN, Erde, Sonne, Mond & Sterne. Globen, Sonnenuhren und astronomischeInstrumente im Historischen Museum Frankfurt am Main, Frankfurt am Main 1999, bes. S. 137-145;DERS., Dilichs Instrumente und die Befestigung von Frankfurt am Main: Die Sammlung des Histo -rischen Museums, in: Tanja Michalsky/Felicitas Schmieder/Gisela Engel (Hgg.), Aufsicht – Ansicht– Einsicht. Neue Perspektiven auf die Kartographie an der Schwelle zur Frühen Neuzeit (FrankfurterKulturwissenschaftliche Beiträge 3), Berlin 2009, S. 387-406, hier S. 394-397 zu Schattenquadratund Auftragsbussole; KLAUS SCHILLINGER, Zur Entwicklung der Vermessungsinstrumente im 16. Jahrhundert, in: Rainer Gebhardt (Hg.), Hiob Magdeburg und die Anfänge der Kartographie inSachsen, Annaberg 1995, S. 71-100.

43 Vgl. NIEDER, Wilhelm Dilich (wie Anm. 5), S. 58-61; WOLFRAM DOLZ/YVONNE FRITZ (Hgg.), Genaumessen = Herrschaft verorten. Das Reißgemach von Kurfürst August, ein Zentrum der Geodäsie undKartographie, Dresden 2010, mit Abb. der Instrumente. Bei der Tagung ‚Kurfürstliche Koordinaten‘am 21.–22. Januar 2011 im Residenzschloss Dresden demonstrierte Karsten Gaulke, dass das angeb-lich von Wilhelm Dilich eingesetzte Triangular entgegen bisherigen Vermutungen keine genauen Ver-messungsergebnisse erzielte; vgl. LENA THIEL, Bericht zur Tagung ‚Kurfürstliche Koordinaten‘, in:H-Soz-u-Kult vom 7. Mai 2011.

44 Vgl. MEURER, Trevirensis Episcopatus (wie Anm. 3), S. 293-298, hier S. 296.

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zunehmend spezialisierten Instrumente führten letztlich zu geometrischen Verfah-renstechniken, die für jede Art von Vermessungsarbeiten in Berg- und Wasserbau, imgesamten Militärbereich, in der Garten- und Befestigungsarchitektur sowie in derKartographie von Nutzen waren.

Eine präzise Vermessung bedeutete nicht zuletzt, strategisch wichtige Herr -schafts gebiete und wirtschaftlich einträgliche Ämter in Besitz zu nehmen. HolmGraessner hat die Transformationen im Zuge der Geometrisierung beim Kartierenstaatlicher Territorien als einen sozialen Prozess beschrieben, bei dem das tradi tio -nell juridische Wissen durch nichtjuridisch empirische Kenntnisse ergänzt wurde.45

Die Vermessbarkeit der Welt beinhaltete die Bemühungen um Exaktheit der Dar -stellung, aber auch die pragmatische Ausrichtung auf die Leserschaft und dieVerwendungsmodi der Kartenwerke, deren territoriale Aussagen immer auch alssoziale Handlungen zu begreifen sind, bei denen die Bedeutung des Gebiets ver -handelbar bleibt.46 Die Evidenz geometrischer Linien machte es möglich, räumlicheZusammenhänge aus der Ferne zu verstehen und für das Regieren einzusetzen.Zusätzliche Kommentare und Textinserte, Wappen und Zuschreibungen erläutertenden beherrschbaren Raum. Ihre Aufgabe war es, die Messergebnisse zu kon textua -lisieren. Sie waren Ausdruck der Macht, der Verfügungsgewalt über die Festungenebenso wie der Herrschaft über das Land. Sie propagierten die Inbesitznahme,legitimierten den Besitz und bestätigten die Kontrolle über die Territorien.47

3. Geograph und Historiker – Strategien zur Herrschaftslegitimation

Wenn die von den Landgrafen in Auftrag gegebenen Kartierungen ihren Zweck erreichen sollten, dann mussten Strategien entwickelt werden, um die Herrschafts-ansprüche sichtbar zu machen. Kartographen wie Johann Moers und Arnold Mercatorversuchten, die Benutzer mit wachsender Genauigkeit und Präzision zu überzeugen,und nicht zuletzt deshalb überforderte das große Projekt der Landeserfassung ihre

45 Vgl. HOLM GRAESSNER, Punkt für Punkt. Zur Kartographie des staatlichen Territoriums vor und mitder Geometrisierung, in: Jürg Glauser/Christian Kiening (Hgg.), Text – Bild – Karte. Kartographiender Vormoderne (Rombach Wissenschaften. Litterae 105), Freiburg im Breisgau 2007, S. 293-316.

46 Vgl. MARTINA STERCKEN, Inszenierung bürgerlichen Selbstverständnisses und städtischer Herrschaft.Jos Murers Darstellung der Stadt Zürich aus dem Jahre 1576, in: Bernd Roeck (Hg.), Stadtbilder derNeuzeit, Sigmaringen 2006, S. 105-122, hier S. 110; MARIA SNYDER, Mathematische und militärischePerspektiven im Süddeutschland des 16. Jahrhunderts: Schedel, Münster, Dürer und Specklin, in:Glauser/Kiening (Hgg.), Text – Bild – Karte (wie Anm. 45), S. 275-292.

47 Vgl. CHRISTINE M. PETTO, Semblance of Sovereignity: Cartographic Possession in Map Cartouchesand Atlas Frontispieces of Early Modern Europe, in: Gary Backhaus/John Murungi (Hgg.), SymbolicLandscapes, Berlin 2009, S. 227-250, hier S. 233-246 mit Beispielen.

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Kräfte. Dilich, nicht nur ‚Abreißer‘, sondern auch Historiograph, versuchte die Expansionsbestrebungen vielfältiger zu begründen. Er kultivierte das Spiel mit derReziprozität von textueller Beschreibung und bildlicher Darstellung, von modernerMesstechnik und altehrwürdiger Geschichte. In seine Landtafeln inserierte er Texteund Bildzitate, die Chroniken ergänzte er mit Veduten und kartographischen Skizzen.Dabei bekräftigte der Urkundenbeweis (etwa in der Chronik für Bremen) historio-graphische Aussagen, während die Darstellung von Messlineal und Zirkel in denKarten eine technische Exaktheit versinnbildlichte. Der praktizierte Transfer zwischenden Medien und Disziplinen zielte darauf ab, im Überschreiten der Gattungs grenzendie Argumentation zu schärfen.

Schon Dilichs ‚Hessische Chronica‘, die nur ein Jahr nach dem Tod LandgrafLudwigs IV. von Hessen-Marburg erschien, war eine politische Kampfschrift miteinem territorialpolitischen Programm:48 Sie beschreibt eine Ausdehnung des Lan-des, die zu Auseinandersetzungen mit den stillschweigend inkorporierten Mächten –also mit der Kurpfalz und den selbständigen Wetterauer Grafschaften wie Hanau,Isenburg, Solms und Nassau – führen musste.49 Der Rückgriff auf Germanen undChatten diente dazu, die Einheit eines vergrößerten hessischen Territoriums zwi-schen Rhein, Neckar, Thüringer Wald und Weser geschichtlich zu begründen.

Eingefügte Karten illustrierten die dynamischen Entwicklungsprozesse der his-torischen Aneignung: Eine erste graphische Darstellung zeigt die Siedlungsgebieteder germanischen Stämme nördlich der Donau.50 Der Text beschreibt ein Land derChatten in der Mitte Germaniens, das sich weit über das zeitgenössische Hessen biszum Teutoburger Wald, zur Saale und über den Neckar hinaus erstreckte. Eine Über-blickskarte (Abb. 4) verdeutlichte die hessischen Ansprüche auf ein Territorium,dessen Fruchtbarkeit und Abundanz der zugehörige Chroniktext mit dem biblischenPalästina vergleicht.51 Zwei Regionalkarten zu Ober- und Niederhessen52 (Abb. 5 u.Abb. 6) konkretisierten ferner die weitreichenden Ambitionen des Landgrafen unddessen Idealvorstellung von einem unter seiner Vorherrschaft vereinten Hessen, des-sen Grenzen sich einer angeblich naturgegebenen, durch Berge und Flüsse vorge-zeichneten landschaftlichen Identität anpassten.

48 Vgl. Wilhelm Dilich, Hessische Chronica (wie Anm. 6).49 Vgl. GERHARD MENK, Die Chronistik als politisches Kampfinstrument. Wilhelm Dilich und Mar-

quard Freher, in: Ders. (Hg.), Hessische Chroniken zur Landes- und Stadtgeschichte, Marburg an derLahn 2003, S. 147-184, bes. S. 168-179; MANFRED RUDERSDORF, Ludwig IV. Landgraf von Hessen-Marburg, 1537–1604. Landesteilung und Luthertum in Hessen, Mainz 1991 zur Vorgeschichte.

50 Vgl. Wilhelm Dilich, Hessische Chronica (wie Anm. 6), S. 11 f. u. Karte nach S. 12; HORST NIEDER,Die „Hessische Chronica” von Wilhelm Dilich, in: Mitteilungen des Vereins für hessische Geschichteund Landeskunde 47 (2006), S. 5-8, hier S. 7.

51 Vgl. Wilhelm Dilich, Hessische Chronica (wie Anm. 6), S. 15 f. und Karte nach S. 16.52 Vgl. ebd., Karte nach S. 32 und S. 112.

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Abb. 4: Überblickskarte zu Ober- und Niederhessen [Quelle: Wilhelm Dilich, Hessische Chronica, 2 Teile, Kassel 1605, ND hrsg. von Wilhelm Niemeyer, 1961, nach S. 16].

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Abb. 5: Karte zum oberhessischen Territorium unter den Landgrafen Moritz und Ludwig[Quelle: Wilhelm Dilich, Hessische Chronica, 2 Teile, Kassel 1605, ND hrsg. von Wilhelm Niemeyer,1961, nach S. 32].

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Abb. 6: Karte zum niederhessischen Territorium unter Landgraf Moritz [Quelle: Wilhelm Dilich, Hessische Chronica, 2 Teile, Kassel 1605, ND hrsg. von Wilhelm Niemeyer, 1961, nach S. 112].

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53 Vgl. ebd. (wie Anm. 6), Karten nach S. 36, S. 40, S. 52 und S. 56; STENGEL, Wilhelm Dilichs Land-tafeln 1959 (wie Anm. 1), S. 162-164.

54 Vgl. Wilhelm Dilich, Hessische Chronica (wie Anm. 6), Karte nach S. 74.55 Vgl. ebd., Karten nach S. 52.56 Vgl. ebd., Stadtplan mit Umland nach S. 60.57 Wilhelm Dilich, Hessische Chronica (wie Anm. 6), Karte nach S. 112.58 Zu Kartographie und Chronistik vgl. u. a. MARTINA STERCKEN, Kartographische Repräsentationen

von Herrschaft. Jos Murers Karte des Zürcher Gebiets von 1566, in: Ferdinand Opll (Hg.), Bild undWahrnehmung der Stadt, Linz 2004, S. 219-240; DIES., Kartographie und Chronistik. Jos MurersKarte des Zürcher Herrschaftsgebiets von 1566, in: Susanne Rau/Birgit Studt (Hgg.), Geschichteschreiben. Ein Quellen- und Studienhandbuch zur Historiographie (ca. 1350–1750), Berlin 2010, S. 475-487. Zum Folgenden vgl. BAUMGÄRTNER, Wilhelm Dilich (wie Anm. 1), S. 24-28.

59 Zur Anwendung des Begriffs der Inszenierung auf politische Räume vgl. ACHIM LANDWEHR, Das Terri - torium inszenieren. Der politische Raum im frühneuzeitlichen Venedig, in: Andrea von Hülsen-Esch(Hg.), Inszenierung und Ritual in Mittelalter und Renaissance, Düsseldorf 2005, S. 219-238. Zu Identitätund Kartographie vgl. MARTINA STERCKEN, Regionale Identität im spätmittelalterlichen Europa. Karto -graphische Zeugnisse, in: Ingrid Baumgärtner/Hartmut Kugler (Hgg.), Europa im Weltbild des Mittel -alters. Kartographische Konzepte (Orbis mediaevalis. Vorstellungswelten des Mittelalters 10), Berlin2008, S. 277-300.

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Vertieft wurde dieser Anspruch auf regionale Dominanz noch durch sieben Spezial-tafeln, die die umstrittenen Randgebiete genauer in den Blick nahmen: die beidenGrafschaften Nieder- und Oberkatzenelnbogen ganz im Westen am Rhein,53 dieGrafschaft Nassau,54 Rheingau und Wetterau in Konkurrenz zum sog. WetterauerGrafenverein,55 die Reichsstadt Frankfurt56 sowie die nordhessischen Gebiete derAbtei Hersfeld,57 von deren territorialen Rückschlägen die Landgrafschaft profitierte.

Für die Chronikgraphiken lagen noch keine eigenständigen Strecken- und Win-kelmessungen vor: Die Germanen- und die Niederhessenkarte gehen im Kern aufdie Entwürfe von Arnold und Johann Mercator zurück, die kleinen Regionalkartenvermutlich auf kartographische Informationen aus den jeweiligen Landesteilen. DerLandgraf forderte noch exaktere Wiedergaben, um die Zersplitterung zu überwindenund die Voraussetzungen für ein homogenes Staatsgebilde mit zentraler Verwaltungzu schaffen. In den ‚Landtafeln hessischer Ämter‘ sollten die räumlichen Gegeben-heiten präzisiert, die topographische Genauigkeit erhöht und neue Darstellungskon-ventionen etabliert werden, um die politischen Konstellationen zu rechtfertigen. Dilichlöste diese Aufgabe mittels einer historischen Beweisführung. So zeigen seine Kartennicht nur die mächtigen Burgen und leistungsfähigen Landschaften, sondern auch dashohe Alter und die historische Größe des Landes.58 Historiographie vervollkommnetdie Topographie, historische Erinnerung formt die real vermessenen Landschaften.

Das neue Vorgehen richtete sich darauf, Orte von symbolischem Erinnerungs-wert, Denkmäler und historische Inschriften medial zu inszenieren.59 Vergrößerun-gen in Form von Veduten und großmaßstäblichen Karteneinschüben halfen, bedeu-tungsvolle Orte und ihre identitätsstiftende Funktion hervorzuheben. Symbolischen

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Abb. 7: Wilhelm Dilich, Stadt und Pfand-schaft Rhens mit Detail [Quelle: Kassel,UB-LMB, 2o Ms. Hass. 679, Bl. 46].

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Erinnerungswert besaß etwa der Königsstuhl bei Rhens (Abb. 7).60 Flussabwärts vonder Stadt in einem Nussbaumgarten am Rheinufer eingezeichnet und in der unterenrechten Ecke noch einmal vergrößert, erinnert er an das Vorrecht spätmittelalterli-cher Kurfürsten zur Königswahl. Die Zugehörigkeit des Throns zu Hessen-Kasselverlieh der landgräflichen Herrschaft einen überregionalen Glanz. Deshalb wird dassteinerne achteckige Monument, das zu Beginn des 17. Jahrhunderts schon halb ver-fallen war, in spätromanischer Pracht wiedergegeben. Es war ein Zeichen für die Ge-genwart einer einzigartigen Vergangenheit.

Auch historische Inschriften und Grabmäler bezeugten diese politische Kraft derTradition (Abb. 8). In der Burg Rheinfels etwa hatte Dilich eine Tafel des ausgehen-den 15. Jahrhunderts vorgefunden, deren lateinischer Text die Geschichte und historischen Leistungen der ehemaligen Besitzer pries. In der Folge integrierte er diewohlgesetzten Worte in die Legende seiner Südostansicht der Burg.61 Das bewun-derte Vorleben der Burg unter den fünf Grafen von Katzenelnbogen war dazu bestimmt, eine noch größere Zukunft unter hessischer Herrschaft einzuleiten.

Noch deutlicher wird die Funktion solcher Inserte bei Dilichs Kartierung derHerrschaft Eppstein:62 Die Generalkarte präsentiert drei ausgewählte Grabplattender Grafen von Eppstein-Münzenberg (Abb. 9). Die exakt wiedergegebenen Flach-reliefs, die heute noch in der evangelischen Pfarrkirche von Eppstein zu sehen sind,sind bewusst ausgewählt und sorgfältig angeordnet. Das Wandgrabmal des jung ver-storbenen Engelbrecht von Eppstein-Münzenberg († 1494), links oben, ist besondersaufwändig, denn mit ihm starb das Grafengeschlecht aus, bald nachdem sein Vater1492 das Kernland an Hessen veräußert hatte. Besser als mit dieser Grabplatte desVorgängers konnte der Herrschaftsübergang nicht ins Bild gesetzt werden.

In der rechten unteren Ecke ruhen gleichsam die früheren Generationen, der Kle-riker Adolf von Eppstein-Münzenberg († 1434), Bischof von Speyer und Großonkel Engelbrechts, und dessen Vater Gottfried VII. († 1437), ein Ritter mit Harnisch, derdie Kirche einst gestiftet hatte. Die beigegebene Inschrift erläutert den Grund derVeranschaulichung, nämlich den Verkauf des in der Karte dargestellten Territoriumsan Hessen. Wenn dabei Gottfried VI. mit Gottfried VII. verwechselt wird und erstGottfried IX. zum Verkauf genötigt war, hat dies keine Bedeutung. Es geht nicht umdie Exaktheit historischer Details, sondern um die Präsentation einer längst unter-

60 Vgl. GIESEN, Stadt und Pfandschaft Rhens (wie Anm. 26), S. 116 f., Nr. 18 zu Bl. 46; EGON DILLMANN,Rhens mit dem Königstuhl, Köln 1975.

61 Vgl. PANSE, Schloss Rheinfels (wie Anm. 11), S. 88 f., Nr. 4 zu Bl. 23; EBERHARD J. NIKITSCH, Die Inschriften des Rhein-Hunsrück-Kreises, Bd. 1: Boppard, Oberwesel, St. Goar, Wiesbaden 2004, DI 60/1, Nr. 114, S. 121.

62 Vgl. RUCH, Herrschaft Eppstein (wie Anm. 31), S. 150 f., Nr. 35 zu Bl. 47; NIEDER, Wilhelm Dilich(wie Anm. 5), S. 62.

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Abb. 8: Wilhelm Dilich, Schloss Rhein-fels, Südostansicht mit Detail Inschrift[Quelle: Kassel, UB-LMB, 2o Ms. Hass.679, Bl. 23].

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Abb. 9: Wilhelm Dilich, Herrschaft Eppstein mit Detail Grabplatten [Quelle: Kassel, UB-LMB, 2o Ms. Hass. 679, Bl. 47].

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gegangenen Dynastie, deren genealogische Ahnenreihe die hessischen Rechts-nachfolger legitimiert. Dabei konnte Dilich die Grabmäler bestimmen und karto-graphisch verorten: Kirchturm und Kreis markieren den Standort in der Kirche der Ortschaft Epstein; Texterläuterungen spezifizieren den Zusammenhang mit der Landeserfassung.

In souveräner Beherrschung der Spielräume des Kartierens verortet Dilich also Geschichte zur Unterstützung landgräflicher Politik. Er inseriert vergrößerte Monu-mente (wie diese Grabplatten), Veduten bedeutungsvoller Orte (wie den Königsstuhloder die Burg Rheinfels) und großmaßstäblich dargestellte Landesteile. Die histo-risch-graphische Konkretisierung reanimiert, im übertragenen Sinne, die kulturelleVergangenheit des Landes; sie impliziert bzw. konstruiert territoriale Identität underhöht dadurch die Nachfolge(r) in der Herrschaft. Die Karten zum Amt Rheinfels(Abb. 10) und zum Gericht Liederbach veranschaulichen die historische Dimensionin vorbildlicher Weise:63 Die keltische Flammensäule aus dem (wie wir heute wissen) 5. Jahrhundert v. Chr., heute im Rheinischen Landesmuseum in Bonn, wardamals gerade erst wiederentdeckt. Sie galt als Relikt römischer oder chattischerVergangenheit. Ein Pfeil, eine Miniatursäule und der Schriftzug Obeliscus neben derKirche von Pfalzfeld deuten auf ihren ‚realen‘ Stand- bzw. Fundort.

In der Tafel zum Gericht Liederbach64 (Abb. 2) erkennen wir links oben einen lateinischen Text und darunter einen antiken Steinblock, eine sog. Jupitersäule.Beide sind in Schwarzweiß von dem ansonsten farbig gestalteten Blatt abgesetzt, sodass die unterschiedlichen Zeitebenen klar voneinander getrennt werden. In denMauern der Kirche von Nieder- oder Unterliederbach war der Säulensockel von ehr-würdigem Alter, dem Begleittext zufolge in verstümmeltem Zustand, gefunden wor-den.65 In der Vorhalle ausgestellt, wurde er damals mit dem hier zitierten Apeographversehen. Die mehrfache zeitliche Schichtung ist kartographisch hervorragend inszeniert: der römische Stein aus dem 2. oder 3. Jahrhundert n. Chr. und die nachseiner Entdeckung entworfene Inschrift des Ausstellungsobjekts in der Kirche.Beide sind vergrößert und farblich differenziert.

63 Vgl. BETTINA SCHÖLLER, Amt Rheinfels und Vogtei Pfalzfeld (wie Anm. 15), S. 84 f., Nr. 2 zu Bl. 21;RALPH A. RUCH, Gericht Liederbach, in: ebd., S. 156 f., Nr. 38 zu Bl. 13; MARTIN OTT, Die Ent-deckung des Altertums. Der Umgang mit der römischen Vergangenheit Süddeutschlands im 16. Jahr-hundert, Kallmünz/Oberpfalz 2002, S. 247-269.

64 Vgl. RUCH, Gericht Liederbach (wie Anm. 63), S. 156 f.; Museum Wiesbaden, Sammlung Nas-sauischer Altertümer, Inv. Nr. 376; GERHARD BAUCHHENSS, Die Iupitersäulen in der römischen Provinz Germania Superior, Köln/Bonn 1981, Nr. 176; TANJA MICHALSKY, Land und Landschaft inden Tafeln Wilhelm Dilichs, in: Baumgärtner/Stercken/Halle (Hgg.), Wilhelm Dilich (wie Anm. 1),S. 53-72.

65 Zitat bei RUCH, Gericht Liederbach (wie Anm. 63), S. 157; BAUCHHENSS, Iupitersäulen (wie Anm. 64), S. 132.

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Abb. 10: Wilhelm Dilich, Amt Rheinfels und Vogtei Pfalzfeld mit Details Flammensäule und deren Verortung [Quelle: Kassel, UB-LMB, 2o Ms. Hass. 679, Bl. 21].

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Abb. 11: Wilhelm Dilich, GerichtWallenstein 1611 mit Detail Gedicht[Quelle: Kassel, UB-LMB, 2o Ms.Hass. 679, Bl. 10].

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In der ‚Hessischen Chronica‘ hatte Dilich den Anspruch der Landgrafen auf außer-halb der Landgrafschaft liegende Gebiete damit legitimiert, dass die Hessen in ethni-scher Kontinuität den germanischen Chatten nachfolgen würden.66 Gerade weildiese Behauptungen nicht unwidersprochen blieben,67 ergänzten die Landtafeln diehistorische Argumentation. Für die Tafel zum Gericht Wallenstein (Abb. 11) mussWilhelm Dilich den in landgräflichen Diensten stehenden Kasseler BibliothekarJacob Thysius (1555–1628), später Professor für Geschichte und Poesie in Marburg,sogar eigens um eine zweckdienliche Panegyrik gebeten haben.68 Denn die Verse,ein Lobpreis auf das Wallensteiner Geschlecht, führen deren Genealogie bis auf dieLandvergabe unter König Pippin, dem Vater Karls des Großen, zurück. In der ‚Hes-sischen Chronica‘ hatte Dilich die diesbezügliche Rolle des Pfalzvogts Pippin bereits hervorgehoben. Im Kampf gegen die westfälischen Sachsen habe er sich 750hervorgetan, die Hessen zu unterstützen und den Sachsenkönig Edelhardt zu er-schlagen.69 Diese Tat habe, so Dilich, zur Gründung Hessens und damit, so darf manfolgern, zur Erhöhung des Landgrafenhauses beigetragen.

Zusammenfassung

Wilhelm Dilichs ‚Hessische Chronica‘ und die ‚Landtafeln hessischer Ämter‘ ent-standen in einem politischen Kontext, der in der Landgrafschaft Hessen-Kassel desausgehenden 16. und beginnenden 17. Jahrhunderts von einer Arrondierungspolitikund dem Streben nach regionaler Vorherrschaft geprägt war. Gerade die Neuerwer-bungen von Burgen und Landschaften bewogen offenbar Landgraf Wilhelm IV. undspäter seinen Sohn Moritz den Gelehrten dazu, vor allem ihre Territorien in Grenz-lage vermessen und kartieren zu lassen. Die Erfassung war mit dem Bemühen verknüpft, sie der Verwaltung der Landgrafschaft zu unterwerfen und die lokalenVoraussetzungen an Infrastruktur für zukünftige wirtschaftliche und militärischeMaßnahmen zu erkunden. Dabei trugen Erbschaften, Heimfall von Lehen, ander-weitige Erfolge und glückliche Fügungen zur deutlichen Erweiterung der landgräf-

66 Vgl. Wilhelm Dilich, Hessische Chronica (wie Anm. 6), Teil II, S. 4-25 zu den Gemeinsamkeiten vonChatten und Hessen, S. 26-56 zur Geschichte der Chatten bis zu ihrem Untergang.

67 Vgl. SCHMIDT, Burg Reichenberg (wie Anm. 13), S. 102-113, Nr. 11-16 zu Bl. 27-32, hier S. 106 f.,Nr. 13 zu Bl. 29; MENK, Chronistik (wie Anm. 49), S. 170 f.; THOMAS FUCHS, Traditionsstiftung undErinnerungspolitik. Geschichtsschreibung in Hessen in der frühen Neuzeit, Kassel 2002, S. 159-165.

68 Vgl. SCHÖLLER, Gericht Wallenstein 1611 (wie Anm. 37), S. 162 f., Nr. 41 zu Bl. 10; GEORG LANDAU,Die hessischen Ritterburgen und ihre Besitzer, 4 Bde., Cassel 1832–1839, ND 2000, Bd. 2, S. 373-428 zu den Anfängen Hessens, hier S. 380; STENGEL, Wilhelm Dilichs Landtafeln 1927 (wie Anm. 1),S. 21; FRITZ FENNER, Wallenstein in Hessen. Zur Geschichte von Burg und Dorf, Homberg 1973, S. 48.

69 Vgl. Wilhelm Dilich, Hessische Chronica (wie Anm. 6), Teil II, S. 89 und 97 f.

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lichen Herrschaft bei. Neuerwerbungen dieser Zeit waren etwa die Herrschaft Plessebei Göttingen im Jahr 1571, die rheinischen Burgen und Besitzungen der GrafschaftKatzenelnbogen infolge der Erbteilung nach dem Tod Philipps II. des Jüngeren vonHessen-Rheinfels 1583, die Amtsvogtei Auburg 1585, Teile des Amts Jesberg 1586,die Herrschaft Eppstein und das Gericht Liederbach im Einflussbereich der Wetteraunach dem erbenlosen Tod Ludwigs IV. von Hessen-Marburg im Jahr 1604 undschließlich die Verwaltung der Abtei Hersfeld 1606. Die Mess- und Kartierungs-arbeiten zielten darauf ab, die teilweise weit entfernten Ländereien und Exklaven zuerforschen, die Grenzen zu fremden Gebieten abzustecken und sie, zumindest aufdem Papier, in Besitz zu nehmen.

Die Landeserfassung, die zu Zeiten des Marburgers Johannes Dryander und desKorbachers Joist Moers noch keine Systematik erkennen ließ, kam kurzzeitig inGang, als 1584 Arnold Mercator mit der topographischen Aufnahme der strategischwichtigen Neuerwerbungen am Rhein betraut wurde. Allerdings verhinderte seinfrüher Tod einen intensiveren Zugriff. Erst Wilhelm Dilichs ‚Hessische Chronica‘,die auf den Erbfall von 1604 reagierte, und seine von 1607 an erstellten ‚Landtafelnhessischer Ämter‘ lassen erkennen, wie räumlich-geographische Vorstellungsbildereine zunehmende Bedeutung für die Durchsetzung von Macht erlangten. Denn Wilhelm Dilich versuchte in landgräflichem Auftrag, mittels verschiedener Wissen-schaften wie Historiographie, Geodäsie und Kartierung die Hoheitsgebiete zu behaupteten. Für ihn und seine Zeitgenossen bedeuteten Landesvermessung undKartographie nicht nur neue Formen der Wissensproduktion, sondern auch ein ver-ändertes Raumverständnis, bei dem der Raum viel stärker als Fläche begriffen undvon durchgehenden Grenzlinien umfasst wurde. Die zunehmende Normierung vonGeodäsie und Kartographie hatte neue Voraussetzungen für die herrschaftliche Erfassung und Durchdringung des beanspruchten Raums geschaffen.

Die vorliegenden Beispiele zeigen die Möglichkeiten, historische Argumente fürHerrschaftsambitionen zu nutzen und speziell in umstrittenen Grenzgebieten einzu-setzen. In Dilichs Verständnis war Kartographie mehr als nur Landesvermessung. Erergänzte die Geschichtsschreibung mit Landschaftsdarstellungen und topographi-schen Zeichnungen; er passte Geschichtsmodelle in die Landtafeln ein. Auch wennsolche Strategien lokal ausgerichtet waren, führten sie im Ergebnis zu einer landes-geschichtlichen Deutung. So entwickelten die bildlichen Geschichtserzählungen derLandtafeln vielfach Identitätsangebote aus der ‚Hessischen Chronica‘ weiter und legitimierten dadurch politisches Handeln: Sichtbar in der Landschaft verortete Inschriften, Grabmäler und Monumente bezeugten Herrschaftskontinuität über unterschiedliche Zeitstufen hinweg. Mit ihren politischen Ambitionen war die Land-grafschaft nicht allein im Geflecht der deutschen und europäischen Mächte, aber dieKartierungen Dilichs veranschaulichten höchst individuell, wie eine wissenschaft-lich vermessene Herrschaft auch historisch zu legitimieren war.

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