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Im Zweifel

Mar 06, 2016

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Dennis Fassing

Der zweite Teil der Celeste Trilogie
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“Now I'm breaking down your door,

To try and save your swollen face.

Though I don't like you anymore

You lying, trying waste of space.”

- Placebo

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Im Zweifel

1.

Es war ein kühler, nebliger Januarmorgen, Hand

in Hand gingen Lea und Florence den Strand ent-

lang. Der Wind reißt an ihren Haaren und sie ge-

nießt, wie ihr die Strähnen von hinten ins Gesicht

geweht werden. In der Ferne war das Nebelhorn

des Leuchtturms zu hören, als ihr Fuß gegen et-

was stieß, das halb im Sand eingegraben lag. Ei-

ne Flasche, durch das blinde Glas war kaum et-

was von ihrem Inhalt zu erkennen. Der Korken am

Hals ist mit weißem Wachs versiegelt, was Leas

Interesse weckte.

„Kannst du den aufmachen?“, fragte sie Florence.

Er trug immer ein kleines Taschenmesser bei sich,

welches er nun an die Flasche ansetzte. Der mür-

be Korken riss bei dem Versuch, ihn mit der Mes-

serspitze aus dem Hals zu hebeln, in der Mitte

entzwei. Florence bohrte die Spitze daher in den

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verbliebenen Kork und drückte die Brösel nach

und nach in die Flasche hinein. Beide standen sie

da und lugten durch die schmale Öffnung ins Inne-

re. Sie erkannten, dass sich etwas in der Flasche

befand, doch nicht, was es war. Florence schüttel-

te sie und spürte eine Bewegung, beförderte aber

nichts ans Äußere.

„Lass sie uns mitnehmen, daheim haben wir eine

Zange oder eine Pinzette“, sagte er.

Lea biss sich auf die Unterlippe und sah ihren

Freund mit leicht schräg gelegtem Kopf an. Er be-

merkte die Ungeduld, hatte bereits geahnt, dass

ihr sein Vorschlag nicht schnell genug gehen wür-

de. Daher reichte er ihr die Flasche und blieb zu-

rück, während sie den Strand einige Meter hinauf-

lief, zu den flachen Steinen.

„Du weißt, dass du den Inhalt beschädigen könn-

test?“, rief er ihr nach, was ihm eine wedelnde

Handbewegung einbrachte. Die Hände in den Ho-

sentaschen lief er ihr nach. Er erreichte Lea, als

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diese sich bereits vor einen Stein gekniet hatte.

Nach zwei Schwüngen ins Leere ließ sie den Fla-

schenboden beim dritten Schlag auf den Fels her-

ab fahren und das Glas zerbrach. Der Wind trug

die Geräusche mit sich fort, zum Vorschein kamen

Korkenbrösel und ein dreckiges Stück Stoff, gerollt

und mit einer Kordel gebunden. Lea zog die

Schleife auf und breitete das Tuch zu seiner vollen

Größe aus, es an gegenüberliegenden Ecken

festhaltend. Der Wind zog an dem Fetzen und roll-

te die nicht gehaltenen Kanten um. Florence

beugte sich über Lea, beide betrachteten die we-

nigen Wörter, die mit schwarzer Tinte in den Stoff

geschrieben standen.

„Lea träumte nie wieder von Celeste.“

An manchen Stellen war die Tinte zu stark in den

Stoff gesogen, die Schrift wirkte ungelenk. Den-

noch war jedes Wort lesbar. Lange Zeit sagte kei-

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ner von ihnen ein Wort. Leas Haare wurden vom

Wind gegen Florences Kinn geweht, er stand un-

verändert über sie gebeugt, die Hände in den Ho-

sentaschen. Sein Blick wanderte von dem Tuch

auf den Hinterkopf seiner Freundin, das lange

braune Haar, offen getragen, dass vor ihm tänzel-

te, die einzelnen verwirbelten Strähnen, die über

sein Gesicht strichen. Nach einiger Zeit hob sie ih-

ren Kopf, blickte ihn von unten an.

„Wer ist Celeste?“, fragte sie ihn. Er sah ihre blau-

en Augen, ihre blassen Sommersprossen, ihren

zartrosa Mund.

„Wer ist Lea?“, fragte er zurück.

„Das bin ich“, sagte sie.

2.

Auf dem Weg zurück zu ihrem Haus redeten sie

wenig. Lea hatte die Stirn in Falten, sie sah beim

Gehen auf den Weg. Das Tuch ließ sie durch die

Finger ihrer linken Hand fahren. Florence hatte ei-

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nige wenige Versuche unternommen, auf die Mög-

lichkeit des Zufalls hinzuweisen. Dass ihr Name

nicht einzigartig sei. Dass sich jemand einen

Scherz erlaubt habe. Doch Florence glaubte nicht

an den Zufall, er war ein Verfechter des Schick-

sals. Lea war eigentlich die Vertreterin des Zufalls,

an ihr wäre es gewesen, die Sache abzutun. Doch

tat sie es nicht.

„Kennst du einen Celeste?“, fragte er nun.

„Nein.“ Lea sah aufs Meer hinaus. „Das heißt, ich

kenne den Namen. Bei Camus gibt es ihn, das

weiß ich sicher.“

„Also aus der Literatur?“, hakte er nach.

„Ja. Es ist ein heute nicht sehr häufiger Name.“,

antwortete sie.

Schweigend gingen sie die letzten Meter zum

Haus. Wie immer nach einem Strandspaziergang

betraten sie es über die Treppe zur Terrasse. Lea

ging hinein, Florence blieb zurück, aufs Geländer

gelehnt und in die grauen Wolken starrend, die

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sich über dem offenen Meer auftürmten. Einige

Minuten später trat Lea wieder neben ihn, ein zer-

lesenes Buch in der Hand.

„Hier“, sagte sie, auf eine Stelle deutend, „er ist

ein Barmann. Er ist auch noch etwas anderes,

aber ich erinnere mich nicht mehr daran, es ist zu

lange her. Aber nur seine Figur blieb aus diesem

Buch überhaupt hängen.“ Er las die Stelle und

blätterte die dünnen Seiten weiter, überflog wahl-

los Passagen, ohne den Namen wieder zu finden.

„Er ist keine Hauptfigur, oder?“, fragte er mit Blick

auf den Klappentext.

„Nein, ich glaube nicht. Er spielt gar keine große

Rolle.“

„Wieso erinnerst du dich dann an ihn?“

Sie blickte auf das Buch, ließ ihren Blick über die

Lettern fahren: „Ich mochte den Namen. Celeste.

Ein schöner Name.“

„Schöner als meiner?“, fragte Florence. Sie sah

ihn aus ihren großen Augen an, der Wind hatte

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sich wieder in ihren Haaren verfangen und verhüll-

te so ihr Gesicht. Doch er konnte sehen, dass sie

lächelte als sie sagte: „Geht so.“ Er nahm sie in

den Arm und sie küssten sich, dann gingen sie ins

Haus und bereiteten ein Abendessen.

3.

Florence erwachte nur langsam von dem Rütteln

an seiner Schulter. Er schlief seitlich und das erste

Licht, dass seine halboffenen Augen traf, war das

blaue Stechen des Funkweckers. Es war tief in

der Nacht. Mühsam drehte er sich um und blickte

Lea an, welche an den Kopfteil des Bettes gelehnt

saß.

„Ich habe von ihm geträumt.“, sagte sie, ihn anbli-

ckend.

„Jetzt?“, brachte er hervor.

„Nein. Vor einiger Zeit. Noch bevor wir uns kann-

ten.“

„Du hast von dem Barmann Celeste geträumt?“ Er

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unternahm einen Versuch, sich aufzurichten, sank

aber schnell wieder in sein Kissen zurück.

„Nicht von der Figur aus dem Buch. Von einem

Mann namens Celeste. Er war eine Traumfigur.“

„Und daran erinnerst du dich heute noch? Das du

einmal einen Traum hattest, in dem ein Celeste

vorkam?“ Florence schaffte es jetzt, sich auf ei-

nem Arm abzustützen und seinen Kopf in die

Hand zu legen.

„So ist es nicht“, antwortete sie, „ich habe oft von

ihm geträumt. Es gab eine Zeit, da verging keine

Woche, in der ich nicht von ihm träumte.“ Er be-

merkte jetzt, dass sie das Tuch auf der Decke lie-

gen hatte, ihre Hände spielte damit, rollten es zu-

sammen und wieder auseinander.

„War er ein Schwarm von dir? Wem sah er ähn-

lich?“

„Du verstehst das nicht. Er sah niemandem ähn-

lich. Er war keine Projektion eines Menschen, den

ich wirklich kannte. Er war eine Figur meiner Träu-

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me. Er war die Figur überhaupt.“

„Lea, das ist doch nicht möglich. Du redest, als

hättest du Einfluss auf deine Träume gehabt.“

Sie sah ihn an und jetzt sah er die wache Tiefe

hinter ihren Augen. Ihr Blau wirkte voller als sonst.

Er begann zu spüren, dass diese Geschichte wahr

war.

„Und worum ging es in diesen Träumen?“, fragte

er zögernd.

„Ich weiß es nicht mehr. Es waren schöne Träu-

me. Fantasievolle Geschichten. Und Orte. Es war

wie in meinem Wunderland. Mit ihm.“

„Hattet ihrA“. Er brach die Frage ab, doch sie

wusste genau, worauf er anspielte: „Ja, ich glaube

schon. Aber es war nicht so, wie du vielleicht

denkst. Es waren nicht solche Träume. Ich glaube,

es ist passiert, aber wenn, dann war es nur ein

Teil der Geschichte.“

Irrationale Eifersucht wuchs in Florence. Er er-

stickte sie jedoch für den Moment erfolgreich.

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„Wann war das letzte Mal, dass du einen Traum

mit ihm hattest?“

Sie dachte lange nach, sah dabei auf das Tuch,

dass sie immer wieder durch ihre Finger fahren

ließ: „Ich weiß es wirklich nicht mehr. Es ist lange

her. Wir kannten uns noch nicht. Ich war viel jün-

ger damals, eigentlich noch ein Mädchen.“ Sie lä-

chelte und sah Florence von der Seite aus an. „Ich

war wahrscheinlich verliebt in ihn, zumindest für

eine Zeit.“

Florence erwiderte den Blick, dann ließ er sich

wieder auf sein Kissen sinken und drehte sich auf

den Rücken. Lea tat es ihm gleich und legte den

Stoff auf ihren Nachttisch.

„Und was bedeutet dann diese Nachricht?“, fragte

er, ohne seine Augen von der Deckenlampe zu

wenden. Lange blieb es neben ihm still. Als Lea

antwortete, war ihre Stimme dumpf und müde:

„Vielleicht möchte er, dass ich wieder von ihm

träume.“

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Florence lag noch wach, als Lea neben ihm wie-

der eingeschlafen war. Er wollte sich einreden,

dass er keinen Grund habe, sich an der Sache zu

stören. Doch es gelang ihm nicht.

4.

„Ich habe über ihn geschrieben“, rief Lea aus ih-

rem Zimmer heraus. Florence stand in der Küche

und wartete, dass sie zu ihm kommen würde. Als

das nicht geschah, legte er die Pilzbürste zur Sei-

te und ging zu ihr. Er fand sie auf dem Boden sit-

zend, vor ihrem Schreibtisch, eine offene Pappkis-

te stand neben ihr, die voll mit alten Büchern war.

Sie hielt etwas in der Hand, das er an ihrer Hand-

schrift als ein altes Tagebuch erkannte. Lea

schenkte ihm ein strahlendes Lächeln: „Ich war ei-

ne Schwärmerin damals. Über einen Zeitraum von

fast zwei Monaten schreibe ich hier fast nur über

ihn.“ Ihr Lachen ruft zwei Gefühle in ihm hervor,

die er nicht miteinander vereinen kann. Sein Lä-

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cheln muss gequält aussehen, daher wendet er

sich schnell ab und blickt zum Fenster hinaus.

„Und was war nach den zwei Monaten?“

„Dann wird es erst weniger“, antwortete sie ihm,

während sie das Buch bis ans Ende durchblättert,

„und irgendwann verschwindet er. Hier schreibe

ich, dass ich es Schade finde, nicht mehr mit ihm

träumen zu können.“

„Mit ihm?“, fragte er.

„Ich war eine solche Poetin!“. Lea lachte und warf

ihm das Buch zu. Er konnte es gerade noch so

auffangen. Sie kam zu ihm, legte ihm die Hände

auf die Schultern und drückte einen Kuss auf sei-

ne Wangen.

„Lies es, wenn du möchtest. Ich erlaube es dir.“ Er

blickte sie mit hochgezogenen Augenbrauen an,

was sie wieder zum Lachen brachte.

„Meine Abenteuer in der realen Welt stehen in an-

deren Büchern. Und die wirst du niemals zu sehen

kriegen. Und jetzt musst du kochen.“ Als sie ihn

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zur Tür hinaus schob, war sein Lächeln echt.

5.

Lea schlief bereits, er saß in einem Sessel an der

Terrassentür, das Buch auf dem Schoß, einen hei-

ßen Tee auf dem Tisch daneben. Draußen warf

der Mond Reflexionen auf das Meer und die Ter-

rasse lag in seinem grauen Licht. Florence schlug

das Buch an einer von Lea markierten Stelle auf.

Bevor er zu lesen begann, strich er mit den Fin-

gern über die Seiten. Sie waren durch ihr Alter

vergraut und faserig, ihre Schrift war in die Seite

hinein gedrückt. Lea hatte ohne Linien geschrie-

ben und trotzdem ein sauberes und gerades

Schriftbild zustande gebracht. Florence bemerkte,

dass dieses Tagebuch den typischen Verschöne-

rungen ermangelte, es gab weder Schnörkel,

noch farbliche Hervorhebungen, auch keine klei-

nen Herzen, Notenschlüssel oder andere Zeich-

nungen. Mit dem Geschmack des herben Tees im

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Mund begann Florence zu lesen:

„Ich träumte wieder von Celeste. Ich weiß nicht,

der wievielte Traum es tatsächlich war, denn am

Anfang habe ich nicht darauf geachtet. Aber inner-

halb der letzten zwei Wochen war es das vierte

Mal. Wir waren wieder auf den Wiesen vor dem

Wasserfall, in dieser Kulisse, die ich niemals ma-

len könnte, die ich hier nicht beschreiben kann,

weil mir die Worte fehlen. Es ist eine Landschaft,

die eben nur in meinen Träumen entstehen kann

und ich bin froh, dass meine Fantasie dazu in der

Lage ist.

Ich weiß nicht, woher ich mein Bild von Celeste

habe, er sieht niemandem ähnlich, den ich kenne.

Vielleicht habe ich so einen Mann in einem Film,

oder nur auf der Straße gesehen, an mir vorbei

laufend. Ich fände es spannend, den echten Ce-

leste zu finden, und das, obwohl ich gar nicht

weiß, ob er mir gefällt.“

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Florence erkannte viel seiner heutigen Lea in den

Worten dieses jungen Mädchens. Ihre Art, die Din-

ge anzunehmen und ihr Verstand, über diese

nachzudenken. Er blätterte weiter, las an man-

chen Stellen nur flüchtig, übersprang die Stelle, an

der sie ihr erstes Mal mit Celeste schilderte, so-

bald er sie entdeckte und blieb einige Seiten spä-

ter wieder haften:

„Ich bin vom Wasserfall gesprungen und es war

ein Gefühl, das ich noch hierher mitnehmen konn-

te. Ich bin kurz aufgewacht und ich spürte, wie

mein Herz in mir schlug, so als wäre ich wirklich

gefallen. Wie ich es geschafft habe, wieder an die

Stelle des Traums zu kommen, an der ich ihn ver-

lassen hatte, weiß ich nicht, so etwas gelingt mir

normalerweise nie, so sehr ich es auch will. Ich

glaube, dass ich meine Träume inzwischen dirigie-

ren kann, denn Celeste erzählte mir, dass er mich

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nach dem Sprung gesucht habe und erst nicht fin-

den konnte, ich dann aber wie aus dem Nichts ne-

ben ihm aufgetaucht sei.

Ich träume eine Welt, die mir greifbarer er-

scheint, als vieles in meinem wirklichen Leben. Ich

habe mit Susi darüber gesprochen, aber sie denkt

wohl, dass ich übertreibe. Ich weiß, dass ich es

nicht tue. Ich bin mir inzwischen fast sicher, dass

ich solange von Celeste träumen werde, bis ich

ihm hier auf dieser Seite begegnen werde. Oder

aber, bis ich mich für seine Seite entschieden ha-

be. Aber ich schreibe Blödsinn, daher höre ich hier

auf.“

Über dieser Stelle blieb Florence lange sitzen. Er

trank seinen Tee leer, während er sie zweimal wie-

der las. Die eifersüchtigen Stiche ließen sich nicht

beruhigen. Doch sie hatte selbst gesagt, dass die-

se Sache wieder geendet hatte, einfach verflogen

sei. Florence blätterte weiter, an die letzte Stelle,

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die Lea ihm markiert hatte:

„Ich hatte einen Alptraum mit Celeste. Wie es im-

mer so ist mit Alpträumen, weiß ich nicht, was der

Auslöser gewesen sein könnte. Aber ich wusste ja

auch nie, was die Auslöser für meine anderen

Träume waren. Viel merkwürdiger als der Traum

aber war das Gespräch, das ich mit Celeste führ-

te. Ich konnte mit ihm darüber sprechen, dass al-

les nur ein Traum sei. Im Traum übers träumen zu

reden ist beunruhigend, es gefällt mir nicht. Und

Celeste gefiel es auch nicht. Anders als ich wuss-

te er nicht, dass alles nur Schein ist. Aber woher

hätte er es auch wissen sollen. Ich frage mich, ob

ich träumen könnte, dass er sich der ganzen Sa-

che bewusst ist. Ich werde vor dem Einschlafen

genau daran denken, vielleicht gelingt es mir dann

im Traum. Und ich glaube, ich muss mich bei ihm

entschuldigen. Ich scheine ihn sehr aus der Fas-

sung gebracht zu haben.“

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Aus den folgenden Einträgen erfuhr Florence,

dass Lea nie wieder einen Traum gehabt hatte, in

dem Celeste vorgekommen war. Erst bestürzt dar-

über, schien die Erinnerung zu verblassen und die

Themen wechselten immer mehr hin zur Realität.

Kurz nach der letzten Erwähnung Celestes in ei-

nem Nebensatz endete das Buch. Florence legte

es zugeschlagen auf seinen Schoß und betrachte-

te den Deckel. Langsam strich er über die wellige

Schutzfolie. Er lehnte sich zurück und betrachtete

den Mond, der die Spitze seiner Bahn bereits

überschritten hatte und sich langsam der Hori-

zontlinie näherte. Nachdem er den türmenden

Wolken lange genug hinterher gestarrt hatte,

schlief er schließlich ein.

6.

„Wach auf.“

Celeste saß auf einer flachen Mauer, die Knie an-

22

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gezogen und die Füße gegen den blätternden

Putz gestemmt. Er betrachtete die vor ihm liegen-

de Gestalt, die ihm nach all den Jahren so unwirk-

lich vorkam. Er zitterte, sah sich immer wieder um

und dann wieder auf die Person. Sie rührte sich,

erwachte aber nicht, schien in einem bösen Traum

gefangen. Celeste lachte bitter auf.

„Du sollst aufwachen!“

Endlich öffneten sich Augen zu Schlitzen, erhob

sich zaghaft ein Kopf, stemmten Arme einen Ober-

körper nach oben, in eine sitzende Position. Ce-

leste blieb auf der Mauer sitzen, etwa zwei Meter

entfernt.

„NunA“, begann er und wusste dann nicht weiter.

Er hatte einen nicht geringen Teil seiner Zeit damit

verbracht, sich Worte zurecht zu legen, sich ganze

Reden aus zu denken, die er an die Person rich-

ten würde, von der er glaubte, sie irgendwann in

seinem Leben wieder sehen zu müssen. Und nun

fand er keine Sprache.

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Sein Gegenüber hatte sich inzwischen aufgerich-

tet, stand auf scheinbar wackeligen Beinen. Sie

musterten sich gegenseitig.

„Du bist es, oder? Du bist Celeste.“

Celeste antwortete nicht gleich. Er war sich nicht

sicher gewesen, ob der Fremde seinen Namen

kannte oder nicht, oder was er erwartet hatte.

„Ich war Celeste, richtig. Es gab nur einen Men-

schen, der mich bei diesem Namen kannte. Es

gab tatsächlich nur einen Menschen.“, sagte Ce-

leste.

„Sie ist meine Freundin.“, antwortete der Mann,

„sie heißt Lea.“

Celestes Gesicht zuckte, seine Mundwinkel verzo-

gen sich zu einer Grimasse. Er glitt von der Mauer

herab und ging zu Florence hinüber.

7.

Lea schlief eine lange Zeit traumlos. Mehrmals

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schrak sie auf, immer nur für Sekunden, gestört

durch ein Geräusch, einen Wind oder ein Gefühl.

Ihre wachen Phasen reichten kaum aus, ihr Be-

wusstsein aus dem Schlaf zu befreien, schnell glitt

sie wieder in ihn hinüber. Zuletzt träumte sie von

sich an einem Strand. Es war nicht der Strand vor

ihrer Haustür, viel zu weit war er, in alle Richtun-

gen. Die Wellen türmten sich riesig gegen die

Küste, das Wasser schien in jeder brandenden

Welle anders beleuchtet, über grau und grün

reichte es zu blau und schwarz. Sie wollte sich

diesem Meer nicht nähern, denn es drohte, sie mit

sich zu reißen, hinaus in eine Welt jenseits der

Wellen. Sie ahnte, dass sie gegen diese Strömung

nicht würde ankämpfen können. Neben ihr führte

bereits eine frische Fußspur zum Wasser, so

frisch, dass der stete Wind sie noch nicht zer-

streuen konnte. Sie konnte ihre nackten Füße

problemlos in die Spuren stellen und wusste, dass

es Florences Abdrücke waren. Zögernd folgte sie

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dem vorgezeigten Pfad bis zu der letzten trocke-

nen Stelle. Dahinter waren die Spuren längst aus-

gewaschen. Sie blickte den Strand entlang, doch

sie war allein.

8.

Celeste und Florence waren in etwa gleich groß,

sie blickten sich direkt in die Augen. Seine Hände

lagen auf Florences Schultern. In seinem Blick

sah Florence Sätze und Möglichkeiten, die dieser

jetzt durchging. Sein Mund war zu einem schma-

len Strich zusammengepresst. Als die Hände sei-

ne Schultern fester umgriffen, war es Florence,

der das Wort ergriff: „Wir haben deine Nachricht

gefunden.“

Nichts in seinen Augen verriet eine Regung, doch

Celeste fragte: „Welche Nachricht?“

„Der Stoff in der Flasche“, antwortete Florence,

„mit deiner Nachricht darauf.“

Celeste ließ seine Arme sinken, sah Florence aber

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weiter unverwandt an: „Es gibt keine Nachricht.“

„Die Nachricht auf dem Stoff war unmissverständ-

lich an Lea gerichtet.“, beharrte Florence. „Sie ent-

hält ihren Namen, deinen Namen und sieA“. Wei-

ter kam Florence nicht, bevor er Celestes Hände

um seinen Kopf gelegt spürte. Mit aller Kraft

drückten die Handflächen seinen Kiefer nach

oben und hinderten ihn am weitersprechen. Dann

riss Celeste Florence Kopf ruckartig nach links

und schrie ihm direkt in sein Ohr: „Es gibt keine

Nachricht! Sie dich um! Es gibt nichts hier, gar

nichts! Es gibt hier keine anderen und es gibt hier

keine Lea!“. Mit einem Tritt stieß Celeste sein Ge-

genüber nach vorne, Florence fiel auf die Knie

und musste seinen Sturz mit den Händen abbrem-

sen.

„Seit Lea gibt es nichts mehr. Nur diesen Ort hier

und der ist noch viel schlimmer als der, an dem

ich davor war. Und es gibt nichts anderes.“

Florence sah über seine Schulter hinauf zu Celes-

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te, der drohend über ihm ragte, schwer atmend

die Hände zu Fäusten geballt. Sein Gesicht war

gerötet. Florence betrachtete den stoppeligen Bart

und die halblangen Haare, die starr um seinen

Kopf herum fielen. In der Hoffnung, ihn zu beruhi-

gen, sagte er: „Lea erinnert sich wieder an dich!

Selbst wenn die Flasche nicht von dir stammt, sie

hat ihren Zweck erfüllt. Und nicht nur bei ihr, auch

ich bin jetzt hier.“

Celeste wandte sich ab, ging zu der Mauer zu-

rück, auf der er gesessen hatte, blickte hinter sie.

Florence stand wieder auf und klopfte sich den

Staub von den Klamotten. Er stand auf dem Platz,

auf dem er erwacht war. Um ihn herum standen

wie ausgebrannt wirkende steinerne Häuser, mit

leeren schwarzen Fenstern und Türen. Der Him-

mel war von schwarzen Wolken überzogen und

nur spärlich drang graues Licht durch sie hin-

durch.

„Das ich hier bin, muss für dich doch eine Hoff-

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Page 29: Im Zweifel

nung sein“, versuchte es Florence erneut. Celeste

drehte ihm immer noch den Rücken zu, lachte nur

einmal schnappend auf.

„Wenn ich es kann, wird Lea es auch wieder kön-

nen. Sie hat doch früher so oft von dir geträumt.“

Celeste sprach, ohne sich Florence zuzuwenden,

stattdessen schien er eine Lücke zwischen zwei

der Hausruinen zu fixieren: „Träumen. Ich weiß

nicht mal, was das ist. Ich glaubte einmal, es zu

wissen, bis ich bemerkte, dass ich selbst es

scheinbar niemals tat. Früher schlief ich nicht ein-

mal, dass kann ich jetzt immerhin. Denkst du wirk-

lich, ich möchte, dass Lea wieder von mir träumt?

Dass es wieder wie früher ist?“

„Ihr hattet schöne Zeiten miteinander.“

„Sie hatte schöne Zeiten mit mir.“

„Das heißt, du hast ihr nur etwas vorgespielt?

Oder hattest vielleicht gar keine Wahl, es nicht zu

tun?“

Celeste wandte sich jetzt doch um. Tränen hatten

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helle Streifen in sein schmutziges Gesicht gewa-

schen: „Natürlich war die Zeit für mich auch

schön. Sie war das einzig Schöne, das ich jemals

erleben durfte. War sie nicht da, war ich es auch

nicht. Ich dachte damals, normal zu leben, doch

ich tat nichts als warten, nichts anderes, als mich

für sie aufzubewahren. Ich war damals wohl

glücklich, denn ich begriff nichts.“

Florence erwiderte nichts, er sah auf die traurige

Gestalt, die sich zitternd bemühte, klar zu spre-

chen, es aber von Satz zu Satz weniger zu Stande

brachte: „Verstehst du, wie es sich hier anfühlt?

Was du siehst, ist alles! Weißt du, wie es ist, hier

zu sein? Und ich bin hier wegen ihr! Wie könnte

ich sie lieben, würde sie wieder von mir träumen!

Wie könnte ich widerstehen, meine Hände um ih-

ren Hals zu legen und zuzudrücken, bis alles en-

det. Würde sie mir begegnen, ich würde sie töten.

IchA ich habe versucht, mich zu töten. Dadurch

bin ich hierher gekommen. Ich bin in der Hölle. Ih-

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rer Hölle! Sie lässt mich nicht gehen, sie hat mich

irgendwo in ihrem Kopf, so tief drinnen dass nur

noch dieser Ort hier für mich bleibt, der reicht,

mich zu verwahren, mich für immer aufzuheben,

für den Fall, dass sie mich doch noch einmal

braucht, sie mich vielleicht zurückholt. Jeden Tag,

den ich erwache, habe ich mehr Angst davor, nicht

mehr hier zu sein, als es zu sein. Jeden Tag hoffe

ich, dass sie endlich stirbt, in ihrer Welt, damit sich

ihre ganzen Gedanken auflösen und ich mich mit

ihnen!“

Florence umfing eisige Kälte. Der Hass, den die-

ser Mensch Lea entgegenbrachte, war begründet

aus tiefstem Herzen. Wie konnte er nur so etwas

träumen? War er es nicht, der Celeste diese Wor-

te formen ließ?

„Du bist doch nur unser Geist!“, warf Florence da-

zwischen und brachte Celeste zu einem abrupten

Stopp. Wild starrte dieser zu ihm herüber.

„Ich muss mir dieses Gerede nicht anhören! Ich

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Page 32: Im Zweifel

muss nicht meiner Freundin im Traum vorwerfen,

was meine Fantasie zusammengesponnen hat,

als ich ihre Tagebücher las. Ich verstehe dein

Leid, aber sei versichert, dass es endet, sobald

ich erwache. Wenn Lea von dir träumt, wird es

wieder wie früher sein. Ich glaube, sie hat dich da-

mals geliebt. Sie würde dir keinen Schmerz zufü-

gen.“

Florence war auf Celeste zugegangen, hatte so-

gar überlegt, ihm die Hand auf die Schulter zu le-

gen, doch der Blick in sein Gesicht ließ ihn auf der

Stelle verharren. Als Celeste wieder das Wort er-

hob, war seine Stimme kalt und schneidend: „Du

träumst das alles nur, ja? Dann wach auf! Wach

jetzt auf!“

Florence zögerte nur kurz, entschied sich dann

dagegen, etwas zu erwidern, sondern kniff sich

selbst in den Arm, eine Methode, die er noch aus

seiner Kindheit kannte. Als nichts geschah,

schloss er die Augen und kniff noch einmal, dies-

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Page 33: Im Zweifel

mal fester. Er spürte ein saugendes Gefühl mitten

in seinem Kopf und wusste, dass er jetzt aufwa-

chen würde. Als er die Augen öffnete, stand Ce-

leste unverändert vor ihm.

„Alle Träume sind geträumt. Auch für dich. Sie

sind gekommen.“ Celeste blickte an Florence vor-

bei in den Hintergrund. Langsam drehte sich die-

ser herum und sah die großen schwarzen Tiere,

die sich wie Schattenrisse auf den Fassaden der

Gebäude eingebrannt hatten. Sie bewegten sich,

schwebten wie zweidimensionale Quallen über al-

le Flächen, die Mauern und den Boden. Wo ihre

Körper eine Fensteröffnung bedeckten, wurde die-

se noch schwärzer. Florence verstand nicht mehr,

was Celeste sagte. Er hörte seine Stimme, doch

sie wurde von dem Geräusch in seinem Kopf

übertönt, das immer mehr anschwoll und letztlich

alles vor seinen Augen schwarz werden ließ.

9.

33

Page 34: Im Zweifel

Lea erwachte früh am Morgen, draußen graute

der Tag. Sie war allein, Florences Decke lag unbe-

rührt aufgeschlagen auf seiner Seite des Bettes.

Sie ging ins Bad und trat danach ins Wohnzimmer.

Auf seinem Leseplatz lag ihr Tagebuch, er hatte

es gestern Nacht lesen wollen. Auf dem Tisch

stand eine leere Tasse Tee. Neben dieser lag das

Tuch aus der Flasche. Sie las den einen Satz, der

unverändert darauf stand und noch immer seine

Gültigkeit hatte. Lea hatte auch diese Nacht nicht

von Celeste geträumt. Ein wenig hatte sie es er-

wartet, nach all den Gedanken, die wieder in ihr

hochgekommen waren. Sie setzte sich in den

Sessel und schlug ihr Buch auf, blätterte darin,

legte es aber kurze Zeit später wieder weg. So

blieb sie sitzen und besah den Sonnenaufgang.

Sie wartete auf Florence, der noch früher als sie

aufgewacht sein musste um anschließend auf ei-

nen morgendlichen Spaziergang zu gehen. Noch

bevor die Sonne Zeit gehabt hätte, die Kälte der

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Page 35: Im Zweifel

Nacht zu vertreiben, würde er wieder bei ihr sein.

Das Gefühl der Sehnsucht, das sie überkam,

schob sie auf die ersten hellen Strahlen, die sich

über das Meer hin zu ihr erstreckten.

10.

Noch bevor Florence die Augen wieder aufschlug,

hörte er das Rauschen des Meeres. Er spürte den

kalten Sand unter seinen Fingern, als er sie in den

Boden grub. Er blinzelte und pustete sich Körner

aus den Haarsträhnen. Das Licht war schlecht, die

Sonne noch nicht aufgegangen. Ihm war am gan-

zen Körper kalt, aber es war schließlich Winter.

„Wieder wach.“, stellte Celestes Stimme irgendwo

hinter ihm fest. Florence brauchte einige Sekun-

den, sie zuordnen zu können. Als es ihm aber ge-

lang, saß er im gleichen Augenblick aufrecht und

sah sich um.

„Ich bin oft hier. Es ist der beste Ort, den ich ken-

ne.“, sagte Celeste, der einige Meter von ihm ent-

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Page 36: Im Zweifel

fernt im Sand saß, die Beine dicht an den Körper

gezogen und mit den Armen umschlungen. An

den Klippen, in die der Strand an seinem oberen

Ende überging, waberten Schatten. Florence war

nicht in der Lage, zu sprechen. Immer wieder sah

er aufs Meer hinaus und wieder zurück zu Celes-

te, der jetzt mit einem Finger Figuren in den Sand

zeichnete.

„Ja, du bist noch hier.“, sagte er schließlich. „Als

ich heute Morgen hierher kam, warst du schon da.

Und sie auch.“ Er zeigte hinter sich. „Ich habe lan-

ge gebraucht, um sie von mir wegzutreiben. Aber

diesmal muss ich keine Angst haben. Ich glaube,

diesmal sind sie deinetwegen hier. Sie sind Zwei-

fel.“

„Zweifel?“, brachte Florence heraus. Celeste lach-

te auf: „Warum nicht. Es scheint mir ein guter Tag

für Zweifel zu sein.“ Er stand auf und ging zu Flo-

rence hinüber, streckte ihm eine Hand hin.

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Page 37: Im Zweifel

„Wir werden reden.“, sagte er. „Lass dir ruhig Zeit,

es wird nicht eilig sein.“, fügte er hinzu, als Floren-

ce sie nicht gleich ergriff.

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Page 38: Im Zweifel

Der zweite Teil der Celeste-Trilogie

Lea träumte nie wieder von Celeste.

Doch bedeutet dies den Tod für eine Traum-

figur? Manche Bindungen sind tiefer, als es

sich ein Mensch vorstellen kann. Manche

Bindungen bestehen auch noch über Welten

hinweg. Dies ist die Geschichte des Hasses

Celestes auf seine Lea.