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1 MASARYKOVA UNIVERZITA Filozofická fakulta Ústav Germanistiky Identitätsproblematik in Max Frischs Romanen Homo Faber und Stiller BAKALÁŘSKÁ DIPLOMOVÁ PRÁCE Vypracovala: Gabriela Vaňková Vedoucí práce: PhDr. Jaroslav Kovář, Csc. BRNO 2006
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Identitätsproblematik in Max Frischs Romanen Homo Faber und Stiller

Jan 05, 2017

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Page 1: Identitätsproblematik in Max Frischs Romanen Homo Faber und Stiller

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MASARYKOVA UNIVERZITA Filozofická fakulta

Ústav Germanistiky

Identitätsproblematik in Max Frischs Romanen Homo Faber und Stiller

BAKALÁŘSKÁ DIPLOMOVÁ PRÁCE

Vypracovala: Gabriela Vaňková

Vedoucí práce: PhDr. Jaroslav Kovář, Csc. BRNO 2006

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Ich erkläre, dass ich die vorliegende Arbeit selbständig verfasst und keine anderen als die angegebenen Quellen und Hilfsmittel benutzt habe. Brünn, den 14. April 2006 ………………………………………..

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Mein ausdrücklicher dank gilt meinem Betreuer, Herrn PhDr. Jaroslav Kovář, Csc.

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„ Mein literarisches Warenzeichen, ich weiβ, ist das Identitätsproblem. Dass ich mich mit diesem Warenzeichen nicht identisch fühle, kommt noch hinzu. So finden wir uns gegenseitig ab.“ Frisch, Max: In Die Zeit, 22.12.67

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Inhaltsverzeichnis 1 Einleitung .………………………………………………………………….……… 1 2 Max Frisch und seine Romanen Homo faber und Stiller ………………………… 2 2.1 Biographie ……………………………………………………………………… 2 2.2 Entstehung und Quellen ……………………………………………………… 5 2.3 Homo faber – Inhalt …………………………………………………………… 6 2.4 Stiller – Inhalt .…………………………………………………………………. 9 3 Romanfiguren ……………………………………………………………………… 13 3.1 Stiller …………………………………………………………………….…….. 13 3.2 Homo faber …………………………………………………………………….. 15 4 Analyse des Textes ………………………………………………………………… 19 4.1 Form und Sprache …………………………………………………………….. 19 4.2 Technik – Natur ……………………………………………………………….. 20 4.3 Die Ich-Form …………………………………………………………………… 21 5 Personale Identität ………………………………………………………………… 22 6 Fabers und Stillers Identität ……………………………………………………… 24 6.1 Stiller …………………………………………………………………………… 24 6.2 Faber …………………………………………………………………………… 26 7 Zusammenfassung ………………………………………………..…………..…… 31 8 Literaturverzeichnis ……………………………………………………………… 33

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1 Einleitung Die vorliegende Arbeit befasst sich mit der Frage personaler Identität der Helden in Max Frischs Romanen Homo faber und Stiller. Max Frisch gehört zu den genialen Erzählern. Er erwarb sich den Ruf eines Erzählers von internationalem Rang. Sein hohes erzählerisches Talent wurde von den Kritikern sogar mit Gottfried Keller und anderen Realisten des neunzehnten Jahrhunderts verglichen. Der Inhalt der Romane und ihre Problematik sind vor allem auf Probleme des Individuums und der zwischenmenschlichen Beziehungen gerichtet. Wenn man seine Romane durchliest, entdeckt man immer etwas Neues. Es gibt viele Möglichkeiten, die Romane hinsichtlich der Veränderung der Protagonisten zu untersuchen. Es gibt viele Interpretationsmöglichkeiten, die man verwenden könnte. Frisch stellt uns die modernen Gesellschaftsromanen vor, die aktuelle Themen wie Identität oder Selbstverwirklichung zum Gegenstand haben. Die Identitätsproblematik stellt eines der Schwerpunktthemen der fiktionalen1 Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts dar. Damit ein Leben ein wirkliches Leben ist, muss einer „mit sich selbst identisch“ werden. Dies ist das Grundproblem, das im Stiller wie im Homo faber zur Sprache kommt. Meine Arbeit soll sich nicht darauf beschränken, den Begriff Identität in seinem Kontext aufzuspüren und seinen Gebrauch zu erläutern, sondern auch Situationen, die in engem Zusammenhang mit der Identitätsproblematik stehen. Beide Romane, Stiller und Homo faber, sind so genannte Rollenromane. Der Schriftsteller schrieb diese Romane in der Rolle der Hauptfigur, einmal in der Rolle des Bildhauers Anatol Ludwig Stiller, das andere Mal in der Rolle des Ingenieurs Walter Faber. Beide versuchen, ihr Inneres hinter einer Maske zu verbergen. Beim Faber ist es das Leben selber, das sie ihm herunterreiβt, beim Stiller ist es die Gesellschaft. Maske spielt bei Frisch als entscheidendes Motiv und Symbol eine bedeutende Rolle. Die Maske ist das Symbol der Unwahrhaftigkeit, der Unaufrichtigkeit, der Unehrlichkeit, der Verlogenheit, der Verstellung. 1 Literarische Texte sind fiktional, sie scheinen reale Gegebenheiten der außersprachlichen Realität wiederzugeben; ihr Scheincharakter wird jedoch mehr oder minder klar erkannt: der Text 'tut als ob'.

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2 Max Frisch und seine Romanen Homo faber und Stiller 2.1 Biographie Max Frisch wurde am 15. Mai 1911 in Zürich als jüngstes von drei Kindern geboren. Er besuchte das Realgymnasium in Zürich. Nachdem sein erstes Drama nicht von Erfolg gekrönt war, begann er mit dem Studium der Germanistik an der Universität in Zürich. 1933 verstarb Frischs Vater, woraufhin er sein Studium abbrach. Er arbeitete von nun an als freier Journalist und führte auch eine Balkanreise durch. Von 1936 bis 1940 studierte er nochmals, diesmal an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich, und schloss sein Architekturstudium mit dem Diplom ab. Zunächst Angestellter, konnte er 1942 nach dem Gewinn des Wettbewerbs für den Bau des Volksbades „Letzigraben“ ein eigenes Architekturbüro eröffnen. Die Berufserfahrung ist nicht ohne Wirkung auf Frischs literarische Produktion geblieben. Sie zeigt sich in Don Juan oder Die Liebe zur Geometrie, in der allein am Technischen orientierten Geisteshaltung des Protagonisten im Homo faber, vor allem aber hat sich Frischs sozialkritisches Engagement gefördert und zu umfangreicheren kritischen Arbeiten geführt. Frisch ist gleichermaβen Dramatiker und Prosaschriftsteller. Als Thema wählt Frisch immer wieder das mühevolle Ringen um die Identität des Menschen und um das Zusammenleben von Mann und Frau. Sein erster, 1934 veröffentlichter Roman Jürg Reinhart. Eine sommerliche Schicksalsfahrt. folgte die Erzählung Antwort aus der Stille (1937). In beiden Werken ist ein nachhaltiger Einfluss Gottfried Kellers2 zu spüren, dessen Grünen Heinrich Max Frisch seinen „besten Vater“ genannt hat. Im Jahre 1935 hatte er eine Beziehung zu einer jüdischen Studentin Käte aus Berlin, sie studierte später in Basel. Ihr Vater arbeitete als Archäologe, war auch in Ägypten tätig. Diese Erfahrungen nutzte Frisch in seinem Roman Homo faber. 1942 heiratete Frisch Constanze von Meyenburg. Das Tagebuch 1946-1949, das 1950 erschien, enthält Gedanken, die für Frischs Weltsicht von entscheidender Bedeutung sind. Im Jahre 1949 hat er zum Beispiel gesagt:

Warum müssen wir Schweizer uns mit Deutschland befassen? Zwei Gründe liegen auf der Hand. Der eine ist die räumliche Nachbarschaft, der wir nicht entfliehen können; sonst

2 Ein Schweizer Schriftsteller und Dichter (1819-1890).

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hätten wir es schon zur Hitlerzeit getan. Der andere ist die Geschwisterschaft in der Sprache, die für das Geistesleben, wie jedermann weiβ, mehr bedeutet als ein bloβ äuβeres Mittel der Verständigung. Die Sprache ist eine Wurzel wesentlicher Verwandtschaft, und auch ihr können wir nicht entfliehen, ohne dass wir uns selber entwurzeln und aufgeben.3

Er entwickelt als Erster den sich daraus für die Nachkriegsgeneration ergebenden Mutmaβungsstil: „Unser Anliegen, das eigentliche, lässt sich bestenfalls umschreiben, und das heiβt ganz wörtlich: man schreibt darum herum.“4 In der Schweiz gab es eine Nachkriegszeit im eigentlichen Sinne nicht, im Jahr 1951/52 lebte Frisch auf Einladung der Rockefeller Foundation in den USA und in Mexiko. Gewiss schlagen sich Erfahrungen mit dem Amerika der 50er Jahre, der latenten Rassenauseinandersetzungen, des Kalten Krieges und der McCarthy-Ära im Stiller nieder, aber verglichen mit den Zuständen in Mitteleuropa, spielt der Roman in einer äuβerlich heilen Welt, in dem Milieu höchst wohlhabenden Schweizer Bürgertums, auch das ist ein Reflex auf die soziale Umwelt Max Frischs. Seine Romane vermeiden jede direkte politische Stellungnahme sowohl zu Vorgängen der Vergangenheit als auch zu aktuellen Streitfragen der fünfziger und sechziger Jahre. Die letzte Phase des Doppelberufs Schriftsteller – Architekt, gekennzeichnet vor allem durch die Arbeit am Stiller, endet im Erscheinungsjahr dieses Romans, 1954, mit der Auflösung des Züricher Architekturbüros und der Trennung von Ehefrau Constanze. Frisch zieht nach Männesdorf, nahe bei Zürich gelegen, gegen Ende 1955 beginnt hier die Arbeit an Homo faber. Seit dem Roman Stiller (1954) findet Max Frisch in Europa und in der ganzen Welt mehr und mehr Anerkennung. Dieser Roman war für Frisch der Durchbruch als Romanschriftsteller. Das Werk wurde in mehrere Fremdsprachen übersetzt und mit Literaturpreisen wie dem Schiller-Preis oder dem Wilhelm-Raabe-Preis ausgezeichnet. Nach dem groβen Erfolg des Stillers ermutigte sich Frisch, sich der Romanform zu widmen. 1956 weilte Frisch wieder in den USA, auch in Mexiko und Kuba. Die dort gewonnenen Eindrücke bilden die Folie für den Roman Homo faber, der 1957 erschien. Dieser Roman steht direkt unter dem Einfluss seines Vorgängers. Das Buch nennt Frisch zwar einen „Bericht“, doch unterscheidet sich das Berichtmäβige nur wenig vom Tagebuchartigen.

3 Frisch, M.: Aus einem Tagebuch und Reden, S. 173. 4 Frisch, M.: Tagebuch 1946-1949, S. 133.

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Im Gesamtwerk Frischs tauchen rund zweihundert Namen von Schriftstellern, Dichtern und Philosophen auf. Selbstverständlich ist ihre Bedeutung für Ansatz und Entfaltung des Dichtens von Max Frisch höchst unterschiedlich. Am 4. April 1991 verstirbt der 80-jährige Max Frisch in seiner Wohnung in Zürich. Frisch, der seine Stücke gern „Modelle“ nennt, ist selbst das typische „Modell“ eines populären modernen Schriftstellers – in seiner Lebensweise, in seinem gesellschaftlichen Temperament, sogar in seinem Äuβeren. In fast allen Werken Max Frischs wird das Problem der Identität angeschnitten. Es hängt untrennbar mit dem ganzen Problemkomplex der bürgerlichen Gesellschaft in ihrer neuesten Formation und vor allem mit der so genannten Entfremdung der Persönlichkeit zusammen. Er träumte von einem Bündnis zwischen Technik und Humanismus. Der lebendige Mensch ist nach Frisch immer ein Geheimnis, denn er ist unbestimmbar, flieβend, wandelbar. Der lebendige Mensch stimmt nie mit den verschiedenen Schemata und Klischees überein, in die er gezwängt wird. Max Frisch liebt komplizierte Erzählsituationen, motivische Kontrast-Analogien, das reizvolle Spiel mit Erzähltem und Erinnertem, den beziehungsreichen Wechsel von Rückwendung und Vorausdeutung. In seinem Werk begegnen wir oft dem Tagebuchform, häufig im Prosawerk – in den Romanen wie in Erzählungen.

Darüber befragt, woher seine Vorliebe für das Tagebuch komme, hat Frisch einmal geantwortet, man könne wohl sagen, die Tagebuchform sei für ihn eigentümlich, aber gerade darum behage ihm diese Frage nicht: „Stellen Sie sich vor, ein Mann hat eine spitze Nase, und Sie fragen ihn: Woher kommt Ihre Vorliebe für eine spitze Nase? Kurz geantwortet: Ich habe keine Vorliebe für meine Nase, ich habe keine Wahl, ich habe meine Nase.“5

Er konzentriert sich hier auf die personalen Intimitäten. Die Helden seiner Romane leiden permanent am eigenen Ich. Frisch entschied sich für die Stellungnahme, für die Analyse gesellschaftlicher Gegebenheiten und menschlicher Haltungen. So musste ihn verständlicherweise auch die Rolle der Technik in der spätbürgerlichen Welt beschäftigen, ihr Einfluss auf die Persönlichkeitsstruktur und die Frage, ob und wie diese Beziehungen in der Literatur sichtbar und durchsichtig gemacht werden können. Ihm geht es darum, auf Problematiken aufmerksam zu machen, die sich unter bestimmten Bedingungen aus dem technischen Fortschritt ergeben können und denen entgegengewirkt werden muss, weil sie die Existenz der Menschheit gefährden. Als ein zentrales Thema finden wir immer wieder 5 Stäuble, E.: Max Frisch. Gedankliche Grundzüge in seinen Werken, S. 64.

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in den Werken von Max Frisch die Technikbesessenheit des Mannes und die antikapitalistische Natürlichkeit wie natürliche Vernünftigkeit der Frau vor.

Das weitaus meiste, was Menschen erleben, liegt wohl im Bereich der Ahnung; schon der andere Bereich der Erlebbarkeit, die Erinnerung ist viel kleiner. Wäre es nicht so, gäbe es überhaupt keine Dichter, nur Reporter, und es gäbe vor allem auch keine Leser. Was tut denn der Leser, indem er ein Buch aufschlägt? Er verlässt sein Dabeisein, da es ihn nicht erfüllt; er begibt sich in den Bereich seiner Ahnung: um etwas zu erleben.6

2.2 Entstehung und Quellen Während des Aufenthaltes in den USA und Mexiko als Rockefeler-Stipendiat will Frisch 1951/52 einen Roman mit dem Arbeitstitel Was macht ihr mit der Liebe schreiben. Er schreibt mehrere hundert Seiten, stellt das Projekt dann wegen der Arbeit an Don Juan oder die Liebe zur Geometrie zurück. Anfang 1953 hat er die „Stiller-Idee“ und greift auf die 600 Seiten zurück, die in Amerika entstanden sind. Die Fertigstellung des Stillers geschieht Anfang März bis Mitte April 1954 am Genfer See, in der Nähe von Glion, wohin Stiller sich zurückzieht. Eine der wichtigsten Quellen für Stiller sind für Frisch die eigenen Lebenserfahrungen: Frischs Lebens- und Ehekrise, Frischs Aufenthalt in Spanien, in den USA und in Mexiko, Frischs Schwanken zwischen Selbstbezichtigung und Selbstverherlichung (Stiller) und seine Erzähllust (White). Er greift auch auf schon früher Geschriebenes zurück – Rip van Winkle- Motiv. Aus dem Roman J´adore ce qui me brûle oder Die Schwierigen werden einige Motive wie Eheproblematik übernommen. Der Roman Homo Faber entstand 1955 nach der Trennung von seiner Frau Constanze. Seine Entstehungsgeschichte ist bis in die letzten Einzelheiten bekannt. Der Roman wurde im Jahre 1956/57 durchgeschrieben und dem Verleger Peter Suhrkamp bereits als fertig angekündigt. Am 21.4.1957 zog Frisch dann das Manuskript als noch nicht zufrieden stellend zurück. Er schrieb an Suhrkamp:

Unterdessen ist bei mir die Entscheidung gefallen. Ich ziehe den HOMO FABER zurück – ohne verzweifelt zu sein deswegen. Es geht so nicht, das war mein Eindruck, und es ist mit Retuschen, wenn sie noch so glücklich wären, nicht zu machen. Zu vieles darin ist tot, am

6 Frisch, M.: Aus einem Tagebuch und Reden, S. 28.

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Stil des Technikers gestorben; anderes wiederum, finde ich, ist in einer Art geglückt gerade im Sprachlichen, dass es schade wäre, wenn es im Ungemeisterten zugrunde ginge.7

Bereits in drei Tagen schickt er seinem Herausgeber eine neue Komposition. Die Entstehungszeit des Romans ist von einer Serie von Reisen durchzogen. Der Text ist ein direkter Reflex der Amerikaerfahrung des Autors, unter anderem New York, San Francisco und Mexico City. Andere Plätze werden detailliert beschrieben – Südamerika, Paris, Athen, Cuba. In diesem Roman gibt es zwar einige autobiographische Elemente, trotzdem kann man ihn nicht als „autobiographischen Roman“ bezeichnen. Frisch hat die meisten im Buch vorkommenden Schauplätze selbst bereist und sich folglich auch um Detailgetreue bemüht. Er hat sich sogar in die Wahrscheinlichkeitslehre eingearbeitet, um die Meinungen Walter Fabers beweisen zu können. 2.3 Stiller – Inhalt Ein Mann wird bei der Einreise in die Schweiz am Bahnhof verhaftet. Er heiβe Jim White, behauptet er. Er hat einen falschen amerikanischen Pass bei sich. Ein Mitreisender im Zug will in ihm den Schweizer Bildhauer Anatol Ludwig Stiller erkannt haben, der vor sechs Jahren verschwand. Er beginnt mit Tagebuchaufzeichnungen nach einer Woche Haft, wo er aufgrund einer Ohrfeige an einem Polizeibeamten, der seinen Pass kontrollieren wollte, war. In Schreibheften soll er Auskunft über seinen Lebensweg geben. Er versichert nicht Stiller zu sein. Sein Offizialverteidiger Dr. Bohnenblust nennt ihn unbeirrt „Stiller“. Der einzige, welcher ihm die Identität Stillers nicht aufzwingt, ist der gutmütige Wachbeamte Knobel und er hört an, was White ihm erzählt. Er spricht über dem Mord seiner Ehefrau, über seinem Mexiko Besuch, er behauptet einen Direktor Schmitz im Dschungel und den eifersüchtigen Mann einer Mulattin, die seine Geliebte war, getötet zu haben, wir erfahren etwas über die unglückliche Ehe des Apothekers Isidor, über Stillers erste Liebe, die polnische Medizinstudentin Anja, über die Katze „Little Grey“, die er abwechselnd liebt und hasst (kann mit Julika assoziiert werden). Stiller erzählt dem Wärter eine abenteuerliche Geschichte, die er in den USA erlebt hatte: Als Cowboy entdeckte er eine riesige unterirdische Tropfsteinhöhle, die er mit seinem Freund untersuchte. Doch als sich dieser den Fuβ brach, kam, aus Angst voreinander, Feindschaft zwischen ihnen auf, welche zu einem Kampf zwischen den beiden führte, aus dem Jim 7 Knapp, M.: Max Frisch. Homo faber, S. 25.

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White als Sieger hervorging und sein Freund starb. Auf Knobels Frage, ob er denn wirklich Jim White sei, weicht der Erzähler zum ersten Mal verbal von dieser Fiktion ab. Es wird auch das Märchen von Rip van Winkle nacherzählt. Zwischenzeitlich erhält der Gefangene einen Brief von Stillers Bruder Wilfried, in dem dieser die Absicht ankündigt ihn zu besuchen. Der Verteidiger erscheint triumphierend mit einem Familienalbum, das er von Wilfried erhalten hat, und der Angeklagte muss zugeben, dass zwischen ihm und diesem Stiller eine gewisse Ähnlichkeit besteht. Sein fünf Jahre jüngerer Bruder besucht ihn später, er spricht von der vor vier Jahren gestorbenen Mutter. Sie besuchen ihr Grab. Frau Julika Stiller – Tschudy, Stillers Ehefrau, besucht den Erzähler in seiner Zelle, wobei dieser sich weiterhin weigert Stiller genannt zu werden. Julika gefällt ihm, er findet sie sehr attraktiv. Nachdem Julika eine Kaution hinterlegt hat, darf der Untersuchungshäftling sie einmal pro Woche auf einem Spaziergang oder in ein Restaurant begleiten. Sie erzählt ihm über Stiller: Julikas Mutter war Ungarin, der Vater Gesandter in Budapest. Mit 18 wurde sie Waise. Fünf Jahre später lernte sie Stiller kennen. Stiller lernte Julika im Ballett kennen, sie war damals ein groβes Talent. Sie war ein unscheinbares, frigides Mädchen, das nur aufblühte, wenn es auf der Bühne tanzte. Stiller kam damals aus dem Spanischen Bürgerkrieg zurück, an dem er sich als Freiwilliger in den Internationalen Brigaden beteiligt hatte. Die beiden heirateten und anfangs schien es eine hoffnungsvolle Ehe zu sein. Weil Stiller nur hin und wieder etwas von seinen Kunstwerken verkaufte, lebten sie im Wesentlichen von Julikas Gage. In dieser finanziellen Situation kamen Kinder für sie nicht in Frage. Stiller kümmerte sich sehr um seine Frau. Julika erkrankte an Tuberkulose und musste in ein Sanatorium in Davos. Es kam zu Differenzen zwischen den beiden. Stiller hatte ein Verhältnis mit einer Frau namens Sibylle und Julika wusste davon. Er besuchte seine Frau nur dreimal. In dieser Zeit wuchsen Stillers Schuldgefühle gegenüber Julika. Es fiel auf, wie egozentrisch Stillers Wesen war, so fühlte er sich wie von Feinden umgeben, wenn Freunde ihn darauf ansprachen, wie ungerecht er Julika teilweise behandelte. Julika fand in einem Patienten des Sanatoriums für kurze Zeit einen Gesprächspartner, er verstarb aber. Als Stiller sie zum letzten Mal besuchte, sprach er lediglich nur über sich selbst und offenbarte ihr den Bruch seiner Beziehung zu Sibylle und möchte sie in diesem Zusammenhang auch endgültig verlassen. Der Erzähler hat einige Konversationen mit seinem Staatsanwalt. Der Staatsanwalt namens Rolf ist der Ehemann von Stillers Geliebter, der jetzt 45-jährige hat Stiller allerdings nie gesehen. Seine Gattin Sibylle ist zurzeit schwanger. Während diesen

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Konversationen erfährt White über Stiller und Sibylle: Sie lernten sich vor sieben Jahren auf einem Künstler-Maskenball kennen. Sibylle verliebte sich in ihn. Rolf verdächtigte allerdings nicht Stiller, sondern den mit Sibylle etwa gleichaltrigen Architekten Willi Sturzenegger, der gerade ihr neues Haus baute. Rolf fuhr nach Genua, um irgendwie weg zu kommen. Er fiel dort einer Gaunerei zum Opfer: Ein amerikanischer Marinesoldat musste einen Ballen Stoff loswerden, konnte aber kein Italienisch, Rolf musste dolmetschen. Als nun der Italiener, der Interesse an dem Stoff zeigte, zuwenig Geld bei sich hatte, bat er Rolf, auf ihn zu warten. Der Soldat musste schnell auf sein Schiff, Rolf legte das Geld aus, wartete mit dem Ballen auf den Italiener, der nicht mehr kam. Der Stoff erwies sich als unverkäuflich, von schlechter Qualität, endete in einer Herrentoilette. Das Liebespaar (Stiller und Sibylle) wollte zusammen nach Paris fahren, Sibylle begleitete ihn dann aber nicht. Er traf sich noch einmal mit ihr in Pontresina, um ihr zu berichten, er habe sich von seiner Frau getrennt. Danach sahen sie sich nicht mehr. Sibylle entschied sich, mit ihrem Sohn Hannes nach Amerika zu fahren. Sturzenegger hatte inzwischen ein Architekturbüro in Kalifornien eröffnet und traf sich mit ihr in New York, weil er eine Sekretärin brauchte. Sibylle nahm aber eine gut bezahlte Stelle in einem anderen Büro in New York an. Mehrmals meinte sie, Stiller in New York zu sehen. Da tauchte Rolf eines Tages auf, sie versöhnten sich und er holte sie zurück. Jetzt erwartet sie gerade eine Tochter. Nach und nach kommen in die Zelle frühere Freunde Stillers, der Häftling kennt aber niemanden. Er bekommt von einem Ehepaar, dessen homosexueller Sohn sich getötet hat und der zuvor ein Gespräch mit Stiller geführt hatte, Besuch und soll deren Fragen beantworten. Ein Zahnarzt kann Stillers Identität nicht bestimmen, da der alte Praxisinhaber verstorben ist und der neue ihn nicht kennen kann. Selbst Knobel nennt White inzwischen Stiller. Eigentlich ist es für den Erzähler nur wichtig, von Julika nicht verwechselt zu werden. Bei einer Befragung durch seinen Staatsanwalt erkennt Stiller in dem Direktor Schmitz den Mann, den er, nach einer seinem Wärter Knobel erzählten Geschichte, angeblich auf Jamaika ermordet habe, wieder. Das Gericht stellt fest, dass es sich bei dem Angeklagten um niemanden anderes als Anatol Ludwig Stiller handelt, und verurteilt ihn wegen einer Reihe nicht erfüllter Bürgerpflichten zur einer Geldstrafe, die sein Bruder bezahlt.

Das Urteil, das gerichtliche, wie erwartet: Ich bin (für sie) identisch mit dem seit sechs Jahren, neun Monaten und einundzwanzig Tagen verschollenen Anatol Ludwig Stiller, Bürger von Zürich, Bildhauer, zuletzt wohnhaft Steingartenstraβe 11, Zürich, verheiratet

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mit Frau Julika Stiller-Tschudy, derzeit wohnhaft in Paris, und verurteilt zu einer Reihe von Buβen betreffend die Ohrfeige gegenüber einem eidgenössischen Zollbeamten, […]8

Aus einem Nachwort des Staatsanwalts erfahren wir, dass er zusammen mit Julika in einer kleinen Pension am Genfer See wohnt, später ziehen sie in ein anderes Haus. Sie werden selten von Rolf und Sibylle besucht. Julika muss sich einer Transplantation des linken Lungenflügels unterziehen. Sie stirbt am nächsten Tag. „Stiller blieb in Glion und lebte allein“9, so endet der Roman. 2.4 Homo faber – Inhalt Die Hauptperson in diesem Roman ist Walter Faber. Dieser Name gibt einen Vorausblick auf den Konflikt im Buch: Die beiden lateinischen Begriffe deuten das Gegenüberstehen von Natur (homo: Mensch) und Technik (faber: Handwerker) bereits an. Er glaubt nicht an Fügung und Schicksal und ist es gewöhnt mit den Formeln der Wahrscheinlichkeit zu rechnen. Er braucht um das Unwahrscheinliche gelten zu lassen keine Mystik, ihm genügt hierzu die Mathematik. Der 50-jährige Staudamm – Ingenieur Walter Faber wohnt in New York. Er organisiert bei der UNESCO10 technische Hilfe für unterentwickelte Länder. Von dort aus bricht er dann im Auftrag der UNESCO nach Venezuela auf, um die Installation von Turbinen bei einem Staudamm zu leiten. Auf der Reise nach Mexiko lernt er Herbert Hencke, den Bruder seines Jugendfreundes Joachim, kennen. Schon kurz nach dem um drei Stunden verspäteten Abflug fällt ihm sein Sitznachbar Herbert Hencke negativ auf. Bei einer Zwischenlandung in Houston will Faber in einer Bar etwas trinken gehen, sieht dort aber Herbert und geht deshalb in die Toilette, um sich die Hände zu waschen. Er erleidet einen Schwächeanfall auf dem WC. Plötzlich bricht er zusammen und erwacht 20 Minuten später, als eine dicke Negerin neben ihm kniet. Er wird schon über die Lautsprecher aufgefordert, das Flugzeug unverzüglich aufzusuchen. Faber geht allerdings aufs Observations-Dach um den Start seiner Super-Constellation zu beobachten. Dort sieht er eine Maschine abheben, von der er denkt, dass es seine ist. Dann findet ihn jedoch eine Stewardess und bringt ihn an Bord der richtigen Maschine, die auf ihn gewartet hat. Über 8 Frisch, M.: Stiller, Band III., S. 728. 9 Ebd., S. 780. 10 Kurzwort für United Nations Educational Scientific an Cultural Organization“ – Organisation der Vereinten Nationen für Erziehung, Wissenschaft und Kultur.

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dem Golf von Mexiko fällt ein Motor aus, sie fliegen aber weiter, wie geplant. Kurze Zeit später, über der Sierra Madre, setzt ein zweiter Motor aus. Das Flugzeug, in dem Walter und Herbert sitzen, muss in der Wüste von Mexiko notlanden. Sie bleiben vier Tage in der Wüste. Herbert erzählt ihm, dass Joachim seine Jugendliebe Hanna geheiratet hat und zusammen ein Kind haben, inzwischen aber geschieden sind. Mit einem Brief, den er in der Wüste schreibt, trennt er sich von Ivy. Nach ihrer Rettung beschließt Faber, zusammen mit Herbert seinen alten Freund Joachim Hencke auf seiner Tabakplantage zu besuchen. Deshalb fahren sie mit dem Zug von Mexikocity nach Campeche, um von dort den Weg zur Plantage zu suchen. In Campeche haben sie einige Tage Aufenthalt, weil ihnen kein Auto zur Verfügung steht. Zum Glück treffen sie dort auf den Hobbyarchäologen Marcel, der ein Auto besorgen kann. Zu dritt machen sie sich auf den Weg durch den Dschungel. Nach vier Tagen Fahrt mit dem Land Rover durch tropischen Urwald erreichen sie schließlich die Plantage in Guatemala. In der Baracke finden sie Joachim, der sich erhängt hat. Herbert entscheidet sich Joachims Posten zu übernehmen und auf der Plantage zu bleiben. Walter war mit Joachim in seiner Studienzeit befreundet. Damals war Walter mit der Kunststudentin Hanna Landsberg, einer Halbjüdin, zusammen. Nachdem sie ihm gesagt hatte, sie sei schwanger, begriff sie, er wollte sie ihre Schwangerschaft aufzubrechen. Danach sah er sie nicht mehr. Von Guatemala kehrt er nach New York zurück. Seine Geliebte Ivy wartet auf ihn, obwohl er sich von ihr getrennt hat. Sie hat den Brief ignoriert und schon die ganze Woche mit ihm verplant. Am Abend hat er genug von ihr und beschließt, statt zu fliegen, mit dem Schiff nach Paris zu reisen, um früher von ihr wegzukommen. Er muss dort an einer Konferenz teilnehmen. Auf der fünftägigen Reise trifft er ein 20-jähriges Mädchen namens Elisabeth, das er einfach Sabeth nennt. Sabeth erinnert ihn an Hanna. Sie fällt ihm sofort auf. Während dem ganzen Tag sieht er sie auf Deck Pingpong spielen. Schon am ersten Abend ergibt es sich, dass Faber mit Sabeth Pingpong spielt. Erst am nächsten Tag kommt es zu einem ersten richtigen Gespräch. In der Folge entwickelt Faber für Sabeth eine immer größere Zuneigung. Er wird sogar eifersüchtig auf ihren Freund, als er Sabeth mit ihm alleine in der Kabine lassen soll, weil Sabeth ihrem anfänglichen Begleiter kurz darauf den Laufpass gibt. Er zeigt sich auch sehr besorgt, als er erfährt, dass sie ganz alleine per Autostop von Paris nach Italien reisen will. Faber baut eine Beziehung zu ihr auf. Nach der Ankunft in Paris trennen sich ihre Wege. Faber begibt sich dort auf die Konferenz von Williams. Dieser bemerkt gleich, dass mit Faber etwas nicht stimmt. Er sagt, dass Faber wohl Ferien nötig habe. Eine Woche darauf

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treffen Faber und Sabeth sich mehr oder weniger zufällig wieder, nachdem Faber sie schon vergeblich im Louvre gesucht hat. Bei einem gemeinsamen Essen entscheiden sie sich zusammen in die Opera zu gehen. Sabeth hat immer noch vor per Autostop nach Italien zu reisen. Faber beschließt deshalb Williams Vorschlag, Ferien zu nehmen, zu akzeptieren, und leiht sich sein Auto, um mit Sabeth die Reise zu unternehmen. Faber genießt die Reise sehr, obwohl ihm Sabeths Wunsch, jedes Museum zu besichtigen, Mühe macht. Für ihn sind Strassen, Brückenbau oder der neue Bahnhof in Rom interessanter. Später auf der Reise besichtigen sie einen Grabhügel bei Tivoli. Sabeths Erzählungen weisen immer deutlicher darauf hin, dass Hanna, seine ehemalige Verlobte, ihre Mutter ist, Faber verdrängt den Gedanken, Sabeth könne seine Tochter sein. Obwohl er diesen Verdacht hat, schlafen sie in dieser Vollmondnacht das erste Mal miteinander. Nach dieser Etappe ihrer Reise begeben sie sich nach Korinth, wo sie am nahe gelegenen Strand zusammen einen erholsamen Nachmittag verbringen. Faber ist gerade am Schwimmen, als er plötzlich einen Schrei von Sabeth hört.

Sie hält ihre rechte Hand auf die linke Brust, wartet und gibt keinerlei Antwort, bis ich die Böschung ersteige (es ist mir nicht bewusst gewesen, dass ich nackt bin) und mich nähere – dann der Unsinn, dass sie vor mir, wo ich ihr nur helfen will, langsam zurückweicht, bis sie rücklings (dabei bin ich sofort stehengeblieben!), rücklings über die Böschung fällt.11

Erst jetzt erkennt er die Bisswunde auf ihrer Brust. Er versucht das Blut auszusaugen, merkt aber, dass das nichts bewirkt, und trägt sie deshalb zur Strasse hinauf. Dort versucht er, ein Auto anzuhalten, das sie nach Athen mitnimmt. Er hat Pech, denn kein Auto hält an, bis sie endlich auf einem alten Eselskarren mitfahren können. Später wechseln sie in einen Lastwagen, der sie zum Spital bringt. Im Krankenhaus begegnet Walter seine Jugendfreundin Hanna wieder. Er erfährt, dass Elisabeth seine eigene Tochter war, trotzdem sie glaubte, Joachim sei ihr Vater. Hanna hatte das Kind gegen der Vereinbarung mit ihm zur Welt gebracht. Beide sind schockiert über den Zwischenfall. Sie erfahren, dass Sabeth von einer Viper gebissen wurde, aber außer Lebensgefahr sei. Da sie im Spital nichts tun können, gehen sie zu Hanna nach Hause. Hanna erzählt ihm über ihrem Leben: Hanna heiratete nach der Trennung von Faber in Zürich seinen Freund Joachim. Sabeth kam etwa ein halbes Jahr später zur Welt. Sie wurde im Glauben erzogen, dass Joachim ihr Vater sei. Als sich jener aber in Hannas Erziehungsmethoden einmischte, lieβen sie sich scheiden. Im Zweiten Weltkrieg konnte

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sie gerade noch rechtzeitig von Deutschland nach Paris fliehen. Im Exil lernte sie einen gewissen Piper kennen, den sie bald darauf heiratete. Da sie aber kommunistisch veranlagt war, lieβ sie sich wieder scheiden. Hanna reiste darauf nach Athen, wo sie im archäologischen Institut eine Arbeit annahm. Wenige Tage später unterliegt Elisabeth ihren Kopfverletzungen, die sie sich beim Sturz nach dem Schlangenbiss zugezogen hat. Faber fährt nach Caracas. Er kann die Installation der Turbinen aber nicht überwachen, weil ihn seine ständigen Magenprobleme ins Bett zwingen. Während dieser Zeit beginnt er seinen Bericht zu schreiben. Nachdem er den ersten Teil des Berichts fertig hat und er wieder gesund ist, fliegt er über Kuba nach Düsseldorf. Nach einer sechswöchigen Reise kehrt Faber nach Athen zurück mit der Absicht dort mit Hanna als seine Frau ein neues Leben zu beginnen. Unterwegs schreibt er noch seine Kündigung. Er muss sich einer Magenoperation unterziehen. Die Diagnose lautet Krebs. Faber erträgt es allerdings mit Fassung, denn Hanna steht ihm während dieser Zeit zur Seite. Während dieses Spitalaufenthalts schreibt er den zweiten Teil seines Berichtes, den er kurz vor seiner Operation und seinem Tod vollendet. 11 Frisch, M.: Homo faber, 1957, S. 180.

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3 Romanfiguren

3.1. Stiller Anatol Ludwig Stiller Er ist eine dynamische Persönlichkeit, leidet permanent am eigenen Ich. Er wurde ein neuer Mensch mit neuer Identität, um seiner Identität als Kämpfer auf der Seite der Spanischen Republik, als Ehemann und als Künstler zu entfliehen. Er unternimmt den Versuch, nach langer Abwesenheit unerkannt und verwandelt in die Heimat zurückzukehren. Es gelingt ihm nicht, man erkennt ihn, trotzdem behauptet er, nicht Stiller zu sein. Später kommt der Symbolgehalt des Namens Stiller zum Ausdruck. Stiller fristet sein Dasein: verstummt, zurückgezogen, allein. Die zwei Handlungsstränge White-Stiller führen am Ende zusammen, denn die Doppelidentität Stiller-White wird zu einer Einheit. Noch weigert sich White Stiller zu sein:

Ich weiβ, dass ich nicht der verschollene Stiller bin. Und ich bin es auch nie gewesen. Ich schwöre es, auch wenn ich nicht weiβ, wer ich sonst bin. Vielleicht bin ich niemand. Und wenn sie es mir schwarz auf weiβ beweisen können, dass von allen Menschen, die als geboren verbucht sind, zur Zeit nur ein einziger fehlt, nämlich Stiller, und dass ich überhaupt nicht in dieser Welt bin, wenn ich mich weigere, Stiller zu sein, so weigere ich mich doch.12

Dann spricht er jedoch das erste Mal von Stiller in der Ich- Form und gibt schlieβlich zu, Stiller zu sein: „Wilfried Stiller, mein Bruder, habe sich bereits erklärt, den Betrag von Franken 9 361. 05 zu übernehmen.“13 Julika Stammt aus einer angesehenen Familie, verliert ihre Eltern mit achtzehn. Sie wirkt spröde, gefühlskalt. Sie wird erfolgreiche Balletttänzerin, ist glücklich nur wenn sie auf der Bühne auftritt. Will keine Kinder, denkt an ihre Karriere. Julika liebt ihren Ehemann Anatol, sie hofft, von ihm als Mann nicht bedrängt zu werden. Erlebt Tuberkulose als 12 Frisch, M.: Stiller, Band III., S. 681. 13 Ebd., S. 729.

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Karriereknick, stellt sich aber nicht in Frage, bleibt geradezu in sich verliebt. Ist nach Stillers Rückkehr nicht bereit, eine neue Beziehung aufzubauen, sondern unterstützt das Bemühen des Verteidigers, Stiller in seine alte Rolle zurückzuzwingen. Rolf Ehemann Sibylles, Vater ihres kleinen Sohn Hannes. Will sich eine solide Existenz aufbauen. Er ist souverän, beherrscht, das Gegenstück zu Stiller. Erlebt die Liebschaft seiner Frau mit Stiller als Existenzkrise. Er ist unfähig, seiner Frau seine Gefühle zu zeigen. Nach dem Weggang seiner Frau nach Amerika macht er einen Wandel durch und holt sie nach etwa zweieinhalb Jahren zurück. Wird zum Freund Stillers, hat sogar Verständnis für ihn. Er wird zum Treuhänder von Stillers Aufzeichnungen und zum Berichterstatter über Stillers und Julikas neues Leben. Versucht sich an „so etwas wie Gott“ orientieren, was es ihm erlaubt, sich selbst und die anderen zu akzeptieren. Sibylle Sie ist mit ihrem Gatten zufrieden, sucht aber eine Beziehung der wechselseitigen Bereicherung, nicht ein bloβes Verhältnis. Sie wird vom Stiller schwanger, will mit ihm ein neues Leben anfangen, da er aber nur zur Liebschaft fähig ist, trennt sie von ihm. Dann zieht sie nach Amerika um, wohnt nur mit ihrem kleinen Sohn, und verdient sich ihren Unterhalt selbst. Als Rolf zu ihr nach New York kommt und ihr neues Zusammenleben vorschlägt, kehrt sie nach Zürich zurück. Im Herbst 1952, während Stillers Untersuchungshaft, kommt ihn zweites Kind, ein Töchterchen, zur Welt. Sturzenegger Ein junger Architekt, ein begeisterter Vertreter neuer, an den USA orientierter Architektur. Rolf denkt, er hat ein Verhältnis mit seiner Frau. Sturzenegger zieht nach Amerika um, um sich dort sein eigenes Architekturbüro zu öffnen. Da sieht man die autobiographischen Motive mit dem Autor, der auch Architekt war.

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Dr. Bohnenblust Er ist Stillers Verteidiger, ist auch die satirische Verkörperung eines überzeugten Schweizers. Hat kein Verständnis für Stillers Geschichten und seine Kritik an Schweiz. Obwohl er in einer beschränkten geistigen Welt lebt, durchblickt er Stillers Lügen von Anfang an. Knobel Er wurde Gefängniswärter, weil er gerne Geschichten über Verbrechen hört. Glaubt Stiller alles, was dieser ihm erzählt, und stellt enttäuscht fest, dass Stiller ihn belogen hat. Wilfried Stiller Diese Person ist ein Gegenstück zu ihrem älteren Halbbruder Anatol. Er arbeitet als Bauer, ist Schweizer ohne Dünkel, selbstlos, amusisch.

3.2 Homo faber Walter Faber Schweizer Bürgerssohn vom Jahrgang 1907, ein Techniker mit hölzerner Sprache, ein Schuldig-Gewordener, der nur noch kurze Zeit zu leben hat, berichtet über sein Leben. Sein Bericht ist der Versuch, sich zu rechtfertigen. Mobilität, körperlicher Verfall und Selbstisolation begleiten die Zentralfigur durch die Handlung. Er ist ein weitgereister Mann, der die Vernunft vergöttert. Er glaubt an Technik, Statistik, Maschinen und den Fortschritt, Sentimentalität ist ihm verhasst:

Ich sehe alles, wovon sie reden, sehr genau; ich bin ja nicht blind. Ich sehe den Mond über der Wüste von Tamaulipas – klarer als je, mag sein, aber eine errechenbare Masse, die um unseren Planeten kreist, eine Sache der Gravitation, interessant, aber wieso ein Erlebnis?14

14 Frisch, M.: Homo faber, 1957, S. 26.

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Er fürchtet sich vor dem engeren Bekanntwerden und vor Gefühlsbindungen, weil beides Verhältnisse zu produzieren vermag. Er hat keine „Geliebte“, sondern nur eine Sex-Partnerin. Durch den Zufall verliebt er sich in seine Tochter, er bemüht sich darum, die Wahrheit zu unterdrücken, es kommt zu einem unwissentlichen Inzest. Da kann sich Faber zum ersten Mal eine Zukunft in ehelicher Gemeinschaft vorstellen. Das Mädchen kommt zu Tode. Hanna Sie wird dem Leser in zwei Rollen vorgestellt: Die werdende Mutter 1936 und die vom Verlust ihres Kindes bedrohte Mutter 1957. Faber trennt sich von der schwangen Hanna, sie heiratet seinen Freund Joachim. Sie lebt in Paris, denn es den Zweiten Weltkrieg gibt und sie ist eine Halbjüdin, Tochter eines jüdischen Professors aus München. Ihre Ehe scheitert, sie heiratet später den Kommunisten Piper. Sie verlässt ihn auch und zieht nach Athen um, wo sie in einem Archäologischen Institut arbeitet. Dr. Phil. Hanna Piper hat Pech mit den Männern. Sie liebt ihre Tochter, deren Leben vernichtet wird. Sachlich wie ein Mann, genau in Nebensachen, tüchtig im Beruf, geachtet in der Stadt – Faber hat den Eindruck, man behandle sie wie einen Nobelpreisträger. Sie gehört zu der neuen Schicht emanzipierter Frauen: Sie erzieht ihr Kind allein und verfolgt zugleich eine Karriere ohne die Unterstützung eines Ehemannes. „Die Figur der Hanna gehört – trotz erkennbarer Demonstrationsfunktion - zu den menschlich-natürlich anrührendsten Frauengestalten im Werke Max Frischs.“15 Elisabeth In der Gestalt dieses Mädchens wird ein schuldloser, in sich ruhender Mensch gebildet. Sie ist zwar keine strahlende Schönheit, aber sie besitzt den Liebreiz intelligenter Jugendlichkeit. Ihr mangelt es nicht an Symbolen, die man ihrer Generation zuordnet: Die ewige Zigarette, das mitgeführte Buch, etwa Tolstoi, der geschmacklos grüne Kamm in der hinteren Hosetasche. Ihre Jugend, ihr wacher Geist, ihre Sprache und selbst manche Gesten und Bewegungen erinnern Faber an die Zeit mit Hanna. 15 Kästler, R.: Max Frisch. Homo faber, S. 64.

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Alles an dem Mädchen stimmt, sie ist rundweg beneidenswert: selbstbewusst, ohne überheblich zu sein; emanzipiert, ohne Frauenrechtlerin zu sein und die Fraulichkeit verloren zu haben, Kind und Weib, mathematisch und künstlerisch begabt, im schönen Sinne naiv und intelligent, sensibel, ohne gefühlsbetont zu sein, warmherzig und nicht Samariterin, natürlich, ohne „zurück zur Natur“ zu wollen, witzig ohne beiβenden Spott, romantisch ohne Schwärmerei, „Kunstfee“ und Techniker in einem.16

Herbert Hencke Er vertritt hier einen typischen Deutschen des Nachkriegsdeutschlands. Seine Begegnung mit Faber war eine der Unwahrscheinlichkeiten, die in diesem Roman so oft auftauchen. Er ist der Faszination des Dschungels verfallen. Als er in Palenque gemeinsam mit Faber seinen Bruder Joachim findet, der sich erhängt hatte, verfällt er in eine Art Schockzustand, beschließt seine Familie und seinen Beruf aufzugeben und das verflossene Leben seines Bruders weiterzuführen, ohne Ziele, ohne Pläne. Der Schockzustand verrinnt in Resignation und Gleichmut, welche seitdem sein Leben bestimmen. Joachim Hencke Er war der Jugendfreund sowohl Walters als auch Hannas und der vermeintliche Vater Sabeths. Er bildet eine Brücke zwischen Faber und der von ihm verlassenen Verlobten und somit indirekt auch zu der gemeinsamen Tochter. Ivy Ivy, Yvonne, kommt aus Bronx, sie ist ein sechsundzwanzigjähriges katholisches Mannequin. Sie verkörpert „The American Way of Life17“. Die erste offensichtliche Abwertung, die Rückschlüsse auf seine geringe Wertschätzung zulässt, ist ihr Spitzname Ivy, was auf Deutsch Efeu bedeutet. Efeu ist eine Kletterpflanze, was darauf schließen 16 Heidenreich, S.: Max Frisch. Homo faber, S. 89. 17 Amerikanische Lebensart, ein Schlagwort, das die Auseinandersetzungen ideologischer Art in den fünfziger Jahren stark prägte, es schlieβt ein die Vorstellung von Freiheit, Demokratie, technischem Fortschritt und Konsum für alle.

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lässt, wie Walter Faber sie ansieht. Ivy ist Amerikanerin, jung und Mannequin, was sich Walter Faber zum Anlass nimmt, sie als oberflächlich einzustufen. Sie sucht die „Wagenfarbe nach der Farbe ihres Lippenstiftes oder umgekehrt aus.“18 Sie verwendet Stunden darauf, sich im Bad herzurichten, was Walter Faber für unnütz hält. „Sie ist wie Barbie“19. Er nimmt sie nicht ernst, da sie in seinen Augen naiv ist. Marcel Der Musiker französischer Abstammung aus Boston, der mit ungewöhnlichem Idealismus Hieroglyphen und Götterbilder in den Tempelruinen der Mayas kopiert. Er kritisiert die Vermassung, Mechanisierung und Unkultur der amerikanischen Gesellschaft. Er ist ein scharfer Kritiker der Ideologie Fabers. 18 Frisch, M.: Homo faber, 1957, S. 34. 19 Ebd., S.74.

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4 Analyse des Textes 4.1 Form und Sprache Max Frisch beweist eine ausgesprochene Vorliebe für das Tagebuch und tagebuchähnliche Formen. Im Tagebuch werden skizzenhaft Augenblicke festgehalten. Der Augenblick ist nicht von Dauer, er verwandelt sich in immer neue Augenblicke. Das Tagebuch ist keine in sich geschlossene, vollendete Form, es ist eine offene Form; darum ist es Max Frisch gemäβ. Wenn White über Stiller erzählt, kann man von einer Perspektive des fremden Blicks sprechen. Der Erzähler gibt vor, die Schweiz so wenig gekannt zu haben wie die Vergangenheit Stillers. Über Stillers Leben wird von vielen Leuten berichtet, so wird zum Beispiel Stillers Liebschaft zu Sibylle von drei verschiedenen Personen erzählt: Von Julika, von Rolf und von Sibylle. Man spricht von so genannter Polyperspektive20. Die von Frisch im Stiller gewählte Form des Erzählens bewirkt, dass der Leser einen sehr eingeschränkten Blickwinkel hat. Daher muss er sich automatisch mehr Gedanken machen, um von der ersten Seite des Buches an den unbekannten Faden zu spinnen und Verbindungen zwischen den Erlebnissen Stillers zu knüpfen. Die knappe Information, die der Leser beim Rezeptionsvorgang erhält, ergibt Leerstellen, die er mit eigenen Assoziationen, Theorien und Vermutungen füllt, welche jedoch auch zerstört werden und zu neuen Überlegungen veranlassen. Durch die gewählte Romanform wird der Leser aktiv, er muss sich permanent mit dem wechselhaften Erzählvorgang auseinandersetzen. Die multiperspektivische Darstellung der Personen und Charaktere führt zu vielseitigen Möglichkeiten der Interpretation. Der Leser muss sich sein eigenes Bild machen, in dem er sich kritisch und distanziert mit dem Erzähler und dessen Eigenarten auseinandersetzt. Der komplizierte Aufbau des Romans widerspiegelt seine Problematik. Man kann zwei Handlungsstränge verfolgen, die White- und Stillerhandlung, die am Ende zusammenführen, denn die Doppelidentität Stiller-White wird zu einer Einheit. Die Sprache, die im Homo faber verfasst ist, ist die unliterarische Sprache eines Technikers, des naturwissenschaftlich vorgebildeten Fachmannes. Schmückende Attribute fehlen in Fabers Sprache fast völlig. Seine Sprache ist durchsetzt von entlarvenden Phrasen und Klischees. Er schätzt verkürzende und elliptische Wendungen wie „meinerseits, 20 Die Häufung der Perspektiven, in denen bestimmte Episoden erscheinen.

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zwecks, weil Schicksal, weil zu unglaublich“. Er benutzt auch gern Anglizismen, die gerade damals in die deutsche Umgangssprache eindrangen. Durch eingeschobene Sätze mit präzisen Zeit und Ortsangaben wird der Tatsachenbestand vervollständigt. Der Roman Homo faber ist im Ganzen rückläufig, d.h. aus der Erinnerung der Hauptfigur, die so genannte Analepse21. Die Rückblende enthält eine Reihe von Indizien für eine mögliche Bewusstseinsveränderung. Ein monologisches Erzählverfahren trägt den Bericht auch dort, wo direkte Rede der Personen auftritt, denn die Äuβerungen aller Personen werden aus zweiter Hand – durch den Filter der Erinnerungen Fabers – wiedergegeben. Alles, was in dem Roman erzählt wird, ist aus der Sicht der Hauptfigur berichtet. Homo faber ist ein analytischer Roman22. Der Leser soll an der Analyse des Geschehens teilnehmen. In beiden Romanen werden viele Anglizismen benutzt, vor allem aber im Homo Faber: „Nach dem Zoll […] ging ich in die Bar, um einen Drink zu haben […].“23 4.2 Technik – Natur Spricht man über dem Verhältnis von Technik und Mythos, stellt sich Max Frisch eindeutig auf die Seite des Mythos.

Zwischen Technik und Natur besteht eine enge Verbindung. Technik entsteht, indem der Mensch die Natur studiert, deren Gesetze begreift und diese Erkenntnisse dazu benutzt, natürlich Gegebenes zu Produkten weiterzuentwickeln, die seinen Vorstellungen angepasst sind. Insofern wäre Technik eine Art absichtsvolle Weiterschöpfung der natürlichen Welt durch den „homo faber“, und zwar dort, wo er sie als ungenügend empfindet. Folglich liegt die Beziehung des Technik schaffenden Menschen zur Natur auf einem Spannungsbogen zwischen respektvollem Miteinander und feindseligem Gegeneinander. 24

Im Roman Homo Faber wird „The American Way of Life“ kritisiert. Während Griechenland als Heimat des Mythos gilt, werden die USA und New York als Heimat der Technik angesehen. Walter Faber ist unfähig, Dinge nach natürlichen und menschlichen Gesichtspunkten zu betrachten. Stoffe wie Mystik, die von seiner Jugendfreundin Hanna betrieben wird, kann er nicht verstehen. Walter Faber verabscheut die reine Natur und 21 Man stellt nachträglich ein Ereignis dar, dass früher stattgefunden hat. 22 Es geht um Aufdeckung und Verarbeitung bereits vergangener Ereignisse. 23 Frisch, M.: Homo faber, 1957, S. 11. 24 Hain, H.: Max Frisch. Homo faber, S. 37.

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würde am liebsten alles technisieren. Durch dieses Gedankenbild hat er große Probleme mit anderen Leuten umzugehen und sein wahres Ich zu finden. Er besitzt eine eigene Art, mit den Menschen zu kommunizieren. Er greift in allen möglichen und unmöglichen Situationen zu seinem Technik signalisierenden Elektrorasierer. „[…] ich vertrage es nicht, unrasiert zu sein […]“25 In diesem Roman gibt es zahlreiche Anspielungen auf Antikes, die Beziehung zur griechischen Tragödie ist unübersehbar. Am Ende führt das alles zu einer klassischen Tragödie. Hans Geulen interpretiert die antiken Bezüge letztlich als Mittel der Verfremdung, Hans Mayer sieht den mythischen Bezug gleichsam als zentrales Handlungsmerkmal. 4.3 Die Ich-Form

Die Krise des modernen Romans ist eines von mehreren Symptomen des in eine Krise geratenen Erzählens. Die Krise des Erzählens wiederum ist eigentlich eine Krise des Erzählers. Sie manifestiert sich unter anderem eben in der Ablösung des klassischen, allwissenden Erzählers durch andere Erzählerfiguren. Angesichts der unübersichtlich gewordenen, in lauter Einzelteile zerfallenen Welt ist die Position des allwissenden Erzählers zweifelhaft und unglaubwürdig geworden. […] Von derartigen allgemeinen Bedingungen her, denen der Roman des 20. Jahrhunderts unterworfen ist, erklärt sich auch die Ich-Form in den weitaus meisten Romanen und Erzählungen von Max Frisch.26

Die Ich-Form (die Singularform, die erste Person) verwendete Max Frisch zuerst in seiner Novelle Bin oder die Reise nach Peking. Im Roman Stiller begegnen wir einem Wechsel von Er- und Ich-Form, wobei dadurch die Er-Form kompliziert erscheint. Diese wird von White verwendet, wenn er von Stiller berichtet, so kann die Auβenansicht Stillers beschrieben werden. Der Tagebuch-Schreiber versucht, sich ein Bildnis von Stiller zu machen, oder gibt jedenfalls vor, sich langsam ein Bild Stillers zusammenzufügen. Der Ich-Erzähler ist da eine Figur, die sich selbst noch entwickelt – während des Erzählens, durch das Erzählen, dadurch, dass sie sich im Erzählen mit ihrer Gegenwart und ihrer Vergangenheit konfrontiert. Homo faber ist in der Form des Ich-Erzählers geschrieben, jedoch wird an „wunden Punkten“ meist auf unpersönliche Konstruktionen ausgewichen („man“, Plural). 25 Frisch, M.: Homo faber, 1957, S.10. 26 Steinmetz, H.: Max Frisch: Tagebuch, Drama, Roman, S. 34.

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5 Personale Identität Unter Identität (lat.: identitas = Wesenseinheit) versteht man entweder die Einzigartigkeit eines Lebewesens, insbesondere eines Menschen oder einer Sache, dieser Begriff bezeichnet auch eine gröβtmögliche Übereinstimmung zweier unterscheidbarer Gröβen. Im ersten (sozial)psychologischen Sinne wird unter Identität häufig die Summe der Merkmale verstanden, anhand derer ein Individuum von anderen unterschieden werden kann, diese Identität erlaubt eine eindeutige Identifizierung in psychologischer Hinsicht. Im zweiten philologisch– mathematischen Sinne meint Identität den gleichen Umfang arithmetischer oder sprachlicher Ausdrücke bzw. Begriffe. Der Begriff Identität lässt sich nicht nur auf Menschen anwenden. In dieser Arbeit soll Identität ausschlieβlich im Zusammenhang mit menschlichen Individuen untersucht werden. Begriffe, die im Zusammenhang mit der Identitätsproblematik auftauchen und sich mit „Identität“ überschneiden, sind beispielsweise: Ich, Ego, Person, Persönlichkeit, Selbst, Charakter, Individualität, Individuum, Subjekt, Subjektivität, Rolle, Proprium27. Um die Identität menschlicher Individuen von anderen Identitätsrelationen zu unterscheiden, verwenden manche Autoren Begriffe wie „personale Identität“ (personal identity, der Begriff wurde von John Locke28 eingeführt) oder „Ich-Identität“ (ego identity, Erik Homburger Erikson29, ferner Jürgen Habermas30). Wenn nach der Identität der Person gefragt wird, dann in der Regel danach, unter welchen Bedingungen eine Person sich in der Zeit durchhält, worin ihre Identität besteht. Wir selbst sind Personen. Das Verständnis von sich selbst und der Welt ändert sich ständig. Die „Ich-Identität“ (Selbst-Identität) entwickelt sich vor allem in der Adoleszenz mit den wesentlichen Erfahrungen des Spracherwerbs. Im Christentum wird Identität durch den dreieinigen Gott garantiert. Anders ist es in Naturreligionen, hier wird stets ein Zustand der Harmonie mit den Naturgewalten wie auch mit den transzendenten Mächten angestrebt. Man kann von seiner Umgebung in eine Identität gedrängt werden. Die Person kann seine Identität auch verlieren. Die Person identifiziert sich nicht mehr mit den Gruppen

27 Die eigenen Merkmale, die den einzelnen Menschen ausmachen, die Besonderheit einer Sache. 28 Ein bedeutender englischer Philosoph (1632-1704). 29 Ein deutsch-amerikanischer Psychoanalytiker und Vertreter der psychoanalytischen Ichpsychologie (1902-1994). 30 Ein deutscher Soziologe und Philosoph (1929).

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(z.B.: Familie, Volk oder Nation, Kollegen, Freunde, Clique31) und wird so physisch und psychisch isoliert. Allgemein verliert ein Mensch dann seine Identität, wenn er sich so verändert, dass wesentliche Kriterien entfallen, anhand derer er identifiziert wird, oder wesentliche Instanzen, welche die Identifizierung vornehmen, entfallen oder wesentliche Kriterien der Identifizierung geändert werden. Zu den wichtigsten Identitätswerten zählen heute beispielsweise eine passende Arbeit und eine harmonische Familie. Die Fähigkeit, sich mit sich selbst zu identifizieren, nennt man Identitätsbewusstsein. Wendet man den Identitätsbegriff auf menschliche Individuen an, so ergibt sich ein zusätzliches Problem: Der mit einem Selbst-Bewusstsein ausgestattete Mensch hat keineswegs stets das Gefühl, mit sich selbst identisch zu sein.

31 Eine relativ kleine, frei zusammengesetzte Primärgruppe, in absprechendem Sinn etwa wie Seilschaft benutzt, meistens für Jugendgruppen angewendet.

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6 Fabers und Stillers Identität 6.1 Stiller „Ich bin nicht Stiller“32, mit diesem verzweifelten Aufschrei beginnt Max Frischs Roman Stiller. Ich bin nicht der, der ich scheine, behauptet der Held. Kein anderer zeitgenössischer Roman stellt derart ehrlich wie hintergründig die Frage nach der Identität des Menschen des 20. Jahrhunderts. Die Frage der Identität ist Max Frischs zentrales Thema, der Roman Stiller fragt nach der Spannung des einzelnen Ich zum anderen. Der Roman Stiller besteht aus zwei Teilen: Stillers Aufzeichnungen im Gefängnis und dem Nachwort der Staatsanwaltes. Es kommen also zwei fiktive Erzähler zu Wort. Das Geschehen wird aus verschiedenen Blickwinkeln geschildert: Aus der Sicht Julikas, Rolfs, Sibylles – es gibt verschiedene, gleichberechtigte Wahrnehmungen. Der erste Teil besteht aus 7 Heften mit den Eintragungen Stiller-White´s. Die Hefte 1, 3, 5, 7 umfassen die Zellenerlebnisse, Lügengeschichten und Reflexionen des Einsitzenden. Die Hefte 2, 4 und 6 enthalten die Vorgeschichte um Stiller, Rolf, Julika und Sibylle. Die in diesem Werk in Tagebuchform behandelte Identitätsproblematik taucht nicht erst im Stiller auf, sondern viel früher, in Frischs ersten poetischen Versuchen. Erst mit dem Erscheinen dieses Romans wurde es in seiner zentralen Bedeutung erkannt. Stiller ist auch ein psychologischer Liebes- und Künstlerroman. Dieser Roman stellt immer Fragen und beantwortet sie mit den neuen Fragen. Das Buch hat die Form eines Tagebuches. Auf den ersten Blick scheint der in ein Zürcher Gefängnis eingelieferte Häftling aufgrund eines Missverständnisses zustande zu kommen. Der Gefangene erhält von seinem Verteidiger den Auftrag, sein Leben aufzuschreiben, er beginnt also ein Tagebuch zu schreiben, das eine Übersicht über sein früheres Leben geben soll.

Um die Schatten der eigenen Nichtigkeit loszuwerden, unternimmt er der Versuch, nach langer Abwesenheit unerkannt und verwandelt in die Heimat zurückzukehren. Dies schlägt jedoch fehl. Er muss ins Gefängnis. Später kommt der Symbolgehalt des Namens „Stiller“ zum Tragen. Auf einem Landgut fristet er sein Leben: verstummt, zurückgezogen, allein.33

Im Stiller schlagen sich Erfahrungen mit Amerika der 50er Jahre und des Kalten Krieges nieder. Frisch arbeitete an dem Roman Stiller (damaliger Arbeitstitel: Was macht 32 Frisch, M.: Stiller Band III., S. 361. 33 Kästler, R.: Max Frisch. Homo Faber, S. 13.

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ihr mit der Liebe) im Jahre 1951/52 während seines einjährigen USA- und Mexiko- Aufenthaltes, dann hörte auf und beendete es im Jahre 1954. Es geht um das Bestreiten der eigentlichen Identität, um das Geheimnis um die Identität des Protagonisten. Er will seiner alten Existenz entfliehen, es ist eine Flucht vor sich selbst. Er ist mit seinem Leben unzufrieden und möchte ausbrechen. Dieses Ausbrechen-Wollen aus dem eigenen Leben trägt durchaus autobiographische Züge. Im Stiller har Frisch eine Figur konzipiert, die wesentlich mehr Eigenschaften besitzt, sich wandelt und überhaupt äuβerst „schwierig“ ist, weshalb die Wahl des eigenen Ich in einem komplizierten und lang dauernden Prozess erfolgt. Dem Romanleser werden zwei selbst betroffene Figuren mit Stillers Geschichte durch Stiller-White und durch den Staatsanwalt angeboten. Die Gesellschaft erwartet, dass der Einzelne so ist, wie die anderen ihn sehen. Es ist objektiv richtig, der Betroffene (Stiller-White) akzeptiert diese Identität nicht. Stiller versucht vergeblich, unter dem bezeichnenden Namen White (unbeschriebenes Blatt) ein neues Leben anzufangen. Er nutzt seine neu gewonnene Eigentlichkeit dazu, ihn aus der Abhängigkeit von anderen zu lösen, vor allem von Julika. Sie stellt eine Bedrohung für Stiller-White´s Identität dar. Er will seiner Identität als Kämpfer auf der Seite der Spanischen Republik, als Ehemann, als Liebhaber und als Künstler entfliehen. Er schafft seine neue Identität und wird dadurch ein neuer Mensch. Man hat ihn in seine Rolle, in sein uneigentliches Dasein gedrängt, man hat ihn zu seiner eigentlichen Identität verurteilt. Man zwingt ihn, seine alte Rolle wieder anzunehmen.

Die Welt hat sich ein bestimmtes Bildnis von ihm gemacht, und bei diesem behaftet sie ihn für alle Zeiten, aus diesem Bildnis entlässt sie ihn nicht. Sie zwingt ihm eine Rolle, eine Maske auf, die er sich krampfhaft abzuwerfen bemüht. Die Schwierigkeit, sich aus dem Bildnis zu befreien, das sich die Umwelt von einem Menschen gemacht hat, formuliert Frisch im „Gantenbein“ mit Worten: „Triff einmal den Nagel, woran dein Bildnis hängt! Ich verbrauche vier Patronen, bis das Bildnis auch nur baumelt.“34

Stiller erzählt dem Wachbeamten Knobel die Geschichte über Rip van Winkle. Rip van Winkle hängt stofflich wie thematisch mit Stiller zusammen. Eine Ehe- und Heimkehrgeschichte ist auch das Märchen von Rip van Winkle, das Frisch von Washington Irving übernommen und für seine Zwecke leicht verändert hat. Der Heimkehrer nennt sich in diesem Märchen nicht White, sondern Rip van Winkle, wodurch 34 Stäuble, E.: Max Frisch. Gedankliche Grundzüge in seinen Werken., S. 21.

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eine parabolische Spiegelung entsteht. Die Ausgangssituation ist in beiden Geschichten ähnlich. Stiller erkennt sich in Rip van Winkle wieder. Wie dieser ist er in den Augen der Gesellschaft ein Versager, während seine Frau, ebenso wie Julika, von allen bedauert und bewundert wird. Während aber der heimkehrende White wider seinen Willen sofort als Stiller identifiziert wird, bleibt van Winkle selbst gegenüber seiner Tochter unbekannt. Rip van Winkle gelingt es praktisch wider Willen, was Stiller mit allen seinen Kräften vergeblich anstrebt: Er kehrt als Unbekannter, als Fremder in sein Dorf zurück. Der Roman Rip van Winkle ist ein Hörspiel über dem Bildhauer Anatol Wadel. Er ist verheiratet mit Julika, kehrt als Rip van Winkle aus Amerika zurück, wird verhaftet und muss – trotz Verständnisses des Staatsanwalts – vors Gericht die alte Identität wieder annehmen. Die Geschichte, die Stiller seinem Wachbeamten erzählt, ist ein bisschen anders, Rip van Winkle geht mit seinem Hund in den Wald, er hört besondere Geräusche. Er findet ein paar Männer, die Kegel schieben, geht dorthin und muss sie bedienen. Später wacht er auf und bemerkt, seinen Hund gibt es dort nicht mehr, nur Gebeine. Er hat einen langen Bart, wie er sehr lange geschlafen wäre. Er kommt in sein Dorf, findet seine Tochter, die schon erwachsen ist. Er begreift jetzt, dass er wirklich sehr viele Jahre muss geschlafen haben. Als Niederlage versteht der Held, dass er am Fluss Tajo während des Spanischen Bürgerkriegs nicht geschossen hat. Er interpretiert seine Hemmungen in einer militärischen Situation als Beweis für eine eingeschränkte Männlichkeit. Um sein Selbstgefühl zurück zu gewinnen, wählt er Julika. Mit seiner Begabung ist es nicht allzu weit her – dies alles führt zum Verlust seiner Identität. Der Held beginnt aufs neue, Julika zu lieben, will mit ihr zusammenleben und so seine Identität unter Beweis Stellen. Beim Gericht wird festgestellt: White ist Stiller, aber der Roman stellt eine wichtigere, erheblichere Frage - wer eigentlich dieser Stiller ist und was die objektive Wahrheit bedeutet. Frisch lässt die letzte Wandlung des Protagonisten im Stiller von einem neu eingeführten Erzähler (Rolf) schildern. 6.2 Faber

Das Beiwort faber bedeutet geschickt, kunstfertig; faber als Hauptwort heiβt Arbeiter, Handwerker. „Homo faber“ ist (heute aus gesehen) der Mensch der exakten Wissenschaft und Technik; er beobachtet, misst und wägt; er zieht Schlüsse, fällt Entschiede und erlässt den je entsprechenden Befehl; er hält so viel vom Wissenkönnen und vom Wissen, vom

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Zusammenfügen und Errichten, dass dagegen (für ihn) das Wachsen und die Gestalt eher verdächtig als vertrauenswürdig werden.35

Die Frage, wieweit es dem Menschen gelingt, seine Identität in einer technisierten Welt zu bewahren oder wieder zu finden, musste im Zeitalter der Atombombe aktuell wirken. Die Motive dieses Romans sind die jüdische Studentin, die im Grunde nicht heiraten will und der sich unfertig fühlende junge Mann, der am Anfang seines zweiten Studiums steht. Im Unterschied zu Stiller, der über sein Leben so erzählt, als wäre das ein Leben jemand anderen, denn er will es nicht akzeptieren, hat Faber keine Probleme über sein Leben zu sprechen. Erst am Ende beginnt sein Leben zu zerfallen, dann hat er auch Schwierigkeiten, sich auszudeuten. Mit Stiller verbindet Homo faber die Konzeption, das Geschehen von einer fiktiven Figur berichten zu lassen. Walter Faber ist anfangs ein rationaler Mensch, der glaubt, alles basiere auf Wissenschaft. Das Leben sei vollkommen erklärbar und nichts entstehe aus dem Zufall. „Ich bin nun einmal ein Typ, der mit beiden Füβen auf der Erde steht.“36 Genau diese Einstellung Fabers ändert sich im Laufe des Buches, hervorgerufen durch mehrere Ereignisse. Der Ingenieur sieht dies auch am Ende des Buches ein, und nimmt Zufall und Tod in seine Welt auf. Man kann drei Handlungsphasen unterscheiden. Die erste Phase („Erste Station“) umfasst die Ereignisse zwischen 1933 (Assistentenzeit Fabers an der ETH Zürich) und dem 4. 6. 1957 (Sabeths Tod) und wird als Retrospektive in Caracas vom 21. 6. bis 8. 7. nacherzählt. Die zweite Phase, durch Tagebuchaufzeichnungen per Schreibmaschine festgehalten, dauert vom 8. 6. 1957 bis zum 18. 7. 1957 – Faber fliegt nach New York, Caracas, Cuba und reist über Düsseldorf und Zürich nach Athen zurück. Die dritte Phase, durch handschriftliche Tagebucheintragungen (kursiv) festgehalten, dauert vom 19. 7. 1957 bis etwa zum 25. 7. 1957, diese Notierungen stammen ausschlieβlich aus den letzten Lebenstagen Walters, die er in der Klinik in Athen verbringt. Wenn Mittagsruhe angesagt ist, darf Faber nicht die Schreibmaschine benutzen, seine handschriftlichen Notizen aus diesen Stunden unterbrechen den Bericht. Die Wiedergabe der Schichten und Phasen erfolgt nicht in chronologischer Reihenfolge, daraus ergibt sich die Schwierigkeit für den Leser, das alles genau zu durchschauen – die Verschränkung der einzelnen Phasen

35 Kästler, R.: Max Frisch. Homo faber, S. 57. 36 Frisch, M.: Homo faber, 1957, S. 66.

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miteinander. Der Romanschluss bleibt insofern „offen“, als der Leser den Ausgang der Operation nicht erfährt. Impliziert wird freilich, dass Faber sie nicht überlebt. Die Ursprünge dieses Romans reichen bis in die 30er Jahre zurück. Frischs Beziehung zu einer deutschen Jüdin Käte aus Berlin vor dem Ausbruch des zweiten Weltkriegs bildet das Modell für die Beziehung Fabers zu Hanna. Er nannte sie „Schwärmerin und Kunstfee“37, sie nannte ihn dagegen „Homo faber“38. Obwohl Faber viele Frauen in seinem Leben kennen gelernt hat, bleibt Hanna für ihn die Einzige, die er wirklich liebte. „Nur mit Hanna ist es nie absurd gewesen.“39 Eine der Personen, die einen ähnlichen Schicksaal wie Walter hat, ist zum Beispiel Hinkelmann, der in dem Roman J´adore ce qui me brûle oder die Schwierigkeiten, der Fortsetzung des Romans Jürg Reinhart. Eine sommerliche Schicksalsfahrt., auftritt, ein junger Archäologe, der nicht weiβ, was er damit anfangen soll, dass seine Gattin ihn verlassen hat. Walter wie Reinhart kennen nur ihre Arbeit und damit verbundenen Erfolg und jetzt geraten sie in ein neues Leben, sie erkennen neue Erlebnisse wie Liebe, Enttäuschung. Es sind zwei Seiten der Person zu erkennen, und zwar die mathematische und die musische. Zu Beginn des Romans ist Homo Faber ein vollkommen rationaler Mensch. Er ist Techniker, glaubt daher alles basiere auf Wissenschaft und das Leben sei vollkommen erklärbar. Nichts entsteht aus dem Zufall und kaum etwas liegt ihm ferner als die Existenz von Schicksal. Durch zahlreiche Ereignisse ändert Faber genau diese Einstellung im Laufe des Buches. Am Ende nimmt er Zufall und Tod in seine Welt auf. Er empfindet Schuld am Tod seiner Tochter und auch gegenüber Hanna, ihr Leben zerstört zu haben. Durch den verfassten Bericht versucht Faber Rechenschaft abzulegen. Gedanken an Hanna füllen Faber aus, als er auf dem Schiff nach Europa auf ein junges Mädchen trifft, dessen Ähnlichkeit mit Hanna unübersehbar ist. Faber leugnet diese Ähnlichkeit und es kommt zum Inzest zwischen den beiden, worüber das Mädchen nie erfährt. Vielleicht hat Faber sie nie liebte, sie ist für ihn nur eine Frau, die ihn an seine groβe Liebe erinnert. Das kann auch einer der Grunde sein, warum er mit ihr zusammen ist, denn Hanna war so alt wie sie, wenn Faber sie heiraten wollte. Im Tode Sabeths findet Frischs bittere Distanziertheit den angemessenen Ausdruck. Gerade weil er in der Gestalt dieses Mädchens einen schuldlosen Menschen gebildet hat, ist die Opferrolle 37 Frisch, M.: Homo faber, 1957, S. 53. 38 Ebd., S. 53. 39 Ebd., S. 114.

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gewissermaßen vorbestimmt. Sie ist sichtlich ein Kind ihrer Zeit, vom Modeschmuck bis zur Cowboyhose, den geschmacklos grünen Kamm in der hinteren Hosentasche. Ihre beruflichen Wünsche sind altersgerecht verworren: Kinderärztin, Kunstgewerblerin, Stewardess. Das Verhältnis zu ihrem Vater ist nicht das zwischen geilem Verführer und willenlosem Opfer. Jedoch schwingt von Beginn an ein merkwürdiges Interesse aneinander mit. Faber sei „ein verhinderter Mensch“, Frisch meint mit der Formulierung, dass sich Faber einer Vorstellung vom modernen, technisch geprägten Menschen anpasst, ohne zunächst zu merken, dass er sich damit von sich entfernt. Das Technische verhindert das Menschliche, aber das bedeutet nicht, dass die Technik selbst dem Menschen sein Wesen entziehe. Die Zufälle, die Frisch im Homo faber häuft, erhalten ihren Sinn für Faber dadurch, dass sie sein Fehlverhalten als Ausdruck des technisch orientierten Denkens aufdecken. Er möchte an seinem technisierten Weltbild, in welchem der Glaube an Zufälle und Gefühle keinen Raum findet, festhalten. Er endet in der Katastrophe. Er schreibt alles dem Zufall zu. Die Fülle der Zufälle erhält seinen Sinn, die Zufälle werden zu einem Schicksal. Ironie des Schicksals, dass gerade dieses Kind, von dessen Existenz Faber nichts wissen konnte, da er annehmen musste, Hanna habe, ihrer Situation als Jüdin Rechnung tragend, einen Eingriff vornehmen lassen, ein echtes Erlebnis in ihm auslöst, das zum Inzest führt und damit zur Absurdität. Es ist ein Zufall, der Sabeths Leben vernichtet. Wahrscheinlichkeit, die in der Mentalität Fabers begründet liegt, bestimmt im Wesentlichen auch das, was sich in der Romanhandlung durch unwahrscheinliche Zufälle realisiert. Ähnlich wie die Schweiz im Stiller den Charakter eines gesellschaftlichen Modells annimmt, darf „The American Way of Life“ im Homo faber nicht als geographisch-staatlich gebundene Erscheinung missdeutet werden. Es geht vielmehr um eine Lebensweise, die der gesamten westlichen Industriewelt zuzuordnen bleibt. Walter Faber hat - mit nicht unwesentlicher Hilfe des Zufalls - das Leben von zwei Menschen vernichtet. Der Preis, den er dafür zahlen muss, ist hoch - wahrscheinlich sein eigenes Leben. Dennoch hat sich dieser Techniker in einen Menschen verändert, der natürlicher ist als die meisten von uns. Die Wandlung hat ihn fähig gemacht zu erleben, sie wird im letzten Flug über die Alpen bestätigt:

[…] die Wolken: wie Watte, wie Gips, wie Blumenkohl, wie Schaum mit Seifenblasenfarben, […] manchmal ein Wolkenloch, in der Tiefe: ein schwarzer Wald, ein Bach, der Wald wie ein Igel, aber nur eine Sekunde lang, die Wolken schieben sich

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durcheinander, Schatten der oberen Wolken auf den unteren Schatten wie Vorhänge, wir fliegen hindurch, Gewölk in der Sonne vor uns: als müsse unsere Maschine daran zerschellen, Gebirge aus Wasserdampf, aber prall und weiβ wie griechischer Marmor, körnig -40

40 Frisch, M.: Homo faber, 1957, S. 227.

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7 Zusammenfassung Die Ehe von Anatol und Julika endet tragisch, trotzdem ist die Lektüre des Romans aufgrund der Fabulierlaune des Autors und seiner hintergründig witzigen Erzählerweise auch ein auβergewöhnliches Vergnügen. In der Ironie, im satirischen Lachen sieht Frisch eine Waffe gegen die bürgerliche Weltordnung, in der er zu einer inneren Emigration verurteilt ist, die aber für ihn unaufhörlichen Kampf für die Würde und das Recht des Menschen bedeutet. Im Stiller wiegt die Auseinandersetzung mit der Gesellschaft und mit dem Staat vor. Stiller war nicht in der Lage, seine eigene Identität zu finden. Seine Identitätskrise verläuft über verschiedene Entwicklungsstadien. Die Kernaussage des Buches ist, dass es unmöglich ist, durch das Annehmen einer neuen Identität eine neue Person zu werden. „Man schneidet eine Kartoffel zurecht, bis sie wie eine Birne aussieht, dann beiβt man hinein und empört sich vor aller Öffentlichkeit, dass es nicht nach Birne schmeckt, ganz und gar nicht!“41 Die Geschichte über Walter Faber veranschaulicht die Widersprüchlichkeit der Technik und des Mythos, welche auch alle Menschen in sich vereinen und mit der sie sich zurechtfinden müssen. Im Laufe unserer Existenz müssen wir uns stets mit Schwierigkeiten herumschlagen und Entscheidungen treffen, die unsere Zukunft beeinflussen, sei es in positiver oder negativer Hinsicht. Doch ohne Technik und Mythos gäbe es kein Leben, das wir kennen - denn unser Bestehen basiert unter anderem auf Fortschritt und Zufällen. Im Zentrum der beiden Texte steht die Frage nach der Identität des Protagonisten. Diese Identität ist, dem allgemeinen Muster des Romans zufolge, nur durch Entwicklung zu gewinnen. Im Homo faber führt die Entwicklung der Hauptfigur zu ihrem Untergang. Anatol Ludwig Stiller will seine Rolle durch die Flucht entgehen, indem er versucht, die Identität seiner Person zu leugnen. Walter Faber, der Techniker, der Pragmatiker, glaubt, der Welt sein technokratisches Denken gegenübersetzen zu können. Erst angesichts des Todes nimmt er wahr, dass er sein Gesicht verloren hat und nur noch Maske ist. Hinter der Maske stellen die Helden die Frage nach „dem Menschen“, aber auch „der Mensch“, „das Individuum“ wird schlieβlich zur Rolle, der bürgerliche Intellektuelle spielt „den Menschen“.

41 Frisch, M.: Aus einem Tagebuch und Reden, S. 51.

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„Jeder leidet an seiner Rolle, ringt mit ihr, ohne ihr entkommen zu können.“42 42 Steinmetz, H.: Max Frisch: Tagebuch, Drama, Roman., S. 65.

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8 Literaturverzeichnis PRIMÄRLITERATUR Frisch, Max: Aus einem Tagebuch und Reden. Berlin: Verlag Volk und Welt, 1974. Frisch, Max: Gesammelte Werke in zeitlicher Folge. Band III. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1976. Frisch, Max: Homo faber. Berlin: Volk und Welt, 1973. Frisch, Max: Deník 1946-49. Praha: ERM, 1995. Frisch, Max: Homo faber. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1957. Frisch, Max: Homo faber. Praha: Nakladaletství Josefa Šimona, 1996. Frisch, Max: Homo faber. Žilina: Smena, 1989. Frisch, Max: “Ich stelle mir vor“. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1995. Frisch, Max: Mé jméno budiž Gantenbein. Praha: Mladá fronta, 1967. Frisch, Max: Stiller. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1954. Frisch, Max: Stiller. Praha: Odeon, 1970. Frisch, Max: Stücke. Leipzig: Philipp Reclam Jun, 1973. SEKUNDÄRLITERATUR Gern, Marc Henrik: Identität, Individualität und Alterität in William Goldings Romanen. Tübingen: Universität Tübingen, Neuphilologische Fakultät, Dissertation, 2000. Hain, Hildegard: Max Frisch. Homo faber. München: Mentor Verlag, 1995. Heidenreich, Sybille: Max Frisch. Homo faber. Hollfeld: Beyer Verlag, 1998. Holoušková, Drahomíra: Jak psát diplomové a závěrečné práce. Olomouc: Univerzita Palackého, 2000. Kästler, Reinhard: Max Frisch. Homo Faber. Hollfeld: C. Bange Verlag, 1987. Knapp, Mona: Max Frisch. Homo faber. Frankfurt am Main: Moritz Diesterweg, 1987. Knauber, Martin: Reduktionismus und personale Identität. Köln: Universität zu Köln, Philosophische Fakultät, Dissertation, 2001.

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Meurer, Reinhard: Max Frisch. Homo faber. München: Oldenbourg, 1997. Nekuda, Jaroslav: Jak (ne)napsat závěrečnou práci. Brno: Masarykova univerzita, 1993. Petersen, Jürgen, H.: Max Frisch. Stuttgart: J. B. Metzler, 1989. Rothenbühler, Daniel: Max Frisch. Stiller. Hollfeld: C. Bange Verlag, 2004. Stäuble, Eduard: Max Frisch. Gedankliche Grundzüge in seinen Werken. Basel: Friedrich Reinhardt Verlag, 1967. Steinmetz, Horst: Max Frisch: Tagebuch, Drama, Roman. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1973.

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