Ian McEwan
Der britische Schriftsteller Ian McEwanhat durch Werke wie The
Cement Garden undAmsterdam, für das er im Jahre 1998 einenBooker
Prize gewann, einen Namen in derLiteraturszene. Seine Romane
zeichnensich durch eine gewisse Skurrilität aus, diebereits in
seinem Erstlingswerk First Love,Last Rites, eine
Kurzgeschichtensammlung,prominent war. Aufgrund
seinesherausragenden Schreibstils und den meistsexuellen,
provokativen Themen wurdenauch Filmemacher auf ihn aufmerksam.
Sowurden mittlerweile drei seiner Werke mitStarbesetzung verfilmt:
Atonement (mit KeiraKnightley und James McAvoy), On ChesilBeach
(mit Saoirse Ronan, die als Kind auchin Atonement die Rolle der
Briony spielte) undThe Children Act (mit Emma Thompson). Mitdem im
Jahre 2016 publizierten RomanNutshell landete McEwan erneut
einenVolltreffer und überzeugt gerade durchseinen eher
ungewöhnlichen Erzähler.
Erzählt wird der Roman von einem neunMonate alten, eloquenten,
philosophischen,(selbst)reflektierten, namenlosen Fötus: "Sohere I
am, upside down in a woman. Armspatiently crossed, waiting and
wonderingwho I'm in, what I'm in for" (1). Angesetztim heutigen
Großbritannien erfährt der
Fötus von seiner Familienstruktur, in derseine Mutter Trudy und
sein Onkel Claudeden Mord an seinem Vater planen. Damitzeigt der
Roman starke Referenzen zuShakespeares Drama Hamlet, was auchdurch
die Namensgebung der FigurenTrudy und Claude hervorgehoben ist.
Dadas Kind noch im Mutterleib ist, verlässt essich auf seinen
Hörsinn und erfährt durchdiverse Medien, wie dem Radio,
denNachrichten und Podcasts, von seinerAußenwelt und potenziellen
Zukunft. Vondem Mordplan erfährt es ebenfalls nur, weiles
Gespräche, mehr oder minderunfreiwillig, mithört: "I have no
choice, myear is pressed all night and day against thebloody walls.
I listen, make mental notes,and I'm troubled. I'm hearing pillow
talk ofdeadly intent and I'm terrified by whatawaits me, by what
might draw me in" (1).
Durch seine physische Lage im Mutterleibist der Fötus in seiner
Handlung starkeingeschränkt: "Space! She could come inhere, where
lately I can barely crook afinger" (15). Das einzige, was ihm
bleibt, ist,seiner Mutter einen Tritt zu verpassen, umin das
Geschehen einzugreifen. Agenzialitätspielt demnach eine große Rolle
in demRoman, denn sie trägt einen Großteil zurIdentitätsbildung des
Fötus bei: Für ihn
gerade dieser Ansatz Mittel zum Zweck,Mittel zur
Selbstreflektion. Der Fötus stehtdemnach für das moderne Subjekt,
das sicheinerseits als autonom versteht, andererseitsaber von
politischen, religiösen undethischen Diskursen und Fragen
umgebenist und von ihnen zwangsläufig beeinflusstwird. Indem McEwan
Hamlet als Vorlagefür seinen Roman heranzieht, greift er nichtnur
auf die prominentenMotive des Werkeszurück, sondern auch auf
bekannte Inter-pretationen, wie dem Ödipus-Komplexoder dem
Humanismus, die SchakespearesDrama zugeschrieben werden
undmittlerweile schwer von ihm zu separierensind. Nennenswert ist
zudem, dass McEwanmit dem Roman – gerade imZusammenhang mit dem
Ver-öffentlichungsjahr 2016 – die Brexit-Debatte zu kommentieren
scheint. Er setztein Statement. So wird beispielsweise dieTrennung
von Europa in der Mutter-Kind-Beziehung widerspiegelt: Sich
trennen,oder nicht trennen – das ist hier die Frage.
Was macht den Roman also so besondersund anziehend für die
Leserschaft? Es ist dieKombination seiner Merkmale: Der
eherungewöhnliche Erzähler und dessenErzählweise, die
Hamlet-Referenzen sowiedie diversen politischen und ethischen
Themen. Mit Nutshell stelltMcEwan erneut seineSchreibkunst unter
Beweis. Erbleibt seinem Stil treu und zeigtdurch provokante Ansätze
sowiedem Spiel mit der Sprache, dassdieser Roman durchaus zu
seinemOeuvre beiträgt. McEwan gelingtes, eine Brücke zwischen einem
imKanon etablierten Werk undaktuellen Diskursen (Brexit
lässtgrüßen!) zu schlagen.
bedeutet Agenzialität 'Sein'; ohne sie hat erkeine
Daseinsberechtigung.So fühlt er sichschließlich dazu verpflichtet,
den Mord anseinem Vater zu verhindern.
Viele Themen, die im Hamlet-Stoff zufinden sind, werden im
Romanaufgegriffen. Hamlets Zweifel undNachsinnen, die gerade durch
dieFamilienstruktur hervorgerufen werden,sind beim Fötus
wiederzufinden. McEwanverlagert Hamlets berühmtes Zitat "to be,or
not to be – that ist he question" auf einewörtliche Ebene: Entweder
man wird ineine Welt geboren, in der es keineZukunftsperspektive zu
geben scheint, oderman bleibt in seinem schützenden Kokon:"Free
speech no longer free, liberaldemocracy no longer the obvious port
ofdestiny, robots stealing jobs, liberty in closecombat with
security, socialism in disgrace,capitalism corrupt, destructive and
indisgrace, no alternatives in sight" (27).
Bemerkenswert ist, dass McEwan nicht nurmit diesen Themen und
Diskursenjongliert, sondern sie auch bewusstgegeneinander ausspielt
und somit ihreAktualität hinterfragt. Er hält derGesellschaft einen
Spiegel vor und schafftgleichzeitig Distanz durch die Verwendungvon
Wortspielen und Stilmitteln, wie Ironieund Übertreibung: "Until
then,myplan was to arrive as a freebornEnglishman, a creature of
the postEnglish-as-well-as-Scottisch-and-French Enlightenment"
(144). DieSprache des Fötus zusammen mitder Tatsache, dass er
nochungeboren ist, tragen zumhumorvollen, ja sogarparodistischen
Ton des Romansbei. Die Erzählweise wirkt skurril,fast schon grotesk
– allerdings ist