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Individualität und Objektivität Zur Methodologie der Kulturwissenschaften am Beispiel von Heinrich Rickert Ilja Karenovics [email protected] 2001
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Individualität und Objektivität. Zur Methodologie der Kulturwissenschaften am Beispiel von Heinrich Rickert

Mar 21, 2023

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Susanne Bickel
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Individualität und Objektivität Zur Methodologie der Kulturwissenschaften am Beispiel von Heinrich Rickert

Ilja Karenovics [email protected] 2001

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Inhaltsverzeichnis

Einleitung ......................................................................................................... 5

1. Das Problem und seine Geschichte ............................................................. 7

1.1 Die ‹Geisteswissenschaften› ........................................................................ 7 1.2 Grundsätzliche Unterscheidungen ................................................................ 9 1.3 Von Dilthey zu Rickert .............................................................................. 10

1.3.1 Wilhelm Dilthey (1833–1911) .......................................................... 10 1.3.2 Neukantianismus – Wilhelm Windelband (1848–1915) ................... 12

2. Heinrich Rickert: «Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft» .......... 14

2.1 Heinrich Rickert (1863–1936) ................................................................... 14 2.2 «Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft» ............................................ 16

2.2.1 Der Gegensatz .................................................................................. 16 2.2.2 Die materiale Differenz .................................................................... 18 2.2.3 Die Bedeutung der ‹Begriffsbildung› ............................................... 19 2.2.4 Die naturwissenschaftliche Methode ................................................ 20 2.2.5 Die Kulturwissenschaften und ihre Methode .................................... 22 2.2.6 Einwände .......................................................................................... 26

2.3 Kritische Bemerkungen .............................................................................. 29

3. Ausblick ...................................................................................................... 33

3.1 Max Weber und die Folgen: Das Wertfreiheitspostulat ............................. 33 3.2 Moderne wissenschaftstheoretische Konzepte ........................................... 35

3.2.1 ‹Erklären› – Logisch-analytische Ansätze ........................................ 36 3.2.2 ‹Verstehen› – Der hermeneutische Ansatz ........................................ 38

Schlußbetrachtung ......................................................................................... 39

Literaturverzeichnis ...................................................................................... 42

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Einleitung

«Im Ganzen sind die wissenschaftlichen Methoden mindestens ein ebenso wichtiges Ergebnis der Forschung als irgend ein sonstiges Resultat: denn auf der Einsicht in die Methode beruht der wissen-schaftliche Geist, und alle Resultate der Wissenschaft könnten, wenn jene Methoden verloren giengen, ein erneutes Ueberhand-nehmen des Aberglaubens und des Unsinns nicht verhindern.»1

Friedrich Nietzsche

«Es ist eine sehr geistreiche (!) Forderung, die ‹Natur› auf ‹natürli-che› Weise erklärt sehen zu wollen.»2

Christian Morgenstern

Bei der staatlichen Förderung von zehn bewilligten Nationalen Forschungsprogrammen in der Schweiz mit insgesamt 126 Millionen Franken gingen die Sozial- und Geisteswissen-schaften dieses Jahr – trotz 85 eingereichten Vorhaben – vollständig leer aus. Zur Begrün-dung sagt der mitverantwortliche Staatssekretär Charles Kleiber: «Es fehlt den Sozial- und Geisteswissenschaften an gemeinsam getragenen und akzeptierten Kriterien zur Bestimmung des wissenschaftlichen Werts ihrer Aussagen und Theorien. Ohne solche Kriterien zur Quali-tätsbestimung gibt es keine wirkliche Konkurrenz in den verschiedenen Geistes- und Sozial-wissenschaften.»3 Nicht weiter verwunderlich ist auf diesem Hintergrund, was der Germanist Hartmut Böhme vor gut zehn Jahren in seiner Oldenburger Universitätsrede Über das ge-genwärtige Selbstbewußtsein der Geisteswissenschaften feststellte: «Geisteswissenschaftler leiden traditionell unter Minderwertigkeitskomplexen und reagieren auf jede Legitimations-frage wie Espenlaub.»4 – Die Antwort auf die Frage, weshalb dem so sei, setzt die Auseinan-dersetzung mit anderen, fundamentaleren Fragen voraus: Was ist Wissenschaft? Ist die mo-derne Naturwissenschaft die einzige Form von Wissenschaft, die (in welchem Sinne auch immer) brauchbare Erkenntnisse produziert, die einzige, die ‹Objektivität› für sich beanspru-chen kann und ihren Namen damit zu Recht trägt?

Der Neukantianer Heinrich Rickert (1863–1936) war es, der, neben anderen, vor rund hundert Jahren den Terminus ‹Kulturwissenschaft› als Gegenbegriff zur offensichtlich weni-ger legitimationsbedürftigen ‹Naturwissenschaft› einführte. – Von ‹Kulturwissenschaft›

1 FRIEDRICH NIETZSCHE, Kritische Studienausgabe [KSA], hrsg. v. G. Colli u. M. Montinari, München 1988, Bd. 2, S. 360 (Menschliches, Allzumenschliches I,635). 2 CHRISTIAN MORGENSTERN, Aphorismen, Sprüche und andere Aufzeichnungen, München 1979, S.196 (= Werke in vier Bänden, hrsg. v. C. Hesselhaus, Bd. III). 3 Basler Zeitung Nr. 296, 19.12.2000, S. 3. 4 HARTMUT BÖHME, Über das gegenwärtige Selbstbewußtsein der Geisteswissenschaften, Oldenburg 1989, S. 11 (= Oldenburger Universitätsreden, Nr. 22).

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(oder im Plural: ‹Kulturwissenschaften›) ist auch in letzter Zeit wieder viel die Rede,5 von einer «allseits geforderte[n] […] Weiterentwicklung der Philologien zu einer Kultur- und/oder Medienwissenschaft hin […]»6. Damit ist heute allerdings, verkürzt und allgemein gesagt, die inter- oder transdisziplinäre, fächerübergreifende Zusammenarbeit und Auswei-tung des Blicks über die Grenzen der akademischen Wissenschaft gemeint. Die Krise indes-sen, jene wissenschaftstheoretische Methoden- und Legitimationskrise, in der sich die soge-nannten Geistes-, Kultur-, Human- und Sozial- (Gesellschafts-) Wissenschaften befinden, dauert, wie man sieht, bis heute an: «Die Problematik der methodologischen Eigenart und Eigenständigkeit der Geisteswissenschaften ist nach wie vor offen.»7

In der vorliegenden Arbeit8 soll der Versuch unternommen werden, die methodologi-sche Grundlagenproblematik der Geisteswissenschaften zusammenfassend knapp zu umrei-ßen. Dazu soll ein wissenschaftsgeschichtlich prominenter und wissenschaftstheoretisch ein-flußreicher Beitrag im Gesamtzusammenhang dieser wohl unabschließbaren Diskussion ver-ortet, ausführlich vorgestellt und anschließend diskutiert werden: Nach einem allgemeinen Überblick über die Entwicklung der Problemstellung wird im Zentrum der Arbeit Heinrich Rickerts Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft (1889)9 in einer Art kommentierendem Referat dargestellt. So wenig es allerdings möglich ist, im Rahmen einer Hausarbeit einen breiteren Überblick über die Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftstheorie oder die verzweigte Methodendiskussion zu leisten, so wenig kann selbstverständlich auch etwa Ri-ckerts Wertphilosophie ausführlicher dargestellt oder einbezogen werden; auch Rickerts Ein-fluß auf die Wissenschaftslehre Max Webers kann nur gestreift werden. – Ein kurzer, skiz-zenhafter Ausblick auf die weitere Entwicklung der Problematik im 20. Jahrhundert schließt die Arbeit ab.

5 So auch an der Universität Basel: vgl. deren «Makroschwerpunkt Kultur» des neu geschaffenen «Depar-tementes Geistes-und Kulturwissenschaften». 6 ANSGAR NÜNNING, «Vorwort», in: A. NÜNNING (HRSG.), Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe, Stuttgart/Weimar 1998, S. VI. – Vgl. z. B.: HARTMUT BÖHME/PETER MATUSSEK/LOTHAR MÜLLER, Orientierung Kulturwissenschaft: Was sie kann, was sie will, Reinbek 2000; HARTMUT BÖHME/KLAUS R. SCHERPE (HGG.), Literatur und Kulturwissenschaften: Positionen, Theorien, Modelle, Reinbek 1996. 7 WALTHER CH. ZIMMERLI, Art. «Geisteswissenschaften», in: Handlexikon zur Wissenschaftstheorie, hrsg. v. H. SEIFFERT u. G. RADNITZKY, München 1989, S .90. 8 Den Anstoß zur Wahl des Themas hatten ursprünglich ein Seminar zu «Max Webers methodologischen Schriften» (WS 1998/99) und die Beschäftigung mit dem Einfluß Rickerts auf Weber gegeben. 9 Rickerts umfangreiches Hauptwerk zu dieser Thematik, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Be-griffsbildung. Eine logische Einleitung in die historischen Wissenschaften (1896–1902), konnte im Rah-men dieser Arbeit nur punktuell konsultiert werden (vgl. Kap. 2.1).

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1. Das Problem und seine Geschichte

«Die Logik als Methodenlehre zu gestalten, ist die gemeinsame Richtung aller hervorragenden logi-schen Arbeiten unseres Jahrhunderts.»10

Wilhelm Dilthey

1.1 Die ‹Geisteswissenschaften›

Die sogenannten ‹Geisteswissenschaften›11 im heutigen, universitären Sinne gibt es in ihrer disziplinär streng gegliederten Form erst etwa seit Beginn des 19. Jahrhunderts, den Begriff12 (im Singular bereits vorher als Synonym für ‹Pneumatologie› vewendet) etwa seit Mitte des 19. Jahrhunderts (Hegel). Ursprünglich integrierender Bestandteil der Philosophie, im Mit-telalter der alles umfassenden Theologie, haben sich die Geisteswissenschaften aus dem Be-reich der humaniora, der akademischen Nachfolger der artes liberales, herausentwickelt.

Anfang des 19. Jahrhunderts aber hatte die empirische Naturwissenschaft, die sich seit Beginn der Neuzeit unaufhaltsam entwickelt und als eigenständige Wissenschaft emanzipiert hatte, ihren Siegeszug im ‹Wettstreit› um den Führungsanspruch in Sachen ‹Wissenschaft-lichkeit› (im heutigen Sinne) längst angetreten. Mehr noch: Nach den heftigen Reaktionen von Empirismus und Rationalismus gegen die Metaphysik der Antike und Scholastik, nach dem Aufkommen des angelsächsischen Skeptizismus, versuchte die Philosophie selbst nun in Gestalt von Kants paradigmatisch an der Newtonschen Physik orientierter Transzendental-philosophie dieser neuen Situation gerecht zu werden und eine Erkenntnis- und Wissen-schaftstheorie der möglichen Erfahrung zu liefern: «Wie ist reine Mathematik möglich? Wie ist reine Naturwissenschaft möglich?»13 Das Komplement dazu war das Projekt der ‹Zer-trümmerung der Metaphysik›, die jahrhundertelang mit ‹der Philosophie› schlechthin iden-tisch gewesen war: «Was aber Metaphysik betrifft, so muß ihr bisheriger schlechter Fort-gang, und weil man von keiner einzigen bisher vorgetragenen, was ihren wesentlichen Zweck angeht, sagen kann, sie sei wirklich vorhanden, einen jeden mit Grunde an ihrer Mög-lichkeit zweifeln lassen.»14 (Allerdings bleibt bis hin zu Kant die ‹Kulturphilosophie› als 10 WILHELM DILTHEY, Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studi-um der Gesellschaft und der Geschichte, 1. Band, Leipzig/Berlin 21923, S. 116 (= Gesammelte Schriften, I. Band). 11 Engl.: humanities, critics, arts; franz.: sciences humaines, sciences de l’esprit. 12 Ältere Bezeichnungen waren etwa ‹geschichtliche Wissenschaften› oder ‹moralisch-(politische) Wissen-schaften› (zurückgehend auf eine Übersetzung der ‹moral science› aus dem Schlußkapitel von J. S. Mills System of Logic, Ratiocinative and Induction [1843]). 13 KrV, B 20. 14 KrV, B 21, 22.

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praktisch-normative Propädeutik bestehen.) Die – wenngleich nicht erkenntnistheoretisch begründete – Restitution der Metaphysik im Deutschen Idealismus, insbesondere im allum-fassenden Hegelschen System, änderte schließlich nichts daran, daß nach dessen Niedergang ein Zeitalter des totalen Relativismus, Skeptizismus, Positivismus und Materialismus, die Herrschaft der ‹petits faits› (H. Taine), anbrach – nicht mehr nur in den Naturwissenschaften, sondern auch in den Geisteswissenschaften (Mill, A. Comte), die sich ansonsten mittlerweile zunehmend auseinander entwickelt hatten.

Die Geisteswissenschaften waren im 19. Jahrhundert als System historisch-philologischer Einzelwissenschaften den Universitäten eingegliedert worden, und zwar ana-log dem Verständnis der Naturwissenschaften (und mehr oder weniger unter Übernahme von deren wissenschaftlichen Normen und Postulaten, insbesondere jenem der Wertindifferenz gegenüber ihrem Gegenstand) in Institute gegliedert sowie differenziert nach Arbeitsverfah-ren und Disziplinen. Die Geisteswissenschaften – entsprechend aufgefaßt und verfaßt – wer-den so als einzelne, durch ihren diskreten Gegenstandsbereich definierte und methodisch ‹verfremdete› Wissenschaften zum Selbstzweck, sie «[…] erliegen dem szientistischen Miß-verständnis der Naturwissenschaften und werden nicht mehr als Mittel zur Bildung des ge-forderten Situationswissens, sondern selbst als Zweck begriffen.»15 Das Problem der metho-dischen Selbständigkeit, der Möglichkeit von ‹Wissenschaftlichkeit› und ‹Objektivität›, kurz: die Frage nach einer spezifischen Methodologie der Geisteswissenschaften stellte sich damit in besonderer Schärfe. Neben Dilthey waren es vor allem die Neukantianer, die sich im Rahmen ihrer erkenntniskritischen und geltungstheoretischen Grundlagenreflexion der Wis-senschaft überhaupt im besonderen auch mit der Methodenproblematik der Geisteswissen-schaften auseinandersetzten.

Im Prinzip sind es zwei verschiedene, aber eng mit einander verknüpfte Fragestellun-gen, die in diesem Zusammenhang diskutiert wurden und zum Teil noch werden: 1.) die Fra-ge, nach welchen Gesichtspunkten die Natur- und die Geisteswissenschaften unterschieden werden können resp. sollen; 2.) das Wertproblem, das wiederum zwei Facetten aufweist, geht es hier doch einmal um Werte, nämlich um ‹Wertbeziehung› als Objektivitätsgarant und Werttranszendenz als Letztbegründung der Geisteswissenschaften (bei Rickert), zum anderen aber um Werturteile bzw. vielmehr Werturteilsfreiheit als Postulat (bei M. Weber u. a.) – mit anderen Worten: Auf dem Prüfstand stehen auf der einen Seite die methodische Eigenstän-digkeit und auf der anderen, eng damit zusammenhängend, die Objektivität und damit die ‹wissenschaftliche› Dignität der Geistes- oder Kulturwissenschaften.

Nun war und ist freilich weder die Metaphysik noch nach neuerem Verständnis auch die Philosophie als solche identisch mit den ‹Geisteswissenschaften›: Gerade deshalb aber schien die Philosophie in ihrer Funktion als Meta-Wissenschaft zur Klärung dieser wissen- 15 Art. «Geisteswissenschaften», in: Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, hrsg. v. J. MIT-TELSTRASS, Bd. 1, Mannheim/Wien/Zürich 1980.

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schaftstheoretischen Fragen berufen, die man nicht den Einzelwissenschaften überlassen konnte und wollte. Zur Debatte stand das methodologische Verhältnis zwischen verschiede-nen Wissenschaftszweigen innerhalb der sogenannten empirischen, Real- oder Erfahrungs-wissenschaften (zu denen weder die Philosophie noch strenggenommen die Mathematik als nicht-empirische Wissenschaft zählen).

1.2 Grundsätzliche Unterscheidungen

Die in der ausgehenden Antike und im frühen Mittelalter angelegte ontologische Unterschei-dung zwischen ‹Geist› und ‹Natur›, geht in der Form, wie sie für das neuzeitliche Wissen-schaftsverständnis bestimmend wurde, auf Descartes’ Distinktion des ‹res cogitans› von der ‹res extensa› zurück.16 Bei genauerer Betrachtung kann auch die auf diesem Gegensatz beru-hende – praktische und theoretische – Unterscheidung von Natur- und Geisteswissenschaften sowohl geschichtlich wie auch der Sache nach als Ausdruck jenes uralten Grunddualismus aufgefaßt werden, der nicht nur die Philosophie seit ihren Anfängen bei Plato und Aristote-les, sondern auch das abendländische Weltbild entscheidend geprägt hat: Idee und Wirklich-keit, Metaphysik und Analytik (Logik), Seele und Leib, Denken und Sein, Subjekt und Ob-jekt, Geist und Stoff bzw. Geist und Natur.

Will man nun eine – inhaltlich oder methodologisch orientierte – Systematik der Wis-senschaft(en) aufstellen, die diesem Schema (dieser Wirklichkeit?) gerecht wird, so hat man grundsätzlich zwei Möglichkeiten: Entweder fragt man, kantianisch gesprochen, nach dem quid facti, arbeitet also deskriptiv, oder man fragt nach dem quid juris und nimmt dement-sprechend eine präskriptiv-normative Einteilung vor. In der Wissenschaftstheorie finden sich fast ausschließlich Modelle, die vom historisch Gewordenen ausgehen und dieses zu syste-matisieren versuchen. Wilhelm Windelband bemerkt hierzu: «Niemals ist eine fruchtbare Methode aus abstracter Konstruktion oder rein formalen Ueberlegungen der Logiker erwach-sen: diesen fällt nur die Aufgabe zu, das erfolgreich am einzelnen Ausgeübte auf seine all-gemeine Form und danach seine Bedeutung, seinen Erkenntnisswert und die Grenzen seiner Anwendung zum deutlichsten Bewusstsein zu bringen.»17

Sieht man einmal ab von Bereichsbestimmungen beispielsweise der Geisteswissen-schaften, die den Begriff rein extensional-empirisch fassen, nämlich schlicht durch Aufzäh-lung der historisch gewachsenen Einzeldisziplinen, sind Bereichsabgrenzungen innerhalb der Realwissenschaften nach dem Gegenstand und/oder nach der Methode möglich:

16 Vgl. WILHELM WINDELBAND, Geschichte und Naturwissenschaft. Rede zum Antritt des Rectorats der Kaiser-Wilhelms-Universität Strassburg, Strassburg 1894, S. 9. – ERNST CASSIRER, Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik [1910], Darmstadt 71994, S. 359. – In diesem Zusammenhang: GREGOR SCHÖLLGEN, Handlungsfreiheit und Zweckrationalität. Max Weber und die Tradition praktischer Philsophie, Tübingen 1984, S. 49. 17 WILHELM WINDELBAND, Geschichte und Naturwissenschaft, S. 5.

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Als inhaltliche Bestimmungen der Geisteswissenschaften wurden etwa vorgeschlagen: der menschliche Geist und seine Produkte (nach Hegel: ‹objektiver› resp. ‹subjektiver Geist›); Religion, Recht, Staat, Sprache, Kunst und Geschichte (Helmholtz); Ordnungen des ‹produktiven Lebens› (Rothacker); Individuelles/Konkretes (Rickert).

Prominente methodische Abgrenzungen von Natur- und Geisteswissenschaften sind: erklärend vs. verstehend (Droysen, Dilthey); nomothetisch vs. idiographisch (Windelband), generalisierend vs. individualisierend (Rickert); empirisch-analytisch (Rothacker) vs. herme-neutisch (Habermas) bzw. ganzheitlich (Seiffert).

1.3 Von Dilthey zu Rickert

Die Grundlagendiskussion, die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entspann, ging von der Problematik des Historismus aus, in dem W. Dilthey, E. Troeltsch, F. Meinecke und andere Historiker und Philosophen des ausgehenden 19. Jahrhunderts das Begründungs-problem der Geisteswissenschaften erblickten: «Das letzte und am meisten verwickelte Pro-blem der Geisteswissenschaften bildet die Geschichte.»18 Entsprechend verlagerte sich der Fokus in der konkreten Diskussion bei fast allen Theoretikern von der Dichotomie Naturwis-senschaft – Geisteswissenschaft hin zu einem Gegensatz Naturwissenschaft(en) –Geschichtswissenschaft(en), was auch insofern berechtigt erschien, als die empirischen Gei-steswissenschaften grosso modo sämtlich auch historische Wissenschaften sind. Eine Ge-schichte, die analog zum ‹Naturalismus der Naturwissenschaft› verfuhr, konnte der Indivi-dualität, Einmaligkeit und Zeitlichkeit alles Geschichtlichen nicht gerecht werden. Anderer-seits stand man vor der Aufgabe, gegenüber den exakten Wissenschaften eine adäquate, spe-zifisch historische Erkenntnis als wissenschaftliche zu begründen. 1.3.1 Wilhelm Dilthey (1833–1911)

Die von Johann Gustav Droysen19 eingeführte methodische Differenzierung zwischen Erklä-ren (Naturwissenschaften) und Verstehen (Geschichte bzw. Geisteswissenschaften), wurde – zunächst noch normativ aufgefaßt – von Wilhelm Dilthey für sein Projekt einer ‹Kritik der historischen Vernunft›,20 den «philosophie- und wissenschaftsgeschichtlich folgenreichste[n] Klärungsversuch der Grundlagen der Geisteswissenschaften»21, übernommen und weiterge-führt: «Ich beginne mit der Frage, wie den Naturwissenschaften gegenüber eine andere Klas-se von Wissenschaften abgegrenzt werden könne, mag man nun für sie den Ausdruck ‹Gei-

18 DILTHEY, S. 380. 19 Über die Grundlagen der Wissenschaft vom Menschen, der Gesellschaft und dem Staat (1875). 20 Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte, Bd. I (1883); Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (1910). 21 Art. «Geisteswissenschaften», in: Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie.

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steswissenschaften› oder ‹Kulturwissenschaften› wählen.»22 Zentral für Diltheys philosophi-sche Grundlegung der Geisteswissenschaften (die er zunächst ‹moralisch-politische Wissen-schaften› nennt),23 ist das in seiner unmittelbaren Gegebenheit unhintergehbare Leben, das qua inneres ‹Erleben› verstanden werden kann,24 während die äußere Natur immer nur kon-statiert und konstruiert, nicht aber verstehend erfaßt werden kann:

«Die Menschheit wäre, aufgefaßt in Wahrnehmung und Erkennen, für uns eine physische Tatsache,

und sie wäre als solche nur dem naturwissenschaftlichen Erkennen zugänglich. Als Gegenstand der

Geisteswissenschaften entsteht sie aber nur, sofern menschliche Zustände erlebt werden, sofern sie

in Lebensäußerungen zum Ausdruck gelangen und sofern diese Ausdrücke verstanden werden.»25

Erleben und Verstehen sind dabei stets wechselseitig aufeinander bezogen: «[…] die psy-chophysische Lebenseinheit ist sich selbst bekannt durch dasselbe Doppelverhältnis von Er-leben und Verstehen, sie wird ihrer selbst in der Gegenwart inne, sie findet sich wieder in der Erinnerung als ein Vergangenes […].»26 Allerdings betont Dilthey, das das ‹Verstehen› nicht als nur-subjektiv-psychologisch aufzufassen ist, etwa im Sinne einer Art Empathie aufgrund individueller Introspektion: «Das Verstehen dieses Geistes [hier: des röm. Rechts – I. K.] ist nicht psychologische Erkenntnis. Es ist der Rückgang auf ein geistiges Gebilde von einer ihm eigenen Struktur und Gesetzmäßigkeit.»27 Die Geisteswissenschaften faßt Dilthey dabei als allgemeine Handlungswissenschaften auf: Die Geschichte beschränkt sich nicht auf die Wiedergabe von Berichten und die Aufstellung theoretisch-erklärender Sätze, vielmehr kommt darüber hinaus dem historischen Verstehen und Auslegen praktische, für die Gegen-wart und Zukunft handlungskonstitutive Bedeutung durch vernünftige Begründung zu. Dies vollzieht sich im Rahmen des systematischen Aufbaus der Einzelwissenschaften und der ge-setzmäßigen Kontinuität des geschichtlichen Geistes. Durch diese an Hegels Theorie des ‹objektiven Geistes› anknüpfende Lehre leitete Dilthey die ‹hermeneutische Wende› der neueren Philosophie ein.

Das Ziel, die geschichtliche Erkenntnis als wissenschaftliche Erkenntnis zu begründen, verfolgten auch andere Denker jener Zeit, etwa Georg Simmel (Die Probleme der Ge-schichtsphilosophie. Eine erkenntnistheoretische Studie, 1892), der wie Dilthey den psycho-logischen Charakter der im geschichtlichen Prozeß wirksamen Kräfte betonte.

22 WILHELM DILTHEY, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, Leipzig/Berlin 1927, S. 70 (= Gesammelte Schriften, Bd. VII). 23 Vgl. Anmerkung 12. 24 Diese Auffassung kehrt ganz ähnlich im Konzept der ‹Intuition› eines anderen ‹Lebensphilosophen›, H. Bergsons, wieder. 25 DILTHEY, Aufbau, S. 86. 26 DILTHEY, Aufbau, S. 86f. 27 DILTHEY, Aufbau, S. 85 (Hervorhebungen I. K.).

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1.3.2 Neukantianismus – Wilhelm Windelband (1848–1915)

Eine begrifflich strengere Form nimmt die Methodendiskussion auf ihrem vorläufigen Höhe-punkt in der transzendentallogischen Kulturphilosophie der südwestdeutschen Schule des Neukantianismus an. Während die Marburger Schule (Hermann Cohen, Paul Natorp) sich zunächst vornehmlich mit Problemen der mathematisch fundierten Naturwissenschaften aus-einandersetzt und, getreu ihrer Losung: «mit Kant und nur strenger noch als er» (Natorp), dessen Primat der praktischen Vernunft normativistisch ausbaut und die Ethik als ‹Logik der Geisteswissenschaften› proklamiert, geht die südwestdeutsche Schule von der Kritik der theoretischen Vernunft aus. Nach den umfassenden Ansprüchen des Hegelschen Systems wollte man im Rückgriff auf Kant in der Geltungsreflexion die formalen Bedingungen der Gültigkeit von Erfahrungsurteilen und – damit verbunden – die logischen Grundlagen der Wissenschaft aufklären, und zwar unter Vermeidung metaphysischer Spekulation ebenso wie vulgärmaterialistischer Tendenzen. Hier vor allem, bei Wilhelm Windelband und Heinrich Rickert, findet die Auseinandersetzung mit Gegenstand und Methode der Geisteswissen-schaften als erkenntnistheoretisch-methodologischer Fragestellung statt.

Die von den südwestdeutschen Neukantianern verfolgte Begründung der Erkenntnis in einem logischen ‹Sollen› nahm ihren Anfang bei Wilhelm Windelband, einem Schüler R. H. Lotzes (1817–1881), dessen Denken auch auf Rickerts Wertphilosophie bedeutenden Einfluß ausübte. Nach Windelbands Auffassung geht es in Kants Philosophie, auf die er in Abset-zung von seinem Lehrer Lotze zurückgreift, neben den apriorischen Grundlagen aller Wis-senschaft vor allem um die Geltungsproblematik, derzufolge sich die Philosophie als kriti-sche Wissenschaft von den universal gültigen Werten darstellt (wie sie im übrigen auch Lot-ze und Rickert vertreten): Die allgemeingültigen Werte organisieren die Kultur und fundie-ren individuelle Wertsetzungen, während die (Tranzendental-) Philosophie nach der Geltung der Werte zu fragen hat und nicht nach den faktischen Wertsetzungen. Im theoretischen Be-reich ist nach Windelband ‹das Bewußtsein überhaupt› Gegenstand der Philosophie: es liegt der Organisation der Vorstellungsinhalte ebenso zugrunde wie auch dem beurteilenden Be-wußtsein in all seinen spezifischen Ausprägungen.

Die Wissenschaften stellen bei Windelband ein System theoretischer Urteile dar. In seiner Wissenschaftslehre fordert er in thematischem Anschluß an Dilthey und über Kant hinaus eine Wissenschaftstheorie nicht nur der exakten Naturwissenschaften, sondern auch der historischen Wissenschaften. Nach Windelband sind es höchst unterschiedliche, ja ge-gensätzliche ‹Welten›, welche die Naturwissenschaft und die Geschichte vor uns aufbauen, wobei die Frage nach dem bevorzugten Wissen selbst keine logische ist.

Berühmt geworden ist seine Straßburger Rektoratsrede von 1894 über Geschichte und Naturwissenschaft28, die sich mit der Frage nach der Klassifikation der empirischen Wissen-

28 S. Anm. 16. Die Rede wurde auch in die späteren Auflagen des Sammelbands Präludien (1884–1911)

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schaften beschäftigt: «Für die Einteilung dieser auf die Erkenntniss des Wirklichen gerichte-ten Disziplinen ist gegenwärtig die Scheidung von Naturwissenschaften und Geisteswissen-schaften geläufig: ich halte sie in dieser Form nicht für glücklich.»29 Eine inhaltliche Be-stimmung der Geisteswissenschaften lehnt Windelband vor allem aus zwei Gründen ab: Er-stens bezweifelt er die Gegebenheit eines spezifischen ‹inneren Erkenntnisvermögens› zur Erfassung des ‹Geistigen›, zweitens ist durch eine solche klassifikatorische Definition einem Fach wie der Psychologie nicht gerecht zu werden, die es formal-inhaltlich zwar mit dem ‹Geist› bzw, der ‹Seele›/Psyche zu tun hat, dabei aber sehr wohl naturwissenschaftlich ver-fährt: sie «[zählt] durchaus zu den Naturwissenschaften»30. Daher kann das Prinzip, nach dem die Wissenschaften einzuteilen sind, für Windelband nur methodologischer Art sein:

«Das Einteilungsprincip ist der formale Charakter ihrer Erkenntnissziele. Die einen suchen allge-

meine Gesetze, die anderen besondere geschichtliche Tatsachen: in der Sprache der formalen Logik

ausgedrückt, ist das Ziel der einen das generelle, apodiktische Urteil, das der anderen der singulare,

assertorische Satz. […] Die einen sind Gesetzeswissenschaften, die anderen Ereigniswissenschaf-

ten; jene lehren, was immer ist, diese, was einmal war. Das wissenschaftliche Denken ist – wenn

man neue Kunstausdrücke bilden darf – in dem einen Falle nomothetisch, in dem andern idio-

graphisch.»31

Windelband geht es darum, aufzuzeigen und nachzuweisen, daß die naturwissenschaftliche Methode keinen Alleinanspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben kann. In Wiederaufnahme von Lotzes Konzept einer metaphysischen Wirklichkeitskonstitution kritisiert er das bis auf Aristoteles zurückgehende logische Prinzip des Primats genereller Sätze. Der ‹Abstraktheit› des naturwissenschaftlichen Denkens stellt er die ‹Anschaulichkeit› des historischen gegen-über. Durch die beiden genannten Methoden werden die gleichen Tatsachen der einen Wirk-lichkeit einmal hinsichtlich ihrer allgemeinen Invariablen und einmal hinsichtlich ihrer kon-kreten Singularität beurteilt.32

Von hier aus führt der Weg direkt zur Wissenschaftslogik Heinrich Rickerts, des neben Windelband zweiten Begründers der südwestdeutschen Schule.

aufgenommen. 29 WINDELBAND, S. 9. 30 WINDELBAND, S. 12. 31 WINDELBAND, S. 11f. 32 Vgl. GERHARD WAGNER, Geltung und normativer Zwang. Eine Untersuchung zu den neukantianischen Grundlagen der Wissenschaftslehre Max Webers, Freiburg/München 1987, S. 109f.

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2. Heinrich Rickert: «Kulturwissenschaft

und Naturwissenschaft»

«Ist es ein lebendig Wesen, Das sich in sich selbst getrennt? Sind es zwei, die sich erlesen, Daß man sie als eines kennt?»33

J. W. v. Goethe

2.1 Heinrich Rickert (1863–1936)

Heinrich Rickert wurde nach seinen Freiburger Jahren 1916 Nachfolger Wilhelm Windel-bands auf dessen Heidelberger Lehrstuhl. Aber auch philosophisch – so in der Geltungspro-blematik und in der hier interessierenden Wissenschaftstheorie – beerbte er den Lehrer und älteren Confrère. Seine Untersuchungen zur Logik der Wissenschaften sind der philosophie-geschichtlich wirkungsmächtigste Teil seines Werks, sie beeinflußten neben Max Weber auch etwa Friedrich Meinecke und Ernst Troeltsch.

Auch Rickert geht in seiner kritizistischen Philosophie von Kant34 – ebenso aber auch von Fichte – und von Lotze aus. In seiner Habilitationsschrift Der Gegenstand der Erkennt-nis (1894) nimmt er Windelbands geltungstheoretisches Prinzip (s. o.) auf. Der Schwerpunkt liegt dabei nicht so sehr auf der erkenntnisbegründenden Funktion des von Kant inthronisier-ten transzendentalen Subjekts, sondern auch und insbesondere auf der Grundkonzeption ei-ner ‹Logik› des Sinns eines jeden gültigen Urteils, das, Rickert zufolge, durch normkonfor-me Zuordnung von begrifflich-kategorialer Form und Empfindungsinhalt zustande kommt. Diese Zuordnung wird reguliert durch ein ‹transzendentes Sollen›, das dem urteilenden Sub-jekt als Imperativ aus dem System der ebenfalls transzendenten Werte entgegentritt (Er-kenntnis ist hier nichts anderes als Erkenntnis von Werthaftem bzw. – den ‹Gegenstand der Erkenntnis› allererst konstituierende – Wertbeziehung)35. Fichtes Übertragung des Kantschen Primats der praktischen Vernunft von der Moral auf die Erkenntnis wirkt bei Rickert fort in einer Unterordnung der Sphäre des Theoretischen – des urteilenden Bewußtseins, das sich zu geltenden Werten verhält – unter die Leitung der praktischen Vernunft.36 Später baute Ri- 33 J. W. V. GOETHE, «Gingo biloba» (Vers 5-8) aus dem West-östlichen Diwan, in: J. W. V. GOETHE, Berli-ner Ausgabe, hrsg. von Siegfried Seidel, Berlin 1960ff., Bd. 3, S. 90. (Von Heinrich Rickert in der Vorre-de zum ersten Band seines Systems der Philosophie zitiert: HEINRICH RICKERT, System der Philosophie. Erster Teil: Allgemeine Grundlegung der Philosophie, Tübingen 1921, S. XIII.) 34 Vgl. aber die Kritik bei WAGNER (passim). 35 S. unten, Kap. 2.2.5. 36 «Der Orientierung an Hegel in Marburg steht in Baden die Orientierung an Fichte gegenüber, dessen

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ckert das Fundament dieser Beziehung, sein System der ‹Werte›, weiter aus, wobei allerdings zunehmend auch dessen materiale Manifestation in Gestalt der wertbehafteten sogenannten ‹Kulturgüter› an Bedeutung gewann.

In seiner Allgemeinen Grundlegung der Philosophie (1921) entwirft Rickert dann ein (dem Universalitätsgedanken der Metaphysik entsprechend umfassendes) ontologisches Sy-stem mit unterschiedlich strukturierten Seins-Sphären: Danach soll die begriffliche Erkennt-nis sich nach der jeweiligen Beschaffenheit des Gegenstands resp. der Materialität der ent-sprechenden Welten richten. Mit dieser Konzeption verläßt Rickert den Grundkonsens der Neukantianer – zur vollständigen «lautlosen Explosion des Kantianismus»37 (E. Bloch) kommt es dann im System seines Schülers Emil Lask. Bereits das ‹Sollen›, das im Gegen-stand der Erkenntnis die Tranzendentalität des Wissens resp. der Erkenntnis begründet, ist ja transzendent, womit die von Kant aus der Erkenntnistheorie verbannte Metaphysik proble-matischerweise gleichsam durch die Hintertür wieder eingeführt und strenggenommen gar zur Voraussetzung der Erkenntnis gemacht wird.38

Mit der Theorie der wissenschaftlichen Begriffsbildung hatte sich Rickert bereits in seiner Dissertation Zur Lehre von der Definition (1888) beschäftigt, in welcher er «[…] den Gedanken einer naturwissenschaftlichen Universalmethode bekämpft und zu zeigen ver-sucht, wie nichtssagend die Lehre ist, nach welcher die gemeinsamen Elemente der Dinge mit den wesentlichen Merkmalen der Begriffe identisch sind»39. Wiederum in Anknüpfung an Windelband wird diese Problematik dann auf breitem Raum in der Studie Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Eine logische Einleitung in die historischen Wissenschaften (1896–1921) behandelt. Dieses umfangreiche Werk brachte seinem Autor, der einer der Vertreter der abschätzig so genannten ‹Professorenphilosophie› war, über die Grenzen der akademischen Wissenschaft hinaus Anerkennung, es darf wohl als sein bis heu-te bekanntestes und einflußreichstes bezeichnet werden.

Aufgrund ihres Umfangs von über 700 Seiten sind die Grenzen der naturwissenschaft-lichen Begriffsbildung für eine Darstellung im Rahmen einer Hausarbeit nicht geeignet. Ab-hilfe schafft hier – ähnlich wie Kants Prolegomena für die Kritik der reinen Vernunft – Ri-ckerts 14 Kapitel40 umfassende kleine Schrift Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft

Einfluß insbesondere auf Rickert in solchem Maße entscheidend war, daß der Neukantianismus des letzte-ren mit gleichem Erfolg auch Neufichteanismus genannt werden könnte.» KAREN A. SVAS’JAN, Art. «Ba-denskaja (takže Frejburgskaja, Gejdel’bergskaja, Jugozapadno-nemeckaja škola» [«Badener (auch Frei-burger, Heidelberger, Südwestdeutsche) Schule»], in: Filosofskaja Ėnciklopedia [Philosophische Enzyklo-pädie], Moskau 2000 (russ., Übers. I. K.). 37 Zit. nach: THOMAS RENTSCH, «Emil Lask», in: Metzler Philosophen Lexikon. Von den Vorsokratikern bis zu den Neuen Philosophen, Stuttgart/Weimar 21995, S. 490. 38 Vgl. SVAS’JAN, a. a. O. 39 HEINRICH RICKERT, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Eine logische Einleitung in die historischen Wissenschaften, Tübingen 51929, S. VII (Vorwort zur 1. Aufl.). 40 Die Kapitelüberschriften bilden den Argumentationsgang anschaulich ab, deshalb seien sie hier ange-führt: «I. Die Aufgabe – II. Die geschichtliche Situation – III. Der Hauptgegensatz –IV. Natur und Kultur – V. Begriff und Wirklichkeit – VI. Die naturwissenschaftliche Methode –VII. Natur und Geschichte –

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(21907, 71926), die auf einen Vortrag in der Freiburger «Kulturwissenschaftlichen Gesell-schaft» aus dem Jahr 1898 zurückgeht und das große Werk in seinen Grundzügen nachzeich-net und zusammenfaßt: «Es soll hauptsächlich Männern der Einzelforschung dienen, […] denen es an Neigung oder an Zeit zum Studium umfangreicher logischer Werke fehlt. Auch als Einführung in mein Buch über die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung ist diese kleine Schrift vielleicht brauchbar.»41 Im folgenden sollen die für unser Thema zen-tralen Hauptgedanken daraus dargestellt werden.

2.2 «Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft»

2.2.1 Der Gegensatz

Einen wichtigen Unterschied zu thematisch verwandten Darstellungen anderer Autoren (wie etwa Windelband) hebt Rickert im Vorwort zur sechsten und siebten Auflage (1926) hervor: Nicht um die Beschreibung eines absoluten Gegensatzes zwischen den im Titel genannten Kultur- und Naturwissenschaften gehe es ihm, sondern um einen relativen Unterschied, der durch die Schilderung zweier Extreme verdeutlicht werde, «[…] zwischen denen fast alle wissenschaftliche Arbeit in der Mitte liegt» (8). Die Wiederholung dieser auch im Text mehr-fach unterstrichenen Einschränkung ist deshalb von Bedeutung, weil sie für Rickerts Kon-zeption wesentlich ist, im Laufe der Argumentation aber leicht aus dem Blick geraten kann, scheint doch die lediglich heuristische Betonung der Extreme dort gelegentlich als wirklich-keitsfremde absolute Unterscheidung festgeschrieben zu sein.

Den Begriff der ‹Kulturwissenschaften› führt Rickert zu Beginn als Gegen- bzw. Komplementärbegriff zu den Naturwissenschaften ein, deren gemeinsame Basis unbestritten und offenkundig sei, während Ähnliches von den nicht-naturwissenschaftlichen Spezialwis-senschaften nicht behauptet werden könne (auch Rickert geht deskriptiv von einer offenkun-digen faktischen Zweiteilung der Spezialwissenschaften aus, die mehr oder weniger un-bestritten ist, allerdings inhaltlich und/oder methodisch noch fundiert werden muß). Die Aus-gangsfrage lautet daher: «Was ist Kulturwissenschaft und in welchem Verhältnis steht sie zur Naturforschung?» (17) Dabei bleibt der Inhalt der verschiedenen Wissenschaften zunächst aus dem Spiel, während das Hauptaugenmerk der Form, der Darstellung gelten soll: Ganz im Sinne der Eingangsbemerkungen sollen diesbezüglich zwei Grundformen42 herausgearbeitet

VIII. Geschichte und Psychologie – IX. Geschichte und Kunst –X. Die historischen Kulturwissenschaften – XI. Die Mittelgebiete – XII. Die quantitative Individualität – XIII. Die wertindifferente Individualität – XIV. Die Objektivität der Kulturgeschichte.» 41 HEINRICH RICKERT, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, mit einem Nachwort hrsg. v. F. Voll-hardt, Stuttgart 1986 (entspr. 71926), S. 5 (= Reclams UB Nr. 8356[2]). – Zitate aus dieser Schrift werden im folgenden mit Seitenzahlen in Klammern nach der genannten Ausgabe direkt im Text belegt. 42 Von Max Weber her ließen sich diese theorieimmanenten ‹Grundformen› in ihrer Charakterisierung durch Rickert (gerade aufgrund ihrer rein heuristischen Bedeutung) sogar als Paradebeispiele von Idealty-pen bezeichnen.

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gearbeitet werden, die gegenüber einem naturwissenschaftlichen Alleinanspruch eine Veror-tung der Kulturwissenschaften im System aller Wissenschaften ermöglichen.

Rickert setzt den Kantschen Naturbegriff zugleich als «allgemeinsten Begriff der Na-turwissenschaft» (22), insofern nämlich bei Kant ‹Natur› definiert ist als Dasein der Dinge, «sofern es nach allgemeinen Gesetzen bestimmt ist» (22). In dieser allgemeinsten Bestim-mung sind gemeinsame Grundlage und Ziel aller Naturwissenschaften gegeben. Einer ähn-lich verbindenden gemeinsamen Fundierung, so Rickert, entbehren die Kulturwissenschaf-ten. Entsprechend gering seien auch die spezifisch auf die Kulturwissenschaften ausgerichte-ten methodologischen Untersuchungen.43 Die noch zu leistende methodologische Grundle-gung der Kulturwissenschaften hätte nach Rickert im Rückgriff auf die Philosophen des Deutschen Idealismus, vornehmlich auf Hegels Geschichts- und Entwicklungsphilosophie, zu erfolgen. Alle Bestrebungen seiner Zeit hingegen, die Kulturwissenschaften spezifisch na-turwissenschaftlichen Methoden zu unterwerfen, etwa unter Verweis auf Darwins angeblich auch geschichtsphilosophisch relevantes und daher den ‹Gegensatz› vermittelndes Entwick-lungsmodell, weist Rickert scharf zurück, desgleichen kritisiert er letztlich auf biologisti-schen Modellen beruhende (etwa ‹morphologische›) Versuche wie jene J. Langbehns, H. St. Chamberlains oder O. Spenglers, da sie prinzipiell gesetzmäßige und ergo ‹natürliche› histo-rische Prinzipien unterstellten, die für die Geschichte aber logisch «längst widerlegt» (27) seien.

Der Hauptgegensatz zwischen Kultur- und Naturwissenschaften kann, so Rickert, auf materiale oder auf formale Differenzen zurückgeführt werden, die allerdings meist in der traditionellen Dichotomie ‹Natur› vs. ‹Geist› zusammenfallen. Wie Windelband illustriert auch Rickert das Unbefriedigende dieser Unterscheidung für die Wissenschaften am Beispiel der modernen Psychologie, die eine Naturwissenschaft ist, obwohl sie sich inhaltlich mit dem ‹Geist› beschäftigt (der aber seinerseits – ein weiterer Kritikpunkt – mit dem ‹Psychi-schen› meist schlechthin gleichgesetzt werde). Das Beispiel erläutert, weshalb der Begriff ‹Geisteswissenschaft› zwar nicht direkt falsch ist – haben es die meisten nicht-naturwissenschaftlichen Disziplinen doch in der Tat mit ‹psychischem Sein› zu tun –, den-noch aber «das für die Wissenschaftslehre wesentliche Unterscheidungsmerkmal dadurch nicht getroffen [ist]» (29). Denn weder läßt sich daraus ein der materialen Differenz entspre-chendes unterschiedliches Interesse (die naturwissenschaftliche Psychologie interessiert sich für die allgemeinen Gesetzmäßigkeiten, also die allen Menschen gemeinsamen ‹Invariablen› der Psyche) noch eine methodische Differenz ableiten. Rickert verweist hier darauf, daß es im Grunde zwei Begriffe von Psychologie gibt: einen naturwissenschaftlichen und einen hi-storischen, die kaum mehr gemeinsam haben als die Bezeichnung.

Darüber hinaus läßt sich nach Rickert durch einen «einzigen Gegensatz, wie de[n] von

43 In diesem Zusammenhang wird Max Weber als eine der wenigen Ausnahmen genannt (S. 24).

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Natur und Geist, die Mannigfaltigkeit der Einzelwissenschaften überhaupt nicht methodolo-gisch [gliedern]» (30). Stattdessen schlägt er vor, zwei Paare von Grundbegriffen zu setzen und die beiden Wissenschaftstypen sowohl nach dem Inhalt (material) als auch der Methode nach (formal) gegeneinander abzugrenzen.

2.2.2 Die materiale Differenz

Zwar kann oder darf grundsätzlich kein Objekt der psychophysischen Erfahrungswirklichkeit – auch dies zeigt das Beispiel der Psychologie – von einer naturwissenschaftlichen Behand-lung ausgeschlossen werden. Insofern sieht Rickert die Rede von der ‹einen Wissenschaft›, die auf das Dasein als monistisches Ganzes zielt, als vollauf berechtigt an. Materiale Diffe-renzen kann es ihm zufolge aber dennoch in einem gewissen Sinne geben, und zwar hinsicht-lich der Bedeutung einzelner Objekte – Rickert faßt sie unter dem Oberbegriff der ‹Kultur› zusammen – für den Kulturwissenschaftler, der in diesen Kulturobjekten mehr sieht als reine ‹Natur› und dem daher in solchen Fällen die naturwissenschaftliche Betrachtungsweise allein nicht genügt, so daß sich analog zu diesem spezifischen Interessengegensatz von einem ma-terialen Unterschied zwischen Kultur- und Geisteswissenschaften sprechen läßt.

Zu diesem materialen tritt nun ein formaler Gegensatz hinzu, dessen einer Pol durch den Kantschen, rein formalen Natur-Begriff (s. o.) ja bereits vorgegeben ist: Der Naturwis-senschaft geht es um allgemeine Gesetzmäßigkeiten. Diesem Naturbegriff stellt Rickert einen entsprechend formalen resp. ‹logischen› Begriff gegenüber:

«Dieser aber ist, wie ich glaube, der Begriff der Geschichte im weitesten formalen Sinne des Wor-

tes, d. h. der Begriff des einmaligen Geschehens in seiner Besonderheit und Individualität […], und

wir werden daher bei der Gliederung der Einzelwissenschaften von einem Unterschiede der natur-

wissenschaftlichen und der historischen Methode reden müssen» (32).

Rickert betont auch hier, daß es sich dabei um einen typisierten Grundgegensatz handelt, der in der Realität keineswegs immer in dieser Ausgeprägtheit vorgefunden werden kann, zumal insbesondere in den von ihm als ‹Mittelgebiete› bezeichneten Diziplinen (wie etwa der Psy-chologie) durchaus der Inhalt nach dieser Definition kulturwissenschaftlich, die Methode aber naturwissenschaftlich sein kann – und vice versa. Rickert strebt also keineswegs ein starr definiertes, geschlossenes System der (Einzel-) Wissenschaften an, sondern lediglich die adäquate Beschreibung eines Grundgegensatzes innerhalb der empirischen Wissenschaf-ten (durch den mithin weder die Philosophie noch die Mathematik erfaßt werden).

Was den Gegensatz auf der Objektseite (‹Natur› vs. ‹Kultur›) betrifft, so wird der scheinbar ohne weiteres klare Begriff der ‹Natur› Rickert zufolge erst durch die Definition des Begriffs, den man ihm gegenüberstellt – hier des ‹Kultur›-Begriffs –, wirklich in einem eindeutigen Sinne faßbar. Der Begriff der ‹Kultur› wiederum ist bei Rickert verbunden mit

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einer äußerst komplexen ‹Wert›-Theorie: Während er als ‹Natur› bzw. ‹Naturprodukt› alles dasjenige charakterisiert, was von selbst entstanden ist und vom Menschen vorgefunden und sich selbst überlassen wird, handelt es sich nach Rickerts Darstellung bei ‹Kultur› bzw. ‹Kul-turprodukten› um das vom Menschen Hervorgebrachte oder um gewisser Werte willen ab-sichtlich Gepflegte.44

Diese Werte sind nicht etwa identisch mit den ‹Kulturprodukten› oder ‹Gütern›, son-dern sie ‹haften daran› (35), stellen aber andererseits selbst keine Wirklichkeit im empiri-schen Sinne dar. Ein Naturobjekt kann also durch Beziehung auf diese Werte oder Verbin-dung mit diesen zum Kulturobjekt werden – und umgekehrt: durch die Ablösung von den Werten kann das Kulturobjekt zum reinen Naturobjekt werden. Güter sind also für den Men-schen ‹wert-volle› Wirklichkeit, nicht aber Werte an sich. Damit ein Wert für ‹Güter› ob-jektkonstitutiv wirkt, muß er allerdings allgemein anerkannt sein oder der Allgemeinheit «zugemutet» (40) werden können:

«Bei Werten, die man für sich betrachtet, kann man nicht fragen, ob sie wirklich sind, sondern nur

ob sie gelten. Ein Kulturwert ist nun entweder faktisch von allen Menschen als gültig anerkannt,

oder es wir seine Geltung und damit die mehr als rein individuelle Bedeutung der Objekte, an denen

er haftet, wenigstens von einem Kulturmenschen postuliert, und ferner […] muß [es] sich um Güter

handeln, zu deren Wertung und Pflege wir uns […] ‹verpflichtet› fühlen» (39).

Erweitert um ‹Vorstufen und Verfallsstadien› der so verstandenen Kulturobjekte, ergibt sich damit für Rickert die «geeignete Bezeichnung für die nichtnaturwissenschaftlichen Spezial-disziplinen» (40).45 Als ‹Kultur› kann er nunmehr definieren: «[…] die Gesamtheit der realen Objekte, an denen allgemein anerkannte Werte oder durch sie konstitutierte Sinngebilde haf-ten, und die mit Rücksicht auf diese Werte gepflegt werden» (46).46

2.2.3 Die Bedeutung der ‹Begriffsbildung›

Bevor er näher auf das formale Einteilungsprinzip zu sprechen kommen kann, muß sich Ri-ckert dem Verhältnis von «Begriff und Wirklichkeit» (Kap. V.) widmen – der für seine 44 Eine andere, für seine Darstellung weniger wichtige Perspektive der materialen Unterscheidung, die Ri-ckert in Anknüpfung und als Konzession an Dilthey und andere trifft, ist die Differenzierung zwischen Wahrnehmen und Verstehen, und zwar ausdrücklich nicht von der Subjektseite her gesehen, sondern quasi als Bestimmungen, die den Objekten zukommen: Während grundsätzlich alle Objekte der sinnlichen Welt wahrgenommen werden können, öffnen sich nur die Kulturobjekte einem Sinn- und Bedeutungsverstehen: «Natur wäre danach das bedeutungsfreie, nur wahrnehmbare, unverständliche, Kultur dagegen das bedeu-tungsvolle, verstehbare Sein, und so ist es in der Tat» (38). 45 Problematische Ausnahmen bzw. Zweifelsfälle wie die Geographie werden von Rickert gesondert be-handelt, hier wird aus Platzgründen auf eine Darstellung verzichtet. 46 Einen Zusammenhang zwischen seiner Natur/Kultur-Dichotomie und dem klassischen Natur/Geist-Gegensatz konzediert Rickert insofern, als zu jeder Wertung ein wertender Mensch, mithin ein ‹psychi-sches Wesen› notwendig ist. Allerdings ist das reine Vorhandensein des Psychischen (das Rickert zufolge gemeinhin fälschlicherweise mit dem ‹Geistigen› gleichgesetzt wird) allein nicht ausreichend, um eine Einteilung der Wissenschaften zu begründen, da das Psychische per se, wie gesagt, auch als Gegenstand naturwissenschaftlicher Betrachtung in Frage kommt.

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Theorie zentralen Begriffsbildung. Er kritisiert hier zunächst erkenntnistheoretische Abbild-theorien platonistischer Provenienz, da – verkürzt gesagt – ein perfektes Abbild der Wirk-lichkeit (im Sinne einer Verdoppelung derselben im Begriff) weder sinnvoll noch aufgrund der unbegrenzten Mannigfaltigkeit der Wirklichkeit möglich sei; vielmehr könne es sich beim (wissenschaftlichen) Erkenntnisvorgang immer nur um ein vereinfachendes Umbilden handeln.

Rickert stellt – aufgrund der in der unmittelbaren Anschauung gegebenen Stetigkeit, des Zusammenhangs alles Wahrgenommenen – den «Satz der Kontinuität alles Wirklichen» (50) auf und ergänzt ihn – aufgrund des individuellen Gepräges jeder Realität – um den «Satz der Heterogeneität alles Wirklichen» (51). Nimmt man beide Aspekte (Kontinuität und Hete-rogeneität) zusammen, so läßt sich die Welt mit Rickert als «stetige Andersheit» resp. als «heterogenes Kontinuum» (51) charakterisieren. Die «Ohnmacht des Begriffes» (51), die an-gesichts der Aufgabe zutage tritt, diese stetige Andersheit nach dem Ideal der Abbildtheorie exakt zu reproduzieren, führt zum Skeptizismus. Der Begriff, so Rickert, kann nämlich nur dort fassen, wo Andersartigkeit und Stetigkeit von einander getrennt werden, wo die Wirk-lichkeit also begrifflich in ein «homogenes Kontinuum» (wie in der Mathematik) oder aber in ein «heterogenes Diskretum» (wie in den Objektwissenschaften) umgewandelt werden kann. Bei der Umwandlung des Kontinuums in ein Diskretum, soll diese nicht willkürlich ausfal-len, brauchen die Wissenschaften jedoch Auswahlkriterien, um das ihnen je Wesentliche vom Unwesentlichen zu trennen.

Damit ist der Begriff der wissenschaftlichen ‹Form› gegeben. Nach der Art des Ein-schnitts, der in das Kontinuum vorgenommen wird, und wie damit die Wirklichkeit in den Begriff überführt wird, unterscheiden sich die wissenschaftlichen Methoden Rickert zufolge voneinander. Unter ‹Begriff› versteht Rickert dabei sowohl die traditionell so bezeichneten einfachen begrifflichen Elemente als auch ganze zusammenhängende Begriffskomplexe, also ‹wissenschaftliche Darstellungen› (vgl. beispielsweise den Ausdruck ‹Begriff der italieni-schen Renaissance›).47 Die Art und Weise der Kombination der Elemente zum so verstande-nen größeren Begriff macht dabei das Wesen der Begriffsbildung aus, und damit ist auch eine Möglichkeit des formalen Vergleichs verschiedener Wissenschaften bzw. Wissenschaftsty-pen gegeben: «Wenn Erkennen soviel wie Begreifen ist, dann steckt das Ergebnis der Er-kenntnis im Begriff» (57).

2.2.4 Die naturwissenschaftliche Methode

Die Diskussion der methodischen Differenzen beginnt Rickert mit einer Darstellung der na-turwissenschaftlichen Methode. Als deren Charakteristikum wurde bereits das ‹Generalisie-

47 «[…] so daß wir also zwischen dem Inhalte einer wissenschaftlichen Darstellung überhaupt und dem In-halte des Begriffs keinen Unterschied machen, und das kann man als Willkür bezeichnen» (56).

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ren› beschrieben. Rickert weist darauf hin, daß das generalisierende Vorgehen, das vom sin-gulären Objekt der Empirie zum allgemeingültigen Gesetz führt, bereits auch die vorwissen-schaftliche Begriffsbildung dominiert und – vom antiken Gattungsbegriff (angefangen bei der Aristotelischen Logik) bis hin zum moderenen Gesetzesbegriff – auch zum Inbegriff der ‹Wissenschaft› schlechthin wurde: «Es gilt […] alle Objekte allgemeinen Begriffen, womög-lich Gesetzesbegriffen, unterzuordnen» (59). Eben dies tut die Naturwissenschaft (wiederum nach dem Kantischen, formalen Begriff verstanden):

«Die Natur erkennen heißt unter dieser Voraussetzung in der Tat, aus allgemeinen Elementen all-

gemeine Begriffe bilden und, wenn möglich, unbedingt allgemeine Urteile über die Wirklichkeit

fällen, d. h. Begriffe von Naturgesetzen entdecken, deren logisches Wesen es einschließt, daß sie

nichts von dem enthalten, was sich nur an diesem oder jenem einmaligen und individuellen Vor-

gang findet» (60).

Wiederholt unterstreicht Rickert, daß es ihm lediglich um die begriffliche Herausarbeitung

von Extremen geht, während die Wirklichkeit weitaus komplexer gestaltet ist. So weist er

etwa darauf hin, daß die Naturwissenschaft nicht nur durch vergleichende, sondern auch

durch ‹isolierende Abstraktion›, d. h. an einem Einzelfall ihre Gesetze finden kann, und auch

Einzelheiten (im Sinne von Details) schließt sie natürlich nicht aus ihrer Betrachtung aus.

Die Astronomie wiederum bildet eine Ausnahme (nur) insofern, als sie sich mit einzelnen,

konkreten Himmelskörpern befaßt – dies tut sie aber wiederum im Hinblick auf allgemeine

Eigenschaften (vgl. unten, S. 27).

Zumal dort, wo sie mit dem Anspruch auftritt, allein und allgemein gültig zu sein, un-

terzieht Rickert die ‹naturwissenschaftliche Begriffsbildung› einer fundamentalen Kritik: Sie

kann in ihren Allgemeinbegriffen die Wirklichkeit niemals fassen: «Das Wirkliche haben wir

im Besonderen und Individuellen, und niemals läßt es sich aus allgemeinen Elementen auf-

bauen […] So entsteht zwischen dem Inhalt der Begriffe und der Wirklichkeit eine Kluft

[…]» (63). Natürlich kann nur Allgemeines verglichen und vorhergesagt werden, daher ist

Vereinfachung nötig und sogar eine Vorbedingung der praktischen Anwendung solcher Er-

kenntnisse. Aber, so Rickert, auch der naturwissenschaftlich verfahrende Arzt muß schließ-

lich den individuellen Besonderheiten seines Patienten Rechnung tragen, um in der Wirk-

lichkeit richtig handeln zu können.

Die konkrete ‹Wirklichkeit› bestimmt Rickert denn auch als die ‹Grenze der naturwis-

senschaftlichen Begriffsbildung›.48 Deren «formaler Begriff» schließlich kann, wie bereits

dargestellt, im ‹Generalisieren› gefunden werden: «Naturerkenntnis generalisiert. Darin be-

48 «Insofern muß man sagen, daß die Wirklichkeit in ihrer Besonderheit und Individualität die Grenze für jede naturwissenschaftliche Begriffsbildung ist» (65).

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steht ihr logisches Wesen» (66). Die altbekannte Begriffspyramide, das Verfahren der tradi-

tionellen Definitionstheorie, einen Begriff durch Angabe von genus proximum und differen-

tia specifica – und damit ausgehend vom jeweils allgemeineren Oberbegriff – genau zu defi-

nieren, entspricht mithin exakt der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung im Sinne Ri-

ckerts.

Damit seine Theorie die wissenschaftliche Wirklichkeit deskriptiv möglichst genau und umfassend widerspiegelt – und diesen Anspruch hat sie gegenüber anderen und älteren wissenschaftslogischen Versuchen in besonderem Maße –, muß Rickert die generalisieren-den Wissenschaften zudem in solche, die sich auf räumliche (genauer: Raum einnehmende) und solche, die sich auf nichträumliche Objekte beziehen, unterteilen. Dadurch ergeben sich «zwei Systeme von generalisierenden Einzelwissenschaften» (67). Beiden gemeinsam ist die generalisierende Begriffsbildung. Die Psychologie stellt nach Rickert einen logisch lediglich graduell hiervon unterschiedenen Sonderfall dar.49

2.2.5 Die Kulturwissenschaften und ihre Methode

In der zweiten Hälfte seiner Schrift beschäftigt sich Rickert mit dem Verhältnis von «Natur und Geschichte» (Kap. VII.) und diversen kulturwissenschaftlichen Einzeldisziplinen in ver-schiedenen Konstellationen.50 Die Frage lautet hier: Welche andere, auf die Sinneswelt be-zogene empirische Wissenschaft ist neben der generalisierenden möglich? Welches hätte ihr leitendes Prinzip zu sein? Daß die traditionelle Unterscheidung von Natur und Geist (hier identisch mit dem ‹Psychischen›) bezüglich der Methodenfrage eine lediglich sekundäre ist, hat Rickert bereits gezeigt («Auch die Gesetze des psychischen Lebens müssen in logischer und formaler Hinsicht Naturgesetze sein» [74]). Auf jeden Fall scheiden für ihn metaphysi-sche Spekulationen und Postulate zur Beantwortung dieser Fragen aus,51 da sie nicht weiter führen. Ein formaler, von dem des Generalisierens unterschiedener leitender Geichtspunkt läßt sich hingegen auf deskripitv-empirischem Wege finden: Jene Wissenschaften, denen es nicht um die Aufstellung allgemeiner Gesetze geht, sind historische Wissenschaften, die sich für das Einmalige, Besondere und Individuelle interessieren. Diesem Umstand hat auch die

49 Das Gegenargument, daß die Einheit des erlebten psychischen Seins auch ‹logisch› berücksichtigt wer-den müsse, weist Rickert zurück: Diese ‹Einheit› sei nämlich entweder kultureller Natur (und damit nicht genuin ‹seelisch›) oder sie fasse, wie in anderen Gebieten auch, lediglich Mannigfaltigkeit zusammen und sei damit formaler, aber nicht inhaltlicher Art, also erkenntnistheoretisch relevant, aber für die Psychologie selbst nicht von Bedeutung. – Zwei andere mögliche Arten von ‹Einheit› jedoch könnten sich nach Rickert auf die Begriffsbildung der Psychologie auswirken und eine Isolation der einzelnen Elemente verbieten: einerseits der Zusammenhang des Seelenlebens mit dem Körper als Organismus, der seine Einheit darauf (rück)überträgt; andererseits und unabhängig davon die Wertsetzung des Menschen, die das Seelenleben zur Einheit zusammenschließt. Beide Aspekte sprechen aber formal nicht prinzipiell gegen eine naturwis-senschaftliche Vorgehensweise der Psychologie, lediglich nicht näher genannte «bestimmte Arten des See-lenlebens» (72) müßten gesondert behandelt werden. 50 S. Anm. 40. 51 Vgl. hierzu jedoch unten, Kap. 2.3.

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Begriffsbildung dieser Wissenschaften Rechnung zu tragen. Entscheidend für den ‹Begriff› einer Wissenschaft (im Rickertschen Sinne) ist deren

Ziel. Damit formuliert Rickert die für seine Wissenschaftstheorie zentrale These, daß die me-thodische Ausrichtung einer Wissenschaft deren Gegenstand und Ergebnis mitbestimmt: Es gibt eine Welt, aber zwei Arten, sie zu betrachten: «Die Wirklichkeit wird Natur, wenn wir sie betrachten mit Rücksicht auf das Allgemeine, sie wird Geschichte, wenn wir sie betrach-ten mit Rücksicht auf das Besondere und Individuelle […]» (77). Methodisch kann Rickert somit als Gegenbegriff zum generalisierenden Verfahren der Naturwissenschaften das indi-vidualisierende der Kulturwissenschaften definieren.52 Dazwischen liegen die sogenannten ‹Mischformen› oder ‹Mittelgebiete›.

Der Begriff des ‹Individualisierens›, so Rickert, ist aber lediglich ein Anfang, er gibt noch nicht den «positiven Begriff der wissenschaftlichen historischen Methode» (94). Gegen-über jenem des ‹Generalisierens› ist er in seiner methodologischen Aussagekraft defizitär:

«Nennen wir nämlich die Natur die Wirklichkeit mit Rücksicht auf das Allgemeine, so wird damit

zugleich das Prinzip der Begriffsbildung für die Naturwissenschaft klar. Nennen wir dagegen die

Geschichte die Wirklichkeit mit Rücksicht auf das Besondere, so genügt das für eine Einsicht in die

logische Struktur ihrer Begriffsbildung noch nicht» (94).

Wie das ‹Generalisieren› konkret auszusehen hat, geht bereits aus dem Begriff hervor: Ge-sucht werden die allen untersuchten Gegenständen gemeinsamen Eigenschaften und Gesetz-mäßigkeiten, eben die ‹Allgemeinbegriffe›. Wie aber soll beim ‹Individualisieren› verfahren werden? Das Problem besteht darin, daß nach der Theorie Rickerts auch die Geschichtswis-senschaft zunächst das ‹heterogene Kontinuum› in ein Diskretum umwandeln muß. Wie aber kann dabei die Individualität gewahrt bleiben? – In dieser Fragestellung ist gleichzeitig der Punkt gegeben, in dem Rickert methodologisch über seine Vorgänger, namentlich Windel-band, hinausgeht:

«Ist eine individualisierende Begriffsbildung überhaupt möglich? Darin steckt das logische Problem der

historischen Methode. […] Mit dem Unterschied von ‹nomothetisch› und ‹idiographisch› allein kommen

wir nicht aus» (94).

Es gilt zunächst, die historischen Begriffe in ihrem Unterschied zu den naturwissenschaftli-chen näher zu betrachten; Rickert nimmt zu diesem Zweck die Kunst als drittes Vergleichs-system hinzu: Die Begriffe der Geschichte, präzisiert er, seien eine Art Abbilder historischer

52 Am Beispiel der Psychologie, deren Rolle Rickert zufolge aufgrund der Vieldeutigkeit des Begriffs zahl-reichen Mißverständnissen unterliegt, nimmt er eine wesentliche Präzisierung und Differenzierung vor: Die (natur)wissenschaftliche Psychologie im bereits geschilderten Sinne muß von der für die kulturwissen-schaftlichen Disziplinen bedeutsamen ‹Psychologie› (im Alltagsverständnis von ‹Menschenkenntnis› etc.) unterschieden werden. Formal gemeinsam ist der ersteren und der Geschichte nur, daß auch die Geschichte nicht ohne Allgemeines auskommen kann: «[…] die letzten Bestandteile jeder wissenschaftlichen Darstel-lung müssen […] allgemein sein» (89).

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Individualitäten, ähnlich jenen der Kunst, mit dem Unterschied allerdings, daß die Kunst eine ihren Gegenstand isolierende ‹allgemeine Anschauung› zu geben bestrebt sei, bei der der äs-thetische Gehalt gegenüber dem historischen überwiege, während die Geschichte ‹individu-elle Begriffe› in ihrem Zusammenhang fasse, die umgekehrt mehr historischen denn ästheti-schen Prinzipien entsprechen.

Die generalisierenden Wissenschaften, so läßt sich Rickerts Darstellung nun zusam-menfassen, vernichten durch ihre Begriffsbildung Anschauung und Individualität, die Ge-schichte gibt das Individuelle wieder, hebt aber die Anschauung auf und setzt sie in Begriffe um, und die Kunst schließlich löscht die Individualität aus – sie gibt unbegriffliche Anschau-ung. Schematisch lassen sich diese methodischen Unterschiede wie folgt darstellen:

Anschauung Individualität Begriff (Allgemeines) Naturwissenschaften – – + + Histor. Wissenschaften – + + – Kunst + – – + Die Frage nach der Möglichkeit von Geschichte (hier stellvertretend für die ‹historischen Kulturwissenschaften›) als Wissenschaft bleibt: Welches ist das leitende Prinzip der Be-griffsbildung für die historisch-individualisierende Methode?

Rickert findet dieses Prinzip, das die Geschichte als Wissenschaft möglich macht, im Begriff der Kultur: Letztere ermöglicht eine individualisierende Begriffsbildung, «welche aus der bloßen Andersartigkeit, die sich wissenschaftlich nicht darstellen läßt, eine darstell-bare Individualität heraushebt» (105). Diese Aussage impliziert bereits die wichtige – Rickert zufolge in der Wissenschaftstheorie bisher vernachlässigte – Unterscheidung zweier Arten von ‹Individualität›: der wertindifferenten Heterogeneität aller Wirklichkeit (der ‹bloßen Andersheit›) und der «historisch bedeutsame[n], sinntragende[n]» (105) Individualität.

Gleichzeitig ist mit dem Begriff der Kultur, der für Rickert per definitionem mit Wer-ten zusammenhängt, auch das Prinzip der Auswahl der Objekte der Kulturwissenschaft ge-geben: Wie für die Naturwissenschaft die ‹Natur› und das Allgemeine das Wesentliche sind, ist es für die Kulturwissenschaft die ‹Kultur›: dasjenige, dessen Individualität als Sinngebil-de durch die ‹daran haftenden› Werte allererst konstituiert wird.53 Diese Tatsache, die ihm zufolge das theoretische Wesen der Kulturwissenschaft ausmacht, wurde nach Rickert des-

53 Dagegen spricht Rickert zufolge auch nicht die berühmte Rankesche Maxime, Geschichte habe wieder-zugeben, ‹wie es eigentlich gewesen› sei, da es ohne Auswahl und Bedeutung schlechterdings keine Wis-senschaft geben kann: «In dem ‹wie es eigentlich gewesen› steckt ebenso wie in dem ‹idiographischen› Verfahren ein Problem und keine Problemlösung […] Für den Historiker, dem es gelänge, sein Selbst aus-zulöschen, wie Ranke es sich gewünscht hat, für den gäbe es keine wissenschaftliche Geschichte mehr, sondern nur ein sinnloses Gewimmel von lauter bloß andersartigen Gestaltungen, die alle gleich bedeu-tungsvoll oder bedeutungslos wären, und von denen keine ein historisches Interesse darböte» (108f.).

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halb stets übersehen, weil man durch die Akzidentien der Anschaulichkeit, das historische Demonstrationsmaterial davon abgelenkt wurde: man hielt «das Bild für die Hauptsache» (107). Des weiteren wird oft die bereits erfolgte Vorauswahl von kulturell Bedeutsamem übersehen und «eine Auffassung der Wirklichkeit, die das sinnvolle Wirkliche heraushebt, mit der Wirklichkeit selbst» (109) verwechselt. Nur diese beiden Mißverständnisse – die Ver-wechslung von allgemeiner Heterogeneität und historischer Individualität sowie das Überse-hen des Kulturbegriffs als logisches Prinzip der Auswahl – konnten nach Rickerts Darstel-lung überhaupt zu dem Versuch führen, die Geschichte zu einer Naturwissenschaft zu ma-chen.

Nur durch den Wertgesichtspunkt wird, folgt man Rickert, der spezifische Inhalt der Kulturbegriffe theoretisch faßbar, denn diese beziehen sich keineswegs auf eine andere Wirklichkeit als die naturwissenschaftlichen. Es geht hier also um das unterschiedliche Er-kenntnis-Interesse, mit dem man an diese Wirklichkeit herantritt und das die Wahl der Me-thode bestimmt. Das rein theoretische Prinzip der Wertbeziehung formuliert zudem lediglich explizit, was der Historiker immer schon praktiziert, indem er das ‹Bedeutungsvolle›, ‹Wert-volle› hervorhebt.

Die Werte sind in Rickerts Philosophie keine Wirklichkeit, ihr Wesen besteht in ihrer Geltung. Sie sind aber in verschiedener Weise mit der Wirklichkeit verbunden: Der Wert ‹haftet› entweder an einem Objekt und macht dieses dadurch zum ‹Kulturgut› oder er ist mit dem Akt eines Subjekts verknüpft, der dadurch zur ‹Wertung› wird. In der ‹praktischen Stel-lungnahme› kann nach der Rechtmäßigkeit dieser Verbindung, also nach der Geltung dieser Werte gefragt werden, dies liegt aber außerhalb der Aufgaben der Wissenschaft. Es ist näm-lich von entscheidender Wichtigkeit, das ‹wertbeziehende Verfahren› der Wissenschaft strikt vom ‹wertenden› zu unterscheiden – die Geschichte fragt nach faktisch vollzogenen Wertun-gen, nach faktisch vorhandenen Kulturgütern, sie ist nicht selbst wertend; Rickerts Theorie steht damit nicht im Widerspruch zum Postulat der Wertfreiheit jeder Wissenschaft: Er be-tont mehrfach, «daß die Beurteilung des objektiven Wertes ganz etwas anderes ist als die hi-storische Beziehung auf den Wert, denn sonst könnten nicht dieselben Objekte für die eine Darstellung wesentlich, für die andere unwesentlich sein» (166). ‹Historische Individuen›, mithin potentielle Objekte der historischen Kulturwissenschaft, entstehen also durch die Be-ziehung von Gegenständen auf bereits gewertete Werte: «Die theoretische Werbeziehung bleibt im Gebiet der Tatsachenfeststellung […]» (113). Dabei ist der Ausdruck ‹Wert› (wenn er als ausschließlich positiver verstanden wird) ähnlichen auf dem populären Wortgebrauch beruhenden Mißverständnissen ausgesetzt wie jener der ‹Kritik› (wenn sie nur als Tadel auf-gefaßt wird): «[…] Werten muß immer Lob oder Tadel sein. Auf Werte beziehen ist keins von beiden» (114). Der Wert eines Kulturguts (d. h. die Rechtmäßigkeit seines Bezugs auf allgemeine Werte) kann also durchaus umstritten sein, dies ist Sache der wissenschaftlichen

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Diskussion; die Tatsache allein, daß er (negativ oder positiv) auf Werte bezogen oder aber faktisch einmal gewertet wurde, macht ihn zum Objekt der Kulturwissenschaft. So fällt etwa auch die traditionelle historische Zentralkategorie der ‹Entwicklung› für Rickert unter dieses Prinzip, insofern für die so verstandene Geschichte gerade nicht die gleichartigen (wertindif-ferenten), sondern die einmaligen, historisch wirksamen54 ‹Stufen› bedeutsam werden und deren ‹Wert› sich auf ihre – damit selbst wiederum der Untersuchung würdigen – Vorbedin-gungen überträgt usw.

In der Wertbeziehung hat Rickert damit das Prinzip der individualisierenden Begriffs-bildung der Kulturwissenschaften gefunden, deren Bedeutung jener der generalisierenden Methode der Naturwissenschaften entspricht. Da die zur Frage stehenden Kulturwerte nach Rickerts Darstellung zudem ‹allgemeine› Werte (also allgemein anerkannte oder zumutbare, s. oben, S. 19) zu sein haben, ist auch die Objektivität des Verfahrens prinzipiell gesichert. Auch hier ist es nach Rickert also – wie in den Naturwissenschaften – ein Allgemeinheitskri-terium, das die Objektivität der Wissenschaft garantiert und subjektive Beliebigkeit weitge-hend ausschließt:

«[…] das ist insofern in der Tat richtig, als das Besondere zugleich von allgemeiner Bedeutung sein

muß, um in die Wissenschaft einzugehen, und ferner nur das von ihr wissenschaftlich dargestellt

wird, worauf diese seine allgemeine Bedeutung beruht» (123).

Der prinzipielle Unterschied freilich bleibt davon unberührt, denn das Allgemeine ist hier der Kulturwert und nicht der Gegenstand selbst (das Individuell-Besondere, an dem er zum Aus-druck kommt). Das Besondere ist hier nämlich nicht Gattungsexemplar, sondern «individuel-ler Träger eines individuellen Sinngebildes» (124).

Den Nuancen und Schwierigkeiten, den Verschiebungen und Vermischungen, die sich in der komplexen wissenschaftlichen Realität zeigen, versucht Rickert in einem den ‹Mittel-gebieten› gewidmeten Kapitel gerecht zu werden. Dadurch ergeben sich für ihn zwar partiel-le Einschränkungen, nicht aber prinzipielle Änderungen der Grundbestimmungen seiner Wissenschaftslehre.

2.2.6 Einwände

Den Abschluß von Rickerts Studie bilden drei Kapitel, in denen er drei Haupteinwänden ge-gen seine Theorie begegnet, und zwar: 1.) auch das generalisierende Verfahren könne unter bestimmten Umständen Individuelles erfassen; 2.) auch ohne den Wertgesichtspunkt sei in-dividualisierende Begriffsbildung möglich; 3.) die von Rickert postulierte Objektivität der Kulturwissenschaften sei im Vergleich zu jener der Naturwissenschaften problematisch. – Rickerts Antworten auf diese Einwände lauten wie folgt:

54 Hier wiederum ‹wertungsfrei› und nicht im geschichtsphilosophisch-teleologischen Sinne verstanden.

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1.) Klassische Beispiele für die angebliche Möglichkeit, Besonderes mittels naturwis-senschaftlicher Verfahrensweisen zu erfassen, sind Astronomie und Physik. Beide operieren durch Anwendung der Mathematik. Für diese gilt nach Rickert aber eine andere Art der be-grifflichen Bewältigung des ‹heterogenen Kontinuums› als für die Objektwissenschaften (s. oben, S. 20), nämlich die Umwandlung in ein homogenes Kontinuum. Damit haben es die mathematisch verfahrenden Naturwissenschaften Rickert zufolge mit einer weiteren Art von ‹Individualität› zu tun, und zwar mit der ‹quantitativen Individualität›, die sich sowohl von der ‹bloßen Andersartigkeit› als auch von der ‹historischen Individualität› unterscheidet. Ei-ne Verwechslung dieser Arten von ‹Individualität›55 führt zu Mißverständnissen, wie sie die-sem Einwand zugrunde liegen. Die quantitative Individualität im homogenen Kontinuum kann freilich restlos berechnet werden. Allerdings ist sie als Ergebnis der quantifizierenden Methode nichts anderes als ein «Schnittpunkt von [räumlichen oder zeitlichen – I.K.] Allge-meinheiten» (146), und es liegt eine verbreitete – von Rickert als krypto-metaphysischer ‹physiologischer Idealismus› bezeichnete – Verwechslung von Begriff und Inhalt vor, wenn man sie für die Realität ausgibt («Das rein Quantitative ist, für sich betrachtet, unwirklich» [146]). Sie ist so real wie eine Linie, die man sich aus mathematischen Punkten zusammenge-setzt denkt.56 Als ‹Wirklichkeit› ist dabei jenes empirische, qualitative heterogene Konti-nuum aufzufassen, das von der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung niemals erfaßt wer-den kann:

«Tatsächlich bedeutet die scheinbare Individualitäts- und Wirklichkeitsnähe, welche durch Anwendung

der Mathematik und durch Einführung des homogenen Kontinuums in die Begriffe hervorgebracht wird,

die größte Wirklichkeitsferne, denn individuelle Wirklichkeiten sind nie homogen, und alles, was sich

mathematisch ‹individualisieren› läßt, ist für sich allein, wie alles Quantitative, irreal.» (149).

Der Schritt vom Homogenen ins Heterogene, der mit dem vom Rationalen ins Irrationalen zusammenfällt, ist für Rickert – er geißelt mit Goethe den in allen Sphären grassierenden «Wahn, daß in der Mathematik allein das Heil zu finden sei» (156)57 – zugleich der Schritt vom Irrealen in die Wirklichkeit, die aber naturwissenschaftlich-begrifflich nie als solche zu fasen sein wird: So können allgemeine Gesetze historisch-reale, singuläre Verläufe niemals

55 Es handelt sich hier – in der von Ernst Cassirer in seiner Philosophie der symbolischen Formen entwik-kelten Terminologie – um das Problem eines je unterschiedlichen ‹Index der Modalität› des sprachlich und ‹qualitativ›, d. h. hinsichtlich seiner ‹Beziehungsform› identischen Begriffs ‹Individualität› in unterschied-lichen ‹Formzusammenhängen›, d. h. ‹Modalitäten›: «So zeigt sich, durchweg, daß, um eine bestimmte Beziehungsform in ihrem konkreten Gebrauch und in ihrer konkreten Bedeutung zu chrarakterisieren, nicht nur die Angabe ihrer qualitativen Beschaffenheit als solcher, sondern auch die Angabe, des Gesamt-systems, in dem sie steht, erforderlich ist.» ERNST CASSIRER, Philosophie der symbolischen Formen. Er-ster Teil: Die Sprache [1923], Darmstadt 1964, S. 29ff. 56 Vgl. die Behandlung des gleichen Beispiels bei Bergson etwa zur selben Zeit: HENRI BERGSON, Einfüh-rung in die Metaphysik [Introduction à la métaphysique, in: «Revue de métaphysikque et de morale», 1903], in: Ders., Denken und Schöpferisches Werden, Hamburg 1993, S. 186. 57 «[…] Goethe […] [war] zwar gewiß kein systematisch wissenschaftlicher Philosoph, [besaß] dafür aber einen eminenten Sinn für das, was wirklich ist» (156).

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vorhersagen. 2.) Dem Einwand, die Wirklichkeit könne auch wertindifferent (ohne Bezug auf Kul-

turwerte) individualisierend behandelt werden, stimmt Rickert zu – mit der Einschränkung allerdings, daß es sich dabei nicht um Wissenschaft, sondern um einen privaten ‹Willensakt› handelt: «völlig gleichgültige, sinnfreie Gegenstände» (157) können, wenn man es denn will, ihrer Individualität nach geschildert werden. – Wissenschaftlich ist dies nach Rickert in be-stimmten Fällen ebenfalls möglich, aber nur im Sinne etwa einer Materialsammlung (bei-spielsweise in der Geographie, einem der ‹Mittelgebiete›) als Vorarbeit zur späteren wissen-schaftlichen Verwertung, denn eine solche Vorarbeit stellt allein keinen ‹wissenschaftlichen Abschluß› einer individualisierenden Begriffsbildung dar. Ein solcher ist – von Ausnahmen abgesehen – für Rickert ohne Kulturwertbeziehung nicht möglich; denn ohne Wertbezug kann die Individualität nicht von wissenschaftlicher Bedeutung sein, und selbst «[b]loße Tat-sachenfeststellung ist für sich allein noch keine Wissenschaft» (161).

3.) Sind die Werte, welche die Auswahl des Stoffes und damit die Objektivität der kul-turhistorischen Wissenschaft garantieren sollen, nicht willkürlich? In der Tat, räumt Rickert ein, liegt hier – selbst wenn die entsprechenden Werte wirklich allgemein sind und die theo-retische Wertbeziehung streng eingehalten wird – im Vergleich zur naturwissenschaftlichen Objektivität «eine Objektivität von eigentümlicher Art» (163) vor: Die Werte und somit die wertbeziehenden Darstellungen gelten immer nur für einen beschränkten Kreis von Men-schen, sie beziehen sich auf einen historisch beschränkten Kreis von Objekten. Die (somit gleichsam relative) Objektivität von Spezialuntersuchungen ist damit nicht gefährdet. Pro-blematisch wird es aber, wo es etwa um ‹Universalgeschichte› geht, die ja immer historisch und kulturkreisabhängig sein muß. Die Naturwissenschaften verändern ihre Begriffe eben-falls, doch können sie von einer ‹ewigen› und objektiven Geltung der ihnen zugrunde liegen-den Gesetzmäßigkeiten ausgehen. Diese Sicherheit fehlt den Kulturwissenschaften ebenso wie eine der Mechanik entsprechende Basisdisziplin. Hier ist das Problem der Geltung von zentraler Bedeutung: Rickert kann sich an dieser Stelle nur durch die Statuierung ‹absoluter Werte› behelfen, deren geringere oder größere Nähe zu den faktisch gewerteten Kulturwer-ten die größere oder geringere (quasi absolute) Objektivität der kulturwissenschaftlichen Be-griffe garantiert. Diese Werte müssen für den Kulturhistoriker im einzelnen nicht einmal be-kannt bzw. begründbar sein, es reicht, sie vorauszusetzen:

«[…] er muß voraussetzen, daß irgendwelche Werte absolut gelten, und daß daher die von ihm sei-

ner wertbezhiehenden Darstellung zugrunde gelegten Werte nicht ohne jede Beziehung zum absolut

Gültigen sind, denn nur dann kann er andern Menschen zumuten, das, was er als wesentlich in seine

Darstellung aufnimmt, auch als bedeutsam für das, was absolut gilt, anzuerkennen» (166).

In der zunehmenden Kenntnis und dem Bewußtsein dieser Werte, die ein einheitliches «Sy-stem gültiger Werte» (168) bilden, besteht nach Rickert der kulturwissenschaftliche Fort-

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schritt. Die systematische Basis und Geschlossenheit der Kulturwissenschaften wiederum ist im Begriff der ‹Kultur› gegeben, die ihrerseits auf dem System absoluter Werte beruht.

2.3 Kritische Bemerkungen

Heinrich Rickerts ‹Wissenschaftslogik› ist einer der ausführlichsten und gründlichsten Bei-träge zur Methodologie der Kulturwissenschaften, ihre Wirkung reichte (nicht zuletzt durch die indirekte Vermittlung Max Webers) bis weit hinein ins 20. Jahrhundert, zu dessen Beginn sie auf dem Höhepunkt der Historismus-Debatte erschien.

So gut wie alle Hauptpunkte der Rickertschen Wissenschaftstheorie sind allerdings, wie bereits früh festgestellt wurde,58 zumindest skizzenhaft bereits bei seinem Lehrer Win-delband vorhanden.59 Rickert ist daher bemüht, die Differenz seiner vertieften Ausarbeitung des Unterschieds von ‹nomothetisch› und ‹idiographisch› zur Windelbandschen Erstkonzep-tion hervorzuheben. Diese besteht insbesondere in einem von Kant ausgehenden strikt trans-zendentalphilosophischen Ansatz: Was Kant für die Methodologie der Naturwissenschaften geleistet hat, will Rickert – mutatis mutandis – in möglichst strikter Analogie für die Metho-denlehre der Kulturwissenschaften ergänzen.

Die Realität unterliegt bei Rickert apriorischen Prinzipien der wissenschaftlichen Wirklichkeitskonstitution, und darin zeigt sich deutlich seine Abhängigkeit von Kants trans-zendentaler Logik.60 Der ‹Anschauung› räumt er gegenüber dem ‹Begriff› weitaus geringeren Raum ein als Windelband. Seine Theorie der wissenschaftlichen ‹Begriffsbildung› erscheint damit als eine «Reformulierung der Kantischen transzendentalen Logik: also [als] eine for-male Theorie der logischen Konstitution wissenschaftlicher Gegenstände aus sinnlichem Er-fahrungsmaterial»61. Die subjektive Vernunft ist es, die durch begriffliche Abstraktion den möglichen Gegenstand der Erkenntnis überhaupt erst herstellt (konstituiert); die Allgemein-

58 So von Barth (1915), Tönnies (1902) u. a., vgl. WAGNER, S. 108. 59 Die Dichotomie von Allgemeinem und Besonderem hinsichtlich der verschiedenen Wissenschaftstypen faßt der frühe Rudolf Steiner (1861–1925) bereits vor Windelband und Rickert (1886) in einer für seine spätere ‹Geisteswissenschaft› zentralen Unterscheidung vollständig zusammen: «Es ist etwas ganz ande-res, wenn man von einer allgemeinen Menschheit spricht, als von einer allgemeinen Naturgesetzlichkeit. Bei letzterer ist das Besondere durch das Allgemeine bedingt; bei der Idee der Menschheit ist es die All-gemeinheit durch das Besondere. Wenn es und gelingt, der Geschichte allgemeine Gesetze abzulauschen, so sind diese nur insofern solche, als sie sich von den historischen Persönlichkeiten als Ziele, Ideale vorge-setzt wurden. Das ist der innere Gesgensatz von Natur und Geist. Die erste fordert eine Wissenschaft, wel-che von dem unmittelbar Gegebenen, als dem Bedingten, zu dem im Geiste Erfaßbaren, als dem Bedingen-den aufsteigt; der letzte eine solche, welche von dem Gegebenen als dem Bedingenden, zu dem Bedingten fortschreitet. Daß das Besondere zugleich das Gesetzgebende ist, charakterisiert die Geisteswissenschaf-ten; daß dem Allgemeinen diese Rolle zufällt, die Naturwissenschaften.» RUDOLF STEINER, Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung [1886], Stuttgart 1961, S. 89. – Weder Windel-band noch Rickert haben diesen ‹Prätext› offenbar gekannt, zumindest wird er nirgends zitiert. 60 Vgl. FRIEDRICH VOLLHARDT, «Nachwort», in: RICKERT: Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, S. 197f. 61 HERBERT SCHNÄDELBACH, Geschichtsphilosophie nach Hegel. Probleme des Historismus, Frei-burg/München 1974, S. 148.

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heit des Begriffs schließlich garantiert die Objektivität der Erkenntnis. Charakteristisch ist für diese Lehre die unüberwindbare Differenz von Sein und Den-

ken, von Erfahrung und Begriff. Die traditionelle Zentralfrage der Erkenntnistheorie: ob es eine außerhalb und unabhängig vom Subjekt existente Wirklichkeit gibt, wird insofern obso-let bzw. sekundär, als diese Wirklichkeit für das Subjekt ohnehin nur im Bewußtsein in Form von abstrakt-allgemeinen Begriffen faßbar wird und aufgrund ihrer intensiven und extensi-ven Mannigfaltigkeit (‹heterogenes Kontinuum›) so, ‹wie sie ist›: nämlich stetig und irratio-nal, nicht erkannt werden kann (Rickert betont die Kluft, zwischen dem Inhalt der Begriffe und dem der Wirklichkeit, «die so groß ist wie die Kluft zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen, und die sich nicht überbrücken läßt» [63]). Damit ist eine vollständige Wirklichkeitserkenntnis unmöglich. Lediglich die Konzentration auf bestimmte, notwendig vereinfachte und verallgemeinerte Ausschnitte kann die wissenschaftliche Begriffsbildung leisten, und zwar (in den Wirklichkeitswissenschaften) duch Beseitigung der Andersartigkeit der Wirklichkeit, die dadurch zu einem homogenen Kontinuum wird. Entscheidend für die Auswahl ist dabei der Gesichtspunkt der ‹Wesentlichkeit›, der ‹Bedeutsamkeit›, wobei je nach Wissenschaftstyp andere Auswahl- und Objektivitätskriterien gelten: Die Wirklichkeit wird Natur, wenn sie hinsichtlich des Allgemeinen, sie wird Geschichte, wenn sie hinsicht-lich des Besonderen betrachtet wird.

Den Naturwissenschaften ist in Rickerts Konzeption durch die Formulierung ihres Ziels zugleich die Methode gewiesen: Der Allgemeinheit der gesuchten Elemente korrespon-diert hier die Allgemeinheit der Begriffe. Die Grenze dieser Methode ist die individuelle Wirklichkeit. Zur Debatte steht daher die Möglichkeit objektiver begrifflicher Erkenntnis des Individuellen. Nun ist im Kantischen System der Begriff gegenüber der Anschauung defini-tionsgemäß immer eine allgemeine Vorstellung (repraesentatio per notas communes), und entsprechend ist auch Rickert der Ansicht, daß jede, also auch die kulturwissenschaftliche Begriffsbildung es nur auf allgemeine Begriffe bringen kann; er behilft sich damit, daß sie hier eben auf das Besondere zutreffen müssen. Das Allgemeine ist hier also nur Mittel und nicht Zweck.62

In anderer Hinsicht noch aber spielt das Allgemeine bei Rickert eine entscheidende Rolle auch für die kulturwissenschaftliche Begriffsbildung, und zwar in Gestalt der Werte, die als Schlußstein seines Theoriegebäudes fungieren. Diese sollen einmal – gleichsam als ‹argumentum e consensu gentium› – in Anaologie zur naturwissenschaftlichen Intersubjekti-vität nach ‹demokratischem› Prinzip die ‹relative› Objektivität der kulturwissenschaftlichen Auswahl sicherstellen (Rickert betont ja, daß «das Besondere zugleich von allgemeiner Be-

62 Nach G. Wagner ist die Analyseeinheit hier nicht mehr der Begriff, sondern das Urteil (das nach Ri-ckerts Grenzen… sowohl Allgemeines als auch Besonderes darstellen kann), wodurch mit der Kantschen Priorität des Begriffs vor dem Urteil «der ganze transzendentalphilosophische Subjektivismus suspekt [wird]» (WAGNER, S. 119f.).

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deutung sein muß, um in die Wissenschaft einzugehen, und ferner nur das von ihr wissen-schaftlich dargestellt wird, worauf diese seine allgemeine Bedeutung beruht» [123]); in letzter Konsequenz garantieren für Objektivität aber die zeitlosen, sogenannten ‹absoluten Werte›, welche als Organisationsprinzip der kulturwissenschaftlichen Begriffsbildung63 in Analogie zu Kants ‹Gesetz› eingeführt werden, und diese Werte sind weder faktische menschliche Wertsetzungen, noch ‹existieren› sie Rickert zufolge, sie sind aber, soviel scheint klar zu sein, transzendent. Und damit beruht die ganze Theorie auf ausgesprochen spekulativ-metaphysischen Annahmen (wie sie Rickert seinerseits ja gerade den Verfechtern der Omni-potenz der naturwissenschaftlichen Methode vorwirft).64 Zugleich kehrt Rickert damit zu Windelbands auf Lotze zurückweisender Definition der Philosophie als kritischer Wissen-schaft von den allgemeinen Werten zurück. Rickerts (wiederum Lotze explizierender) nor-mativer Wahrheitsbegriff65 wird seine eigene Wertphilosophie in ein transzendentes Sollen münden lassen, das an Stelle der Erkenntnis irgendwelcher Dinge dieser Welt steht.

Rickerts Wissenschaft vom Besonderen arbeitet also, zugespitzt formuliert, mit allge-meinen Begriffen, die sich auf Gegenstände beziehen, deren Auswahl auf von einer Mehrheit anerkannte absolute Werte gegründet ist. Der (zumindest an dieser Stelle) unklare ontologi-sche Status dieser Werte,66 mit dem die ‹Objektivität› der Kulturwissenchaften steht und fällt, ist sicherlich der problematischste und auch in der Rezeption mit am meisten diskutier-te Punkt in Rickerts in weiten Teilen überzeugender Theorie. Er ist aber nicht der einzige kri-tische Punkt. So ist bei den Naturwissenschaften durch das Prinzip des ‹Generalisierens› nicht nur das Ziel, sondern bereits auch die Methode – und zwar über die Auswahl des Ge-genstands hinaus – mehr oder weniger konkret benannt: Die Objektivität im Sinne von Inter-subjektivität qua Nachprüfbarkeit der Resultate wird gerade durch die Allgemeinheit der in Frage stehenden Eigenschaften ermöglicht. Rickert ergänzt das Prinzip des ‹Individualisie-rens› um das wiederum ‹verallgemeinernde› Kriterium der Wertbeziehung. Selbst wenn man dieses fragwürdige Objektivitätskriterium anerkennen würde, das im Grunde genommen das Problem nur vom Subjektivismus auf die Transzendenz und Geltungsproblematik der Werte verschiebt, wäre damit aber auch noch nicht mehr definiert und legitimiert als das Prinzip der Objektauswahl und damit die grundsätzliche Existenzberechtigung der Kulturwissen-schaften. Da nun auch nach Rickert «[b]loße Tatsachenfeststellung für sich allein noch keine

63 Rickert bezeichnet diese Begriffsbildung an anderer Stelle darüber hinaus als ‹teleologisch›, vgl. WAG-NER, S. 121. 64 G. Wagner weist diese metaphysische Konstitution anhand der Rickertschen Erkenntnistheorie im ein-zelnen nach (WAGNER, S. 122ff.). Seine radikale Schlußfolgerung lautet: «Beim Südwestdeutschen Neu-kantianismus handelt es sich um ekeinen – wie auch immer modifizierten – Kantianismus, sondern um ei-ne ambivalente Position, die sich zwar in terminologischer wie programmatischer Hinsicht transzendental-philosophisch-kantianisch geriert, deren Tiefenstruktur aber neuscholastische Metaphysik abgibt» (WAG-NER, S. 11). 65 H. Schmitz sieht Anselm von Canterbury in diesem Punkt als einzigen Vorläufer Rickerts, vgl. WAG-NER, S. 122ff. 66 Auf Rickerts Wertphilosophie kann an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden.

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Wissenschaft [ist]» (161), stellt sich darüber hinaus die Frage nach der Anerkennung weiter-gehender konkreter Resultate der Kulturwissenschaften (wobei die Geschichte noch der am wenigsten problematische Fall sein dürfte, verglichen etwa mit der Literaturwissenschaft).

Diese Frage wird durch Rickerts Wissenschaftslogik nicht beantwortet. Die weitere Diskussion der Thematik in Philosophie und Wissenschaftstheorie hat jedoch gezeigt, daß diese Schwierigkeiten in der Sache selbst – bzw. in grundsätzlicheren epistemologischen Problemen wurzeln.

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3. Ausblick

«Zweifellos ist in der Schule Windelbands und Rickerts manches zu lernen, Ricker-tianer braucht man nicht zu sein.»67

Joseph Fischer

3.1 Max Weber und die Folgen: Das Wertfreiheitspostulat

Max Weber (1864–1920) war mit Heinrich Rickert persönlich bekannt und betonte selbst den Einfluß Windelbands und insbesondere Rickerts auf die theoretische Konzeption seiner ‹Wirklichkeitswissenschaft›. Die Forschung hat Webers philosophische Position sowohl als ‹naturalistischen Positivismus› (Tenbruck 1959) wie als ‹edlen Nihilismus› (Strauss 1950) oder gar als gänzlich eigenständiges, geschlossenes und vollständiges System (Henrich 1952)68 plausibel zu machen versucht. Die neueren Arbeiten seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts nehmen mehr oder weniger einhellig wieder den südwestdeutschen Neukant-nianismus als Hauptquelle für Webers eklektizistische Wissenschaftslehre an.69

Ohne auf Einzelheiten näher eingehen zu können, ist doch festzhalten, daß etwa die Verwandtschaft des berühmten Weberschen ‹Idealtypus›, des heuristischen Hauptinstruments der Weberschen ‹verstehenden Soziologie›, mit Rickerts ‹komplexen Begriffen› einerseits und seinen begrifflichen ‹historischen Individuen› (der Unterschied ist hier bereits durch den Zusatz ‹historisch› benannt) auf der Hand liegt. Ähnlich steht es mit dem Verhätltnis von notwendiger Wertungsfreiheit und geforderter Wertbeziehung. Der – allerdings entscheiden-de – Unterschied liegt hier darin, daß Weber eine gänzlich individuelle Wertbeziehung im Gegensatz zu Rickert für unumgänglich ansieht. Eine ‹Objektivität› nach den Kriterien der Naturwissenschaften ist für Weber damit nicht möglich; sein Maßstab ist der Erfolg der Theoriebildung.

Folgen hatte vor allem das Postulat der Wertfreiheit – im sogenannten ‹Werturteils-

67 JOSEPH FISCHER, Die Philosophie der Werte bei Wilhelm Windelband und Heinrich Rickert. Philoso-phiegeschichtlich untersucht und dargestellt von Dr. Joseph Fischer, in: Studien zur Geschichte der Philo-sophie. Festgabe zum 60. Geburtstag, Clemens Baeumker gewidmet […], Münster 1913, S. 466 (= Beiträ-ge zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters, Supplementband I). 68 Vgl. WAGNER, S. 7f. 69 Vgl. z. B.: «Die Übernahme des Rickertschen Ansatzes, wonach die Anwendung eines generalisierenden oder individualisierenden Vefahrens nicht als eine Frage der Angemessenheit der Methode an den Gegen-stand behandelt wird, sondern rein als Funktion der Richtung des kognitiven Interesses, erlaubt es Weber, die festgefahrene Frontstellung [zweier soziol Richtungen, die für generalis vs. indiv. Verfahren plädieren – I. K.] zu umgehen.» THOMAS BURGER, «Deutsche Geschichtstheorie und Webersche Soziologie», in: GERHARD WAGNER/HEINZ ZIPPRIAN (Hgg.), Max Webers Wissenschaftslehre. Interpretation und Kritik, Frankfurt/Main 1994, S. 93.

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streit›: «Nichts aber von allem, was Max Weber getan, gesagt und geschrieben hat, ist derar-tig besprochen, kommentiert, mißverstanden und verlacht worden wie seine Lehre von der Wertfreiheit in den soziologischen Wissenschaften.»70 Der (deutsche) Methodenstreit um die Frage, ob die Sozialwissenschaften sich jeglicher Werturteile zu enthalten haben oder nicht, verlief in drei Phasen: Im ‹älteren Methodenstreit› standen sich die nationalökonomischen Schulen G. Schmollers und C. Meyers gegenüber, im ‹jüngeren Methodenstreit› diskutierten die Weber-Sombart-Schule und die sog. ‹Praktiker› unter den Nationalökonomen, und 1961 kam es nach Referaten Th. W. Adornos und K. Poppers auf der Arbeitstagung der von Weber mitbegründeten ‹Deutschen Gesellschaft für Soziologie›71 zum sogenannten ‹Positivismus-streit›:72 Hier standen sich die Positionen der Kritischen Theorie und des Kritischen Rationa-lismus gegenüber. Während die Kritische Theorie Wertung für unverzichtbar hält,73 postu-liert der Kritische Rationalismus (Popper) eine Geltung der Wertfreiheitsforderung auch für die Sozialwissenschaften.

Die Unterscheidung von Sein und Sollen bei der Lösung praktischer Fragen führte ge-schichtlich zur Entwicklung des Wahrheitsbegriffs. Der Terminus ‹Wert› spielt dabei als sol-cher im Deutschen seit dem 19. Jahrhundert eine Rolle.74

Max Webers Wertfreiheitsthese kann wissenschaftsgeschichtlich und logisch als eine Variante von ‹Hume’s law› (nach Humes A Treatise of Human Nature) betrachtet werden: Die logische Deduktion darf in der Konklusion nicht etwas enthalten, was nicht schon in den Prämissen enthalten ist, ansonsten handelte es sich um einen Fehlschluß, der durch externe Zusätze Werturteile oder Normen ableitete: Die Wissenschaft enthält erkenntnisinterne, d. h. instrumentelle Bewertungen,75 aber keine deskriptiven Sätze in der Form von Werturteilen bzw. keine erkenntnisfremden Wertungen, Werturteile und Normen. Karl Popper formuliert in diesem Zusammenhang:

«[…] es gibt rein wissenschaftliche Werte und Unwerte und außerwissenschaftliche Werte und

70 PAUL HONIGSHEIM, «Max Weber als Soziologe», in: Kölner Vierteljahreshefte für Sozialwissenschaften, I (1921), S. 35, zit. nach: RENÉ KÖNIG, «Einige Überlegungen zur Frage der ‹Werturteilsfreiheit› bei Max Weber» [1964], in: H. ALBERT/E. TOPITSCH (Hgg.), Werturteilsstreit, Darmstadt 1979, S. 152 (= Wege der Forschung, Bd. CLXXV). – Vgl.: «Es gibt kaum ein Thema aus der Methodenlehre der Soziologie, das heute […] mit soviel Leidenschaft und dementsprechend mit sowenig Besonnenheit und Diskriminations-fähigkeit diskutiert wurde wie das der Wertfreiheit sozialwissenschaftlicher Urteile.» KÖNIG, S. 150. 71 Weber selbst war 1912 wegen anhaltender Meinungsverschiedenheiten in der Werturteilsfreiheitsfrage aus der Gesellschaft ausgetreten. 72 Texte gesammelt in: TH. W. ADORNO et al., Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, Neu-wied/Berlin 1969 (= Soziologische Texte, Bd. 58). 73 «Was einst die praktische Wirksamkeit der Theorie ausmachen sollte, verfällt jetzt den methodologi-schen Verboten. […] Im Begriff des erkenntnisleitenden Interesses sind die beiden Momente schon zu-sammengenommen, deren Verhältnis erst geklärt werden soll: Erkenntnis und Interesse.» JÜRGEN HABER-MAS, «Erkenntnis und Interesse» [1965], in: H. ALBERT/E. TOPITSCH, S. 337ff. 74 Vgl. auch zum folgenden GERARD RADNITZKY, Art. «Wert», in: Handlexikon zur Wissenschaftstheorie, S. 381ff. 75 Gemeint sind methodologische Regeln und Implikationen über Ziele wie: Erkenntnis- qua Wissen-schafts-Fortschritt, interessante Neuigkeiten, Anpassung an die Wahrheit, Verbesserung von Theorien etc. Die methodologischen Regeln sind hypothetische Imperative, also wissenschaftsinterne Wertungen.

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Unwerte. Und obwohl es unmöglich ist, die Arbeit an der Wissenschaft von außerwissenschaftli-

chen Anwendungen und Wertungen frei zu halten, so ist es eine der Aufgaben der wissenschaftli-

chen Kritik und der wissenschaftlichen Diskussion, die Vermengung der Wertsphären zu bekämp-

fen, und insbesondere außerwissenschaftliche Wertungen aus den Wahrheitsfragen auszuschal-

ten.»76

Das ‹Wertfreiheitsprinzip› (Hans Albert) ist eine Konsequenz der Forderung nach Intersub-jektivität. G. Radnitzky reformuliert diese Regel folgendermaßen «Wenn Sie Wissenschaft treiben, d. h., wenn Ihr Ziel Erkenntnisfortschritt ist, dann dürfen die Resultate Ihrer For-schung keine echten Werturteile oder Normen enthalten – und zwar deshalb nicht, weil sonst die Forderung nach intersubjektiver Überprüfbarkeit und Prüfung der Resultate der For-schung nicht realisierbar wäre.»77 Oder deskriptiv, als These formuliert: «Der Kompetenzbe-reich der Wissenschaft ist beschränkt, insbesondere fallen sämtliche erkenntnisfremde Wert-urteile und Normierungen außerhalb ihres Zuständigkeitsbereichs.»78 Daraus folgt aber auch, daß mit Wissenschaft allein nicht über echte Normen entschieden werden kann: Diese Ein-schränkung auf deskriptive Aussagen ist der Preis für ihre Objektivität im Sinne der intersub-jektiven Überprüfbarkeit ihrer Resultate.

Die Unterscheidung beschreibender und bewertender Sätze sichert also die prinzipielle intersubjektive Nachprüfbarkeit. In den Realwissenschaften ist diese Prüfung der ‹Test der Erfahrung›; im Bereich der echten, nicht-instrumentellen Normen gibt es kein Korrelat zur Überprüfung. – Da es aber logisch unmöglich ist, aus Prämissen, die ausschließlich deskrip-tiv sind, echte Berwertungen abzuleiten (es sei denn, man läßt gemischte Prämissen zu), fal-len diese nicht nicht in den Bereich der Wissenschaft.

Popper ist allerdings der Ansicht, daß Theorien niemals rational zu rechtfertigen sind. Er tröstet sich damit, daß sie rational kritisierbar seien, daß mithin bessere von schlechteren Theorien unterschieden werden können: «Die sogenannte Objektivität der Wissenschaft be-steht in der Objektivität der kritischen Methode; das heißt aber vor allem darin, daß keine Theorie von der Kritik befreit ist, und auch darin, daß die logischen Hilfsmittel der Kritik – die Kategorie des logischen Widerspruchs – objektiv sind.»79

3.2 Moderne wissenschaftstheoretische Konzepte

Moderne wissenschaftstheoretische bzw. logische Auffassungen gehen, wie gezeigt, fast aus-schließlich vom jeweiligen naturwissenschaftlichen Wissenschaftlichkeits- und Objektivi-tätsverständnis aus und versuchen allenfalls, dieses auf die Geisteswissenschaften zu über-

76 KARL R. POPPER, «Die Logik der Sozialwissenschaften», in: ADORNO, S. 114. 77 RADNITZKY, S. 385. 78 RADNITZKY, S. 385. 79 POPPER, S. 106.

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tragen. Annäherungen scheinen aber nur dort möglich, wo grundsätzliche Skepsis herrscht. Geisteswissenschaftlich-philosophische Ansätze im traditionellen Sinne wiederum führen ebenfalls nicht zu einer befriedigenden theoretischen ‹Gesamtlösung›. Einige wenige Haupt-punkte seien abschließend in aller Knappheit und ohne Anspruch auf Vollständigkeit skiz-ziert. 3.2.1 ‹Erklären› – Logisch-analytische Ansätze

Seit Dilthey ist das ‹Erklären› im Sinne einer bloß hypothetisch-kausalen Erkenntnis als den Geisteswissenschaften unangemessen empfunden worden. Karl Popper behauptete die (heute allerdings oft bezweifelte) strukturelle Identität von Erklärung und Prognose. Die Wissen-schaftlichkeit einer Theorie ist in dieser Konzeption an ihre Erklärungsleistung gekoppelt. Damit ist soviel Wissenschaftlichkeit wie Erklärungskraft (und zugleich prognostisches Po-tential) in einer Theorie, und ‹Erklärung› könnte demzufolge global als Aufgabe der Wissen-schaft aufgefaßt werden. Bis heute gängig ist das von Popper mitformulierte sogenannte ‹D-N-Schema› der Erklärung (deduktiv-nomologische Erklärung): Das Explanandum wird unter Einhaltung von empirischen Adäquatheitsbedingungen aus dem Explanans deduziert.

Diese Bedingungen sind in den Geisteswissenschaften aber selten erfüllt: Das Einzelne ist hier zwar auf das Allgemeine bezogen, aber nur in einem Wechselverhältnis wie es der ‹Hermeneutische Zirkel› beschreibt. ‹Verstehen› ist hier Prozeß, nicht Akt, und daher for-mallogisch nicht abbildbar: Die Adäquatheitsbedingungen wären, logisch gesprochen, ge-genüber den Naturwissenschaften insbesondere hinsichtlich des hier fehlenden Allquantors eingeschränkt, wodurch man es im Ergebnis allenfalls mit ‹Quasigesetzen› zu tun hätte.

Ein anderes Erklärungs-Konzept ist das handlungstheoretische, das die Selbsteinschät-zung des handelnden Subjekts auf rational-normativem Hintergrund mit berücksichtigt (ver-kürzt: ‹P tut x, weil er y nur so erreichen zu können meint›). Dieser ‹praktische Syllogismus› (Wright) stellt eine Kombination kausaler und teleologisch-intentionaler Erklärung dar; er soll ein formales Modell für spezifisch geisteswissenschaftliche Erkenntnis abgegben. Dies funktioniert nomologisch verallgemeinerbar aber auch nur unter der Voraussetzung einer normativen Rationalitätsbedingung, was wiederum die hier zentrale ‹Besonderheit› aufheben würde. Letztlich handelt es sich dabei auch nicht um eine Erklärung im logischen Sinne, weil eine reflexive Selbsterklärung beteiligt ist – damit unterscheidet sich das Modell nicht ent-scheidend von Diltheys ‹Nacherleben›.

Sogenannte historische ‹Gesetze› sind, logisch gesehen, entweder nur Selbsterklärun-gen oder aber sie ermöglichen keine Prognosen (wie hegelianisch/historisch-materialistische, christlisch-eschatologische oder auch französisch-strukturalistische Positionen annehmen). In den Geisteswissenschaften herrscht die generelle Tendenz vor, Allgemein- oder ‹Geset-

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zesbegriffe›80 als regulative Begriffe mit Analyse- bzw. Beschreibungs- weniger denn Erklä-rungsfunktion aufzufassen. Weitgehend wird nach wie vor ‹idiographisch› resp. interpretato-risch (Literaturwissenschaft) gearbeitet, mit Hilfe von heuristischer Hypothesenbildung und deren analytisch-systematischer Überprüfung. Typisch ist hierfür ein Methodenpluralismus, wie er insbesondere die Literaturwissenschaften kennzeichnet (historische – synchrone wie diachrone –, realistische, textkritische, ästhetische, poststrukturalistische u. v. a. Methoden). In der Terminologie Thomas Kuhns (The Structure of Scientific Revolutions, 1962) müssen die Kultur- oder Geisteswissenschaften als nicht-paradigmatische Wissenschaften bezeichnet werden: hier hat man es mit der Koexistenz unterschiedlicher Konzeptionen, mit einem ‹Pa-radigmen-Pluralismus› zu tun.81 Eine klare Bereichsbestimmung scheint demnach überhaupt unmöglich zu sein, denn der genannte Methoden- und Gegenstandspluralismus ist prinzipiell durchaus auch auf Seiten der Naturwissenschaft zu finden (vgl. etwa holistische Tendenzen). Walther Zimmerli spricht in diesem Zusammenhang von «verschränkt wechselseitig[en] Dienstleistungen»82 der beiden Wissenschaftstypen.

‹Wissenschaftlichkeit›, anerkanntermaßen korreliert mit Prüfbarkeits- (Verifikations- und/oder Falsifikations-) Kriterien, kann auch durch ‹Übersetzbarkeits-› bzw. Formalisier-barkeitskriterien beschrieben werden. Dies ermöglicht eine ‹friedliche Abgrenzung› von Wissenschaft und ‹Nicht-Wissenschaft› (Metaphysik oder Naturphilosophie), da sie rein de-skriptiv und selbst nicht wertend ist. Auch in diesem Sinne nicht-wissenschaftliche Theorien können aber rational und wertvoll, ja als Hypothesen mit axiomatischem Charakter unver-zichtbar für die ‹Wissenschaft› sein, wie etwa die «metaphysische Hypothese von der Exi-stenz der Außenwelt»83 (!) (ohne diese Annahme wäre etwa auch das Allgemeinheitskriteri-um nicht haltbar). Radnitzky schreibt sogar: «In diesem Sinn ist Metaphysik ein ‹integraler Teil› der wissenschaftlichen Forschung.»84

Das Problem der geisteswissenschaftlichen Theoriebildung bleibt allerdings bestehen, denn die spezifisch geisteswissenschaftlichen Verfahrensweisen sind, wie gezeigt, durch ana-lytische Wissenschaftsmodelle nicht beschreibbar. Für Zimmerli bleibt lediglich eine funk-tionale Bestimmung: so seien die Geisteswissenschaften in erster Linie ‹identitätsstiftend›, ‹traditionsvermittelnd› etc. Die Problematik verweist er zurück an die Philosophie im tradi-tionellen Sinne, genauer: die Hermeneutik:

«Es läßt sich also aus den in den einzelnen geisteswissenschaftlichen Disziplinen festgestellten

Merkmalen geisteswissenschaftlicher Tätigkeit die allgemeine Einsicht gewinnen, daß weder der

Gegensatz von ‹Verstehen› und ‹Erklären›, noch der zwischen ‹idiographischem› und ‹nomotheti-

80 Eine Überprüfung des Allgemeinbegriffs am Besonderen im strengen Sinne der Popperschen Falsifizie-rung, ist z. B. in den Literaturwissenschaften nicht möglich. 81 Vgl. hierzu und zum folgenden ZIMMERLI, S. 91ff. 82 ZIMMERLI, S. 99. 83 GERARD RADNITZKY, Art. «Wissenschaftlichkeit», in: Handlexikon zur Wissenschaftstheorie, S. 405. 84 RADNITZKY, «Wissenschaftlichkeit», S. 405.

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schem› bzw. zwischen ‹individualisierendem› und ‹generalisierendem› Verfahren die Geisteswis-

senschaften in Absetzung von den Naturwissenschaften hinlänglich kennzeichnet. Andererseits

trifft auch die einheitswissenschaftliche These von der methodologischen Identität aller wissen-

schaftlichen Verfahrensweisen den tatsächlichen Zustand und die in den einzelnen geisteswissen-

schaftlichen Disziplinengruppen befolgten Methoden nicht. Vielmehr scheint die Differenz auch

hierzu gleichsam nochmals ‹quer› zu verlaufen. Da nun weder Gegenstandsbereich noch Methode

ein hinreichendes Kriterium abgeben, und da auch die These von der Unabtrennbarkeit, d. h. Ein-

heitlichkeit beider Wissenschaftsgruppen nicht zu halten ist, ist die wesentliche Differenz nicht wis-

senschaftsintern zu suchen, sondern wissenschaftsextern. Es ist die Philosophie der Geisteswissen-

schaften, die sich damit befaßt.»85

3.2.2 ‹Verstehen› – Der hermeneutische Ansatz

Die Hermeneutik in der Linie Heidegger–Gadamer begreift ‹Verstehen› von der Sprache her als grundsätzlich wissenschaftsfundierend, noch vor einer Trennung von Geistes- und Na-turwissenschaften. Die Geisteswissenschaften werden in dieser Auffassung funktional be-stimmt durch ein – freilich wirkungsgeschichtlich determinierrtes – explizites ‹Verstehen›, auch dort, wo sonst Vor-Urteil und vorwissenschaftliches Verständnis herrschen.86 Dieser Universalitätsanspruch der Hermeneutik wird etwa von der Kritischen Theorie zurückgewie-sen, da er an umgangssprachliche Kommunikation gebunden und z. B. zum Verstehen ‹sy-stematisch verzerrter› Kommunikation nicht in der Lage sei (im Gegensatz etwa zur psycho-analytisch fundierten ‹Tiefenhermeneutik›.) Andererseits hätten die Geisteswissenschaften durchaus die Aufgabe, qua Kommunikation eine Art universaler Verständigungsgemein-schaft (als regulatives Prinzip verstanden) herbeizuführen und auf sozialwissenschaftlicher Grundlage normative Kriterien eines ‹guten Lebens› zu erarbeiten (Habermas, Apel) – dies im Unterschied zu den durch das Wertfreiheitspostulat eingeschränkten Naturwissenschaften.

85 ZIMMERLI, S. 96f. 86 Vgl. HANS-GEORG GADAMER, «Die Universalität des hermeneutischen Problems», in: Ders., Kleine Schriften I: Philosophie – Hermeneutik, Tübingen 1967, S. 101ff.

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Schlußbetrachtung

«Die Wissenschaft ist nur eine Episode der Reli-gion. Und nicht einmal eine wesentliche.»87

Christian Morgenstern

Kehren wir zurück zur Eingangsfrage: Was ist Wissenschaft? Im Handlexikon zur Wissen-schaftstheorie findet sich die Antwort des Wissenschaftssoziologen Derek de Solla Price, der Wissenschaft definiert als «dasjenige, was in wissenschaftlich angesehenen Zeitschriften veröffentlicht wird, und – entsprechend – einen Wissenschaftler als jemanden, der zumindest in den beiden letzten Jahrgängen einer wissenschaftlichen Zeitschrift etwas veröffentlicht hat.»88 Helmut Seiffert bietet eine erweiterte Fassung: «Wissenschaft ist dort, wo diejenigen, die als Wissenschaftler angesehen werden, nach allgemein als wissenschaftlich anerkannten Kriterien forschend arbeiten.»89 Diese Definition ist nun freilich nicht nur deskriptiv, son-dern eine reine selbsterklärende Tautologie: Wissenschaft ist, was Wissenschaftler tun; Wis-senschaftler sind Wissenschaft Treibende (erweitert um ein Allgemeinheitskriterium). Die ‹Wissenschaftlichkeit› resp. logische Stichhaltigkeit solcher ‹Definitionen› ließe sich mit Si-cherheit ebenso anzweifeln wie die ‹Objektivität› mancher kulturwissenschaftlicher Ergeb-nisse. Doch auf mehr als auf diesen Offenbarungseid kann man sich offenbar nicht einigen. Insofern scheint P. Feyerabends Position des erkenntnistheoretischen Anarchismus mit seiner einzigen Grundregel ‹anything goes› die einzig realistische Option zu sein.

Das Beispiel zeigt die grundsätzliche Schwierigkeit des Problems. Die Vertreter ‹ge-gnerischer› wissenschaftstheoretischer Positionen werfen sich gegenseitig. (offenen oder un-bewußten, weil paradox erscheinenden) Szientismus vor, alle argumentieren sie streng lo-gisch und weisen auf die politischen Gefahren der jeweiligen Gegenposition hin.90 In der Praxis entscheidet – wie die eingangs zitierte Schweizer Entscheidung unterstreicht – neben politischer Opportunität wohl letztlich das Kriterium der praktischen Nutzbarkeit, das meist identisch ist mit wirtschaftlicher Verwertbarkeit. Der Nutzen der kulturwissenschaftlichen Erträge ist in diesem Sinne freilich nicht direkt umsetzbar (einzig die Geschichte kann hier teilweise noch bestehen); die Probe einer kompletten Streichung dieser Disziplinen würde 87 MORGENSTERN, S.189. 88 HELMUT SEIFFERT, Art. «Wissenschaft», in: Handlexikon zur Wissenschaftstheorie, S. 391. 89 SEIFFERT, S. 391. 90 Noch eimal Popper: «Es ist gänzlich verfehlt anzunehmen, daß die Objektivität der Wissenschaft von der Objektivität des Wissenschaftlers abhängt. Und es ist gänzlich verfehlt zu glauben, daß der Naturwis-senschaftler obektiver ist als der Sozialwissenschaftler. Der Naturwissenschaftler ist ebenso parteiisch wie alle anderen Menschen, und er ist leider – wenn er nicht zu den wenigen gehört, die dauernd neue Ideen produzieren – gewöhnlich äußerst einseitig und parteiisch für seine eigenen Ideen eingenommen.» POPPER, S. 112.

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aber schnell zeigen, was dann fehlen würde. Die oben zitierten ‹Definitionen› zeigen, wie sich das Methoden-, Wissenschaftlich-

keits- und Objektivitäts-Thema theoretisch letztlich selbst ad absurdum führt, bis hin zur Unbrauchbarkeit in der Praxis. Diese ‹Sackgasse› ist, wie gezeigt wurde, bereits bei Rickert angelegt. Er geißelt mit Goethe und in überraschender Nähe zu Bergson die Wirklichkeits-ferne der ‹naturwissenschaftlichen Begriffsbildung›, sein ganzes Werk ist auf möglichst ge-naue Erfassung der realen wissenschaftlichen Gegebenheiten angelegt. Nicht nur bei der transzendetallogisch aufgefaßten, rein schematisch konstruierten ‹Begriffsbildung›, die per definitionem zur vollständigen Wirklichkeitserfassung nicht geeignet ist, zeigt sich jedoch in seiner eigenen Theorie eine erstaunliche Wirklichkeits-, Natur- und Lebensferne – so bei den transzendenten und reichlich abstrakten ‹Werten›, die in keiner Weise wirklich greifbar sind.91

Die meisten wissenschaftstheoretischen Konzeptionen arbeiten zudem mit weitrei-chenden impliziten epistemologischen Vorannahmen, die nicht weiter diskutiert werden.92 Immer wieder ist es in letzter Konsequenz aber das altbekannte Subjekt-Objekt-Problem, das sich hier schmerzhaft bemerkbar macht: Was ist Objektivität, ist sie überhaupt möglich, wie kommt sie zustande, was kann sie überhaupt sein? – Was fehlt, ist m. E. vor allem eine grundlegende erkenntnistheoretische Auseinandersetzung mit dieser Frage. Ein ‹Blick von nirgendwo› (Th. Nagel), so wünschenswert er scheinen mag, ist nämlich schlechterdings nicht möglich. Die Frage muß daher lauten: «Wie ist die subjektive Perspektive einer einzel-nen und besonderen Person in der Welt mit einer objektiven Auffassung von ebendieser Welt zu vermitteln, welche die Person und ihren Standpunkt einschließt?»93 Nagel schreibt weiter:

«Wir sind nicht wirklich so verfaßt, daß wir uns in den Regionen des objektiven Standpunkts häus-

lich einzurichten imstande wären. Nicht nur droht er uns immer hinter sich zu lassen, sondern er

gibt uns auch mehr, als wir uns im konkreten Leben aneignen können. Begreifen wir uns tatsächlich

als ein Stück der Welt, wird deutlich, daß wir gar nicht in der Lage sind, im vollen Bewußtsein die-

ser Einsicht zu leben. Unser Problem hat in diesem Sinne keine Lösung – doch das fassen zu kön-

91 Diese Ambivalenz scheint für Rickert, der auf der anderen Seite stets für das ‹Erleben› plädierte, übri-gens kennzeichnend gewesen zu sein. Andrej Belyj, der Haupttheoretiker des russischen Symbolismus, schildert, wie Rickert in Freiburg von einem Bekannten seine (Belyjs) Kritik am Gegenstand der Erkennt-nis (in Belyjs Emblematik des Sinns) übersetzt wurde; darauf soll Rickert geantwortet haben, es handle sich hierbei um einen ‹Versuch, mich zu plotinisieren›. Bereits ab der zweiten Auflage des Gegenstands … und in Rickerts späterem Werk sind aber die (vermutlich durch Emil Lask vermittelten) plotinistischen Tendenzen unübersehbar. – GEORGES NIVAT, «Trois documents importants pour l’étude d’Andréi Biély», in: Cahiers du Monde russe et soviétique, vol. XV, No. 1-2, 1974, S. 100. 92 «Die verschiedenen Angriffe auf die Wertfreiheitsthese sind gute Beispiele für die These, daß Positio-nen in der politischen Philosophie und in der Politik auf Positionen in der Erkenntnistheorie gegründet sind. Weil das so ist, kann eine Kritik von Positionen in der politischen Philosophie manchmal von er-kenntnis- und wissenschaftstheoretischen Einsichten profitieren.» RADNITZKY, «Wert», S. 386. 93 THOMAS NAGEL, Der Blick von nirgendwo [The View from Nowhere, New York/Oxford 1986], übers. v. M. Gebauer, Frankfurt/Main 1992, S. 11.

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nen heißt für uns, so weitgehend in der Nähe zur Wahrheit leben, wie dies eben möglich ist.»94

Damit ist das Problem treffend umschrieben. Ob es wirklich keine Lösung hat bzw. haben kann, sei hier dahingestellt. Sicher aber ist, daß insbesondere in den unter Legitimations-druck stehenden Kulturwissenschaften ein falsch verstandendes Streben nach ‹Objektivität› nach dem Paradigma der etablierten Naturwissenschaften nur entweder völlig sterile Ergeb-nisse zeitigen oder aber durch die Unmöglichkeit oder den Unwillen, dieses Ziel zu errei-chen, in ebenso unbefriedigende wie ‹unwissenschaftliche› Beliebigkeit umschlagen kann.

Einen gangbaren Mittelweg – solange eine schlüssige Lösung der Methodenfrage nicht in Aussicht ist – stellen möglicherweise disziplinenbezogene methodologische Versuche ei-ner Adaequatio von Gegenstand und Methode dar, wie ihn etwa Peter Szondi mit seinem eindrucksvollen Traktat Über philologische Erkenntnis für die Literaturwissenschaft vorge-legt hat.95

94 NAGEL, S. 389. – Vgl. zu Nagels Problemstellung: «Ich werde im gleichen Atemzug eine Rechtfertigung und eine Kritik der Objektivität geltend machen. Im gegenwärtigen intellektuellen Klima ist beides not-wendig, denn die Objektivität wird sowohl unterschätzt als auch überschätzt, und gelegentlich beide Male von denselben Leuten.» (NAGEL, S. 14) – «Die Objektivität ist ein Verfahren des Verstandes. Es sind Überzeugungen und Einstellungen, die im primären Sinne objektiv sind; die Wahrheiten, die man auf die-sem Wege gewinnt, nennen wir nur in einem derivativen Sinne objektiv» (NAGEL, S. 12). 95 PETER SZONDI, «Über philologische Erkenntnis», in: Schriften I, Frankfurt/M. 1978, S. 263ff.

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