20 S CHLESISCHE E RINNERUNGEN S CHLESISCHE E RINNERUNGEN 21 K ARL -H ERMANN G EPPERT Erinnerungen Ich heiße Karl Geppert und bin am 31. August 1931 in Pampitz bei Brieg geboren. Große Freude gab es bei den Eltern und Verwandten; der Erstgeborene der Großfamilie Geppert war da! Die Großtan- te meines Vaters aus Giersberg wohnte im Auszugshaus des Bauernhofes meines Großva- ters in Pampitz und auch mei- ne Eltern hatten hier eine Woh- nung bekommen. Später hatten meine Eltern für mich einen Platz im 100 Meter von der Wohnung entfernten Kindergarten. Nach Erzählungen meiner Mutter war ich dort zusammen mit meiner Cousine Rose-Marie Kopp, ebenfalls Jahrgang 1931, gut untergebracht und die Erzie- herin sei sehr zufrieden mit mir gewesen. Ich selbst kann mich gut daran erinnern, dass ich gerne, oft und lange bei der verwandten Großfamilie Kopp spielen durfte. Meine Mutter musste zusammen mit meinem Vater viel auf dem Bauernhof meiner Großeltern mitarbeiten. Hier war es stets ein großes Erlebnis für mich, wenn zusammen Mittag gegessen und anschließend Kaffee getrunken wurde. Alles war von Hand und mit viel Liebe zubereitet. Nach der Fütterung der vielen Rinder und vier Pferde – auch ein Schlachtschwein war immer dabei wurde zu Abend gegessen. Da meine Eltern und Großeltern sehr gläubige Christen waren, wurde jeden Abend nach dem Essen eine Andacht gehalten. Die Lesungen und der Tagesspruch wur- den vom Großvater vorgetragen und danach manchmal über das Gehörte auch diskutiert. Die Familie Kopp – Tante Lehnchen und Onkel Fritz, die Eltern meiner Nichten und Neffen – hatte auch einen großen Bauernhof in Pampitz. Hier durfte ich sehr oft mit den Kindern spielen und fühlte mich auch hier wie zu Hause. Stressig war der fünfminütige Heimweg in dunkler Nacht. Es gab noch keine Straßenbeleuchtung und ich hatte oft große Angst. Ein freudiges Ereignis war, als im November 1935 mei- ne Schwester Ingrid geboren wurde. Meine Mutter stammte aus Ohlau, einer kleinen Stadt mit eigenem Landkreis, an der Oder gelegen. Oft sind wir mit Pferd und Kutsche dahin gefahren. 1937 kauften meine Eltern mit Hilfe beider Großeltern einen kleineren Teil des Dominiums (Gutshofs) in Dammelwitz, Kreis Ohlau. Die Felder und geeignete Gebäude waren vorhanden. Die Tiere – Pfer- de, Ochsen, Kühe, Schwein und Hühner – schenkten die Großel- tern. Auch wir Kinder hatten eine sehr innige Beziehung zu den Großeltern. Lange Zeit durften wir mit ihnen leben und hatten zusammen mit ihnen viel Freude. 1937, mit 6 Jahren, wurde ich in Kleinpeiskerau eingeschult – damals immer nach den Osterferien. Wir mussten 2 Kilome- ter zur Schule laufen. Im Winter bei strengem Frost und sehr viel Schnee war das sehr anstrengend. Sehr oft wurden die Kin-
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KARL-HERMANN GEPPERT Erinnerungen - vivat.de · Da meine Eltern und Großeltern sehr gläubige Christen waren, wurde jeden Abend nach dem Essen eine Andacht gehalten. Die Lesungen
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20 S C H L E S I S C H E E R I N N E R U N G E N S C H L E S I S C H E E R I N N E R U N G E N 21
KARL-HERMANN GEPPERT
Erinnerungen
Ich heiße Karl Geppert
und bin am 31. August 1931
in Pampitz bei Brieg geboren.
Große Freude gab es bei den
Eltern und Verwandten; der
Erstgeborene der Großfamilie
Geppert war da! Die Großtan-
te meines Vaters aus Giersberg
wohnte im Auszugshaus des
Bauernhofes meines Großva-
ters in Pampitz und auch mei-
ne Eltern hatten hier eine Woh-
nung bekommen. Später hatten
meine Eltern für mich einen
Platz im 100 Meter von der
Wohnung entfernten Kindergarten. Nach Erzählungen meiner
Mutter war ich dort zusammen mit meiner Cousine Rose-Marie
Kopp, ebenfalls Jahrgang 1931, gut untergebracht und die Erzie-
herin sei sehr zufrieden mit mir gewesen.
Ich selbst kann mich gut daran erinnern, dass ich gerne, oft
und lange bei der verwandten Großfamilie Kopp spielen durfte.
Meine Mutter musste zusammen mit meinem Vater viel auf dem
Bauernhof meiner Großeltern mitarbeiten. Hier war es stets ein
großes Erlebnis für mich, wenn zusammen Mittag gegessen und
anschließend Kaffee getrunken wurde. Alles war von Hand und
mit viel Liebe zubereitet. Nach der Fütterung der vielen Rinder
und vier Pferde – auch ein Schlachtschwein war immer dabei
wurde zu Abend gegessen. Da meine Eltern und Großeltern sehr
gläubige Christen waren, wurde jeden Abend nach dem Essen
eine Andacht gehalten. Die Lesungen und der Tagesspruch wur-
den vom Großvater vorgetragen und danach manchmal über das
Gehörte auch diskutiert.
Die Familie Kopp – Tante Lehnchen und Onkel Fritz, die
Eltern meiner Nichten und Neffen – hatte auch einen großen
Bauernhof in Pampitz. Hier durfte ich sehr oft mit den Kindern
spielen und fühlte mich auch hier wie zu Hause. Stressig war
der fünfminütige Heimweg in dunkler Nacht. Es gab noch keine
Straßenbeleuchtung und ich hatte oft große Angst.
Ein freudiges Ereignis war, als im November 1935 mei-
ne Schwester Ingrid geboren wurde. Meine Mutter stammte aus
Ohlau, einer kleinen Stadt mit eigenem Landkreis, an der Oder
gelegen. Oft sind wir mit Pferd und Kutsche dahin gefahren. 1937
kauften meine Eltern mit Hilfe beider Großeltern einen kleineren
Teil des Dominiums (Gutshofs) in Dammelwitz, Kreis Ohlau. Die
Felder und geeignete Gebäude waren vorhanden. Die Tiere – Pfer-
de, Ochsen, Kühe, Schwein und Hühner – schenkten die Großel-
tern. Auch wir Kinder hatten eine sehr innige Beziehung zu den
Großeltern. Lange Zeit durften wir mit ihnen leben und hatten
zusammen mit ihnen viel Freude.
1937, mit 6 Jahren, wurde ich in Kleinpeiskerau eingeschult
– damals immer nach den Osterferien. Wir mussten 2 Kilome-
ter zur Schule laufen. Im Winter bei strengem Frost und sehr
viel Schnee war das sehr anstrengend. Sehr oft wurden die Kin-
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der – auch ich – mit dem Pferdeschlitten zur Schule gebracht.
Manchmal war aber auch da kein Durchkommen mehr, wenn die
Schneewehen zu hoch waren. Die Zugpferde sind eingesunken,
da mussten wir alle mit der Schippe freischaufeln – von wegen
Schneefräse! Wie oft spannten der Vater oder Bruno, unser pol-
nischer Fremdarbeiter, bei sehr festgefrorenem Schnee ein Pferd
vor unseren Schlitten, dazu wurden noch drei oder vier Schlitten
hinten angebunden, und los ging‘s im schnellen Pferdetrab. Gro-
ße Freude entstand, wenn die hinteren Schlitten dann zu schlin-
gern begannen. In sehr guter Erinnerung sind mir auch noch
die Schneeballschlachten in der Pause und nach Schulschluss:
Wir Kinder aus Dammelwitz gegen die aus Kleinpeiskerau. In
die Volksschule ging ich gern. Die erste bis vierte Klasse wurde
in einem Klassenzimmer zur gleichen Zeit von einer Lehrkraft
unterrichtet. Die Lehrer waren streng; Unfolgsamkeit wurde mit
der Rute bestraft – auf Handteller und Hintern. Oft musste man
aber auch lange Zeit in einer Ecke des Klassenzimmers stehen.
Strafarbeiten gab es dagegen nicht so oft.
In dieser Zeit, wenn ich mich so zurückerinnere, waren wir
Kinder mit unseren Eltern, den drei Fremdarbeitern und den
Nachbarn eine große, sich gegenseitig anerkennende große Ge-
meinschaft. Meine Schwester Ingrid und ich spielten im großen
Gutshof mit den acht Kindern der Fronarbeiter-Familie Liebich
und den Kindern der Gutsbesitzerfamilie Stein viele lustige und
aufregende Kinderspiele. Im Park des Gutshofs spielten wir Ver-
stecken und Wettklettern auf den großen Tannen, Buchen und
vielen anderen Bäumen. Noch einmal zurück zum Winter: Auf
dem Gutshofweiher war das Wasser zirka drei Monate zu Eis ge-
froren. Bei herrlichem Winterwetter spielten wir hier mit selbst-
gemachten Schlägern und einer gefrorenen Eiskugel oder einem
kleinen Ziegelstein gerne Eishockey.
Ich war dreizehn Jahre alt und ging in Ohlau in einer Mittel-
schule zur Schule. An den Schultagen lebte ich bei meinen Groß-
eltern mütterlicherseits in der Ufergasse 4, direkt an der großen
Ohlauer Oderbrücke. In den Wochen vor unserer Flucht wurden
täglich viele russische Kriegsgefangene über die Oderbrücke ge-
führt oder getrieben. Viele hatten nichts zu Essen und waren sehr
schwach. Außer uns Kindern durfte niemand die gefangenen Rus-
sen ansprechen oder berühren. Da sie sehr hungerten, hat meine
Großmutter uns Kinder gebeten, den Gefangenen Brot, Milch, ge-
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kochte Kartoffeln und Wasser zu geben. Heimlich ist es uns oft
gelungen, ihnen etwas zuzustecken, denn die Wachposten waren
sehr streng. Nach den vielen Gefangenen kamen bald die ersten
langen Flüchtlingstrecks: Pferde oder Ochsen mit schweren Bau-
ernwagen – breite Reifen aber ohne Bremsen – mit wichtigem Ge-
päck, Proviant, Kindern und alten Menschen drauf. Da nur alle 20
bis 30 Kilometer eine Brücke über die Oder ging, waren die Trecks
sehr lang, weit über 100 Wagen jeden Tag.
Kurze Zeit später hörten wir von Osten her Kanonendonner.
Jetzt wussten wir: Die Kriegsfront kam immer näher. Ab jetzt wur-
de vom Bürgermeisteramt empfohlen, sich auf die Flucht vorzube-
reiten und zu flüchten. Pferd, Ochs und Wagen wurden gerichtet,
das Wichtigste aufgeladen, dann ging es über die Oderbrücke 17
Kilometer Richtung Westen nach Dammelwitz zu meiner Mutter
und Schwestern. Meine Großeltern, Onkel Fritz und ich waren aus
Ohlau geflüchtet. Bei meiner Mutter wurde noch gezögert. Sie sag-
te, wir warten noch auf unseren Papa. Er war ja Frontsoldat und
da die Frontlinie immer weiter nach Deutschland kam, dachte mei-
ne Mutter, unser Vater kommt zu uns und begleitet uns Richtung
Riesengebirge. In Dammelwitz mahnte der Bürgermeister in letzter
Sekunde zum Aufbruch. Der Wagen wurde mit der Plane gerich-
tet, das Wichtigste aufgeladen, unsere zwei gesunden Pferde vor-
gespannt, ein überdachter Kutschwagen hinten dran gehängt, die
Großeltern mit ihrem Wagen dabei … und los gings.
Zu erwähnen seien noch unsere vier Fremdarbeiter: Der Pole
Bruno, eine Tschechin, eine Ukrainerin und ein Russe. Bruno
war bis zuletzt bei uns geblieben und hatte uns auch die ersten
Tage auf der Flucht begleitet, die Pferde geführt und gefüttert.
Von unserem Vater haben wir bis dahin und auch später nichts
gehört. Da es ein sehr kalter Winter war (Januar, Februar) haben
wir auf der Flucht sehr gefroren. Unsere Kleine, erst fünf Jahre
alt, wurde mit viel Decken und einem großen Pelzmantel auf dem
Kutschwagen eingepackt. Unsere Mutter, Ingrid und ich sind ne-
ben dem Wagen oder dem Treck, der aus fünf oder sechs Wägen
mit Anhang bestand, hergelaufen. Die Hufeisen der Pferde waren
mit Winterstollen versehen.
Bei der zweiten Übernachtung in Waldenburg, einer mittel-
großen Stadt nahe der Grenze zum Sudetenland (heute Tsche-
chische Republik), wurde bei Privatfamilien übernachtet. Eine
Organisation, die ab Waldenburg die Flüchtlingstrecks beglei-
tete, sorgte zuerst für Verpflegung und Unterkunft, dann für die
Versorgung der treuen Pferde mit Futter (Heu und Hafer). In ei-
ner überdachten Hofeinfahrt stellten wir unseren großen Flücht-
lingswagen. Die vier großen Wagenräder waren vier Zoll breit;
man kann sich vorstellen, wie groß und schwer ein großer Bau-
ernwagen war, und damals gab es noch keine gummibereiften
Wagenräder. Am nächsten Morgen erlebten wir eine große Ent-
täuschung: Bruno, unser Fremdarbeiter, war nicht mehr da und
auch Papas Pelzmantel und Stiefel waren weg, dazu fehlten auch
noch geräucherter Schweinespeck, Brot und mit Wurst gefüllte
Konserven. Ohne Kutscher und Pferdepfleger waren wir etwas
hilflos und meine Mutter musste nun auch diese Arbeit mit über-
nehmen. Aber natürlich half ich meiner Mutter nach Kräften bei
der Pferdepflege und beim Anspannen der Kutsche. Bald darauf
gesellte sich der Rentner Wilhelm Malitzke zu uns, dessen Frau
während der Flucht gestorben war. Er half uns von nun an.
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Unsere weitere Flucht ging ungefähr drei Wochen, jeden Tag
20 Kilometer bei Eis und viel Schnee, durch das Sudetenland,
immer von der Angst begleitet, von der russischen Armee einge-
holt zu werden. Die von Volkssturm-Soldaten begleiteten Trecks
wurden meist auf Nebenstraßen geleitet. Ab und zu wurden wir
von Tieffliegern angegriffen, dabei ist Gott sei dank wenig pas-
siert. Das Ziel der Flieger war ja, die Wehrmachtsoldaten zu tref-
fen. Von den Organisatoren wurden die Trecks verkleinert und
so ging es schneller vorwärts. Wir Dammelwitzer blieben immer
zusammen: 5 Treckwagen, jeweils 2 Pferde davor eingespannt,
so ging es über das Riesengebirge, dann flach weiter bis zum
Böhmerwald.
Hier in Tannawa, Kreis Bischofteinitz, wurden wir um den
22. Februar 1945 in Bauernhöfen bei Sudetendeutschen ein-
quartiert. Der Krieg kam immer näher aber gleich von zwei
Seiten: Von Westen – Bayern – die „Amis“ und von Osten die
Russen. Gott sei Dank waren uns die Amerikaner sehr viel nä-
her. Wir dreizehnjährigen und älteren Buben mussten mit den
alten Volkssturmmännern – die jungen Männer waren alle an
der Ost- oder Westfront im Einsatz und viele von ihnen schon
in Gefangenschaft oder gefallen – Panzersperren bauen, meis-
tens an Hohlwegen. Dafür wurden dicke Nadelholzbäume gefällt
und aufeinandergeschichtet über den Hohlweg gelegt. Das alles
machten wir mit großer Begeisterung. Schon bald wurden wir
von den Bergen des Böhmerwaldes von amerikanischer Artillerie
beschossen, denn die amerikanischen Aufklärungsflugzeuge hat-
ten unseren Panzersperrenbau weiter gemeldet. Wir haben uns
dann 100 Meter weiter im Straßengraben versteckt; es gab keine
Verletzten. Die alten Volkssturmmänner gaben uns dabei gute
Tipps. Sie waren Soldaten im Ersten Weltkrieg gewesen.
Auf der Flucht bis hierher nach Tannawa wurde für uns bes-
tens gesorgt. Es gab reichlich zu Essen, auch viel Futter für die
treuen Zugpferde und immer eine Unterkunft für unsere Pfer-
de, einen Schimmel und einen Braunen, beides Wallache; meist
waren sie in Scheunen untergebracht. Wir schliefen 20 Mal in
Turnhallen oder Schulen mit Matratzen oder Strohsäcken auf
dem Fußboden.
In den ersten Maitagen 1945 kamen die Amerikaner. Von deut-
scher Seite wurde nicht mehr geschossen und auch die Amerika-
ner hielten sich zurück. Unsere gebauten Panzersperren wurden
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mit leichten Kampffahrzeugen umfahren; große Enttäuschung
bei uns Kindern! Die Volkssturmmänner mit ihren Panzerfäus-
ten haben freiwillig ihre Waffen niedergelegt. Mit den Amerika-
nern waren auch die Tschechen gekommen und drangsalierten
die hier wohnenden Sudetendeutschen und uns Flüchtlinge. Die
Frauen mussten sich teilweise in den Wäldern verstecken, um
sich vor Vergewaltigungen in Sicherheit zu bringen. Wir wa-
ren 11 Wochen in Tannawa gewesen, als wir von den Sudeten-
deutschen gewarnt wurden, dass die Tschechen am nächsten Tag
kommen und wahrscheinlich unser Gepäck wegnehmen würden.
Obwohl wir nun, nachdem der Krieg am 9. Mai 1945 endlich zu
Ende war, eigentlich nach Schlesien zurückkehren wollten, ging
die Flucht der fünf Dammelwitzer Familien mit Pferden und Wa-
gen nun noch weiter nach Westen. Bei Nacht und Nebel geleitete
uns ein einheimischer Führer auf Schleichwegen und im Schutz
der Dunkelheit über die nahe Grenze nach Bayern. Unsere Freude
war groß, endlich in Sicherheit zu sein. Von den amerikanischen
Besatzungssoldaten wurden wir nicht behindert, im Gegenteil:
Wir waren sehr hungrig und sie gaben uns zu Essen und zu
Trinken und wir Kinder erhielten zudem noch Schokolade. In den
fünf Kriegsjahren gab es fast keine Süßigkeiten und auch keine
Bananen oder Apfelsinen. So war unsere Freude groß.
LUC IE M. UNDIL
Schulzeit
Die kleine Gruppe der Schulanfängerinnen versammelte sich
an jenem nass-kalten Apriltag am Eingang der Schule. Es schne-
ite, die weißen Flocken sind auf dem Bild noch erkennbar.
Die Klassenlehrerin, die die Schülerinnen im ersten, zwei-
ten und dritten Schuljahr mit Güte und Klugheit begleitete, war
Fräulein Else Scheunemann.
Lucie M. Undil ist in der zweiten Reihe ganz links mit ei-
nem Kreuz gekennzeichnet. Sie hat von ihrem Patenonkel einen
dunkelblauen Trenchcoat bekommen, der sie vor dem Aprilwet-
ter sicher schützt. Von ihren Großeltern bekam sie eine lederne
Schultasche geschenkt, in der sich eine Schiefer-Schultafel ebenso
befand wie ein schmaler hölzerner Griffelkaten für Schieferstif-
April 1931: Schulanfang der Mädchen-Mittelschule Gleiwitz, Oberschlesien
1. Schultag der Geburtsjahrgänge 1924/25
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te und einen weichen Schieferstift, sogenannter „Milchstift“. Am
Schulranzen hingen an Bändern ein Schwamm und ein kleiner
Lappen zum Reinigen der Tafel.
Die ersten Schreibversuche wurden noch auf der Tafel ge-
macht, ab dem zweiten Schuljahr begann das Schreiben in Hefte,
deren Seiten liniiert waren. Und endlich durfte sie mit einem Fe-
derhalter die deutsche Normalschrift und Sütterlinschrift lernen.
Außerdem gehörte zur Schulausrüstung eine „Brottasche“ für
das Pausenbrot, die um den Hals gehängt getragen wurde.
Aber das eigentliche „Prachtstück“, das auch zum Schulan-
fang gehörte, war die Schultüte, die wegen des Schulanfangs
direkt nach Ostern, auch „Ostertüte“ genannt wurde. Darin be-
fanden sich einige Süßigkeiten wie Schokolade und Kekse, wohl
um den kleinen Mädchen den ersten Beginn des Schullebens zu
versüßen.
Hinten in der Reihe stehen die Mütter, links und rechts Brü-
der, die ihre Schwestern am ersten Schultag begleiteten.
Ruth Ebstein, Renate Bial und Suse Rosental waren drei jüdi-
sche Mädchen. Ruth Ebstein blieb am längsten in der Klasse und
hatte sich verabschiedet, bevor sie mit ihrer Mutter wegzog. Die
anderen beiden Mädchen waren schon früher eines Tages nicht
mehr zur Schule gekommen. 1936: Städtische Mädchen-Mittelschule Gleiwitz, 6. Schuljahr
Klassenlehrerin: Fräulein Tobias
Erste Reihe unten (von links nach rechts): Ruth Epstein, Suse Ro-
sental, Gisela Kiczewski, Lucie M. Undil, Irmgard Brünsch, Fräulein