Fachhochschule Potsdam University of Applied Sciences
Fachbereich SozialwesenProf. Dr. Heiko Kleve
Inklusion und ExklusionDrei einfhrende Texte.
1. Soziale Partizipation zwischen Integration und Inklusion 2.
Integration/Desintegration und Inklusion/Exklusion. Eine
Verhltnisbestimmung aus sozialarbeitswissenschaftlicher Sicht 3.
Soziale Arbeit zwischen Inklusion und Exklusion
S. 2 S. 6 S. 22
(c) Prof. Dr. Heiko Kleve, 2005 Tel. 0331-580 1114, Raum 3078
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Prof. Dr. Heiko Kleve, Inklusion und Exklusion, FHP 2005
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Soziale Partizipation zwischen Integration und InklusionDieser
Text ist publiziert in: sozialpdagogische impulse, 1/2005, S.
19-21.
Soziale Partizipation im Sinne der Teilhabe an
gesellschaftlichen Institutionen wie Wirtschaft, Familie, Politik,
Recht etc. wird in der Sozialen Arbeit gemeinhin mit dem Begriff
Integration bezeichnet. Demnach sei die Aufgabe Sozialer Arbeit,
soziale Integrationshilfe zu leisten, also Personen zu untersttzen,
die aufgrund welcher sozialen oder individuellen Bedingungen auch
immer von sozialer Desintegration, also von sozialem Ausschluss
bedroht oder betroffen sind. Im Folgenden mache ich der Theorie und
Praxis der Sozialen Arbeit den Vorschlag, das Konzept der sozialen
Integration differenzierter zu benutzen und es durch den Begriff
der sozialen Inklusion zu ergnzen (vgl. ausfhrlicher Kleve 1999, S.
184ff./210ff.; 2000; 2004).
Integration Soziale Integration ist ein Begriff der klassischen
Soziologie, mit dem die normative Einbindung von Individuen in die
Gesellschaft bezeichnet wird. Die gesamte Gesellschaft wird demnach
als ein normatives Gefge betrachtet, in das die Einzelnen
eingebunden werden. Diese Einbindung gilt als Voraussetzung fr
soziale Partizipation. Gesellschaft erscheint in dieser Perspektive
als eine Einheit, deren integrierte Teile die einzelnen Individuen
sind. Der Sozialen Arbeit kann daher auch wenn ihr Personal dies
nicht intendiert eine konservative bzw. strukturerhaltende Funktion
unterstellt werden: Sie sorgt mit ihren Integrationsangeboten dafr,
dass sich die Individuen an die normativen Vorgaben der
Gesellschaft orientieren. Denn erst dann, wenn die
gesellschaftlichen Normen individuell (bewusst oder unbewusst) als
Orientierungspunkte dienen, kann nach dieser Konzeption soziale
Integration gelingen. Dieses aus der klassischen Soziologie
stammende Integrationskonzept, so lautet meine These, ist der
Dynamik der modernen Gesellschaft jedoch nicht angemessen. Nach
Sichtung neuerer Gesellschaftstheorien, vor allem der Systemtheorie
von Niklas Luhmann (1997) und ferner der Theorie des kommunikativen
Handelns von Jrgen Habermas (1981), knnen wir erkennen, dass sich
soziale Partizipation heute anders ereignet, dass sie sich genauer
gesagt aufspaltet in mindestens zwei Formen: in Integration und
Inklusion.
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Inklusion Niklas Luhmann beschreibt die moderne Gesellschaft als
eine funktional differenzierte Gesellschaft, die sich in
unterschiedliche selbststndige Bereiche wie Wirtschaft, Politik,
Recht, Wissenschaft, Erziehung/Bildung, Religion, Kunst etc.
aufteilt, in sogenannte Funktionssysteme. Von diesen Systemen knnen
und drfen Menschen allerdings nicht integriert werden; sie drfen
und knnen nicht Teile dieser Systeme werden, da sie gleichzeitig an
mehreren dieser Systeme partizipieren mssen, wollen sie ihre
biologischen, psychischen und sozialen Bedrfnisse befriedigen. Denn
in der modernen Gesellschaft regeln die Funktionssysteme in
jeweiliger Eigenregie die Verteilung biologisch, psychisch und
sozial notwendiger Gter (etwa Nahrung, Kleidung, Wohnraum, Bildung,
Geld, Wissen, Recht, Kultur etc.). Die soziale Teilnahme an den
Funktionssystemen gelingt nicht als Integration, sondern als
soziale Inklusion. Whrend Integration normativ-soziale Einbindung
meint, bezeichnet Inklusion, dass Menschen von den
Funktionssystemen als Personen fr relevant gehalten werden. Um als
Person fr die Funktionssysteme relevant zu sein, ist nicht (wie bei
der Integration) die Akzeptanz oder Verinnerlichung von normativen
Vorgaben notwendig, sondern die Mglichkeit, Kommunikationsmedien
wie Geld, Bildung, Wissen, Recht, Macht etc. ins Spiel zu bringen,
um die Leistungen in Anspruch zu nehmen, die die Funktionssysteme
offerieren.
Zwischen Integration und Inklusion Allerdings bedeutet das
bisher Gesagte nicht, dass wir den Integrationsbegriff ganz
aufgeben mssen, um die soziale Partizipation in der modernen
Gesellschaft zu beschreiben; wir sollten ihn jedoch reservieren fr
die soziale Partizipation hinsichtlich der Bereiche, die wir in
Anlehnung an Jrgen Habermas Lebenswelten nennen knnen. Lebenswelten
sind u.a. die sozialen Nahbereiche des gegenseitigen Vertrauens,
der Privatheit und Intimitt (etwa Familien-, Liebes- und
Freundschaftsbeziehungen). In diese Bereiche werden Menschen
integriert, hier spielen Normen und Werte sowie moralische
Kommunikationen eine entscheidende Rolle. Mein Vorschlag lautet
also, dass wir den Begriff der Inklusion fr die soziale
Partizipation an den Funktionssystemen benutzen und Integration
verwenden sollten, um die soziale
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Einbindung in die Lebenswelten zu bezeichnen. Diese begriffliche
Differenzierung bietet sich mindestens aus drei Grnden an: Erstens
knnen wir mit dieser Differenzierung an aktuelle Diskurse in den
Sozialwissenschaften anschlieen, in denen immer strker neben dem
Begriffspaar Integration/Desintegration die Unterscheidung von
Inklusion und Exklusion genutzt wird, um soziale Teilhabe- und
Ausschlieungsprozesse zu thematisieren und die Funktion der
Sozialen Arbeit in diesem Kontext zu verorten (vgl. Merten/Scherr
2004). Zweitens macht die begriffliche und konzeptionelle
Differenzierung von Integration und Inklusion deutlich, dass
Klientinnen und Klienten Sozialer Arbeit und freilich auch die
professionellen Helferinnen und Helfer mindestens in zwei
unterschiedlichen Systemformen Anschluss finden mssen: in
Funktionssystemen und Lebenswelten. Funktionssysteme und
Lebenswelten unterscheiden sich jedoch nicht nur hinsichtlich ihrer
Partizipationsformen voneinander. Lebenswelten Die
unterschiedlichen und sozialen Partizipationsformen erwartet sind
werden sozusagen und die Oberflchenphnomene einer gegenstzlichen
sozialen Tiefenstruktur. Whrend in den zeitliche personelle
Bestndigkeit Kommunikationen diskursiv offen verlaufen, so erwarten
die Funktionssysteme von den Individuen Flexibilitt und Mobilitt
sowie die Akzeptanz strategischer und rationaler, zielund
ergebnisorientierter Kommunikation. Daher stehen heutige Individuen
zwischen Integration und Inklusion und sehen sich widersprchlichen
Verhaltenserwatungen ausgesetzt, die bis auf die psycho-emotionalen
Befindlichkeiten durchschlagen und mglicherweise Ansto fr die
Zunahme von psychischen und psycho-somatischen Symptomen sind.
Drittens lassen sich aus der hier vorgeschlagenen Differenzierung
von Integration und Inklusion methodische und organisatorische
Innovationen ableiten, die insbesondere dort zum Tragen kommen, wo
die Soziale Arbeit mit den Widersprchen von
lebensweltlichnormativen Einbindungen und funktionssystemischen
Teilhabechancen zu tun hat. So kann es etwa sein, dass die soziale
Inklusion von Klientinnen und Klienten bedroht ist, weil die
soziale Integration zu stark ist, also individuelle Mobilitt und
Flexibilitt zu eingeschrnkt sind. In solchen Fllen msste die
Strategie Sozialer Arbeit auf Desintegrationshilfe hinaus laufen.
Jedenfalls scheint eine Aufgabe der Sozialen Arbeit zu sein, die
unterschiedlichen Formen der sozialen Partizipation in ihren
verschiedenen Verkopplungen von Integration/Desintegration und
Inklusion/Exklusion (vgl. Kleve 2004, S. 183ff.) in der modernen
Gesellschaft zu beobachten und dann einzugreifen, wenn notwendige
Integrationen und/oder Inklusionen beschdigt sind, gnzlich
ausfallen oder andere Partizipationsprobleme
bestehen.________________________________________________________________________________________________
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Literatur: Habermas, Jrgen (1981): Theorie des kommunikativen
Handelns. Zwei Bnde. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Kleve, Heiko (1999):
Postmoderne Sozialarbeit. Ein
systemtheoretisch-konstruktivistischer Beitrag zur
Sozialarbeitswissenschaft. Aachen: Kersting. Kleve, Heiko (2000):
Integration/Desintegration und Inklusion/Exklusion. Eine
Verhltnisbestimmung aus sozialarbeitswissenschaftlicher Sicht, in:
Sozialmagazin, Heft 12/2000, S. 38-46. Kleve, Heiko (2004): Die
intime Grenze funktionaler Partizipation. Ein Revisionsvorschlag
zum systemtheoretischen Inklusions-/Exklusions-Konzept, in: Merten,
Roland; Scherr (Hrsg.) (2004): Inklusion und Exklusion in der
Sozialen Arbeit. Wiesbaden: VS-Verlag, S. 163-187. Luhmann, Niklas
(1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft. Zwei Teilbnde.
Frankfurt/M.: Suhrkamp. Merten, Roland; Scherr, Albert (Hrsg.)
(2004): Inklusion und Exklusion in der Sozialen Arbeit. Wiesbaden:
VS-Verlag.
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Integration/Desintegration und Inklusion/ExklusionDer Text ist
publiziert in: sozialmagazin, 12/2000, S. 38-46.
Eine Verhltnisbestimmung aus sozialarbeitswissenschaftlicher
Sicht1
I. Bevor ich theoretisch entfalte, worum es mir mit diesem
Beitrag geht, mchte ich einleitend exemplarisch die Problematik der
Verhltnisbestimmung von Integration/Desintegration und
Inklusion/Exklusion an einem aktuellen Beispiel verdeutlichen, und
zwar anhand der Debatte um die doppelte Staatsbrgerschaft: In der
Bundesrepublik Deutschland wird seit einigen Jahren heftig darber
diskutiert, ob die sogenannten auslndischen MitbrgerInnen neben der
Staatsbrgerschaft ihres Herkunftslandes bzw. des Herkunftslandes
ihrer Eltern oder Groeltern auch die deutsche Staatsbrgerschaft
erhalten knnten. Die Diskussion ber Pro und Contra der doppelten
Staatsbrgerschaft spaltet sich in zwei Lager: Auf der einen Seite
argumentieren die Gegner tendenziell dafr, dass die Menschen, die
in Deutschland dauerhaft leben mchten, sich auch fr die Integration
in die deutsche Kultur, mit allen dazugehrigen Verbindlichkeiten
wie moralischen und kulturellen Vorstellungen etc. entscheiden
sollten. Erst diese Integration sichere das friedliche
Zusammenleben von Menschen anderer ethnischer Zugehrigkeit mit den
Deutschen. Und diese Integration werde gefrdert, wenn man lediglich
die Mglichkeit habe, sich fr eine Staatsbrgerschaft zu entscheiden.
Die Gegner der doppelten Staatsbrgerschaft verbinden also die
Inklusion in das politische System der BRD, welche mit der
deutschen Staatsbrgerschaft einhergeht, und alle weiteren
Inklusionsmglichkeiten, die die politische Inklusion voraussetzen,
mit der Integration in ein wie immer gefasstes einheitliches
deutsches Kultur-, Moral- bzw. Normengefge; mit anderen Worten, sie
identifizieren implizit einerseits (politische, staatliche)
Inklusion und (normative, kulturelle etc.) Integration sowie
andererseits (normative, kulturelle etc.) Desintegration und
(politische, staatliche) Exklusion. Die Befrworter der doppelten
Staatsbrgerschaft wollen diese rechtlich verankerte Mentalitt
aufbrechen; sie entkoppeln sozusagen die Inklusionsmglichkeiten der
Menschen von deren Integrationen. Demnach sollen auch diejenigen
eine Chance haben, am ffentlich-politischen Leben in Deutschland
teilzunehmen z.B. das aktive und passive Wahlrecht bekommen und
alle anderen Rechte, die mit der staatsbrgerlich-politischen
Inklusion einhergehen , die sich entschlieen, kulturell in
Deutschland eher desintegriert zu bleiben oder ambivalent,
unentschieden zwischen bzw. mit zwei Kulturen zu leben; mit anderen
Worten, es wird1
Ich danke Denis Dressel und Manu Ritz fr hilfreiche Kommentare
und Hinweise zur ersten Version des Textes.
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keine eindeutige Entscheidung fr eine wie auch immer geartete
deutsche Integration erwartet, um die Mglichkeiten der politischen
Inklusion zu erhalten. Inklusion soll mglicherweise trotz
Desintegration, trotz Differenz mglich sein; aus den MitbrgerInnen
sollen BrgerInnen werden knnen. Es geht darum, dem jeweils anderen
oder der anderen Gruppe zuzubilligen, dass sie ein Recht auf
Anwesenheit haben und unterschiedliche Gruppe[n] nebeneinander
koexistieren zu lassen, ohne dass sie direkt miteinander agieren
mssen (Jakubeit 1999, S. 92), ohne so fge ich hinzu sich sozial
integrieren zu mssen. Mit dieser Sichtweise wird also die
Vorstellung aufgebrochen, die zwischen Integration und Inklusion
sowie zwischen Desintegration und Exklusion ein Gleichheitszeichen
setzt; vielmehr soll politische, juristische Inklusion etc., die
zuallererst ber die Staatsbrgerschaft vermittelt wird, mglich
werden, ohne jedoch die Differenz bezglich der unterschiedlichen
Integrationsformen hinsichtlich ethnischer, kultureller, sozialer,
kurz: lebensweltlicher Zugehrigkeiten aufheben, negieren, einebnen
oder aushebeln zu wollen. Im Folgenden soll es mit Bezug auf die
gesellschaftlichen Funktionen und Mglichkeiten der Sozialen Arbeit
darum gehen, die Sichtweise, die im Beispiel den Befrwortern der
doppelten Staatsbrgerschaft zugeschrieben wird, theoretisch zu
entfalten. Mit anderen Worten, es soll explizit gezeigt werden, was
in dem Beispiel implizit deutlich wird: dass nmlich zwischen
Integration/Desintegration und Inklusion/Exklusion strukturelle
Unterschiede markiert werden knnen, die beschrieben und erklrt
werden sollten. Die These lautet, dass Sozialarbeitswissenschaft
und Sozialarbeitspraxis an gesellschaftstheoretischen
Beobachtungs- und Selbstreflexionsmglichkeiten gewinnen, wenn
sie es vermeiden, die Begriffspaare Integration/Desintegration und
Inklusion/Exklusion synonym zu verwenden, wie man dies derzeit
jedoch noch beobachten kann. Zur Entfaltung der These wird zunchst
nach dem kurzen empirischen ein eher theoretischer Problemaufriss
versucht (II.), um sodann das Begriffspaar
Integration/Desintegration zu przisieren und es von
Inklusion/Exklusion abzugrenzen sowie die vermeintliche Funktion
der Sozialen Arbeit als Integrationshilfe zu hinterfragen (III.).
Im Anschluss daran wird das Konzept von Inklusion/Exklusion sowie
das Spannungsverhltnis von Inklusion und Integration dargestellt
und die diesbezglichen Funktionen der Sozialen Arbeit skizziert.
Die (mglicherweise provozierende) These lautet: Damit Menschen in
die Gesellschaft inkludiert werden knnen, mssen sie potentiell
sozial desintegriert bzw. eher lose integriert sein (vgl. dazu
bereits Kleve 1997; 1999, S. 184ff./210ff.); und genau dabei,
nmlich eine solche potentielle soziale Desintegration bzw. eher
lose Integration auszuhalten bzw. zu erreichen, hilft Soziale
Arbeit (IV.). Schlielich soll das eingangs angefhrte Beispiel in
einigen________________________________________________________________________________________________
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abschlieenden Worten zum Umgang mit dem/den desintegrierten
Fremden und aus aktuellem Anlass bezglich der Sozialen Arbeit mit
fremdenfeindlichen Gruppen (z.B. jugendlichen Skinheads) noch
einmal aufgegriffen werden (V.).
II. In der allgemeinen disziplinbergreifenden
sozialwissenschaftlichen Debatte, aber auch vermehrt in den
disziplinren und professionellen Diskursen der Sozialarbeit hat in
den letzten Jahren ein Begriffspaar die Runde gemacht, das bisher
in der Sozialarbeit allerdings in seiner gesellschaftstheoretischen
Bedeutung kaum przisiert, geschweige denn reflektiert und nher
bestimmt worden ist: nmlich das Begriffspaar Inklusion/Exklusion
(siehe als Ausnahme die systemtheoretischen Arbeiten von Baecker
1994; Fuchs/Schneider 1995; Bommes/Scherr 1996). Whrend in der
sozialarbeitswissenschaftlichen Tradition von
Integration/Desintegration gesprochen wird, um die Mglichkeiten der
sozialen Partizipation (Integration) bzw. die Ausgrenzung von
Individuen von dieser Partizipation (Desintegration) sowie die
diesbezglichen (vermeintlich re-integrierenden) Funktionen der
Sozialarbeit zu beschreiben (vgl. Mhlum 1996, S. 170ff./181ff.), so
wird nun offenbar angefangen, von Inklusion/Exklusion zu sprechen.
Der Wechsel der Begrifflichkeiten von Integration/Desintegration zu
Inklusion/Exklusion geht allerdings vonstatten, ohne dass
hinreichend verdeutlicht wird, warum dieser Begriffswechsel erfolgt
und was mit diesem neuen Begriffspaar anders als mit dem alten wie
in den Blick gert. Mein Eindruck ist, man wechselt lediglich die
Begriffe, weil man sehr kurzsichtig, also sehr unscharf
gesellschaftstheoretische Diskurse beobachtet, die vermehrt mit dem
Begriffsapparat Inklusion/Exklusion zu arbeiten beginnen, um
Ausgrenzungs- bzw. Ausschlieungsprozesse von Personen aus der
Gesellschaft zu beschreiben. Der Exklusionsbegriff beispielsweise
hat sich in wenigen Jahren in den Sozialwissenschaften und im
ffentlich-politischen Diskurs etabliert (Stichweh 1997, S. 123).
Zum einen wird der Begriff von der Armuts- und
Ungleichheitsforschung systematisch verwendet und zum anderen wird
er mittlerweile insbesondere von Frankreich kommend auch zunehmend
auerhalb der Sozialwissenschaften in ffentlichen, z.B.
massenmedialen Kommunikationen zur Bezeichnung dieser des
Ausschlusses immer grerer und Bevlkerungsgruppen
ffentlich-politisch aus mit gesellschaftlichen Systemen benutzt.
Aufgrund Zunahme, wissenschaftlich Inklusion/Exklusion zu
kommunizieren, wird man mittlerweile offensichtlich bereits
dazu________________________________________________________________________________________________
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verfhrt, mit diesem Begriffspaar zu argumentieren, ohne es
selbst einer Befragung, geschweige denn einem Definitionsversuch zu
unterziehen. So schreiben beispielsweise Gabriele Flsser u.a.
(1996, S. 29), dass Sozialarbeit die gesellschaftliche Instanz sei,
die eigentlich die Inklusion der Gesellschaftsmitglieder zur
Aufgabe hat, [aber] durch Zuwendung zu den schon Inkludierten die
Exklusion der nicht mehr in den Blick genommenen vorantreibt; und
so wird weiter argumentiert, dass sich die Methoden und Instrumente
[...] wie auch das Selbstverstndnis der Sozialen Arbeit daran
messen lassen mssen, ob und inwieweit sie einen Beitrag zur
gesellschaftlichen Inklusion bzw. Exklusion leisten (ebd.). Nur,
was bedeutet in diesem Zusammenhang Inklusion bzw. Exklusion? Knnte
man mglicherweise anstatt Inklusion und Exklusion auch Integration
und Desintegration schreiben? Oder wre damit der Sinn ein anderer?
Diese Fragen sind nicht beantwortbar, wenn man es unterlsst, die
beiden Begriffspaare gesellschaftstheoretisch zu przisieren und
voneinander abzugrenzen. Sollte eine solche Abgrenzung nicht mglich
sein was hier widerlegt werden soll , dann knnte man getrost auf
den Export der neuen Begrifflichkeit in die sozialarbeiterischen
Diskurse verzichten. Den Eindruck aber, dass es sich bei den beiden
Begriffspaaren um theoretische Werkzeuge handelt, die dieselben
oder zumindest hnliche Bedeutungen transportieren, bekommt man
selbst dann, wenn man sozialwissenschaftlich sehr reflektierte
Arbeiten zur Sozialen Arbeit, wie etwa jene von Roland Merten,
untersucht; auch hier werden m.E. Integration/Desintegration und
Inklusion/Exklusion nicht in ihrer Bedeutung ausreichend
voneinander differenziert, sondern vielmehr wird man angehalten,
Soziale Arbeit als Integrationsarbeit (Merten 1996, S. 81) zu
verstehen, um sodann jedoch mit einem Zitat von Dirk Baecker darauf
hingewiesen zu werden, dass Sozialarbeit Inklusionsprobleme der
Bevlkerung in die Gesellschaft betreut (ebd.; Hervorhebung von mir;
H.K.). Fr Roland Merten stellt sich der Begriff der (sozialen)
Integration letztlich als so allumfassend dar, dass fraglich wird,
was der Begriff denn berhaupt noch aussagt, wenn sogar von der
Theoriearbeit eine Inhaltsleere intendiert wird (vgl. Merten 1997,
S. 94ff.), in die man alles hineinpacken kann, was sich als
Sozialarbeit ausweist oder so ausgewiesen werden kann. Im Folgenden
werde ich der Gesellschaftstheorie der Sozialarbeitswissenschaft
und der Sozialarbeitsprofession eine Mglichkeit anbieten, die
Begriffspaare Inklusion/Exklusion und Integration/Desintegration
voneinander zu unterscheiden. Denn erst nach einer solchen
Unterscheidung kann man erkennen, welche verschiedenartigen
Bedeutungen beide Begriffspaare mitfhren. Man wird erst nach dieser
Unterscheidung das Neue, das Innovative sehen knnen, das sich
mithin zeigt, wenn die bisherige differenzierungsarme Sprache,
die________________________________________________________________________________________________
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tendenziell Integration mit Inklusion und Exklusion mit
Desintegration gleichsetzt, mit diesbezglichen Differenzen
angereichert wird. Die These ist, dass sich das Begriffspaar
Integration/Desintegration auf die (in der multikulturellen
Gesellschaft pluralisierten) lebensweltlichen Zugehrigkeiten zu
Gruppen, Beziehungen, Familien, Netzwerken, kollektiven Identitten
etc. bezieht, in denen die Menschen sozusagen ganzheitlich, als
ganze Personen relevant sind sowie moralische Prferenzen und
normative Wertsetzungen teilen. Im Gegensatz dazu bezieht sich
Inklusion/Exklusion auf eine ber Rollen differenzierte nur
ausschnitthafte soziale Teilnahme von Menschen an
gesellschaftlichen Systemen, die symbolische und materielle
Ressourcen wie (staatsbrgerliche) Rechte, (politische) Macht,
Arbeit, Geld, Bildung, soziale Hilfe etc. bereitstellen sowie
individuell vermitteln und deren Einsatz voraussetzen. Diese These
resultiert in erster Linie aus systemtheoretischen Beobachtungen
der Gesellschaft, d.h. sie ist gewonnen durch die Einnahme der
gesellschaftstheoretischen Perspektive der funktional-strukturellen
Systemtheorie (siehe grundstzlich dazu Luhmann 1997). Darber hinaus
werden allerdings auch theoretische Anleihen gemacht, die auf die
Theorie des kommunikativen Handelns von Jrgen Habermas und auf die
Theorie der reflexiven Modernisierung von Ulrich Beck zurckgehen.
Die Einnahme solcher Theorieperspektiven wird der
Sozialarbeitswissenschaft vorgeschlagen, weil so beobachtet werden
kann, dass auf der Sozialarbeit genau jene gesellschaftlichen
Probleme lasten, die dadurch entstehen, dass sich die Gesellschaft
gewandelt hat: und zwar von einer Integrationsgesellschaft zu einer
Inklusionsgesellschaft. Sozialarbeit hat demnach die individuellen
Probleme zu betreuen, die sozialstrukturell durch diesen
Wandlungsprozess bedingt sind.
III. Traditionellerweise meint man in der Sozialarbeit auch
heute noch, dass sozialarbeiterische Hilfen Integrationshilfen
seien. Mit dieser These, dass Soziale Arbeit also die Funktion
zufalle, Menschen sozial zu integrieren, geht man implizit davon
aus, dass desintegrierte Menschen problembelastete Menschen sind,
denen hinsichtlich einer (wieder)herzustellenden Integration
geholfen werden msse. Desintegration wird also eindeutig negativ
bewertet. Soziale Arbeit helfe Menschen demnach dabei, sich zu
integrieren, etwa einerseits in lebensweltliche Gemeinschaften wie
soziale Gruppen, Familien etc. oder in Moral- und Wertgebude und
andererseits in die Politik, das Recht, die Wirtschaft, die Bildung
etc.
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wird also ein Integrationsbegriff benutzt, der keine eindeutige
Differenz markiert - um mit Habermas zu sprechen: zwischen der
lebensweltlichen Sphre der Gesellschaft, die normativ ber Sprachen,
Moralgebude und sozial geteilte Werte integriert wird und der
(funktions)systemischen Sphre der Gesellschaft, die funktional ber
Kommunikationsmedien wie Macht, Recht und Geld vermittelt ist
(siehe Habermas 1981). Wenn man Sozialer Arbeit die Funktion der
Integrationshilfe zuschreibt, dann verkennt man, dass Menschen zwar
integriert werden knnen, und zwar in die Lebenswelt, aber wenn man
den soziologischen Begriff Integration ernst nimmt nicht in den
Staat, die Politik, die Wirtschaft oder das Bildungssystem;
bezglich dieser funktionalen gesellschaftlichen Systeme knnen sie
lediglich inkludieren bzw. inkludiert werden. Mit der klassischen
Soziologie (etwa mit Emile Durkheim oder Talcott Parsons) im Rcken
bedeutet Integration, zusammengefasst gesagt, die vollstndige, wenn
man so will, die ganzheitliche Einbindung von Individuen und deren
Handeln und Denken in normativ verpflichtende soziale
Zugehrigkeiten, in lebensweltliche Gemeinschaften. Von der
Integration ist potentiell und tendenziell der ganze Mensch
betroffen, der etwa einer bestimmten Gemeinschaft oder Gruppe
angehrt, mit der er bestimmte Werte und Handlungsprferenzen teilt;
er wird ber die Zugehrigkeit zu dieser Gemeinschaft oder Gruppe
bezglich seiner persnlichen Merkmale definiert und definierbar;
seine Handlungsund Denkmglichkeiten werden bis auf ein bestimmtes
Ma an Freiheitsgraden, an Denk- und Handlungsspielrumen
eingeschrnkt. Im Gegensatz dazu verlangt die systemische
Partizipation, die im Anschluss an die soziologische Systemtheorie
Inklusion genant werden soll (vgl. Luhmann 1995; Nassehi 1997;
Nassehi/Nollmann 1997), die Verfgbarkeit ber brgerliche Rechte,
z.B. die Mglichkeit, die Rolle eines Staatsbrgers/einer
Staatsbrgerin einzunehmen sowie den Einsatz solcher Medien wie
Geld, Macht und Recht. Die NichtMglichkeit der personellen Einnahme
dieser Rollen geht mit Exklusion einher, d.h. Personen, die weder
die Mglichkeit haben, Staatsbrger zu sein, Geld (etwa durch Arbeit)
zu erlangen, Rechte in Anspruch zu nehmen, durch Bildung Positionen
zu erreichen etc. bleiben tendenziell exkludiert. Whrend man ber
die Integration eher unspezifisch, mithin wenig rationalisiert,
wenig verrechtlicht und wenig brokratisiert am lebensweltlichen
Bereich der Gesellschaft partizipiert, partizipiert man an der
funktionssystemischen Sphre der Gesellschaft ber Inklusion nach
klar umrissenen strukturellen, rechtlich und brokratisch
abgesicherten rationalisierten Regeln. Im lebensweltlichen Bereich,
mithin im Integrationsbereich, sind Menschen potentiell als ganze
Personen eingebunden, d.h. alles Persnliche, alles Gefhlte,
Gedachte, Erwartete
etc.________________________________________________________________________________________________
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kann hier relevant werden. Im funktionssystemischen Bereich
hingegen zhlen nur bestimmte rollenhafte Ausschnitte der jeweiligen
Persnlichkeit. Personen sind hier also z.B. (nur) in ihrer
jeweiligen Rolle als StaatsbrgerInnen, WhlerInnen, KonsumentInnen,
ArbeitnehmerInnen/ArbeitgeberInnen, StudentInnen,
KlientInnen/SozialarbeiterInnen etc. relevant, der Rest der
Persnlichkeit bleibt ausgeschlossen, bleibt exkludiert. Bei der
Verwendung eines allumfassenden Integrationsbegriffs oder
Inklusionsbegriffs wird bersehen, dass Individuen Unterschiedliches
ins Spiel bringen mssen, um zum einen an der lebensweltlichen und
zum anderen an der funktionssystemischen Sphre der Gesellschaft zu
partizipieren. Mit anderen Worten, eine Soziale Arbeit, die nur
einen Begriff fr die Partizipation des Individuums an der
Gesellschaft hat, etwa Integration oder Inklusion, bersieht, dass
gesellschaftliche Partizipation genaugenommen zweigeteilt ist: in
lebensweltliche und systemische Partizipation, in Integration und
Inklusion. Nach einer przisen Unterscheidung von Integration und
Inklusion kann man also erkennen, wie ich noch einmal explizit
betonen mchte, dass Individuen zwar in Gruppen, Familien,
Freundschaften, kurz: in lebensweltliche Gemeinschaften integriert
sein knnen, aber nicht in der Politik, im Recht, in der Wirtschaft
oder in der Bildung. In diesen Bereichen der Gesellschaft, in
diesen Funktionssystemen zhlen Menschen nur ausschnitthaft, nur
rollenhaft, sozusagen als geteilte Persnlichkeiten. Und genau diese
rollenhafte, ausschnitthafte Teilnahme von Menschen an
Funktionssystemen der Gesellschaft, die materielle und symbolische
Ressourcen vermitteln, soll als Inklusion bezeichnet werden. In der
Moderne zeigt sich nun, dass Menschen keineswegs mehr in stabilen
lebensweltlichen Integrationsformen leben, dass mithin die
klassischen lebensweltlichen Einheiten (z.B. Kleinfamilien) sowie
moralische und normative Verbindlichkeiten die Menschen nur noch
lose zeitlich und sozial zusammenhalten (vgl. Beck 1986). Die
Menschen verlieren ihre traditionellen Integrationsformen, die ihr
Leben (in der Vormoderne vollstndig) absicherten und werden
abhngiger denn je von Mglichkeiten der sozialen Inklusion - z.B.
bezglich der Institutionen und Organisationen der modernen
Gesellschaft, etwa der Sozialen Arbeit (vgl. Rauschenbach 1992).
Nur wenn Menschen in der modernen Gesellschaft sich
Inklusionsmglichkeiten sichern knnen, z.B. hinsichtlich der
Bildung, der Wirtschaft, dem Recht, der Politik etc., nur wenn sie,
anders gesagt, ber Kommunikationsmedien wie Geld, Recht, Macht,
Bildung etc. verfgen, knnen sie ihre physische und psychische
Existenz sichern. Denn ber Inklusionen in Funktionssysteme, und
nicht ber Integration in lebensweltliche Gemeinschaften, werden in
der modernen Gesellschaft lebensnotwendige Ressourcen und
Kapazitten vermittelt. Erst wenn die Soziale Arbeit dies erkennt,
kann
sie________________________________________________________________________________________________
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ihre Funktionen bezglich der unterschiedlichen
gesellschaftlichen Bereiche, d.h. bezglich des Inklusions- und
bezglich des Integrationsbereichs, przise beschreiben. Soziale
Arbeit knnte sich dann die Aufgabe zuschreiben, mit ihren
AdressatInnen daran zu arbeiten, deren persnliche Inklusionschancen
zu sichern, wieder zu entdecken oder zu erhhnen bzw. ihnen dabei zu
helfen, auch mit eventuell dauerhafter Exklusion trotz
lebensweltlich loser Integration/potentieller Desintegration zu
leben.
IV. Meine These, die ich schlielich in Anlehnung an den
systemtheoretischen Diskurs zur Funktion der Sozialarbeit
skizzenhaft ausfhren will, lautet, dass Soziale Arbeit die Funktion
hat, Inklusionen zu vermitteln bzw., wenn dies nicht gelingt,
stellvertretend zu inkludieren (vgl. ausfhrlich dazu bereits Kleve
1997). Sozialarbeit beobachtet demnach Exklusionen, Ausschlsse von
Personen aus den wichtigen Funktionssystemen der Gesellschaft (z.B.
Wirtschaft, Politik/Staat, Recht, Bildung etc.), thematisiert diese
und bietet den ausgeschlossenen Personen Hilfen zur Re-Inklusion,
zur Exklusionsberbrckung oder zur dauerhaften Exklusionstoleranz
an. Und bei der Wahrnehmung dieser Funktion leistet Soziale Arbeit
tendenziell keine Integrationshilfe mehr; vielmehr erkennt sie
(zumindest implizit), dass in der modernen, vielleicht schon
postmodernen Gesellschaft, zu feste normativ verpflichtende
lebensweltliche Einbindungen in soziale Integrationsformen wie
Familien, Gruppen etc. Inklusionsmglichkeiten verringern. Empirisch
ist leicht belegbar wie etwa Ulrich Beck (1993) gezeigt hat , dass
die mobilen, flexiblen, sozial eher lose integrierten bzw.
potentiell desintegrierten Menschen mehr Mglichkeiten der Inklusion
realisieren knnen als diejenigen, die diesbezglich eher fest
integriert sind. Wie Beck etwa am Beispiel der modernen
Erwerbsarbeit ausfhrt, setze diese Arbeit Mobilitt und
Mobilittsbereitschaft voraus, alles Anforderungen, die nichts
befehlen, aber das Individuum dazu auffordern, sich geflligst als
Individuum zu konstituieren: zu planen, zu verstehen, zu entwerfen,
zu handeln oder die Suppe selbst auszulffeln, die es sich im Falle
seines Versagens dann selbst eingebrockt hat (ebd., S. 153). Der
potentiell desintegrierte, der mobile und flexible Einzelne wird
also ins Zentrum gerckt, und traditionale Lebens- und
Verkehrsformen bzw. traditionale soziale Integrationen werden in
der modernen Gesellschaft eher milohnt, so dass zwar ber
verlorengegangene Gemeinsamkeiten (ebd., S. 154) und deren Auflsung
in radikale Pluralitt und soziale Differenzierung geklagt werden
kann, so dass etwa Reintegrationsversuche
unternommen________________________________________________________________________________________________
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werden knnen, deren Erfolgsmglichkeiten aber mssen angesichts
der strukturellen Dynamik der Moderne bezweifelt werden. Alle
Versuche, die Gesellschaft und die in lebensweltlicher Pluralitt
sich verlierenden individualisierten Menschen in die Gesellschaft
zu re-integrieren, wirken angesichts der gesellschaftstheoretischen
Diagnosen zur Moderne, wie sie etwa von Niklas Luhmann, Ulrich Beck
und auch von Jrgen Habermas vorgelegt wurden, als verzweifelte
Versuche und offenbaren eher ein unrealistisches,
sozialromantisches Unterfangen. Gesellschaftstheoretisch abstrakt
betrachtet bedeutet die bisherige Darstellung des Verhltnisses von
Integration und Inklusion, dass Inklusion und Integration
gegenlufig sind, dass der Inklusionsbereich der Gesellschaft
desintegriert und der Exklusionsbereich der Gesellschaft integriert
ist. Auf der Seite der Inklusion, also auf der Seite der
funktionssystemischen Partizipationen ist keine Integration mglich,
whrend Integration auerhalb der Funktionssysteme, in deren
Exklusionsbereich, in der Lebenswelt immer wieder neu von jedem und
jeder einzelnen realisiert werden muss. In dem Mae, in dem die
Gesellschaft in einzelne Funktionsbereiche zerfllt [...], werden
die Menschen jeweils nur unter Teilaspekten eingebunden: als
Steuerzahler, Autofahrer, Studentin, Konsument, Whler, Patientin,
Produzent, Vater, Mutter, Schwester, Fugngerin usw.; d.h. sie
werden im andauernden Wechsel zwischen verschiedenartigen, zum Teil
unvereinbaren Verhaltenslogiken gezwungen, sich auf die eigenen
Beine zu stellen und das, was zu zerspringen droht, selbst in die
Hand zu nehmen: das eigene Leben. Die moderne Gesellschaft
integriert die Menschen nicht als ganze Personen in ihre
Funktionssysteme, sie ist vielmehr im Gegenteil darauf angewiesen,
dass Individuen gerade nicht integriert werden, sondern nur teil-
und zeitweise als permanente Wanderer zwischen den
Funktionssystemen an diesen teilzunehmen (Beck 1997, S. 10). Die
Menschen werden also strukturell gezwungen, um Sinn, Werte,
Lebensstile etc. zu finden, zu konstruieren, sich auf die eigenen
Beine zu stellen, ein eigenes Leben zu konstruieren, wobei ihnen
der funktionssystemische Bereich der Gesellschaft, der
Inklusionsbereich, eher abverlangt diesbezglich potentiell offen,
flexibel und mobil, kurz: potentiell desintegriert bzw. lose
integriert zu bleiben. Demnach scheint der Sozialen Arbeit in der
modernen Gesellschaft die Funktion zuzufallen, Menschen dabei zu
helfen, mit ihrer potentiellen sozialen Desintegration bzw. ihrer
tendenziell losen Integration zu leben, mithin die Folgen der
Dynamik der Moderne auszuhalten. Will Soziale Arbeit also Menschen
dabei helfen, dass diese ihre physische und psychische Existenz
selbststndig sichern knnen, dann muss sie die
individuellen________________________________________________________________________________________________
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Mglichkeiten frdern, mit dieser losen Integrationsform bzw. mit
potentieller Desintegration umzugehen, diese zu erreichen, weil nur
so die Chancen fr die Inklusion in die Funktionssysteme erhht bzw.
geschaffen werden knnen. Soziale Arbeit inkludiert also, um lose
soziale Integration bzw. Desintegration auszuhalten, damit die
Inklusion in die Funktionssysteme der Gesellschaft (Wirtschaft,
Politik, Recht, Bildung etc.) (wieder) gelingt oder eine dauerhafte
Exklusion aus diesen Funktionssystemen individuell, psychisch,
emotional und sozial ausgehalten werden kann. Gerade aufgrund der
eher losen sozialen Integrationsformen bzw. der potentiellen
Desintegration moderner Individuen ist Soziale Arbeit, die immer
dann (stellvertretend) inkludiert, wenn andere Funktionssysteme
(etwa Wirtschaft, Recht, Bildung etc.) individuell keine
Inklusionsmglichkeiten mehr bieten, fr viele die einzige Chance,
ihr physisches und psychisches Leben zu sichern. Denn in der
Moderne ist es bei der Beobachtung von Lebensrisiken und -problemen
eher nicht selbstverstndlich, dass Menschen sich aufgrund
normativer Verpflichtungen innerhalb sozialer Integrationsformen
gegenseitig helfen; vielmehr wird der professionelle Einsatz
strukturell verankerter (sozialer oder therapeutischer) Hilfen
erwartet (vgl. Luhmann 1973). Erst wenn die Sozialarbeit erkennt,
dass die moderne Gesellschaft keine Integrationsgesellschaft mehr
ist, sondern eine Inklusionsgesellschaft, deren strukturelle
Erwartung Desintegration ist, dann wird sie ihre gesellschaftliche
Funktion mit allen ihren Ambivalenzen und Paradoxien theoretisch
rekonstruieren und fundiert reflektieren knnen. Die Gesellschaft
ist seit ihrem bergang in die funktionale, in die
funktionssystemische Differenzierung, also etwa seit dem Eintritt
in das 20. Jahrhundert keine normativ integrierte Gesellschaft
mehr, in der sozial geteilter Sinn, mithin das soziale Ganze (z.B.
ber universelle Normen) alles andere zusammenhlt, sondern eine wie
immer kritisch man das auch bewerten mag desintegrierte
Gesellschaft, in der man nur noch leben kann, weil es die formal
organisierten und institutionalisierten Mglichkeiten sozialer
Inklusion gibt.
V. Was Wunder, da es eine theoretische Aufgabe von allergrter
Wichtigkeit ist, sich dem Problem des Anderen nun anders zu
stellen, das Verhltnis zum Fremden nicht weiter als Provokation zur
[integrativen; H.K.] Aneignung zu verstehen (Kamper 1986, S. 41).
Ausgehend von diesem Zitat mchte ich abschlieend noch einmal auf
das eingangs angefhrte Beispiel der Debatte ber die doppelte
Staatsbrgerschaft zurckkommen, in der sich der Umgang mit dem/den
desintegrierten Fremden bzw. Anderen spiegelt. Ich
will________________________________________________________________________________________________
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versuchen zu verdeutlichen, dass gerade der gesellschaftliche
(also auch sozialarbeiterische) Umgang mit AuslnderInnen, mit
Menschen nicht-deutscher Herkunft, mit Menschen (noch) anderer
Staatsbrgerschaft ein Zeichen dafr ist, an dem erkennbar wird,
worin sich eine moderne von einer heute geforderten postmodernen
gesellschaftlichen Beobachtungs- und Kommunikationspraxis
unterscheidet. Angesichts des grassierenden Rechtsradikalismus in
Deutschland, ja in Europa soll in diesem Zusammenhang auerdem das
Phnomen fremdenfeindlicher Gewalt insbesondere bezglich der darauf
bezogenen sozialarbeiterischen Reaktionsmglichkeiten kurz
diskutiert werden. Whrend die politisch konservative Seite den
Begriff Integration als einen schillernden Kampfbegriff benutzt,
mit dem die Einstellung zu Auslndern umschrieben wird: Von der
Anpassung (Assimilation) bis hin zu Ausgrenzung
Integrationsunwilliger (Jakubeit 1999, S. 92), kommt es darauf an,
diesen Begriff zu unterscheiden: eben von Inklusion. Auerdem sollte
man sehen lernen, dass sich die Weltgesellschaft sptestens mit der
zunehmenden Globalisierung und Internationalisierung nicht nur der
Wirtschaft keineswegs mehr in kulturell und ethnisch eindeutig und
einheitlich integrierte Regionalgesellschaften aufgliedert.
Vielmehr sind strukturell (vor allem konomisch) bedingte kulturelle
und ethnische Durchmischungen und Differenzierungen in den
Nationalstaaten zu beobachten, die ebenfalls neben den oben
angefhrten Aspekten Mglichkeit von Integrationsgesellschaften ad
absurdum fhren. Diesen Sachverhalt gilt es anzuerkennen und sich
politisch darauf einzustellen, indem man eben strukturelle,
rechtlich abgesicherte systemische Inklusion (z.B.
Staatsbrgerschaft) trotz lebensweltlicher Differenz, trotz
Desintegration, eben differenzempfindliche Inklusion (Habermas
1996) ermglicht. Erst die Bereitschaft, Inklusion trotz Differenz
zuzulassen, offenbart die Potentiale, die eine Nationalgesellschaft
ins Spiel bringen kann, um mit dem/den Fremden umzugehen. Erst wenn
sozial nicht mehr versucht wird, sich das Fremde (und das ist nicht
nur in ethnischer Hinsicht gemeint) integrativ einzuverleiben, es
zu dem Selben, dem Eigenen machen zu wollen, erst dann kommt man zu
einem fr die heutige Zeit passenden Konzept von sozialer
Gerechtigkeit (vgl. weiterfhrend Kleve 1999a; 1999b). Aber von
solch einer sozialen Gerechtigkeit scheinen wir derzeit noch weit
entfernt zu sein zumindest gelangt man schnell zu dieser These,
wenn man die jngsten fremdenfeindlichen Gewalttaten in Betracht
zieht, die all diejenigen in Angst und Schrecken versetzen, die
nicht in eine vermeintlich deutsche Welt der nationalen Integration
und kulturellen Identitt hinein passen. Mit Peter Fuchs (2000) kann
davon gesprochen werden, dass wir in Deutschland gerade angesichts
der jngsten rechtsradikalen Gewalttaten eine
Integrationssehnsucht________________________________________________________________________________________________
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erleben, die jedwedes Anderssein nicht toleriert, die die
kuhwarme Welt der Nhe (ebd.) herbeisehnt: Darin rieselt der Schnee,
schmcken Frauen fromm die Fenster, da bauen sich Wlder auf hoch
droben, da besiedeln Gartenzwerge die Vorgrten, da ziert man
Hauswnde mit Metallmwen. Deutschland ist das Mutterland aller
Vereinsmeierei, der Schrebergrten, der Autowaschanlagen. Es ist
kreuzsentimental, es liebt Wunderkerzen und es schwenkt Feuerzeuge.
Sentimentalitt und Ressentiment, das hngt zusammen wie Schferhunde,
Weihnachtsfeiern und KZ-Konzerte (ebd.). Genau in dieser
spiebrgerlich-normalen, ja typisch deutschen Lebenswelt, die nichts
mehr herbeisehnt, als einen kleinen, warmen, ungestrten Raum zum
Leben eine tiefe deutsche Sehnsucht, der mit trockenem Geist und
winterklarer Ironie nicht beizukommen ist (ebd.), gedeiht die
braune Gewalt, so Fuchs. Denn hinter der fremdenfeindlichen Gewalt
steht die (deutsche) Ideologie der bersichtlichkeit, Eindeutigkeit,
Ordnung, kurz: der homogenen Integration. Insofern ist diese Gewalt
eine Kampfansage gegen das unaufhaltsame Zerbersten von homogenen
lebensweltlichen Integrationen; sie entspringt, wie man auch sagen
knnte, der Unfhigkeit, das auszuhalten und zu akzeptieren, was
unsere postmoderne Welt reicher, bunter, interessanter und
vielfltiger, aber auch widersprchlicher, ambivalenter, komplexer
und anstrengender macht: eben Desintegrations-, Differenz- und
Diversivittserfahrungen aufgrund unterschiedlichster sozialer,
konomischer, kultureller und politischer Prozesse innerhalb unserer
globalisierten Gesellschaft. In diesem Zusammenhang drngt sich
freilich die Frage auf, wie man Soziale Arbeit mit Menschen
gestaltet, die an der beschriebenen Unfhigkeit, an dem sozialen
Defizit leiden, das Andere, das Fremde nicht auszuhalten, nicht zu
akzeptieren. Wie ist also eine Soziale Arbeit etwa mit
rechtsradikalen Jugendlichen (z.B. mit Skinheads) mglich? Benedikt
Sturzenhecker (2000) hat in verschiedenen Studien gezeigt, dass
Soziale Arbeit auch in diesem Feld um gesellschaftstheoretisch
przise zu sprechen eine Inklusions- und keine Integrationsaufgabe
hat. An konkreten Beispielen von sozialarbeiterischen Projekten in
Westfalen zeigt er, dass eine erfolgreiche Arbeit etwa mit
Skinheads mglich ist, wenn SozialarbeiterInnen es z.B. neben vielen
anderen Aspekten (siehe ausfhrlich dazu ebd., S. 33ff.) schaffen,
diese Jugendlichen in demokratische politische Strukturen (z.B.
bezglich der Mitbestimmung im Jugendzentrum) zu inkludieren, die
ihnen das Erlernen von Demokratie ermglichen, welche nur
funktioniert in einem Kontext vielfltiger pluraler Interessen.
Sturzenhecker (2000, S. 54) ist der Meinung, dass als Reaktion auf
den grassierenden Rechtsradikalismus gerade unter Jugendlichen
reine Anti-Methoden (z.B. Rechtsextremisten als individuell
Schuldige konstruieren und pathologisieren, Rechtsextremismus
als________________________________________________________________________________________________
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gesellschaftliches Randphnomen definieren und mit Verboten und
reiner Repression zu beantworten) [...] nicht geeignet [sind].
Statt dessen spricht er sich fr eine Potenzierung von Demokratie
[aus], gerade im Angesicht ihrer Gefhrdung. Demokratie zumuten! und
Freiheit aushalten! sind plakative Formulierungen dieses Ziels. In
diesem Sinne kann, so Sturzenhecker (ebd.), die Demokratie
verteidigt werden, indem sie um so strker praktiziert wird. Denn
eine zivile gewaltfreie Verteidigung der Demokratie besteht in
ihrer Ausweitung und Praxis in allen Lebensbereichen (ebd.). Dies
heit natrlich nicht, dass man nun Rechtsradikalen freien Lauf lsst,
im Gegenteil: Zu demokratischen Handeln gehrt auch, die Inhalte und
Methoden des Rechtsextremismus zu verweigern und zu verhindern
(sicherlich auch durch rechtsstaatliche Strafverfolgung) (ebd.;
Hervorhebung von mir; H.K.). So geht es in der Sozialen Arbeit mit
rechtsradikalen Jugendlichen immer auch darum, die rechtsradikale
Identitt, etwa die Integration in der Skinhead-Gruppe und die
dazugehrigen fremdenfeindlichen Verhaltensmuster zu thematisieren
und mit alternativen Mustern und Integrationsformen zu
konfrontieren, diesen Jugendlichen schlielich die Mglichkeit
anderer Integrationsformen erlebbar zu machen. Das Lernziel einer
sozialpdagogischen Arbeit mit Skinheads heit in diesem
Zusammenhang, dass die Jugendlichen fhig werden, Differenz [zu]
ertragen, Verantwortung [zu] bernehmen und mit[zu]bestimmen (ebd.,
S. 43). Soziale Arbeit hat hier eine Praxis von Gleichheit bei
gleichzeitiger Anerkennung von Unterschiedlichkeit (alle anders
alle gleich) (ebd., S. 4) nicht nur durch ihre Orientierungen
vorzuleben, sondern auch sozialpdagogisch zu vermitteln. Wie dies
im einzelnen mglich ist, kann hier allerdings nicht thematisiert
werden (siehe dazu nochmals Sturzenhecker 2000). Festzuhalten
bleibt in diesem Zusammenhang aber, dass allen Menschen in einer
zunehmend desintegrierten Gesellschaft demokratische Inklusion
ermglicht und zugetraut werden sollte. Die Soziale Arbeit knnte
diesbezglich dabei helfen, dass gerade Jugendliche, die in einer
gesellschaftlichen Situation von Unsicherheit und Ohnmacht fr sich
Werte und Handlungsorientierungen entwickeln wollen, Demokratie und
gewaltfreie Konfliktfhrung erleben und einben knnen (ebd., S. 55).
Dies sollte auch fr rechts orientierte Jugendliche gelten, auch
ihnen ist eine Erfahrung der Qualitt von Demokratie (ebd.) zu
vermitteln, indem man ihnen Demokratie zutraut (ebd.). Eine solche
demokratische Orientierung, ein solches demokratisches Zutrauen
geht sicherlich mit groer Toleranz einher, was allerdings nicht
heit, dass auch (fremdenfeindliche) Intoleranz toleriert wird.
Toleriert, ja gefrdert wird jedoch die Inklusion von (auch rechts
orientierten) Jugendlichen (z.B. in demokratische Strukturen),
nicht toleriert, gewaltfrei bekmpft werden allerdings deren
politische Orientierungen der Intoleranz. Dies ist beispielsweise
methodisch mglich, wie ich noch
kurz________________________________________________________________________________________________
Prof. Dr. Heiko Kleve, Inklusion und Exklusion, FHP 2005
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mit Sturzenhecker andeuten will, indem die SozialarbeiterInnen
versuchen, die Jugendlichen zu akzeptieren, wie sie sind, das heit
aber nicht, da sie die politischen berzeugungen und
Gewalthandlungen akzeptieren. Sie trennen zwischen Person und
Politik und vermitteln der Person, da sie erwnscht und wertvoll ist
(ebd., S. 39), und, dies muss ergnzt werden, signalisieren
permanent ihre Ablehnung gegen ihre anti-demokratischen Positionen.
Auf dieser Basis knnen dann auch Streit und Auseinandersetzung ber
die rechtsextremen berzeugungen und ber das Gewalthandeln
stattfinden (ebd.). Resmierend lsst sich sagen, dass es in der
Sozialen Arbeit heute immer auch darum gehen sollte, eine
postmoderne Vision zu entwickeln und lebbar zu machen, in der das
Andere, das Fremde in welcher Hinsicht auch immer eben als
desintegriertes Andere bzw. Fremde anerkannt wird, ohne es deshalb
zu exkludieren; gerade darin, auch den/dem Anderen, der/das sich
nicht integrieren lsst, zum sozialen Recht der gesellschaftlichen
Teilnahme, der Inklusion zu verhelfen, wrde sich zeigen, dass
pluralistische Demokratie bzw. demokratischer Pluralismus nicht nur
eine Floskel, sondern eine lebbare gesellschaftliche Realitt ist.
Es kommt diesbezglich also darauf an, Unterschiede zwar
wahrzunehmen, aber diese auszuhalten, nicht zu berbrcken oder
integrativ zu verringern. Es geht in der sozialen Interaktion und
Organisation darum, beim anderen zuzulassen, dass er anders und
verschieden ist. Es ist die Herausforderung zuzulassen, dass der
andere die Freiheit hat, verschieden sein zu knnen und ihn nicht
einem Anpassungsdruck auszusetzen (Jakubeit 1999, S. 92). Um einer
solchen Realitt nher zu kommen, ist es meiner Ansicht nach zunchst
einmal wichtig, gesellschaftstheoretisch genau zu beobachten und
zwischen den Begriffspaaren Integration/Desintegration und
Inklusion/Exklusion zu unterscheiden. Und so lsst sich abschlieend
postulieren: Inklusion sichern, frdern, ermglichen ja; Integration
voraussetzen oder einfordern nein!
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________________________________________________________________________________________________
Prof. Dr. Heiko Kleve, Inklusion und Exklusion, FHP 2005
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Soziale Arbeit zwischen Inklusion und ExklusionLassen sich
Folgeprobleme funktionaler Differenzierung durch funktionale
Differenzierung lsen?Der Text ist in einer etwas gekrzten Fassung
publiziert in: neue praxis, 5/1997, S. 412-432.
Einleitung Sowohl im differenzierungstheoretischen
soziologischen Diskurs als auch in der
sozialarbeitswissenschaftlichen Debatte ber die gesellschaftliche
Funktion der Sozialarbeit/Sozialpdagogik hat die These von Dirk
Baecker (1994), da sich Soziale Arbeit bzw. soziale Hilfe als
gesellschaftliches Funktionssystem ausdifferenziert hat, das
Inklusionsprobleme der Bevlkerung in die Gesellschaft betreut,
bearbeitet bzw. zu lsen versucht, zu weiteren Auseinandersetzungen
mit diesem Themenfeld gefhrt. Aus differenzierungstheoretischer
Sicht beschreiben etwa Peter Fuchs und Dietrich Schneider (1995)
Soziale Arbeit als sekundres Funktionssystem, das sich aufgrund
einer Inkompatibilitt von funktionaler Differenzierung der
Gesellschaft und den Inklusionsgeboten (bzw. Exklusionsverboten)
der primren Funktionssysteme ausdifferenziert und hinsichtlich
bestimmter Exklusionen, die Exklusionsdriften auslsen (knnen), die
gesellschaftliche Funktion erfllt, diesen (bestimmten) Exklusionen
entgegenzuwirken. hnlich uert sich mittlerweile ebenfalls Niklas
Luhmann (1997, Bd. 2: 633), der allerdings noch nicht von der
sozialen Realitt, sondern lediglich von der Potentialitt ausgeht,
da sich ein neues, sekundres Funktionssystem bildet, das sich mit
den Exklusionsfolgen funktionaler Differenzierung befat.
Vielleicht, so Luhmann (ebd.), knnen wir hier ein Funktionssystem
im Entstehen beobachten. Auch im sozialarbeitswissenschaftlichen
Diskurs wird die Frage, ob es sich im Falle von
sozialarbeiterischer Hilfe bereits um funktionssystemisch
ausdifferenzierte Kommunikation handelt, nicht identisch
beantwortet. Whrend Michael Bommes und Albert Scherr (1996) meinen,
Soziale Arbeit leistet Hilfe, die auf Exklusionsvermeidung,
Inklusionsvermittlung und/oder Exklusionsverwaltung abzielt, welche
aber (noch) nicht funktionssystemisch, sondern lediglich auf der
Ebene von Organisationen zugeordnet werden knnte, ist Roland Merten
(1997) der Ansicht, Sozialarbeit gliedere sich in die
heterarchische und primre Differenzierungstypik der modernen
Gesellschaft ein und sei demzufolge funktional autonom. Obwohl in
den genannten Arbeiten die Frage, ob sich Soziale Arbeit bereits
funktionssystemisch ausdifferenziert hat oder ob sie als
organisatorisch eingebundene soziale Hilfe Anstze der
[funktionalen; H.K.] Ausdifferenzierung (Bommes/Scherr, 1996: 116;
vgl. auch Luhmann, 1997, Bd 2: 633) zeigt, unterschiedlich
beantwortet wird, scheint es
________________________________________________________________________________________________
22Prof. Dr. Heiko Kleve, Inklusion und Exklusion, FHP 2005
dennoch einen Konsens zu geben: Funktionale Differenzierung bzw.
der Weg dorthin wird als Lsungsversuch von zwei Problemkategorien
markiert, die sich durch funktionale Differenzierung erst
generieren: 1. Inklusionsgefhrdungen bzw. Exklusionen von Personen
aus den primren Funktionssystemen Wirtschaft, Familie (Intimitt),
Erziehung/Bildung, Recht, Politik oder Religion (vgl. dazu Baecker,
1994; Fuchs/Schneider, 1995; Bommes/Scherr, 1996; Luhmann, 1997)
und 2. Integrationsgefhrdungen bzw. Desintegrationen bezglich
lebensweltlicher, normativ und intersubjektiv vermittelter sozialer
Bindungen (vgl. dazu aktuell Merten, 1997). Demgegenber wird in der
vorliegenden Arbeit von einer von Ulrich Beck (1996: 46) geuerten
Skepsis ausgegangen, die in Frage stellt, ob die Folgeprobleme
funktionaler Differenzierung ihrerseits durch funktionale
Differenzierung gelst werden knnen. Wird vielleicht funktionale
Differenzierung selbst zu einem solchen gesellschaftlichen Problem,
das nicht mehr durch funktionale Differenzierung bewltigt werden
kann? (vgl. ebd.: 46f./87ff.) Und noch einmal anders gefragt: Ist
funktionale Differenzierung nicht vielmehr eine Strategie vom Stile
Mehr desselben, eine Lsung erster Ordnung,2 die auf Probleme
zweiter Ordnung, also auf Probleme, die dem Institutionensystem der
Industriemoderne selbst [entstammen] (ebd.: 88), nur noch inadquat
reagieren kann? In Anbetracht dieser Skepsis soll im folgenden
zunchst die These validiert werden, da Soziale Arbeit bereits als
funktional ausdifferenziertes sekundres Funktionssystem der
Gesellschaft beschreibbar ist, das personell attribuierbare
Folgeprobleme funktionaler Differenzierung aufgreift und zu lsen
versucht. Die sozial-strukturellen bzw. systemischen
Kontextbedingungen, in denen Soziale Arbeit ihre Hilfe prozessiert,
fhren allerdings zu nicht-intendierten Nebenfolgen des Helfens,
welche die Versuche, die genannten Inklusionsprobleme zu lsen,
erschweren und die sozialarbeiterische Mglichkeit, sozialen
Desintegrationsprozessen erfolgreich entgegenzuwirken, gnzlich in
Frage stellen. Denn die Phnomene, denen sich Soziale Arbeit widmet,
sind nicht nur die Grundlagen ihrer funktionalen
Ausdifferenzierung, sondern sie werden zwangslufig durch
funktionssystemische Inklusion (auch in das sozial-helfende
Teilsystem) mitproduziert und zumindest implizit herausgefordert:
nmlich einerseits Exklusion und andererseits potentielle soziale
Desintegration, welche sich insbesondere durch die Verflssigung von
festen, sozialen, normativ und intersubjektiv vermittelten
Bindungen zeigt.
Lsungen erster Ordnungen sind nach dem system- und
kommunikationstheoretischen Ansatz der Palo Alto Schule solche
Lsungen, die das Problem, das sie lsen sollen, verschrfen. Denn
derartige Lsungen werden in dem Mae selbst zum Problem, wie sie die
Anwendung von immer mehr Manahmen, Versuchen usw. desselben
inadquaten Lsungsinventars herausfordern (vgl.
Watzlawick/Weakland/Fisch,
1974).________________________________________________________________________________________________
Prof. Dr. Heiko Kleve, Inklusion und Exklusion, FHP 2005
2
23
Um der These dieser Arbeit nachzugehen, soll anfangs die
funktionale Differenzierungsform der modernen Gesellschaft speziell
im Hinblick auf die Unterscheidungen Inklusion/Exklusion und
Integration/Desintegration betrachtet werden (I), um daran
anschlieend zu plausibilisieren, da sich Soziale Arbeit als
sekundres Funktionssystem beschreiben lt. So wird die
funktionssystemische Kommunikation von sozialer Hilfe
veranschaulicht, um insbesondere jene Probleme, jene
nicht-intendierten Effekte zu kennzeichnen, die ein
ausdifferenziertes Hilfesystem zuallererst schafft (II). Schlielich
wird im Anschlu an Rodrigo Jokisch (1996, insb.: 170/172/185) die
These vertreten, da innerhalb der funktionalen
Differenzierungstypik der Gesellschaft bereits eine neue Form der
Differenzierung kalibriert, die sich ansatzweise auch schon - oder
gerade (!) - am Beispiel der Sozialen Arbeit beobachten lt: eine
reflexive Differenzierung (III).3
I Funktionale Differenzierung Die moderne Gesellschaft lt sich
in Abgrenzung zu vormodernen Gesellschaften, die entweder als
segmentr oder als stratifikatorisch differenziert beschrieben
werden, als eine primr funktional differenzierte Gesellschaft
bezeichnen. Dies ist ein zentraler diagnostischer Aspekt, von dem
die gesellschaftstheoretischen Analysen der
funktional-strukturellen Systemtheorie ausgehen (s. etwa Luhmann,
1986, 1988, 1997; Mayntz u.a., 1988; Willke, 1989, 1993).4 Whrend
segmentre Differenzierung die gesellschaftliche Gliederung in
soziale Segmente, wie Stmme, Clans oder Familienverbnde meint und
stratifikatorische Differenzierung eine schichtspezifische
gesellschaftliche Einteilung beschreibt, heit funktionale
Differenzierung, da die Gesellschaft in funktional voneinander
unabhngige Teilsysteme (Wirtschaft, Familie, Politik, Erziehung,
Wissenschaft, Recht oder Religion) zerfllt. Die moderne
Gesellschaft ist also in Funktionssysteme differenziert, die
jeweils nach eigenen Kriterien, nach eigenen Systemrationalitten,
ganz konkrete gesamtgesellschaftliche Funktionen erfllen, fr die es
keine anderen gesellschaftlichen BearbeitungsmglichkeitenDies wre
natrlich ein ausgesprochen unerhrter Sachverhalt; denn kaum da die
These von Sozialer Arbeit als funktionalem Teilsystem validiert
ist, wird behauptet, da dieses Teilsystem bereits - zumindest in
Anstzen ein reflexives, ein seine eigenen Beobachtungen
(zielgerichtet) beobachtendes und mithin sich selbst
steuerndlimitierendes gesellschaftliches Subsystem sein soll, ein
Teilsystem also, das nicht mehr Lsungen erster Ordnung, sondern
solche zweiter Ordnung prozessiert und damit angemessener,
sozusagen postmodernaufgeklrt (vgl. Kleve, 1997) auf die
skizzierten Probleme zweiter Ordnung reagiert. 4 Auch die moderne
kritische Soziologie, die etwa mit Jrgen Habermas Werk Theorie des
kommunikativen Handelns markiert werden kann, geht von einer
funktionalen, sub-systemischen gesellschaftlichen Differenzierung
aus (vgl. Habermas, 1981,
1988).________________________________________________________________________________________________
Prof. Dr. Heiko Kleve, Inklusion und Exklusion, FHP 20053
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gibt
als
die
jeweils
funktionssystemischen.
Jedes
Funktionssystem
operiert
als
autopoietisches, selbstreferentiell-geschlossenens Sozialsystem
(vgl. Luhmann, 1984) - womit sich (jeweils wirtschaftliche,
familire, politische, pdagogische, wissenschaftliche, rechtliche
oder religise) operativ-kommunikative Geschlossenheiten generieren,
die sich mittels binrer Codes und den dazugehrigen
Kommunikationsmedien vermitteln und Funktionssysteme in der
Gesellschaft als soziale Systeme in Abgrenzung sowohl zu einer
sozialen als auch zu einer psychischen Umwelt ausdifferenzieren.5
Einfacher gesagt, in der Wirtschaft geht es primr um die eindeutig
zu entscheidende Frage, kann gezahlt werden oder nicht, im
Rechtssystem um die Differenz von Recht und Unrecht, in der
Wissenschaft um Wahrheit oder Unwahrheit von Erkenntnissen6 oder in
der Politik um die Macht (Regierung) oder Ohnmacht (Opposition),
kollektiv bindende Entscheidungen zu treffen und durchzusetzen. Das
Modell der Autopoiesis bringt in diesem Zusammenhang drei Aspekte
auf den Punkt: 1. da wirtschaftliche, rechtliche, wissenschaftliche
oder politische Operationen eben nur in den jeweiligen
Funktionssystemen Wirtschaft, Recht, Wissenschaft oder Politik
vorkommen und sonst nirgendwo in der Gesellschaft; 2. da diese
Operationen immer nur an andere Operationen des gleichen Typs
anschlieen knnen, die permanent neu hervorgebracht werden mssen,
damit sich die Systeme kontinuieren knnen und 3. da die Dynamik der
Funktionssysteme auch nur durch eigene Operationen determiniert
werden kann. Wichtig in diesem Zusammenhang ist, da
Funktionssysteme hinsichtlich ihrer exklusiven Bearbeitung
gesamtgesellschaftlicher Aufgaben relativ immun gegenber
funktionssystemfremden Einflufaktoren sind; in diesem Sinne handelt
es sich um verselbstndigte, independente funktionelle Teilsysteme
(vgl. Mayntz u.a., 1988), die aber zugleich hinsichtlich der
gegenseitigen Bereitstellung von jeweiligen Leistungen aufeinander
angewiesen, also interdependent sind.7
Niklas Luhmann hat diesbezglich im Verlaufe der letzten zehn
Jahre eine Reihe von Bchern verffentlicht, die die These der
funktionalen Differenzierung am Beispiel der Funktionssysteme
Wirtschaft (s. Luhmann, 1988), Wissenschaft (s. Luhmann, 1990a),
Recht (s. Luhmann, 1993) und Kunst (1995a) jeweils ausfhrlich
darstellen. 6 Wahrheit bzw. Unwahrheit von Erkenntnissen ist in
diesem Zusammenhang keineswegs im korrespondenztheoretischen Sinne
einer realistischen Epistemologie gemeint, sondern im Sinne einer
konstruktivistischen Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie als
Anschlufhigkeit oder Passung (vgl. Glasersfeld, 1985) bzw.
Nicht-Anschlufhigkeit von Beobachtungen an Beobachtungen bzw.
Kommunikationen an Kommunikationen. So fungiert Wahrheit fr die
Wissenschaft der Gesellschaft (vgl. Luhmann, 1990a) als symbolisch
generalisiertes Kommunikationsmedium im Zusammenhang mit dem binren
Code wahr/unwahr, der nicht verwechselt werden darf mit der
logischen Distinktion wahr/falsch (vgl. dazu auch Lohmann, 1994). 7
Vgl. dazu auch Luhmann, 1997: 757ff., der diesbezglich die
Wichtigkeit der Unterscheidung von Funktion und Leistung
herausstellt.________________________________________________________________________________________________
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Der beschriebenen Differenzierungstypik der modernen
Gesellschaft knnen sich auch die Menschen nicht entziehen; zwar ist
ihre gesellschaftliche Teilnahme prinzipiell nicht mehr von ihrer
Stammes- oder Schichtzugehrigkeit abhngig; denn die
Funktionssysteme sind segmentren oder stratifikatorischen
Differenzen gegenber unsensibel. Aber: Wer an den
funktionssystemisch produzierten materiellen bzw. kommunizierten
symbolischen Ressourcen teilhaben will, der mu sich deren
Inklusionsbedingungen anpassen (knnen); ansonsten riskiert er
Exklusion, die seine physische und psychische Reproduktion
gefhrdet.
I.1 Inklusion/Exklusion versus Integration/Desintegration Die
Unterscheidung Inklusion/Exklusion beschreibt, wie in funktional
differenzierten Gesellschaften Menschen als Personen an den
Leistungskreislufen der Funktionssysteme mittels symbolisch
generalisierter Kommunikationsmedien (z.B. Geld, Macht, Liebe,
Recht, Glaube etc.) teilnehmen knnen (vgl. ausfhrlich dazu Luhmann,
1995b). Dabei bezeichnet Inklusion die Innenseite der
Unterscheidung: whrend die personelle die Teilnahme Auenseite an
der funktionssystemischer Kommunikation; Exklusion
Unterscheidung bezeichnet: die personelle Nicht-Teilnahme an
funktionssystemischer Kommunikation. Allerdings verweist der
differenztheoretische Formbegriff Inklusion generell auf Exklusion
(vgl. ebd.: 241). Denn Inklusion in Funktionssysteme fhrt dazu, da
das Unteilbare, das Individuum, geteilt wird, das es dividuiert
(vgl. Fuchs, 1992: 199ff., insb. 204) und nur noch als
kommunikative Collage von Ereignissen, als Bndel von
Verhaltenserwartungen, d.h. als Person (vgl. Luhmann, 1991a)
jeweils funktionssystemspezifisch relevant wird; alles, was an
Menschlichem durch die funktionssystemischen Beobachtungsraster
fllt, bleibt exkludiert: die einmalige Individualitt jeder und
jedes einzelnen (vgl. Nassehi, 1997: 14). Da Menschen also nur in
kommunikativ-beobachtbarer, d.h. in sozial-unterscheid und
bezeichenbarer Weise,8 d.h. niemals vollstndig oder ganz an
funktionssystemischer Kommunikation teilnehmen knnen, sondern
lediglich ausschnitthaft, bleiben sie zugleich exkludiert;
inkludiert werden kann nur ein kommunikativ beobachtbares soziales
Konstrukt ihrer selbst. Wie Jrgen Habermas (1988: 442) ausfhrt, hat
Ulrich Beck diese Dialektik von Inklusion und Exklusion, in deren
Dynamik die Individuen sich permanent mit wechselnden, mithin
widersprchlichen, aber standardisierten Systemanforderungen
konfrontiert sehen, die
Zum system- bzw. differenztheoretischen Begriff des Beobachtens
als (biologische, psychische und soziale) Operation des
Unterscheidens und Bezeichnens s. etwa Luhmann, 1990a:
68ff.________________________________________________________________________________________________
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26
ihre traditionalen Sozialintegrationen9 gefhrden oder gar
auflsen, aus der Sicht der subjektorientierten Soziologie
beschrieben (s. etwa Beck, 1986: 115ff.; Beck/BeckGernsheim, 1994).
Die Menschen werden von den verdinglichten Subsystemen [als
Individuen; H.K.] ausgeschlossen, aber gleichzeitig als
Arbeitskrfte und Verbraucher, als Beitragszahler und Versicherte,
als Whler, Schulpflichtige usw. funktionsspezifisch eingegliedert
(Habermas, 1988: 442; Hervorhebung im original). Inklusion
beschreibt die primre Form von menschlicher Vergesellschaftlichung
in der Moderne, die keineswegs mehr plausibel mittels der Kategorie
soziale Integration verstehbar ist. Whrend soziale Integration etwa
auf die Zugehrigkeit zu sozialen Gruppen (z.B. Stnde, Klassen,
Schichten, Familien etc.) verweist und einerseits ber normative,
solidarische Verbundenheiten sowie kollektive Identitten und
andererseits ber den intentionalen Charakter sozialer Beziehungen
vermittelt ist (vgl. Peters, 1993: 41), beschreibt Inklusion
lediglich eine funktionale System/Umwelt-Beziehung von Menschen zur
Gesellschaft, die (nur noch) ber die Teilnahme an Funktionssystemen
kommunikativ erreichbar ist (vgl. dazu auch Fuchs, 1992). Inklusion
und Integration sind dementsprechend Begriffe, die im Gegensatz zur
vormodernen Gesellschaft in der Moderne etwas grundstzlich Anderes
bezeichnen. Die Inklusion in vormodernen, also segmentierten oder
stratifizierten Gesellschaften lt sich noch nach dem
Integrationsparadigma fassen: Weil in beiden Differenzierungsformen
die Inklusion dem Differenzierungsprinzip folgt [...], erfolgt der
Zugriff dieser Gesellschaftstypen auf ihr Personal durch die
Ermglichung individueller Internalisierung sozial integrierender
Norm- und Wertemuster sowie durch eine so hergestellte
Parallelisierung individueller Aspirationen und sozialer
Reproduktionsbedingungen. In beiden Sozialformen werden Menschen je
einem Teilsystem bzw. je einer Gruppe zugeordnet, die sich dem
Differenzierungsprinzip der Gesellschaft fgt (Nassehi, 1997: 9;
Hervorhebung von mir). Mit anderen Worten, in vormodernen
Gesellschaften muten Menschen einer sozialen Integrationsform
angehren bzw. Mitglied in einer Gruppe bzw. in einem sozialen
System sein, um ihre Partizipation an der Gesellschaft zu
realisieren; in modernen Gesellschaft mssen Menschen an mehreren
Funktionssystemen zugleich partizipieren knnen, um ihre physische
und psychische Existenz zu reproduzieren; sie drfen, wollen sie
ihre Inklusionsfhigkeit nicht gefhrden, niemals so (fest)
integriert sein, da ihnen die Freiheit fr9
Der Begriff Sozialintegration geht auf David Lokwood zurck, der
diesen von Systemintegration unterscheidet (vgl. dazu Peters, 1993:
41; Luhmann, 1997: 618). Auch Jrgen Habermas (1981: 179/226)
differenziert - scheinbar unabhngig von Lokwood - zwischen sozialer
und systemischer Integration. Whrend soziale Integration auf die
Koordination von Handlungen verweist, bezeichnet systemische
Integration die Koordination der ausdifferenzierten
gesellschaftlichen Teilsysteme.
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wechselnde Inklusionen verlorengeht. Die primre
Differenzierungsform der modernen Gesellschaft liegt also quer zu
den (traditionalen) sozialen Integrationen der Menschen. Die
systemischen Strukturen der modernen Gesellschaft sind hinsichtlich
ihrer Funktionalitt offensichtlich nicht auf soziale
Integrationsformen angewiesen, sondern im Gegenteil: sie scheinen
diese Integrationen, die sich etwa in sozialen Klassen und
Schichten, Kleinfamilien mit den in sie eingelassenen
Normalbiographien von Mnnern und Frauen, die Normierungen der
Berufsarbeit usw. spiegeln, der potentiellen Auflsung preiszugeben
(s. dazu etwa Beck, 1986: 113ff.). Kurz gesagt, der moderne Mensch
ist sozial potentiell desintegriert (vgl. Nassehi, 1997: 12f.);
erst diese potentielle Desintegration macht ihn so frei, moralisch
und sozial so flexibel und mobil, da er sich den standardisierten
Inklusionsanforderungen der Funktionssysteme anpassen kann.10
Whrend Desintegration also auf die unter den Bedingungen der
Moderne notwendige Lockerung sozialer und moralischer Bindungen
verweist, beschreibt die mit Inklusion einhergehende Exklusion, da
Individuen fr soziale (Funktions-)Systeme zu deren Umwelt gehren;
lediglich jene personell attribuierbaren kommunikativen Ereignisse
werden zu Elementen funktionssystemischer Kommunikation, die sich
deren spezifischer (wirtschaftlicher, familirer, politischer,
rechtlicher etc.) Eigenlogik anschlieen knnen. Die moderne
Gesellschaft reproduziert sich also darber, da nicht anhand von wie
immer integrierten Menschen, sondern von Handlungen und
Kommunikationen unterschieden werden kann, ob es sich um Recht oder
Religion, Wirtschaft oder Politik, Wissenschaft oder Massenmedien,
Erziehung oder Sport handelt (Baecker, 1997: 49). Die damit
einhergehende Mglichkeit, sich den jeweiligen und sehr
unterschiedlichen wirtschaftlichen, familiren, politischen,
pdagogischen etc. Inklusionsanforderungen personell-handelnd
anzupassen, ist die notwendige Voraussetzung fr wechselnde
Inklusionen in die gesellschaftlichen Funktionssysteme, die
prinzipiell keine/n mehr ausschlieen, aber auch nicht bedingungslos
inkludieren (vgl. Bommes/Scherr, 1996: 110ff.). Die
Inklusionsbedingungen werden vielmehr von den Funktionssystemen in
Eigenregie lokal reguliert (vgl. Fuchs/Schneider, 1995: 206). Man
mu sich als Individuum bestimmten Selbstdisziplinierungen
unterziehen, um als erwartungsstabile Person fr die
Funktionssysteme relevant werden zu knnen (vgl. Bommes/Scherr,
1996: 112) - z.B. mu
Diese modernen Gesellschaftsbedingungen lassen sich auch
kritisch mit dem Marxschen Begriff der Entfremdung deuten, der auf
den Punkt bringt, da etwas menschlich Gemachtes, nmlich das
Soziale, sich unter bestimmten sozialen (Produktions-)Bedingungen
dem Menschen zusehends entzieht, sich ihm als objektiver
Sachverhalt gegenberstellt, der eigene Dynamiken, Logiken bzw.
Rationalitten generiert, denen der Mensch sich nun anpassen mu. Mit
Habermas (1981: 229ff.) kann dieser Sachverhalt auch als
Entkopplung von System und Lebenswelt bezeichnet
werden.________________________________________________________________________________________________
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man Geld haben bzw. verdienen (Wirtschaft), sich der schulischen
Erziehung anpassen knnen (Bildung/Erziehung), an Gott gauben
(Religion), beziehungs- und eventuell konfliktfhig sein (Intimitt
und Familie), ein Staatsbrger sein, der ffentlich reden und
Interessen durchsetzen kann (Politik) usw. Probleme einer
besonderen, nicht funktionalnormalen, sondern einer dysfunktionalen
Art von Exklusion treten dann auf, wenn mglicherweise bereits eine
dieser unterschiedlichen Systemerwartungen enttuscht werden mu.
I.2 Exklusionsdrift Denn die faktische Ausschlieung aus einem
Funktionssystem - keine Arbeit, kein Geldeinkommen, kein Ausweis,
keine stabilen Intimbeziehungen, kein Zugang zu Vertrgen und zu
gerichtlichem Rechtsschutz, keine Mglichkeit, politische
Wahlkampagnen von Karnevalsveranstalungen zu unterscheiden,
Analphabetentum und medizinische wie auch ernhrungsmige
Unterversorgung - beschrnkt das, was in anderen Systemen erreichbar
ist und definiert mehr oder weniger groe Teile der Bevlkerung, die
hufig auch wohnmig separiert und damit unsichtbar gemacht werden
(Luhmann, 1997, Bd. 2: 630f.). In diesen Lagen der
Exklusionsgefhrdung, die bereits dann entstehen knnen, wenn die
Inklusion in ein Funktionssystem nicht realisiert werden kann,
spiegelt sich personell die Gleichzeitigkeit von Independenz und
Interdependenz der ausdifferenzierten gesellschaftlichen
Funktionssysteme sowie deren (System-)Integration in
problematischer Weise. Denn eine Person kann Leistungen
ausschlielich von jenem Funktionssystem erhalten, welches diese
Leistungen exklusiv fr die Gesamtgesellschaft bereitstellt und von
keinem anderen sonst (was auf Independenz verweist), whrend sie
diese Leistungen ins Spiel bringen mu, um in andere
Funktionssysteme inkludieren zu knnen (was auf Interdependenz
verweist). In diesem Sinne wirkt die funktionssystemische
Integration, d.h. die wechselseitige Einschrnkung von
Freiheitsgraden der Funktionssysteme (vgl. Luhmann, 1997, Bd. 2:
604), hinsichtlich der Gewhrung von Inklusionsmglichkeiten hemmend.
Obwohl die funktional differenzierte Gesellschaft permanent
bestimmte, oben beschriebene Exklusionen produziert, lt sich in der
Operationsweise der Funktionssysteme ein Inklusionsgebot (bzw. ein
Exklusionsverbot) beobachten; dieses tritt mit der funktionalen
Differenzierungsform der Gesellschaft und ihrer
Inklusions-/Exklusions-Regulation in ein Verhltnis der
Inkompatibilitt (vgl. Fuchs/Schneider, 1995: 207), weil es die
Grundlage moderner Vergesellschaftung der Menschen, unabhngig von
ihrer sozialen Integration,
d.h.________________________________________________________________________________________________
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nur nach funktionalen Kriterien frei und gleich inkludieren zu
knnen, unterminiert. Denn, so soll noch einmal betont werden,
bestimmte funktionssystemische Inklusionen setzen sich gegenseitig
voraus, so da die Freiheit und Gleichheit bezglich der
Inklusionsmglichkeiten davon abhngt, ob bestimmte
Minimalinklusionen personell gesichert werden knnen; ansonsten
droht eine Exklusionsdrift, die davon betroffene Personen aus
anderen Funktionsbereichen nach und nach, mehr oder minder stark
mitausschliet (Fuchs/Schneider, 1995: 209). Generalbeispiel ist
hier, da mangelnde Zahlungsmglichkeiten [aufgrund wirtschaftlicher
Exklusion; H.K.] Chancen aktiver Inklusion in fast allen
Inklusionsdomnen mindern (ebd.: 210). In diesem Zusammenhang
sprechen Fuchs und Schneider (ebd.: 209) sehr treffend vom
Hauptmann-von-Kpenick-Syndrom funktionaler Differenzierung. Denn
bekanntlich kann die Figur von Carl Zuckmayer, der Hauptmann von
Kpenick, sich polizeilich nicht anmelden, weil sie keine Arbeit hat
und Arbeit kann sie nur bekommen, wenn sie polizeilich gemeldet
ist. Die Beobachtung der hiermit beispielhaft markierten
dysfunktionalen Exklusionsdrift, welche durch die operativ und
funktional independente, aber leistungsinterdependente Dynamik der
primren gesellschaftlichen Funktionsysteme generiert wird, ist die
Basis fr die sekundre Funktion der Sozialen Arbeit.
II Soziale Arbeit als sekundres Funktionssystem soziale Hilfe
Soziale Arbeit lt sich als eine sekundre Form funktionaler
Ausdifferenzierung beschreiben; denn sie differenziert sich erst im
Anschlu an jene personellen Exklusionsgefahren aus, welche von den
primren Funktionssystemen produziert werden.11 Diese
dysfunktionalen Exklusionsgefahren knnen funktionale Inklusionen
gnzlich unmglich machen und resultieren etwa aus bestimmten
psycho-sozialen Lagen - z.B. Krankheit, Alter, Invaliditt,
Arbeitslosigkeit, Rechtlosigkeit, mangelnde Ausbildung oder
Familienzerfall -, die ber die sozialstaatlichen Sicherungssysteme
aufgefangen werden sollen und, wenn das nicht oder nur in
unzureichendem Mae gelingt, von der Sozialen Arbeit, z.B. in Form
von Geldzuteilung (Sozialhilfe), Beratung, Erziehung, Bildung oder
stellvertretendem Handeln, betreut werden. Soziale Arbeit ist also
ein System der AuffangIn dem Sinne, da Soziale Arbeit sich als
Reaktion auf die personellen Folgeprobleme funktionaler
Differenzierung, der Exklusionsgefahren, ausdifferenziert, ist sie
mit den ebenfalls auf diese Probleme reagierenden sozialen
Bewegungen funktional quivalent (vgl. Hellmann, 1996: 24f., Fn.
48). Insofern ist es keineswegs erstaunlich, da es immer wieder zu
engen (z.B. personellen) Kopplungen zwischen sozialen Bewegungen
und der Sozialen Arbeit kommt; denn jene helfen mit, das zu
thematisieren, was diese individuellfallbezogen bearbeitet und zu
lsen versucht: soziale Probleme (vgl. Nowak,
1988).________________________________________________________________________________________________
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und Zweitsicherung (Bommes/Scherr, 1996: 114), das sich im
Gegensatz zu den Systemen der Erstsicherung - Kranken-, Renten- und
Arbeitslosenversicherung - den nicht generalisierbaren und mithin
nicht versicherbaren Lebensrisiken widmet.12 Um die These, da sich
Soziale Arbeit in der Durchfhrung der genannten Aufgaben als ein
gesellschaftliches Funktionssystem ausdifferenziert hat, zu
plausibilisieren, soll sie im folgenden beschrieben werden mit
Hilfe der Kriterien, die ein Funktionssystem als ein solches
kennzeichnen, nmlich Funktion, Leistung, operative Geschlossenheit
(Autopoiesis) und binre Codierung (vgl. Baecker, 1997: 50);13 wobei
das zuletzt genannte Kriterium einen entgrenzten Gesellschaftsbezug
funktional autonomer Sozialarbeit kenntlich machen wird. Zugleich
bringen die nchsten Abschnitte Nebenfolgen in den Blick, welche
eine funktional ausdifferenzierte Soziale Arbeit durch ihre Hilfe
allererst schafft.
II.1 Funktion Das erste und wichtigste Prfkriterium zur
Identifizierung eines Funktionssystems ist die Frage nach einer
Funktion, die durch das jeweilige Funktionssystem fr die
Gesellschaft erfllt wird (vgl. etwa Luhmann, 1997: 757f.). Bezglich
dieser Frage gab es in der Geschichte der wissenschaftlichen
Reflexion Sozialer Arbeit nicht wenige Antworten. Eine populre
Antwort, die etwa auf Arbeiten Klaus Mollenhauers oder Kurt
Utermanns zurckgeht (vgl. Merten, 1997: 91) und auch von Merten
(1997: 86ff.) in seiner funktionalen und handlungstheoretischen
Analyse der Sozialen Arbeit aufgegriffen wird, ist, Soziale Arbeit
als soziale Integrationsarbeit zu definieren. Diese
Funktionsbestimmung scheint in der Regel auch mit dem
professionellen Selbstverstndnis vieler Sozialarbeiter und
Sozialpdagoginnen bereinzustimmen, die hnlich wie Wilhelm Heitmeyer
(1993; 1994) davon ausgehen, da es gesellschaftliche
Desintegrationsprozesse sind, die zu sozialen
So formuliert auch Luhmann (1996: 282), da soziale Hilfe,
Entwicklungshilfe und manche Therapieformen genauso wie
Versicherungen zu den Formen nachtrglicher Vorsorge zu gehren
[scheinen], mit denen die Gesellschaft auf die durch sie selbst
geschaffenen Unsicherheiten reagiert. 13 Ein weiteres Kriterium,
nmlich jenes, welches als Medium bezeichnet wird, mu in diesem
Beitrag aus Grnden des Umfangs ausgeklammert werden. (Siehe dazu
bereits, allerdings nicht sehr ausfhrlich: Baecker, 1994: 104.;
Fuchs/Schneider, 1995: 216). Es wre eine eigenstndige Untersuchung
wert, ob sich als Beschreibung des Mediums der Sozialarbeit
Frsorglichkeit (vgl. Baecker, 1994: 104) oder eher die soziale
Konstruktion des Klienten (vgl. Fuchs/Schneider, 1995: 217) eignet.
Wenn man den Klienten als Medium der Sozialarbeit beschreiben
knnte, liee sich an eine Arbeit von Luhmann (1991b) anschlieen, der
als Medium der Erziehung das soziale Konstrukt Kind markiert sowie
an den Sammelband von Fuchs und Gbel (1994), in dem versucht wird,
den Menschen als das Medium der Gesellschaft darzustellen. Medien,
dies sei hier noch festgehalten, sind sozial notwendig, um die
Unwahrscheinlichkeit insbesondere von spezieller Kommunikation
(z.B. von Hilfe) in Wahrscheinlichkeit, mithin Erwartbarkeit zu
transformieren (vgl. Luhmann, 1984: 220ff.). Medien selegieren also
die Motivation und Annahme von Kommunikation und strukturieren
damit zugleich den Konstruktionsproze sozialer
Realitt.________________________________________________________________________________________________
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Problemlagen wie etwa der rechtsradikalen Jugendgewalt fhren.
Nur sind diese Desintegrationsprozesse in der modernen Gesellschaft
keineswegs mehr als Abweichungen von einer als Norm markierten
Integration zu begreifen (s.o.); sie sind vielmehr normale
strukturelle Effekte, die daraus resultieren, da 1.
funktionssystemische Inklusion prinzipiell unabhngig von sozialen
Integrationsformen realisiert werden mu und da 2. soziale
Integration fr die Mglichkeit, wechselnde freie Inklusionen in die
Funktionssysteme der Gesellschaft zu realisieren, hemmend wirken
kann.14 Man scheint Soziale Arbeit in der modernen Gesellschaft
nicht treffend erklren zu knnen, wenn man Desintegration als
abweichend und die sozialarbeiterische Funktion als normalisierende
Integrationsarbeit begreift. Soziale Arbeit als sekundres
Funktionssystem kann aus professionstypischen,
systemisch-strukturellen und beratungslogischen Grnden auch nicht
bewirken, wozu die primren Funktionssysteme nicht in der Lage sind,
was sie vielmehr unterminieren: eine handlungsbezogene, normative
und intersubjektive Integration von Menschen in lebensweltliche
Zusammenhnge;15 Soziale Arbeit luft aus den drei genannten Grnden
auf das Gegenteil hinaus: 1. Wenn Menschen in der Komplementrrolle
Klient (vgl. Stichweh, 1988: 262/268f.) proffessionellen
Sozialarbeitern gegenberstehen, mithin im Funktionssystem Soziale
Arbeit inkludieren und soziale Hilfe in Anspruch nehmen (mssen),
dann entziehen sie sich zunchst einmal lebensweltlichen bzw.
familir-intimen Integrationsmglichkeiten; denn sie lsen ihre
Probleme nicht in einer auf
lebensweltlich-verstndigungsorientierter Rationalitt (vgl.
Gngler/Rauschenbach, 1986: 151) und auf Alltagswissen beruhenden
Interaktion mit Verwandten oder Freunden, sondern mit
Expertenwissen verwaltenden Professionellen, die
Funktionale Differenzierung, so liee sich in diesem Zusammenhang
auch zeigen, geht zwingend mit Individualisierung und das heit
auch: mit Individualisierung von - nicht mehr unbedingt nach
traditionalen Klassen und Schichten differerenzierten -
Ungleichheitslagen einher (vgl. Luhmann, 1987). Unter diesen
Bedingungen erscheint es passender, soziale Ungleichheiten nicht
mehr ausschlielich mit Klassen- und Schichtmodellen der
traditionellen strukturellen Soziologie zu deuten, sondern die
Ungleichheitsforschung mit der Untersuchung von mehr oder weniger
individualisierten Lebensstilen zu verbinden (s. dazu ausfhrlich
Mller, 1992). 15 Mit Bezug auf Bernhard Peters (1993: 93ff.) stellt
Merten (1997: 96) sich die Integrationsfunktion der Sozialen Arbeit
dreifach dimensioniert vor: 1. hinsichtlich einer funktionalen
Koordination von Handlungen; 2. hinsichtlich einer moralischen
Integritt, die mit der Herausbildung von Werten, Lebensmastben und
-zielen einhergeht und 3. hinsichtlich einer expressiven
Gemeinschaft, in der die Ziele aller Beteiligten angemessene
Bercksichtigung finden. Welche hohen, aus meiner Sicht:
unerfllbaren Ansprche an eine funktional differenzierte Soziale
Arbeit damit angemeldet werden, drfte verstndlich werden, wenn man
bercksichtigt, da diese dreidimensionale Integration auch dort
immer wieder scheitert, wo sie eigentlich die besten Chancen htte
zu gelingen, wo im Gegensatz zu den groen Funktionssystemen die
Personen auch mit ihrem nicht funktionalen Verhalten relevant sind:
in der Familie (vgl. Luhmann, 1990b) bzw. in (lebensweltlichen)
Intimund Freundschaf