HUNDERT JAHRE EDITH PIAF IHRE LIEDER IN DEUTSCHLAND Wenn der „Spatz von Paris" pfiff, hatte die Literatur Pause. Anders als bei Jacques Brei oder Boris Vian finden wir in den Liedern Edith Piafs weder subtile Andeutungen noch mehrdeutige Wort- spiele. Dennoch stehen ihre Chansons über das kurze Glück und den langen Schmerz der Liebe, der den feinen Milord so trifft wie das Straßenmädchen, noch ein halbes Jahrhundert nach ihrem Tod hoch im Kurs. Nicht nur in Frankreich wie bei Patricia Kaas, gerade in Deutschland entschei- den sich in frankophilen Programmen viele für das Piaf-Repertoire. Denn wer ohne Französisch- kenntnisse etwa ein Brassens-Chanson hört, wird sich allein an der Melodie kaum berauschen können. Die Musik der Piaf-Komponisten dagegen bezaubert mit dem Musettecharme der Vor- städte wie der Kraft des Tangos, mit der Wut der Revolutionslieder wie der Leichtigkeit der Music Halls. TEXT: STEPHAN GÖRITZ 6.15 FOLKER »DASS DIE TEXTE NICHT SO DER KNALLER SIND, MERKT JA HIER FAST KEINER.« Marie Giroux „Dass die Texte ihrer Autoren nicht so der Knaller sind, merkt ja hier fast keiner", bekun- det Marie Giroux mit sympathischer Offenheit. Die in Avignon geborene Mezzosopranistin begeistert sich neben der Oper vor allem für das Chanson. Zum hundertsten Geburtstag der Piaf hat sie in ihrer Wahlheimat Berlin im Theater O-Tonart das Programm „Madame Piaf - Enttarnung einer Diva" herausgebracht. Zusammen mit der Pianistin Jenny Schäuffelen und der Cellistin Frederique Labbow zeigt sie, dass diese Lieder in minimalistischen Arran- gements sogar wirkungsvoller sein können als mit großem Orchester. Zwischen den Chansons widmen sich die drei dem turbulenten Liebesle- ben der Piaf. Das ist zwar nicht so unbekannt, wie das Wort „Enttarnung" im Programmtitel glauben machen will, doch die ironische Art, das Leben der Diva auseinanderzunehmen, ver- fehlt nicht ihre Wirkung. »ZU PIAF TANZTEN DER GANOVE WIE DIE CONCIERGE, DAS DIENSTMÄDCHEN WIE DER PATRON.« Cecile Rose Wenn die ebenfalls in Berlin lebende Französin Cecile Rose mit den ukrainischen Musikern des Trio Scho Piaf singt, interessieren sie nicht deren Affären, sondern die Wirkung der Chan- sons, die oft auf den Pariser Volksbällen gespielt wurden. Bei diesen „Bals Perdus", nach denen Cecile Rose ihr Programm mit Liedern von Piaf und anderen benannt hat, traf sich, wer sonst in seiner Welt verharrte. „Zu Piaf", versichert sie, „tanzten der Ganove wie die Concierge, das Dienstmädchen wie der Patron." Evi Niessner Foto: Katharina DL Wie Marie Giroux ahmt auch Cecile Rose den Spatz von Paris nicht nach, doch für vie- le Piaf-Sängerinnen stand am Anfang ihrer Bühnenarbeit mit diesen Chansons das Nach- spielen. Denn sie gaben die Piaf in einem der biografischen Theaterstücke, die ihr Leben als Bilderbogen aus Legenden und Anekdoten vor uns ablaufen lassen: von der Gossenkindheit als Tochter eines Straßenakrobaten bis zum dro- gensüchtigen Wrack, das seine Sehnsucht nach Liebe vom Eiffelturm hinab in die Welt schreit. Auch Evi Niessner, zusammen mit ihrem Büh- nen- und Lebenspartner Mr. Leu bekannt als Evi & das Tier, stand in der Rolle der Piaf auf der Bühne. In ihrem später entstandenen Lie- derabend „Chanson Divine" zitiert sie bewusst nur noch ausgewählte Gesten der Piaf, wie etwa die ständige gebückte Haltung. Gelegentliche phonetische Unsauberkeiten macht Niessner wett durch ihr genussvolles Spiel mit Möglich- keiten. So bringt sie ein Chanson, das Piaf nie gesungen hat, Kurt Weills Hymne auf „Youka- li", die Trauminsel aller Vertriebenen, und stellt sich vor, dass er dieses Lied bestimmt für sie geschrieben hätte - wenn, ja wenn er 1933/34 im Pariser Exil der noch jungen Edith begegnet wäre. Katharine Mehrling gab die Chansonikone 1998 am Staatstheater Kassel ebenfalls zunächst als Stückfigur. Doch gepackt war sie von der Piaf Cecile Rose und Trio Scho_Foto: Nicole Doge Marie Giroux & Jenny Schäuffelen Foto: Steffi Henri schon während ihres Musical- und Schauspiel- studiums. Sie suchte in Paris die große Freiheit und fand sie natürlich nicht. Auch nicht, als sie, wie sie schmunzelnd erzählt, selbst einmal probierte, auf der Straße zu singen. Inzwischen hat sie jede Imitation der Piaf hinter sich gelas- sen und interpretiert deren Lieder auf eigene Art, mal mit saalfüllendem Pathos, mal intim verhaucht, immer authentisch. In der Berliner Bar jeder Vernunft überzeugte sie mit einem swingenden Sextett, für Dezember ist in der Komischen Oper eine neue Version dieses Piaf- Abends mit siebzig Orchestermusikern geplant. Fast alle, die heute Piaf singen, tun das auf Französisch. Ausnahmen lassen oft so kalt wie Ina Deters „Milord"-Übertragung. Die bleibt selbst in der Neuinterpretation durch Kathari- ne Mehrling ein zwar ordentlich gereimter, aber banaler Text über eine Zufallsbegegnung in einem Hafenbordell. Wie Mehrling mit diesem Lied einen Zuschauer zum Mitsingen bringt, ist spannender. Doch manchmal sollte man auch Piaf aufs Wort folgen. Die einst von Rainer Werner Fassbinder entdeckte Schauspielerin und Sängerin Ingrid Caven fand vor allem in bei uns unbekannten frühen Piaf-Chansons wie „L'Etranger" oder „Je Sais Comment" erzählenswerte Geschichten, die Mut machen, dem Kerker der Gewohnheit zu entfliehen. Wenn Caven Piaf singt, fragt man sich, ob die nicht vielleicht eine heimliche Fassbinder-Schwester gewesen ist. Mit ihren deutschen Versionen wurde Caven 1988 sogar in Paris gefeiert. Die Übertragungen stammen angeblich von Hanns und Herta Henneke. Dahinter verbergen sich Caven selbst und ihr FOLKER 6.15