Mar 07, 2016
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© edition oberkassel, Düsseldorf 2013
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Prolog
Es ist sternenklar. Die Grashalme zittern hin und wieder in der
fast windstillen Nacht. Der Mond pinselt seine bleiche Farbe an
den Himmel. Die Konturen von Feldern, Wald und Horizont flie-
ßen ineinander, als wären sie mit einem Weichzeichner behandelt
worden. Schon den ganzen Tag lang liegt der Gestank von Gülle
über den Äckern, aber erst jetzt, mit den geschärften Sinnen der
Nacht, nimmt sie den Geruch bewusst wahr. Irgendwo ist das
Fauchen eines umherstreunenden Katers zu hören. Am Waldrand
raschelt es.
Er geht ohne nachzudenken. Die Abkürzung durch den Wald fin-
det er auch im Dunkeln. Die Kälte spürt er nicht. Obwohl der Al-
kohol seinen Körper etwas wanken lässt, fühlt er sich klar wie sel-
ten. Das Gerede der anderen an der Theke ist ihm zum Schluss
gewaltig auf die Nerven gegangen, und er war froh rauszukom-
men. Aber er hat wenig Lust, nach Hause zu gehen. Er sieht das
Gesicht seiner Frau vor sich, diesen Blick, aus dem in letzter Zeit
nur noch Verachtung spricht. Und wieder packt ihn diese dumpfe,
ohnmächtige Wut.
Ihre Füße schmerzen. Zwischen dem Klackern ihrer Absätze auf
dem Asphalt meint sie, ihren Herzschlag zu hören, und plötzlich
spürt sie den starken Drang zu laufen. Aber sie zwingt sich,
gleichmäßig zu gehen und versucht, ihren Atem zu beruhigen. Die
Stille ist unheimlich. Seitdem sie das Dorf verlassen hat, ist ihr
kein Auto begegnet. Ein Buswartehäuschen taucht in ihrem Blick-
feld auf. Dahinter liegt ein kleines Waldstück, durch das schwach
die Lichter eines Bauernhofes glimmen.
Seine Finger krallen sich in der Hosentasche um das Jagdmesser,
das er immer bei sich trägt. Der Griff aus Hirschhorn drückt sich
in die Innenfläche seiner Hand. Er zieht an der Zigarre, aber sie
will ihm jetzt nicht schmecken. Er hat es immer gewusst, die
Thekenkameraden sind nichtsnutzige Idioten. Saufen und Sprüche
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machen – das können sie. Aber ein Kerl muss mehr können als
dumm rumlabern. Ein Kerl muss handeln. Und die armseligen Fi-
guren dort im Zelt? Nichts als heiße Luft. Dabei haben sie sich
doch fast die Augen aus dem Kopf gestiert, als dieses Flittchen
getanzt hat, einer gieriger als der andere. Er holt das Messer aus
der Tasche und lässt die Klinge auf- und zuschnappen.
Sie horcht. Ist da ein Keuchen zu hören oder ist es nur ihr eigener
rascher Atem? Sie dreht sich nach allen Seiten um. Ihre rechte
Faust umschließt unwillkürlich den Schlüsselbund, den sie in der
Jackentasche trägt. Sie bleibt stehen und hält den Atem an, horcht.
Alles scheint ruhig. Im Weitergehen zuckt sie zusammen. Auf
dem Hof hinter dem Wald schlägt ein Hund an, ein kurzes, tro-
ckenes Bellen. Ein nervöses Lachen entfährt ihr und sie atmet ge-
räuschvoll weiter.
Die erleuchtete Bushaltestelle liegt kurz vor ihr. Die Plexiglas-
scheiben sind zerkratzt und vollgeschmiert wie ein missbrauchtes
Schwarzes Brett.
Langsam tritt er aus dem Schutz der Bäume heraus und horcht.
Von links nähert sich das klickende Geräusch von Absätzen auf
dem Asphalt. Er schnuppert. Noch ehe die Silhouette eines Men-
schen auftaucht, steigt ihm dieser Geruch in die Nase, ein süßli-
cher Geruch von einem billigen Parfüm. Er spuckt ein paar Ta-
bakkrümel aus und leckt sich die Lippen. Dann tritt er zurück in
den Wald. Der Hund auf dem Nachbarhof bellt. Rombergs Hund.
Romberg, der geölte Lackaffe, auch so ein elender Schwätzer. In
letzter Zeit kommt er auffällig oft zu Besuch, und dann diese
Scheißfreundlichkeit. Seit langem schon fragt er sich, was die zu
bedeuten hat. Romberg war es doch auch, der dieser verdammten
Schlampe am längsten auf den Hintern gestarrt hat. Ein Weiber-
held war der schon immer. Aber Romberg und seine Frau? Kann
das sein? Würde sich jemand freiwillig mit seiner abgetakelten
Alten einlassen? Ein verächtliches Schnaufen entfährt ihm. Er
zieht die Mütze tief ins Gesicht. Seine Hand tastet wieder nach
dem Messer.
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Auf Höhe der Bushaltestelle beginnt sich ihr Atem zu beruhigen.
Plötzlich knacken Zweige, und ehe sie wieder nach dem Schlüs-
selbund greifen kann, bricht eine Gestalt aus dem Wald heraus.
Sie will schreien, doch eine grobe, schwielige Männerhand presst
ihr den Mund zu. „Keinen Mucks! Und dreh dich bloß nicht
um.“ Metall blitzt auf und etwas Spitzes, Kaltes legt sich an ihren
Hals. Eine beängstigende Kraft liegt in diesen Händen. Die Hände
stoßen sie in das Wartehäuschen hinein, zwingen sie, sich auf die
Bank zu knien. Ihr Gesicht wird hart gegen die Plexiglasscheibe
gestoßen, Blut läuft ihr aus der Nase. Sie ist unfähig, sich zu be-
wegen. Die Hand riecht nach Nikotin. Der Hund auf dem Bauern-
hof schlägt wieder an. Irgendwann splittern die Neonröhren, ein
feiner Glasregen geht auf sie nieder, und um sie herum wird es
dunkel.
Ein Glassplitter ist unter seinen Hemdkragen gerutscht. Als er
seine Hand auf die Stelle drückt, ist sie voller Blut. Er nestelt
nach einem Taschentuch. Unbeholfen bringt er die Blutung zum
Stillstand. Sein weißes Hemd, das Jackett und die helle Sommer-
hose sind voller Blutflecken. Er flucht und schleudert den Stein,
mit dem er das Licht gelöscht hat, mit voller Kraft in den Wald.
Das Messer schiebt er in die Hosentasche zurück. Ohne sich noch
einmal umzusehen, geht er davon, zügig, aber ohne Hast. Immer
noch presst er das blutige Taschentuch gegen die Wunde. Er spürt
keinen Schmerz. Schweiß läuft ihm in den Nacken und trotzdem
ist ihm kalt. Er schlägt den Kragen seines Jacketts hoch. Sein
Mund füllt sich mit einem komischen Geschmack. Er hat das Ge-
fühl, dass er seine Wut heruntergeschluckt, aber noch lange nicht
verdaut hat.
Sie schließt die Augen. Ein gleichmäßiges Rauschen umgibt sie.
Sie befindet sich in einer Luftblase. Die Außenwelt ist ausgesperrt.
Da ist die Ostsee, ein graues Band an einem verregneten Sonntag,
der menschenleere Strand, und da ist sie, gebückt gegen den
Sturm, der an ihren nassen Haaren zerrt, und da ist er, der weit vo-
rausläuft und nur noch als Punkt erkennbar ist, ihr Freund, und
der Wind bläst ihr mit solcher Macht ins Gesicht, dass sie keine
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Luft bekommt, und ihre Lippen werden rissig und schmecken
nach Salz, und da sind die Möwen mit ihren heiseren Stimmen,
und eine der Möwen taucht tief ein ins Meer und taucht wieder
auf, schießt nach oben, immer wieder, und sie ruft nach ihrem
Freund, aber der ist weit weg und kann sie nicht hören, und sie
will laufen, aber ihre Absätze bleiben stecken im aufgeweichten
Sand und sie kommt nicht von der Stelle, und dann sieht sie in der
Ferne den Hof, den verfallenen Hof mit seinen alten Mauern, und
der Sturm wird heftiger und fegt über die Gebäude hinweg, deckt
die Dächer ab und reißt die Mauerreste ein, und Wolken von
Staub und Dreck hüllen sie ein, bis alles schwarz wird und sie
endlich ganz in der Dunkelheit verschwindet.
Alle paar Meter spuckt er aus. Er hat noch Lust auf einen Ab-
sacker, aber ins Zelt kann er nicht mehr zurück. Die Klamotten
sind hin, daran ist diese Schlampe schuld. Er muss die Sachen un-
auffällig loswerden. Hauptsache, es sieht ihn so niemand. Aber
das ist unwahrscheinlich. Bis zum Hof sind es nur noch ein paar
Minuten, und seine Frau erwartet ihn nicht. Wahrscheinlich weiß
sie nicht einmal, dass er weg war. Kein Mensch vermisst ihn. Was
soll´s. Immer noch dieser verdammte Geschmack im Mund. Den
wird er einfach nicht los. Da kann er ausspucken, soviel er will.
Sie sitzt auf der Bank des Wartehäuschens, und ihr Körper zittert
vor Kälte, doch es ist eine Kälte, die den Kopf nicht erreicht. Sie
hat die Beine angezogen und hält ihre Knie eng umschlungen. Ihr
Make-up ist zerlaufen, verkrustetes Blut klebt unter der Nase. Ihre
Bluse ist zerrissen, der Kragen blutverschmiert. Ihr Körper wiegt
vor und zurück, immer wieder, wie einem inneren Rhythmus fol-
gend, aber sie spürt die Bewegung nicht. Sie hört nichts mehr, und
in ihr ist eine vollkommene Leere. Sie ist jetzt nur noch Körper,
nichts weiter als ein hohles Gefäß, dessen Inhalt jemand ausge-
schüttet hat. Und was da geschehen ist, das ist nichts als eine
dumpfe Erinnerung, nur ein verschwommener Schwarzweißfilm,
der in einem leeren Kino abgespielt wird, ohne Inhalt, ohne Ton.
Ein Film, der nichts mit ihr zu tun hat, in dem sie nur eine stum-
me Beobachterin ist, still und unbeteiligt.
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Die Plexiglasscheiben des Buswartehäuschens sind beschlagen.
„Freibier für alle“, hat jemand dort hingekritzelt. Ein zerfledderter
Anschlag wirbt für ein Nachttaxi. Glassplitter bedecken den Bo-
den, dazwischen liegt ein kalter Zigarrenstummel. Der Mann hat
irgendwann den Mantelkragen hochgeschlagen und ist gegangen,
wortlos und ohne Eile. Mit der größten Selbstverständlichkeit,
wie einer, der seine Arbeit erledigt hat.
Ein alter Opel mit polnischem Kennzeichen rast Richtung Dorf.
Er fährt an ihr vorbei. Der Wagen hat ein defektes Rücklicht. Ihr
wird schlecht, und ihr Mund füllt sich mit Erbrochenem.
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Osterup
Der Spargelbauer Klemens Schmölling aus Osterup im westlichen
Westfalen gehörte zu jenen Menschen, die an jeder Sache grund-
sätzlich einen Haken vermuten.
Inwieweit dies mit der Tatsache zusammenhing, dass er Münster-
länder war, ist schwer zu sagen. Fest stand, er war ein von Natur
aus argwöhnischer Mensch, und von denen gab es nicht wenige in
diesem flachen Landstrich zwischen Ruhrgebiet und norddeut-
scher Tiefebene. Die Beharrlichkeit des Regens hatte hier eine
grüne, fruchtbare Landschaft geschaffen, die in einem auffälligen
Kontrast zur Wortkargheit und Gefühlsknauserigkeit seiner Be-
wohner stand. Die Emotionen schossen nicht ins Kraut, aber in
punkto Sturheit konnten es viele Münsterländer mit dem Regen
aufnehmen.
Auch Klemens Schmöllings Misstrauen wurzelte tief. Alles Neue,
alles Ungewohnte hatte sich an dieser Skepsis zu messen, und
zumeist prallte es, noch bevor es Eingang in seinen Kopf fand, an
seiner breiten Stirn ab wie ein exotischer Vogel an einer knorrigen
westfälischen Eiche.
Nun war sein Argwohn keinesfalls das Resultat einer vorsichtigen,
behutsam abwägenden Lebenshaltung. Sie entsprang nicht jener
gesunden Skepsis, wie man sie bei Menschen findet, die allem
Unbekannten zunächst abwartend gegenübertreten. Solche Veräs-
telungen in seinem Charakter zu vermuten, wäre durchaus über-
trieben gewesen. Nein, Klemens Schmölling war, und damit wi-
dersprach er dem gängigen Bild des Münsterländers, eine stumpfe,
ichbezogene Natur. Er war ein Mensch, der sich hinter einem Wall
aus dumpfem Misstrauen verschanzte und dort den Großteil sei-
nes Lebens verbrachte, seit er vor dreiundfünfzig Jahren das Licht
der Münsterländer Parklandschaft erblickt hatte.
Dieser Wall schützte ihn davor, sich auf irgendwen oder irgend-
was näher einzulassen, als es ihm für sein persönliches Fortkom-
men wichtig erschien. Denn Schmölling war nicht ohne Ehrgeiz.
Er hatte es im Dorf zu etwas gebracht, hielt diverse Ehrenämter
besetzt und scheute sich nicht, am Stammtisch lauthals seine
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Meinung zu verkünden. All das tat er jedoch nicht um der Dorf-
gemeinschaft willen, sondern immer mit dem Ziel, sein Revier
abzustecken, Konkurrenten auf Distanz zu halten und sich seiner
Autorität zu versichern. Sah er die in Gefahr – und Schmölling
witterte instinktiv alle potenziellen Feinde –, reagierte er barsch
und aufbrausend und neigte zu heftigen Wutausbrüchen.
Klemens Schmölling war nicht nur Spargelbauer, er war auch
Bier- und Korntrinker, Tabakpflanzer, Zigarrenraucher, Hob-
byschweinezüchter; weiterhin Kassierer im landwirtschaftlichen
Ortsverein, Schützenbruder der ersten Stunde und – gelegentlich
– schwadronierender Stammtischpolitiker vor ausgewähltem Pub-
likum.
Der von ihm bewirtschaftete Bistrup-Hof trug den Namen der
Familie seiner Frau. Schmölling hatte hier eingeheiratet. Seine
Frau Gertrud, obwohl sie den Namen ihres Mannes angenommen
hatte, war für die Leute immer die Bistrupsche geblieben. Er
selbst würde nie ein Bistrup werden. So war das hier, und
Schmölling wusste das. Dennoch bestand er stets darauf, zu den
Honoratioren gezählt zu werden, zu denen die einfachen Dorfbe-
wohner aufzublicken hatten.
Über die Jahre hatte Klemens Schmölling sich einen gewissen
Ruf im Dorf erarbeitet. Man mochte ihn nicht, viele rümpften die
Nase über ihn, aber man nahm ihn, wie er war. Und die meisten
hatten Respekt vor dem, was er als Landwirt erreicht hatte.
Aber Klemens Schmölling hatte sich verändert. Seit einiger Zeit
schon war er unruhiger, unsicherer geworden. Wer ihn genauer
kannte, konnte diesen schleichenden Wandel nicht übersehen.
Sein Blick hatte nicht mehr die Klarheit früherer Tage, sein Gang
war gebeugter, seine Stimme weniger scharf, als man es von ihm
gewohnt war, neu war auch das Zittern seiner Hände; Klemens
Schmöllings Fassade begann zu bröckeln. Zwar gab er in Gesell-
schaft und auf Festen immer noch gerne den gewohnten Polterer,
aber seine dröhnenden Auftritte wirkten nur noch gezwungen,
seine Lautstärke wie das Grollen eines Gewitters, das längst vor-
beigezogen war.
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Jakob Sandow erwachte von einem plötzlichen Ruckeln und
schreckte hoch. Er öffnete die Augen und brauchte einen Moment,
um sich und seine Gedanken zu sortieren. Er befand sich immer
noch im Zug. Das heißt, nach dreimal Umsteigen war dies für ihn
mittlerweile der vierte Zug. Zum Glück war es auch der letzte, ein
Nahverkehrszug, der ihn von Münster nach Osterup, einem klei-
nen Dorf im westlichen Münsterland bringen sollte. Wie es aussah,
war es einer von den Zügen, die an jeder Milchkanne hielten. Ihm
gegenüber saß ein älteres Ehepaar, das eingestiegen sein musste,
während er geschlafen hatte. Jakob blickte in zwei zerfurchte, ein
wenig mürrische Gesichter. Die beiden hatten die Mäntel nicht
ausgezogen. Jeder zwei Plastiktüten und einen Regenschirm auf
den Knien balancierend, blickten sie wortlos in seine Richtung.
Jakob nickte den beiden zu, erntete aber keine Reaktion.
Er stand auf und öffnete das Abteilfenster. Der Zug stand mitten
in der flachen Landschaft. In der Ferne erkannte er ein rot ver-
klinkertes Stallgebäude mit zwei Silotürmen. Ein paar Pferde
grasten auf einer Weide, dahinter zog sich ein schmaler Streifen
Wald. Über den Bäumen hingen dunkle Wolken. Häuser oder gar
ein Bahnhof waren weit und breit nicht zu sehen. Bummelzüge
war er von zu Hause gewöhnt. Warum es aber jetzt hier auf freier
Strecke plötzlich nicht mehr weiterging, vermochte er nicht zu
ergründen.
Die ganze Fahrt über war er angespannter gewesen, als er wahr-
haben wollte, und obwohl er in der Nacht die meiste Zeit wach
gelegen hatte, fand er im Zug lange keinen Schlaf. Erst jetzt, ganz
zum Schluss seiner Reise, hatte die Müdigkeit gesiegt und ihm
kurz die Augen geschlossen.
In den letzten Jahren hatte Jakob nicht gerade das durchlebt, was
man eine unbeschwerte Jugend nennt. Dennoch hatte er sich sein
lebenslustiges, aufgeschlossenes Wesen bewahrt; das Grübeln ge-
hörte nicht unbedingt zu seinen Lieblingsbeschäftigungen. Wäh-
rend der langen Stunden im Zug freilich fehlte ihm die Ablenkung,
und so war er ganz automatisch ins Brüten geraten, hatte lange
aus dem Fenster geschaut und Gedanken und Erinnerungen in die
Bilder der sich verändernden Landschaft gemischt. Er kam aus
einem staubigen Dorf in der Mark Brandenburg, hatte zuletzt ei-
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nige Monate in Berlin gelebt. Von dort war er am Morgen losge-
fahren, einmal quer durch die Republik. Zuerst mit der S-Bahn
zum Hauptbahnhof dann mit dem Intercity Richtung Ruhrgebiet.
Hinter der Stadtgrenze Berlins ging es lange durch die menschen-
leere Weite seiner märkischen Heimat, durch riesige Kiefernwäl-
der und sandige Heidelandschaften. Zwischendurch wurde es ge-
birgiger, dann kamen sie in dichter besiedeltes Gebiet. Hinter
Hamm schließlich wurde es wieder einsamer, und das Münster-
land mit seinem Flickenteppich aus Weiden, Äckern, Streuobst-
wiesen und kleinen Wäldern begann.
Dass es ihn hierher zog, war reiner Zufall. Und von Ziehen konnte
im Grunde auch keine Rede sein. Sein Leben steckte in einem
Loch fest. Er hatte Stress mit seinem Vater, einem arbeitslosen
Melker, der nur noch von Alkohol und schlechter Laune lebte.
Seine Mutter war schon vor Jahren mit ihrem neuen Typen nach
Berlin gezogen und hatte freiwillig auf das Sorgerecht verzichtet.
Jakob konnte den Neuen seiner Mutter ohnehin nicht ausstehen
und so blieb er beim Vater. Das hatte immerhin den Vorteil, dass
er in Ruhe die Schule abschließen konnte, auch wenn ihn die Ler-
nerei schon lange anödete. Am Ende stand er sogar mit einem
ganz annehmbaren Abitur da, und alles hätte gut sein können.
Aber dann hatte er seine Freundin Sarah ausgerechnet auf der
Abiparty knutschend mit dem Sohn des Dorfbonzen erwischt. Da
war er kurz mal ausgetickt. Es gab einen Tumult mit viel Geschrei,
zwei blutigen Nasen und einem heulenden Mädchen. Am Ende
dieser ganzen verdammten Geschichte wollte Jakob nur noch weg,
und zwar so schnell wie möglich. Sein Vater machte keine Anstal-
ten, ihn daran zu hindern. Wahrscheinlich war er ganz froh, einen
Esser weniger im Haus zu haben.
Jakob fuhr nach Berlin und quartierte sich bei seiner Mutter ein.
Er fand einen Job in einer Großküche. Die Arbeit war zwar an-
strengend und schlecht bezahlt, aber Jakob war nicht anspruchs-
voll und er verdiente zum ersten Mal in seinem Leben sein eige-
nes Geld. Zusammen mit seinem Ersparten hatte er nach einem
halben Jahr genug Geld, um sich einen großen Wunsch zu erfüllen
und den Führerschein zu machen. Das Zusammenleben mit seiner
Mutter und ihrem Lebensgefährten allerdings wurde bald uner-
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träglich. Die anfängliche Freude über das Wiedersehen mit dem
„verlorenen Sohn“ hielt nicht lange an. Die Wohnung war klein,
und immer öfter kam es zu Spannungen. Eines Nachts brachte Ja-
kob nach einer Party ein Mädchen mit nach Hause. Am nächsten
Morgen begegnete der Freund seiner Mutter dieser Fremden im
Badezimmer und machte eine Riesenszene. Er schrie wild herum
und wollte Jakob aus der Wohnung werfen, worauf seine Mutter
abwechselnd ihren Freund und den Sohn anschrie, und das Mäd-
chen schließlich heulend auf die Straße lief. Jakob ließ sie laufen.
Es war sowieso nichts Ernstes. Aber er hatte keine Lust mehr auf
den ewigen Stress und zog freiwillig aus. Für eine Weile kam er
bei einem befreundeten Kollegen aus der Großküche unter.
Auf Dauer war das alles natürlich keine Lösung. Er hatte keine
eigene Wohnung und einen Job ohne Perspektive. Pläne machen,
vorausdenken – das war nie seine Sache gewesen. Er hatte immer
gerne in den Tag hineingelebt; irgendwie hatte sich immer etwas
ergeben. Aber jetzt spürte er, dass er endlich ein paar Weichen in
seinem Leben stellen musste. Er erinnerte sich, wie er als Kind
davon geträumt hatte, Bauer zu sein, und er hatte bis heute nie das
Interesse an der Landwirtschaft verloren. Außerdem hatte ihm die
Zeit in Berlin gezeigt, dass er nicht für die Großstadt gemacht war.
Warum also nicht Landwirtschaft studieren? Jakob machte sich
schlau und beschloss, sich zunächst einmal für ein Praktikum zu
bewerben. Und, um den Schnitt radikaler zu machen, am liebsten
irgendwo möglichst fern der Heimat. Er antwortete auf einige
Annoncen in der Landwirtschaftlichen Wochenzeitung. Der
Bistrup-Hof in Osterup, ein kleiner Spargelhof, der einer gewis-
sen Gertrud Schmölling gehörte, sagte als erster zu. Jakob trug
den Brief mit der Zusage in der Innentasche seiner Jacke. Es
wunderte ihn ein bisschen, dass das Papier nur von Gertrud
Schmölling unterschrieben war. Führte sie den Hof alleine? Gab
es keinen Bauern? Das machte ihn neugierig. Als er seine zwei
Taschen packte, war es Ende Februar. Das Frühjahr stand vor der
Tür; eine gute Zeit zum Aufbruch, fand Jakob. Und jetzt saß er
hier und fuhr, gegen Kost und Logis und ein paar Euro Taschen-
geld, für ein Jahr nach Westfalen.
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„Na, dann viel Spaß“, hatte ihm der Kumpel aus Berlin, der Ver-
wandte in Bielefeld hatte, ironisch mit auf den Weg gegeben. Ja-
kob wisse hoffentlich, dass die Westfalen in punkto Sturheit die
Brandenburger locker in den Schatten stellten. Langsam und be-
häbig seien die Menschen, außerdem maulfaul und ungesellig.
„Bevor du da mit jemandem warm wirst, muss viel Korn die Keh-
le hinunterfließen“, hatte der Freund gemeint und ihm prophezeit,
er werde es kein Jahr dort aushalten.
Jakob hatte sich inzwischen wieder hingesetzt. Er sah auf die Uhr.
Planmäßig brauchte der Zug vierzig Minuten bis Osterup. Aber
wer wusste schon, wie lange sie hier noch standen.
„Soll wohl nachher noch Regen geben.“
Jakob blickte auf, unsicher, ob die Worte ihm gegolten hatten.
Aber der Mann, der sie gesprochen hatte, blickte unverändert auf
den Boden und machte nicht den Eindruck, dass er dringend einen
Kommentar zu seiner Bemerkung erwartete.
„Haben Sie eine Ahnung, warum der Zug hier hält?“, fragte Jakob
ein paar Minuten später. Anstelle einer Antwort raschelte der
Mann mit den Einkaufstüten. Dann war es wieder eine Weile still.
„Gut, dass ich die Wäsche noch reingeholt habe“, meinte die Frau
und nickte heftig mit dem Kopf. Wem oder was das Kopfnicken
galt, blieb allerdings im Dunkeln.
Jakob überlegte, ob er seine Frage wiederholen sollte, aber als er
die unbeteiligten Gesichter des Paares sah, ließ er es sein und
schloss die Augen. Das gleichmäßige Tuckern des stehenden Zu-
ges machte ihn wieder schläfrig. Durch das Fenster drang das
Wiehern eines Pferdes. Ein leichter Geruch nach Schweinestall
wehte herein.
„Ist normal. Muss erst der Gegenzug durch sein. Dann geht`s hier
auch weiter. Interregio nach Münster. Soll aber wohl gleich kom-
men.“ Der Mann sah jetzt plötzlich hoch und nickte Jakob zu.
Sein Gesicht hatte beinahe freundliche Züge angenommen. „So
schnell geht das hier bei uns nicht. Oder haben Sie es eilig? Wo-
hin soll´s denn gehen, junger Mann?“
„Osterup“, antwortete Jakob.
„Soso“, meinte der Mann und raschelte wieder mit den Tüten.
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„Da kommt der gute Spargel her“, gab jetzt die Frau zum Besten
und nickte erneut mit dem Kopf. „Bald ist es wieder so weit. Wir
mögen ihn ja am liebsten mit Butter und Schinken. Bloß nicht
diese holländische Soße. Und beim Schinken: Nur der gute west-
fälische Knochenschinken, luftgetrocknet. Alles andere taugt
nichts. Sie sind aber nicht von hier, oder?“
Jakob schüttelte den Kopf, erstaunt über den plötzlichen Wort-
schwall. „Ich komme aus Brandenburg. Mache ein landwirtschaft-
liches Praktikum in Osterup. Übrigens auf einem Spargelhof. Da
kann ich Ihre Tipps dann ja gleich mal in die Tat umsetzen.“
„Wenn Sie mich fragen, alles Blödsinn“, sagte der Mann und
machte eine wegwerfende Handbewegung. „Wird alles maßlos
übertrieben. Der ganze Aufwand für die paar Stangen Gemüse.
Und Ende Juni ist der ganze Zauber sowieso wieder vorbei.“
„Aber essen tut er sie doch gerne“, meinte die Frau und zwinkerte
Jakob zu.
In diesem Moment fuhr der Zug wieder an. Jakob schloss das
Fenster. Draußen war inzwischen alles grau in grau. Die Wolken
hingen so tief, dass es aussah, als wollten die Baumkronen jeden
Moment in sie hineinpieksen. Ein paar Minuten später begann es
zu regnen. Als die nächste Station angesagt wurde, griffen die
beiden alten Leute nach ihren Einkaufstüten und Schirmen und
standen auf.
„Übernächste müssen Sie auch raus“, meinte der Mann. „Haben
Sie einen Regenschirm dabei?“, fragte die Frau. „Also wenn es
sich hier erst einmal eingeregnet hat … So ein westfälischer
Landregen, ich kann Ihnen sagen, der ist hartnäckig.“ Der Mann
sah seine Frau missbilligend an. „Nu lass mal. Der junge Mann
kommt schon zurecht.“ Die beiden nickten Jakob zu und schlurf-
ten aus dem Abteil.
„Gut, dass ich die Wäsche noch reingeholt habe“, hörte Jakob die
Frau noch einmal sagen, bevor sich die Tür geräuschvoll schloss.
Jakob stieg aus dem Zug und stellte die Taschen ab. Der Bahn-
steig war menschenleer. Es regnete immer noch; nicht stark, aber
in dichten, sprühfeinen Fäden, und natürlich hatte er keinen
Schirm dabei. Das einzige Gebäude, das er hier auf diesem winzi-
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gen Bahnhof erkennen konnte, war eine Ruine, die nur noch aus
ihren Außenmauern bestand. Nicht gerade ein idealer Ort, um sich
unterzustellen. Jakob hatte ohnehin nicht viel Hoffnung, dass sich
das Wetter schnell bessern würde. Der vielbeschworene westfäli-
sche Landregen – er musste lachen. Die erste Lektion in Landes-
kunde hatte er schon gelernt.
Er zog den Reißverschluss seiner Jacke zu und machte sich auf
den Weg, ohne eine Ahnung zu haben, wo der Bistrup-Hof lag.
Deshalb beschloss er, erst einmal ins Dorf zu gehen und dort nach
dem Weg zu fragen. Es war früher Nachmittag, und auf der Straße
begegnete ihm eine ganze Weile kein Mensch. Einmal kam ihm
ein Radfahrer mit aufgespanntem Regenschirm entgegen. Jakob
sprach ihn an, aber der Mann hielt den Schirm tief vor das Ge-
sicht und konnte oder wollte ihn nicht hören.
Im Dorf gab es eine Gaststätte mit dem Namen „Osteruper Baum“.
Erleichtert ging Jakob auf die Eingangstür zu. Er war inzwischen
völlig durchnässt. Hier würde er sicher Auskunft bekommen. Au-
ßerdem konnte er ein wärmendes Getränk gebrauchen. Das Schild
„Montags Ruhetag“ war allerdings nicht geeignet, seine Laune zu
verbessern. Jakob ließ die Taschen auf das nasse Pflaster knallen
und atmete geräuschvoll aus. „Scheiße!“, zerriss sein Fluch die
betuliche Stille des Dorfnachmittags.
„Nananana, wer wird sich denn so aufregen? Morgen ist ja wieder
geöffnet.“ Jakob blickte hoch. Im ersten Stock des Gebäudes war
ein Fenster aufgestoßen worden. Eine Frau schaute neugierig und
ein wenig spöttisch auf ihn hinunter. Sie hatte ein waches, som-
mersprossiges Gesicht. Jakob betrachtete es aufmerksam und für
einen Fremden eine Spur zu lange.
„Ist sonst noch was?“, fragte die Frau misstrauisch.
„Ja, also“, meinte Jakob, „ich habe das Schild gelesen ...“
„Schön“, sagte die Frau, „und welchen Teil von montags Ruhetag
haben Sie nicht verstanden?“
„Es ist so, ich komme vom Bahnhof und wollte eigentlich nur
nach dem Weg zum Bistrup-Hof fragen. Ich fange dort heute an
zu arbeiten, Jahrespraktikum. Und dann hätte ich gerne etwas
Heißes getrunken. Der Regen hier bei euch ist ja gemeingefähr-
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lich.“ Zum Beweis schüttelte er seine blonde Mähne und ließ die
Regentropfen spritzen.
Die Frau lachte. „Vom Bahnhof kommen Sie? Na, da sind Sie ja
in die völlig verkehrte Richtung marschiert. Vom Bahnhof rechts
aus dem Dorf heraus, da wären Sie direkt auf den Bistrup-Hof zu-
gekommen.“
„Na, klasse. Heute ist wohl mein Glückstag.“
„Könnte stimmen. Wir müssen gleich noch einmal in die Stadt
zum Großmarkt. Da kommen wir bei Bistrups vorbei und können
Sie mitnehmen. Warten Sie, ich schließe auf und mache Ihnen ei-
nen Tee mit was drin. Sie holen sich ja sonst den Tod da draußen.“
Ein paar Minuten später saß Jakob in der Schankstube des
„Osteruper Baums“ und nippte an seinem Heißgetränk. Die Wirtin
hatte es gut mit ihm gemeint; es war eher Rum mit Tee als umge-
kehrt. Mit jedem Schluck floss eine wohltuende Wärme durch
seinen Körper. Jakob musterte die Wirtin aus den Augenwinkeln.
Sie war eine attraktive Frau. Zwar um einiges älter als er, aber das
hinderte seinen Flirtinstinkt nicht an der Arbeit. Er wollte gerade
zu einem Kompliment ansetzen, da erschien ein hagerer, fast
kahlköpfiger Mann mit einem Stapel leerer Gemüsekisten im
Raum, brummte einen Gruß und sah fragend in Jakobs Richtung.
„Wir haben hier einen unverhofften Gast, der sich ein wenig ver-
laufen hat“, erklärte die Wirtin. „Ein Praktikant. Muss zum
Bistrup-Hof. Wir nehmen ihn gleich mit und setzen ihn dort
ab.“ Der Mann zuckte knapp mit den Schultern, sagte aber nichts.
„Wie heißen Sie überhaupt, Herr Praktikant?“, fragte die Wirtin.
„Jakob Sandow, aber Jakob genügt.“
„Also, Herr Jakob, es geht gleich los. Ich heiße übrigens Christine
Kappenberg, meinetwegen auch nur Christine.“
Auf der Fahrt zum Bistrup-Hof sprachen nur Jakob und Christine.
Jakob erzählte ein bisschen was über seine Herkunft und was ihn
hierher ins Münsterland verschlagen hatte. Der Mann hatte sich
stumm ans Steuer gesetzt und schwieg beharrlich. Jakob saß hin-
ter dem Fahrer und sah auf dessen Glatze. Er bemühte sich, seine
Blicke möglichst von Christine fernzuhalten. Seine Lust am Flir-
ten hatte einen kleinen Dämpfer erhalten. Natürlich, die besten
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Frauen waren immer vergeben. Warum sollte das hier in Westfa-
len anders sein als zu Hause?
An der Einfahrt zum Bistrup-Hof stieg Jakob aus und bedankte
sich. „Lass dich nicht ärgern, Herr Praktikant“, sagte Christine
und zwinkerte Jakob zu. „Wenn es geht, halte dich an die Bäuerin.
Gertrud ist ein lieber Mensch. Ihr Mann Klemens dagegen – na,
du wirst ihn kennenlernen. Mein Bruder kennt ihn auch. Stimmt´s
Georg?“
Der Mann nickte. „Halt dich an Gertrud. Viel Glück“, sagte er
knapp und fuhr los.
Erstaunt sah Jakob dem Wagen nach. „Bruder“ hatte sie gesagt.
Und er Hornochse hatte geglaubt … Ein Lächeln erschien auf sei-
nem Gesicht. Mal sehen, vielleicht ging da ja was. Das Dorf war
klein genug. Früher oder später würde man sich wieder über den
Weg laufen.
Jakob schritt die lange Auffahrt entlang. Es kam ihm so vor, als
hätte der Regen ein wenig nachgelassen, aber vielleicht hatte er
sich auch nur an ihn gewöhnt. Der Hof lag versteckt hinter Bäu-
men und einer hohen Hecke. Dicht hinter dem Anwesen erhob
sich wie ein riesenhaftes Begrüßungskommando ein halbes Dut-
zend Windräder in den Himmel. Die Leuchten der Rotoren blink-
ten schwach in der trüben Wolkensuppe. Das Einfahrtstor, ein aus
Sandsteinen gemauerter Rundbogen, wirkte recht imposant. Das
schmiedeeiserne Gitter allerdings war rostig und hing schief in
den Angeln. Jakob trat durch das Tor. Kein Mensch war zu sehen.
Rechts gab es eine marode Scheune, dahinter ein Gewächshaus.
Links lag ein halb verfallenes Speichergebäude, geradeaus das
Wohnhaus, daneben eine Maschinenhalle. Zwischen den Gebäu-
den führte ein gepflasterter Weg auf einen Platz, um den sich
mehrere umgebaute Stallgebäude und ein zum Hofladen umfunk-
tioniertes Fachwerkgebäude gruppierten.
Jakob blieb ratlos in der Mitte des Platzes stehen. Gerade, als er
wieder zurück Richtung Wohnhaus gehen wollte, hörte er ein
Quietschen. Er drehte sich um. In einem der ehemaligen Stallge-
bäude öffnete sich ein Schiebetor, ein gedrungener Mann mit ei-
ner Zigarre im Mund zwängte sich durch den Spalt und trat mit
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gesenktem Kopf auf den Platz. Jakob befürchtete, der Mann be-
merke ihn überhaupt nicht, also setzte er an, etwas zu sagen. Der
Mann hob plötzlich den Kopf und stieß ein paar Rauchwolken aus.
Sein Gesicht war stark gerötet, die Blicke aus den kleinen, wäss-
rigen Augen hefteten sich fast feindselig an Jakob. „Und Sie? Wie
kommen Sie auf den Hof? Was haben Sie hier zu suchen?“
Jakob sah den Mann verblüfft an. Mit dieser Begrüßung hatte er
nicht gerechnet. War das jetzt die Ungastlichkeit der Westfalen
oder lag hier ein Missverständnis vor? Er hatte jedenfalls seine
Ankunft für heute angekündigt. Entschlossen griff er in die Innen-
tasche seiner Jacke, zog den Brief mit der Zusage hervor und hielt
ihn dem Mann hin. „Ich bin Jakob Sandow und soll heute mein
Praktikum hier antreten.“
Der Mann schnaufte und riss Jakob das Papier aus der Hand.
Während er las, nahm die Röte in seinem Gesicht merklich zu.
„Melden Sie sich bei meiner Frau. Im Hofladen.“ Damit klatschte
er Jakob den feucht gewordenen Brief in die Hand und ver-
schwand wieder in der Scheune.
Aus dem Hofladen drang ein warmer Lichtschein auf den Platz.
Ein heller Glockenton erklang, als Jakob die Tür öffnete. Er betrat
einen freundlich gestalteten Raum mit Dielenboden und einer
niedrigen Holzbalkendecke. An den Wänden reihten sich Regale
mit Fleisch- und Wurstwaren, Eiern, Milch- und Käseprodukten,
Obst und Gemüse, Brot und Kuchen, Honig, Marmeladen und
Gläsern mit eingelegten Früchten. Jakob warf einen sehnsuchts-
vollen Blick auf die Sachen. Sie erinnerten ihn daran, dass er seit
dem Morgen nichts Richtiges gegessen hatte. Hinter der Laden-
theke tauchte eine Frau auf, die etwa so alt sein musste wie seine
Mutter. Sie war klein gewachsen, trug eine Pagenfrisur mit rötlich
schimmernden Haaren und sah ihm freundlich ins Gesicht. Dann
sah sie die Taschen, kam hinter der Theke hervor und gab ihm die
Hand. „Sie müssen Jakob sein. Ich bin Gertrud Schmölling. Will-
kommen auf unserem Hof. Tut mir leid, dass niemand Sie vom
Bahnhof abholen konnte, aber mein Mann war mit dem Auto weg,
und ich hatte ja Ihre Telefonnummer nicht.“
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„Halb so wild“, sagte Jakob, „zwei nette Menschen aus dem Dorf
haben mich hergefahren. Aber beim nächsten Mal sollten Sie et-
was besseres Wetter bestellen.“
Gertrud Schmölling lachte. „Jetzt kommen Sie erst einmal mit ins
Haus. Ich schließe hier so lange ab. Um diese Zeit kommen selten
Kunden. Es ist ja noch früh im Jahr. Richtig los geht es erst mit
der Spargelsaison. Dann herrscht hier Hochbetrieb, das werden
Sie dann auch merken.“
Sie gingen über den Platz. Die Bäuerin zeigte auf die ehemaligen
Stallgebäude. „Früher war das hier ein reiner Schweinemastbe-
trieb. Die Ställe sind aber inzwischen alle umgebaut. Na ja, fast
alle. Es gibt noch einen kleinen Hühnerstall. Einen anderen Teil
nutzt mein Mann für seine Zuchteber. Ist aber nur noch ein Hobby
von ihm. Zurzeit steht dort allerdings nur Thilo, ein prämiertes
Tier und sein ganzer Stolz.“ Gertrud Schmölling hielt einen Mo-
ment lang inne. Sie fixierte einen imaginären Punkt in der Ferne.
„Am besten, Sie halten sich fern vom Eberstall. Mein Mann ist da
sehr eigen. Wir haben jetzt eine Lager- und Sortierhalle, Kühl-
räume und natürlich die Unterkünfte für die Saisonarbeiter. Für
Sie habe ich übrigens ein Dachzimmer im Haus fertig gemacht.
Die Arbeiter werden ab nächster Woche nach und nach eintrudeln.
Dann ist es hier nicht mehr so ruhig.“
„Kann man denn allein vom Spargelanbau leben, wenn ich mal so
frech fragen darf.“
„Normalerweise nicht“, sagte Gertrud Schmölling. „Ist ja ein
klassisches Saisongeschäft. Aber sehen Sie die Windräder dort?
Die Grundstücke gehören auch zum Hof. Sind an einen Energie-
konzern verpachtet. Zusammen mit den Einnahmen daraus kom-
men wir ganz gut zurecht.“
In diesem Moment meldete sich Jakobs Magen zu Wort. Die Bäu-
erin lachte. „Jetzt aber erst einmal in die Küche. Sonst bricht mir
mein Praktikant schon am ersten Tag vor Hunger zusammen. Ich
mach uns schnell was fertig. Bratkartoffeln mit Speck, das mögen
Sie hoffentlich.“
Auch wenn er nicht so hungrig gewesen wäre, Jakob hätte ge-
schworen, noch nie bessere Bratkartoffeln gegessen zu haben.
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Während er aß, versorgte Gertrud Schmölling ihn mit weiteren
Informationen über den Hof, erklärte, welche Arbeiten sie für ihn
vorgesehen hatte und wie sein Tagesablauf in den kommenden
Monaten aussehen würde. Sie selbst trank nur einen Kaffee. „Ich
mache eine Diät“, erklärte sie. „Zwei Kilo habe ich schon ge-
schafft.“
„Diät?“, fragte Jakob kauend, „das haben Sie doch nun wirklich
nicht nötig – also ganz im Ernst, wenn ich das sagen darf, Sie ha-
ben doch eine Topfigur. Es sei denn natürlich, Sie streben eine
Karriere als Magermodel an.“
„Danke für die Blumen“, murmelte Gertrud Schmölling, während
sie rasch aufstand und die Tasse in die Spüle stellte. Jakob
schluckte den letzten Bissen hinunter, und als er hochschaute
schien es ihm, als sei ihre Nackenhaut leicht gerötet.
Vom Flur kamen plötzlich Geräusche. Die Haustür wurde aufge-
schlossen, man hörte ein Rumpeln, als lasse jemand seine Schuhe
auf den Boden fallen. Dann wurde die Tür mit Vehemenz geöffnet,
und der Bauer betrat auf Socken die Küche.
Gertrud Schmölling drehte sich um und räusperte sich. Einen
Moment lang wirkte sie verunsichert. Aber dann schien es Jakob,
als ginge ein Ruck durch ihren Körper. Sie deutete auf Jakob.
„Das ist Jakob Sandow. Er macht hier sein Praktikum und wird
ein Jahr bei uns verbringen.“
Jakob stand vom Tisch auf und wollte dem Bauern die Hand ge-
ben. Aber dieser blieb auf Distanz. Wieder fixierten ihn die klei-
nen, wässrigen Augen.
„Schön, dass ich das auch mal erfahre“, zischte Schmölling. „Ist
ja auch zu viel verlangt, dass der Hausherr weiß, was auf seinem
Hof vorgeht.“
„Einer muss ja schließlich die Arbeit machen“, entgegnete Ger-
trud Schmölling spitz.
„Na wunderbar“, sagte der Bauer. „Ich sehe, du hast alles im
Griff.“ Damit riss er die Kühlschranktür auf, griff sich eine Fla-
sche Bier und verschwand schnaubend aus der Küche.
Gertrud Schmölling sah Jakob an und zuckte mit den Schultern.
„Das war Klemens, mein Mann.“
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Jakob nickte. „Dachte ich mir schon. Wir hatten draußen bereits
das Vergnügen.“