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Nach ihrem normativen Leitbegriff eudaimonia, Glck, nenntman
Aristoteles Ethik eudmonistisch. Seit Kants entspre-chenden
Einwnden, insbesondere seit der Analytik derKritik der praktischen
Vernunft, gilt eine derartige Ethik als dis-kreditiert. Sie stelle,
so lautet die verbreitete berzeugung,die via antiqua der Ethik dar,
die durch die via moderna, durchKants Theorie der Autonomie oder
Selbstgesetzgebung desWillens, schlicht berholt sei. Wer auf die
heutigen Debattenblickt, sieht aber, wie im Vorwort erwhnt, eine
breite Zu-wendung zu Aristoteles, die oft schon auf eine
Rearistoteli-sierung der Ethik hinausluft.
Die Versuche einer Rearistotelisierung verfolgen
durchausunterschiedliche Absichten. Zum Beispiel geht es um die
Kri-tik am Projekt der Moderne. Getragen von einer Skepsis ge-gen
Aufklrung und Liberalismus, bezweifeln A. MacIntyre(1981, auch
1988) und andere der sog. Kommunitaristen(z. B. Ch. Taylor 1989 und
M. Walzer 1983) die Mglichkeiteiner geschichts- und
kulturunabhngigen Moralbegrn-dung; selbst fr die Gerechtigkeit gebe
es keine universalenPrinzipien. Gegen eine universalistische Moral
verteidigensie die gewachsenen Lebensformen einer
Gemeinschaft(community, daher der Name Kommunitaristen).
AufAristoteles berufen sie sich, weil er Wert auf die
Erziehunglege, auerdem vom gemeinsamen Guten der Polis
spreche,ferner von der Freundschaft unter ihren Brgern und von
denTugenden als Ausdruck des in der Tradition Vorgefundenen.
Im Ergebnis damit verwandt, aber unabhngig von
denKommunitaristen entwickelt, mit Hegels Gedanken der
sub-stantiellen Sittlichkeit im Hintergrund und zugleich als
Kri-
13Otfried Hffe
Ausblick: Aristoteles oderKant wider eine plane
Alternative
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tik der Traditionsvergessenheit in der Frankfurter Schule,trgt
O. Marquard (1986, 122 ff.) eine Apologie bewhrterTraditionen, der
blichkeiten, vor. (Vgl. auch W. Kluxens1974 Pldoyer fr eine
Ethos-Ethik.) Eine dritte Form derRearistotelisierung, die sog.
virtue ethics, betont das Gewichteines gefestigten Charakters, der
Tugend (dazu Chapman/Galston 1992, Hffe/Rapp 1996). Und H. Lbbe
1987 be-klagt, freilich ohne sich auf Aristoteles zu berufen, den
vonKant beeinfluten Triumph der Gesinnung ber die Urteils-kraft.
Nicht zuletzt rehabilitiert man, jetzt wieder im Namendes
Aristoteles, Theorien des guten Lebens oder der Lebens-kunst und
setzt sie gegen jene deontischen Moraltheorienscharf ab, die in der
Nachfolge Kants dem Sollen bzw. derPflicht einen entscheidenden
Wert beimessen.
Wie nicht anders zu erwarten, bleibt die Rearistotelisie-rung
nicht unwidersprochen. Gegen das Lob einer Moral,die an den Grenzen
einer Gemeinschaft haltmache, gegenden moralischen Partikularismus,
verteidigt man den Uni-versalismus Kants. Ohnehin knne man
moralische oder mo-raltheoretische Ratschlge nicht von einer
Theorie erwarten,die noch aus der alteuropischen Welt stamme.
Wer Aristoteles Ethik selber liest, tut sich mit vielen Mo-tiven
der heutigen Rearistotelisierung schwer. Aristoteles warweder ein
Ethos-Ethiker noch ein Kommunitarist noch einAnti-Kantianer avant
la lettre. Traditionen, die nicht vorab anallgemeinen
Verbindlichkeiten gemessen sind, partikulareblichkeiten, verteidigt
er nicht. Ohnehin erkennt er wich-tige Merkmale der Aufklrung, so
etwa den Verzicht auf einetheologische Moralbegrndung, in aller
Selbstverstndlich-keit an. Auerdem findet man auch bei ihm Elemente
des Sol-lens, die Tugend der Gerechtigkeit ohnehin, berdies
nimmtdiese im Rahmen der Tugenden eine Sonderstellung ein, dieeinem
Kantischen Theorem, dem Vorrang der Rechtsethikvor der Tugendethik,
verwandt ist. Auch wei Aristoteles, dadie eigentliche Freundschaft
viel zu selten ist, als da mandarauf die soziale Ordnung aufbauen
knnte. Noch in ande-ren Hinsichten stehen sich Aristoteles und Kant
nher, als esdie heute blichen Typologisierungen wahrhaben
wollen.Zum Beispiel spielt nicht nur bei Aristoteles die
Urteilskraft
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eine wichtige Rolle, sondern auch bei Kant, und dies nicht nurin
der entsprechenden Kritik der Urteilskraft, sondern ebensoin der
Ethik. Weiterhin kann man bei Kant vom guten Lebensprechen; und
einem gefestigten Charakter, der Tugend, mitauch er ein groes
Gewicht zu.
Da schon ein erster Blick auf die Texte Zweifel an den
heutebeliebten Antithesen weckt, ist es an der Zeit, sie zu
verab-schieden. Die Verkrzungen, die man teils mit
Aristoteles,teils mit Kant und oft genug sogar mit beiden Denkern
vor-nimmt, erlauben zwar eine rhetorisch brillante Polemik,auerdem
einen prophetischen Gestus, der zur moralischenund
moralphilosophischen Metanoia aufruft. Den tatschlichvertretenen
Positionen: ihrem gedanklichen Reichtum, ihrerebenso begrifflichen
wie argumentativen Schrfe und ihrerRckbindung an die moralische
Erfahrung, werden sie abernicht gerecht.
Um das Verhltnis von Aristotelischer und KantischerEthik neu zu
bestimmen, mu man zunchst einmal auf jeneParteilichkeit verzichten,
die sich a priori lediglich einen derbeiden Denker zum Vorbild
nimmt und fr den anderen nureinen oberflchlichen, zudem
mitrauischen Blick reserviert.Und gegen die Tendenz, selbst das
eigene Vorbild unzurei-chend, gewissermaen nur halbiert
wahrzunehmen, mu erhinter die Aristotelismen zu Aristoteles und
hinter die Kan-tianismen zu Kant zurckkehren. Die folgenden
berlegun-gen (vgl. Hffe 1990 und 1990a) setzen sich freilich ein
be-scheideneres Ziel. Zum Abschlu einer kooperativen Kom-mentierung
sollen wirkungsmchtige Gemeinpltze kritisiertund soll Aristoteles
Verhltnis zu Kant weniger einseitig skiz-ziert werden.
13.1 Kant als Aristoteliker
Wer sich von der unterschiedlichen Sprache nicht beirrenlt,
entdeckt zunchst eine Reihe von Gemeinsamkeiten.Durch sie erweist
sich Kant, auch ohne Aristoteles zu nennen,als ein Aristoteliker
durch die Tat. Beispielsweise erkennt erden Aristotelischen
Gedanken einer praktischen Philosophie
Ausblick 279
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an. Nirgendwo, weder in seinen beiden Vorbereitungsschrif-ten zu
einer systematischen Ethik, in der Grundlegung zur Me-taphysik der
Sitten und der Kritik der praktischen Vernunft, nochin der
systematischen Ethik selbst, der Metaphysik der Sitten,und noch
weniger in Abhandlungen wie etwa ber den Ge-meinspruch, Zum ewigen
Frieden und Der Streit der Fakultten,hlt er die Theorie der Moral,
einschlielich der Theorie derRechts- und Staatsmoral, fr einen
Selbstzweck. Im Gegen-teil verfolgt er zwar nicht ausschlielich,
aber doch wesent-lich ein praktisches, nherhin
moralisch-praktisches Ziel.Deutlich genug erklrt er in seinem
Programm, in der Vor-rede der Grundlegung zur Metaphysik der
Sitten, da er auchdeshalb eine reine Moralphilosophie suche, die
von allem,was nur empirisch sein mag [] vllig gesubert sei, weildie
Sitten selber allerlei Verderbnis unterworfen seien.Und zu den
Grnden dieser Verderbnis rechnet er eine un-klare, sogar falsche
Moraltheorie, jene nmlich, die genuinmoralische Prinzipien mit
empirischen Elementen ver-mischt. Weil also die Vermischung der
Reinigkeit der Sittenselbst Abbruch tue (ebd.), sieht sich Kant
gezwungen, dasMoralische in seiner Reinheit darzulegen, eben eine
reineMoralphilosophie zu bearbeiten.
Weiterhin handelt Kant genauso wie Aristoteles die prak-tische
Philosophie in zwei Disziplinen ab, die zwar wegen ge-meinsamer
Grundbegriffe in engem Zusammenhang stehen,aber trotzdem relativ
unabhngig voneinander bleiben. BeiAristoteles sind es die Ethik und
die politische Philosophie,bei Kant die beiden Teile der Metaphysik
der Sitten, die Tu-gendlehre und die Rechtslehre.
Fr die Ausarbeitung beider Teile bernimmt Kant Aristo-teles
Gedanken des typ(i), des Grundri-Wissens (vgl. Bei-trag Nr. 2.2).
Er stellt nmlich nur die normativen Grundele-mente vor und berlt
die konkrete Ausfllung den Han-delnden, dort, in der Tugendlehre,
den einzelnen Personen,hier, in der Rechtslehre, dem Gesetzgeber
und vor allem demVerfassungsgeber. Selbst dort, wo Kant sich eine
zu Aristote-les Tugend-Errterungen analoge Aufgabe stellt und
ein-zelne moralische Pflichten behandelt, untersucht er zwar
denmoralischen Kern der jeweiligen Pflicht, aber nicht mehr.
So-
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gar dort, wo er in der Tugendlehre der Metaphysik der Sit-ten
unter dem Titel Kasuistische Fragen einige sehr spezi-elle
Anwendungsfragen errtert, berlt er die situationsge-rechte
Anwendung dem jeweils Handelnden.
Eine weitere Gemeinsamkeit zwischen Aristoteles undKant: Beide
verzichten auf jede theologische Begrndung derMoral. Die von
manchen Theologen geforderte theo-nome,d. h. von Gott gesetzte
Moral wird nicht erst von Kant, son-dern schon von Aristoteles in
aller Selbstverstndlichkeit ver-worfen. Auerdem nimmt bei beiden
die Vernunft (Aristote-les: logos) eine zentrale Rolle ein, und
beide wenden sich ge-gen vor- und auervernnftige Faktoren, gegen
Affekt undLeidenschaft (Aristoteles: pathos) als letzte
Antriebskrfte.
Selbst mit diesen Elementen sind die Gemeinsamkeitennoch nicht
erschpft. Fr den Begriff der Tugend lehnt Kantzwar die
Mesotes-Lehre ab. Er drfte hier aber einemMiverstndnis erliegen, da
er glaubt, Aristoteles meine eineMittelstrae, also eine Art von
Kompromi zwischen zweiLastern, whrend in Wahrheit Tugend und Laster
sich nichtblo gradmig voneinander unterschieden, sondern in
ihrerQualitt (Metaphysik der Sitten, II. Tugendlehre: VI 404,
vgl.433). Nun hat fr Aristoteles (wie fr die Antike berhaupt)die
Mitte nicht blo die mathematische Bedeutung im Sinneines Punktes,
der von zwei gegebenen Punkten oder abervon gewissen Linien gleich
weit entfernt ist. Ebenfalls ge-meint ist etwas Vollkommenes, und
genau in diesem Sinn be-stimmt Aristoteles die Tugend als ein
Bestes (II 3, 1104b28)und als ein Hchstes (II 6, 1107a7 f.). Diese
Superlative zei-gen deutlich genug, da es nicht auf einen
gradmigen, son-dern auf einen qualitativen Unterschied ankommt;
gemeintist das Mittlere im Sinne einer Hchstform menschlicher
Exi-stenz.
Auch das andere Element des Tugendbegriffs, jenes Ele-ment, auf
das die Vertreter einer virtue ethics, einer Tugend-ethik, so groen
Wert legen, die Bedeutung einer verl-lichen Einstellung, erkennt
Kant problemlos an. Er definiertdie Tugend als eine berlegte und
feste Entschlieung (VI409). Zwar bringt er einen kleinen Vorbehalt
an und erklrt,wegen der mit Neigungen affizierten Natur des
Menschen
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knne die Tugend niemals sich in Ruhe und Stillstand set-zen (VI
409). Dieser Vorbehalt betrifft aber nicht den Wertder Einstellung,
sondern lediglich ihre volle Realisierbarkeit.Umgekehrt wei nicht
nur Kant den Wert einer moralischenGesinnung zu schtzen. Da die
(moralische) Tugend nur umihrer selbst willen anzustreben sei und
nicht etwa nur als Mit-tel zu einem auermoralischen Zweck, da sie
also, wie Kantfordert, in ihrer Reinigkeit und Strenge anzuerkennen
sei,verlangt auch Aristoteles. Angedeutet ist es schon in den
ge-nannten Superlativen; und ausdrcklich wird es zu Beginn
derAbhandlung ber die Gerechtigkeit gesagt, dort, wo Aristo-teles
der Gerechtigkeit drei Funktionen zuspricht. In einerschnen
Steigerung erklrt er, da man (a) durch sie zum Ge-rechten fhig sei,
(b) gerecht handle und (c) es berdies wolle(V 1, 1129a8 f.; vgl. V
1013). Danach gehrt auch bei Ari-stoteles zur Gerechtigkeit mehr
als blo jene bereinstim-mung mit dem Gerechten, die Kant als
juridisch und alsbloe Legalitt bezeichnet. Es bedarf zustzlich
jener freienZustimmung, durch die das Rechthandeln zur
Rechtsgesin-nung wird und bei der Kant von ethisch oder
Moralittspricht (Rechtslehre: VI 214). Analog heit es bei der
Unge-rechtigkeit, da man dort in einem mehr als zuflligen
Sinnungerecht handle, wo es aus der entsprechenden Haltungheraus
erfolge (V 13, 1137a22f.). Auch fr Aristoteles reichtes nicht aus,
mit einer gewissen Regelmigkeit richtig zuhandeln; man mu sich auch
daran freuen, das Richtige zu tun(II 2, 1104b3ff.; vgl. III 12,
1117a17). Eine Steigerung vonLegalitt zur Moralitt sehe ich auch im
Schlukapitel, dem-zufolge bei den meisten eine Erziehung zur Tugend
nurdurch entsprechende Gesetze mglich sei (X 10, 1179b4ff.);denn
eine Tugend durch Gesetze entspricht einerseits derLegalitt und
gilt andererseits als nur zweitbeste Beziehungzur Tugend.
Noch in einer weiteren Hinsicht deutet sich eine Gemein-samkeit
an. Kant unterscheidet Pflichten, deren Anerken-nung die Menschen
einander schulden, die Rechtspflichten,von den nur verdienstlichen
Tugendpflichten und gibt denersteren, den geschuldeten Pflichten,
den Vorrang vor denverdienstlichen Pflichten. Nun spricht
Aristoteles im Rah-
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men der Gerechtigkeit vom allotrion agathon (V 3, 1130a3; vgl.V
10, 1134b5), vom fremden Gut, was ich als ein Gut ver-stehe, das
dem anderen gehrt und auf das er folglich einenAnspruch hat. Damit
erscheint das, was die Gerechtigkeitverlangt, als geschuldet und
hat eo ipso Vorrang vor den ande-ren, nichtgeschuldeten
Tugenden.
13.2 Aristoteles Ethik ist universalistisch
In einem Punkt stimmen die kommunitaristischen Aristoteli-ker
und ihre kantischen Kritiker berein. Nach ihrer Ansichtfehlt
Aristoteles ein Universalismus, wobei die Kommunita-risten darin
einen Vorzug, ihre Kritiker dagegen einen Nach-teil sehen. Wie wre
es aber, wenn das Defizit gar nicht zu-trfe?
Bevor wir die Frage beantworten, mssen wir den ethi-schen
Begriff des Universalismus klren. Selbst in der ma-geblichen,
Kantischen Form sind nmlich zwei Stufen, einmoraltheoretischer und
ein moralischer Universalismus, zuunterscheiden.
Wer die Moral in ihrer Reinheit begreift, mu sie nachKant von
allem, was zur Anthropologie gehrt, vllig subern(Vorrede der
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten). KantsBegriff der Moral ist
daher nicht blo fr alle Menschen gl-tig; er reicht ber die Grenzen
unserer Gattung hinaus undbetrifft jederart Vernunftwesen. Aus
moraltheoretischenGrnden vertritt Kant einen transhumanen
Universalis-mus. So wie es in der heutigen Ontologie von
einigenGrundaussagen heit, sie seien in allen mglichen Weltenwahr,
so beansprucht Kant fr die Moral, genauer: so bean-sprucht gem Kant
die Moral selber, fr alle Vernunftwesenund in allen Vernunftwelten
gltig zu sein.
Zugunsten eines transhumanen Universalismus sprechendurchaus
beachtliche Argumente. Auch Aristoteles bean-sprucht zumindest fr
einen Teil der Ethik eine transhumaneGltigkeit, fr den bios
thertikos nmlich, der immerhin diehchste Form eines dem Glck
verpflichteten Lebens bedeu-tet. Da die wenigsten Menschen mit
reinen Geistern (En-
Ausblick 283
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geln) verkehren, zieht die heutige Ethik als Wesen, das
Ver-nunft und Willen hat (Grundlegung: IV 395), nur noch
denMenschen in Erwgung. Sie befat sich allein mit der Frage,ob der
Begriff und die Prinzipien der Moral fr die gesamteGattung Mensch
gltig sind oder lediglich fr gewisseGruppen, Gesellschaften oder
Epochen. Insofern bescheidetsie sich mit einem gattungsspezifischen
Universalismus.Ihm zufolge ist die Gltigkeit der Moral zwar auf
unsere Gat-tung eingeschrnkt; statt kultur-, traditions- oder
gemein-schaftsgebunden zu sein, macht die Moral aber vor
keinerleiGrenzen politischer, religiser oder sprachlicher
Gemein-schaften halt. (Da nur der Mensch vernunftfhig und daherauch
er allein moralfhig ist, schliet moralische Verpflich-tungen gegen
subhumane Wesen jedoch nicht aus; vgl. Hffe1993, Kap. 1213.)
Nach einem hartnckigen Vorurteil lt sich dieser Uni-versalismus
weder mit der klaren Zugehrigkeit zu einer be-stimmten Rechts- und
Staatsgemeinschaft noch mit kultur-spezifischen Elementen einer
Moral vereinbaren. Zum er-sten: Das Vorbild fr ethischen
Universalismus, Kant, setztsich zwar fr eine internationale
Rechtsgemeinschaft ein,diese lst die Einzelstaaten aber nicht auf,
sondern regelt de-ren Koexistenz rechtsfrmig. Und die zweite
Nichtverein-barkeit trifft nur unter der Voraussetzung zu, da sich
derUniversalismus auch auf die relativ konkreten Regeln er-streckt.
Zumindest Kant lehnt einen derartigen, extremenUniversalismus ab
und vertritt nur die bescheidenere Formeines
Prinzipienuniversalismus. Die im kategorischen Impe-rativ
enthaltene Universalisierbarkeit richtet sich im Fall derpersonalen
Ethik nicht auf irgendwelche Regeln, sondernlediglich auf die
letzten selbstgesetzten Grundstze einesHandelnden, auf seine
Maximen. Auch Kants Rechtsethikenthlt nur Aussagen einer hohen
Allgemeinheitsstufe, nurGrundstze.
Der heute in der Ethik magebliche Universalismus ist
eingattungsspezifischer Prinzipienuniversalismus. Weil dieserfr
unterschiedliche Anwendungen offenbleibt, lt er so-wohl auf der
personalen als auch der sozialen Ebene Eigenar-ten zu; mehr noch:
er erlaubt sogar extreme Eigenarten, er ist
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fr Exzentrizitten offen. Keineswegs lehnt er Traditionenoder
blichkeiten ab; er tritt nicht etwa an deren Stelle, wirdihnen aber
vorgeordnet. Die Traditionsvergessenheit, die an-geblich die
moralische Krise der Gegenwart mitverursacht,kann zwar einem
extremen Universalismus angelastet wer-den, aber weder dem
Universalismus als solchem noch seinermageblichen Form; Kants
Prinzipienuniversalismus ist so-wohl traditions- als auch
kontextoffen.
Die Offenheit hat freilich eine Grenze. Weil er den b-lichkeiten
ein Kriterium vorordnet, birgt der Universalismusein kritisches
Potential. Im wrtlichen Sinn von Kritik, hilfter sowohl bei
Personen als auch bei Institutionen, insbeson-dere bei Rechts- und
Staatsverhltnissen, legitime von il-legitimen blichkeiten zu
unterscheiden. Die Einstellungder Ehrlichkeit beispielsweise ist
nach Kant legitim, die derUnehrlichkeit aber auch dann illegitim,
wenn sie sich soweitdurchsetzen wrde, da man von einer blichkeit
sprechenmte. Als Staatsform hlt Kant die Despotie und als
zwi-schenstaatliche Praxis den Krieg fr verwerflich, whrend ersich
positiv fr die Republik einsetzt, die in etwa einemdemokratischen
Rechts- und Verfassungsstaat entspricht;schlielich verlangt er fr
die Koexistenz der Staaten unter-einander einen Friedensbund.
Bei Aristoteles entdecken wir beides: eine dem
Prinzipien-universalismus analoge Ethik und das dazugehrige
kritischePotential. Beides ist sogar derart klar gegeben, da man
ander Grndlichkeit der kommunitaristischen Aristoteles-Lek-tre
zweifeln mu. Sowohl mit der Ethik als auch mit derPolitik, im
brigen auch mit der Rhetorik, also mit der gesam-ten praktischen
Philosophie erhebt Aristoteles Geltungs-ansprche fr jede Polis. Da
zur Moral, der personalen undder politischen Moral, ein Anspruch
auf bersubjektive undbertraditionelle Gltigkeit gehrt und da man
mit Hilfedieser Gltigkeit sowohl personale als auch soziale und
poli-tische blichkeiten zu kritisieren vermag, versteht sich
frAristoteles von selbst: Universalistisch gltig ist zunchst
dasLeitprinzip, die Eudmonie, samt ihrer formalen Bestim-mungen als
vollkommenes und autarkes Ziel. Nach Aristote-les trifft auf jeden
Menschen jedweder Kultur und Epoche zu,
Ausblick 285
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da das typisch menschliche Handeln eine zielgerichtete Be-wegung
ist, die nur dann als nicht leer und sinnlos erscheint,wenn es ein
Ziel gibt, das wir um seiner selbst willen und dasandere um
seinetwillen wollen (I 1, 1094a18f.), eben dasGlck.
Universalistisch ist auch die materiale Bestimmung. Ari-stoteles
sucht die fr den Menschen charakteristische Lei-stung (ergon tou
anthrpou) und identifiziert sie als eine Ttig-keit der Seele gem
der Vernunft (kata logon) oder doch nichtohne sie (I 6). Gegen die
universalistische Lesart spricht zwarder Umstand, da Aristoteles
nicht alle Menschen fr gleich-berechtigt hlt: nicht die Frauen,
nicht die Sklaven, nicht dieBarbaren. Der Umstand betrifft aber
nicht die Grundele-mente der Aristotelischen Ethik, sondern nur
deren Anwen-dung, genauer: deren Anwendung unter Voraussetzung
ge-wisser empirischer Annahmen. Wenn die Voraussetzung zu-trifft
und etwa die Sklaven, wie Aristoteles behauptet, grund-legende
Vernunftdefizite aufweisen, dann ist die in der Politik(Buch I)
vertretene konomische Unterordnung nicht grund-falsch. Einzuwenden
bleibt jedoch, da die Defizite weder sooft noch so grundlegend
gegeben sind. Auerdem mu einekonomische Unterordnung nicht eine
rechtliche nach sichziehen.
In der anti-universalistischen Ethik des Kommunitarismusspielt
eine besondere Rolle der Begriff der Lebensform: alsLeben in einer
spezifischen gesellschaftlichen Ordnung(MacIntyre 1993, 91), in
Form von particular identifications(Taylor 1989, 29) oder als
Mitgliedschaft in einer mensch-lichen Gemeinschaft (Walzer 1992,
65). Fr den Kommuni-tarismus ist die Lebensform kulturspezifisch
und gemein-schaftsgebunden; es gibt etwa eine antike und eine
moder-ne Lebensweise und innerhalb der modernen Lebensweisezum
Beispiel eine nordamerikanische Form. Der entspre-chende Begriff
des Aristoteles, bios, folgt dagegen aus Grund-gegebenheiten des
Menschseins berhaupt. Folgerichtig fin-det man die vier
Lebensformen oder Existenzweisen, dieKapitel I 2 errtert, nicht nur
im antiken Athen, sondern inden verschiedenen Gesellschaften und
den unterschiedlichenEpochen.
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Gegenber den vier Lebensformen entfaltet nun das Prin-zip Glck
sein kritisches Potential in zwei Schritten. Zu Be-ginn, im Kapitel
I 2, zeigt Aristoteles von zwei Lebensformen,dem Genuleben (bios
apolaustikos) und dem auf Reichtumausgerichteten Leben (bios
chrmatists), da sie das universaleLeitziel des Menschen, das Glck,
strukturbedingt, mithintraditions- und gemeinschaftsunabhngig,
verfehlen. Ge-meinschaftsunabhngig ist auch die Kritik am
politischen Le-ben, solange man es lediglich von der Ehre (tim) und
nichtvon der Tugend (aret) her definiere. Von den beiden
einzigenLebensformen, die dann noch als glckstauglich brigblei-ben,
vom politischen Leben, sofern es ihm nicht auf die Ehre,sondern auf
die Tugend ankommt, vom moralisch-politi-schen Leben einerseits und
vom theoretischen Leben ande-rerseits, zeigt Aristoteles in den
Kapiteln X 69 und er zeigtes erneut mit nichtpartikularistischen
Argumenten , da dastheoretische Leben in einem hheren Sinn
glckstauglich istals das politische Leben. Kurz: Aristoteles wgt
die verschie-denen Lebensoptionen gegeneinander ab, weist die bei
vielenvorherrschenden Lebensziele Lust, Reichtum, Ehre zurck und
macht fr die beiden verbleibenden Lebensziele Tugend und Erkenntnis
eine Priorittsaussage, die dasgemeinschaftliche Leben, den bios
politikos, auf den zweitenRang verweist und jenen bios thertikos
vorzieht, der rein alssolcher der Gemeinschaftlichkeit entwachsen
ist.
Nicht anders sieht es bei den Tugenden aus. Die Frage,
obAristoteles sie universalistisch oder aber partikularistisch
de-finiert, entscheidet sich an drei Teilfragen:
(1) Zunchst einmal hngt der Situationstyp, der fr jedeTugend
eine charakteristische Aufgabe definiert, nicht vonspezifisch
griechischen, sondern von allgemeinmenschlichenBedingungen ab. Die
Tapferkeit braucht es deshalb alleror-ten, weil in jeder Kultur
Gefahren (gegen Leib und Leben )auftreten; die Freigebigkeit, weil
es so gut wie berall Tausch-mittel und Vermgen gibt und zugleich
die Gefahr, mit ihnenverschwenderisch oder aber geizig
umzugehen.
(2) Die genauere Gestalt der Tapferkeit, der Freigebigkeitund
anderer Tugenden mag von der jeweiligen Gemeinschaftund ihren
blichkeiten mitbestimmt sein. Davon unabhn-
Ausblick 287
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gig ist aber die Grundgestalt: da man die naturwchsige Re-aktion
der eine neigt zur Feigheit, der andere zur Tollkhn-heit, der eine
zur Verschwendung, der andere zum Geiz berwindet, stattdessen
berlegt handelt und an die Stelle deskata pathos zn das kata logon
zn setzt.
(3) Die nichtuniversalistische Aristoteles-Deutung knntesich auf
den Umstand berufen, da man nach Aristoteles be-sonnen nur durch
besonnenes, gerecht nur durch gerechtesHandeln und allgemein
tugendhaft nur durch tugendhaftesHandeln werde (II 3, 1105b1012 u.
.; allgemein III 7,1114a710). Danach ist aber nicht die Moral
selber (ihreGrundstze bzw. Tugenden) partikular, sondern nur ihre
An-eignung. Die Kommunitaristen verwechseln den
(durchauspartikularen) Erwerb der Moral mit ihrem (universalen)
Be-griff und ihrer (ebenso universalen) Rechtfertigung. Eigent-lich
ist es trivial und von keiner wichtigeren universalistischenEthik
in Zweifel gezogen worden, da die Aneignung, durchVorbild und
Nachahmung, Lob und Tadel gefrdert, in einerbestimmten Gruppe
stattfindet. Aus dem Umstand, da manTugenden nicht in einer
abstrakten Weltgesellschaft, sonderninnerhalb der eigenen
Gemeinschaft lernt, folgt nicht, daman sich lediglich in deren
blichkeiten einlebt. Auerdemrichtet sich Aristoteles These gegen
etwas anderes, gegen dieAnsicht nmlich, der Mensch handle moralisch
von Geburtan, und sagt dagegen: man kann und mu moralisches
Han-deln lernen. Und gegen die Ansicht, der entsprechende
Lern-proze sei theoretischer Natur, behauptet Aristoteles,
tu-gendhaft werde man nicht durch Philosophieren (z. B. II
3,1105b12ff.), sondern durch Einben. Tugenden lernt man so,wie man
Klavierspielen, und nicht wie man Musikgeschichtelernt; gefragt ist
kein akademisches Studium der Moral, son-dern die wiederholte
moralische Praxis.
Alle drei Elemente der Aristotelischen Tugendlehre beru-hen also
auf traditionsunabhngigen Argumenten. Und zu-gleich ist pars pro
toto gezeigt, da auch das fr die Polis ge-meinsame Gute, zumindest
ihr Kern, nicht an die Partikula-ritten einer Polis gebunden ist.
Entgegenhalten knnte manzwar Aristoteles These, kein Spartaner
berlege sich, wieetwa die Skythen ihren Staat am besten
einrichteten (III 5,
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1112a28f.). Zugunsten der Kommunitaristen sprche dieThese aber
nur dann, wenn sie besagte, da die Spartaner unddie Skythen ber die
gute Staatsverfassung unterschiedlicheAnsichten htten. In Wahrheit
fhrt Aristoteles einen ande-ren Grund an; die skythische
Staatsverfassung, sagt er, flltnicht in die Zustndigkeit der
Spartaner. Nicht die Staats-ideale unterscheiden sich, sondern die
Zustndigkeiten.
Zurck zur Tugendlehre: Zwar konnte Aristoteles auf ge-wisse
Tugendkataloge, also eine Tradition, zurckgreifen.Aber es handelt
sich hier erstens nicht um eine moralische,sondern um eine
moraltheoretische Tradition, die zweitensdie Folge der
Verbindlichkeit und nicht ihren Grund be-nennt. Nicht in der
blichkeit liegt der Geltungsgrund derTugenden, sondern in ihrer
Tauglichkeit fr das Glck bzw.in ihrer bereinstimmung mit der
Vernunft: (1) Die jeweiligeHerausforderung (der Umgang mit
Gefahren, mit Geld )ergibt sich aus allgemeinmenschlichen Affekt-
und Lebens-bereichen; (2) die Antwort auf die Herausforderung folgt
ausdem Leitziel jedes Menschen, dem Glck, und der Ei-gentmlichkeit
des Menschen, der Vernunft; und (3) die Zu-satzaufgabe, die
Stabilisierung und Internalisierung der Ant-wort, ergibt sich aus
weiteren allgemeinmenschlichen Ele-menten: man mu die praktische
Vernunft lernen und gegendie Bedrohung durch Leidenschaften
stabilisieren. (Zumnichtrelativen Charakter von Tugenden vgl. auch
Nussbaum1993.)
Ein letztes Argument gegen die relativistische
Aristoteles-Lektre der Kommunitaristen: Nach MacIntyre (1988)
gibtes wie er schon im Titel sagt: Whose justice? Wessen
Gerech-tigkeit? keine universal gltigen Gerechtigkeitsgrundstze.Dem
widerspricht Aristoteles durch die Tat. In der Nikoma-chischen
Ethik definiert er die Gerechtigkeit quasi-mathema-tisch als Mitte
der Sache nach (meson pragmatos); ferner un-terscheidet er
innerhalb des Rechtes einer Polis (to politikondikaion) einen
berpositiven, natrlichen Anteil (physikon)von einem positiven
(nomikon) und betont, da der natrlicheAnteil berall dieselbe
Autoritt hat und nicht von der Mei-nung der Menschen abhngt (V 10,
1134b18 ff.). Auerdemstellt er zwar keinen Katalog von Grund- oder
Menschen-
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rechten auf. Mit dem Verbot von Diebstahl und Raub,
vonMeuchelmord und Totschlag, von Mihandlung, Freiheits-beraubung
und Beleidigung (V 5, 1131a69) tritt er aberindirekt fr die
entsprechenden Grundrechte ein: fr dasEigentum, den Schutz von Leib
und Leben und das Recht aufeinen guten Namen. Ohnehin sind ihm
politische Mitwir-kungsrechte selbstverstndlich. Weiterhin beruft
er sich zuBeginn der Politik (I 2, 1252a26 ff.), dort, wo er die
Sozialbe-ziehungen MannFrau und HerrKnecht legitimiert, auf
einelementares Gerechtigkeitsprinzip, auf den
wechselseitigenVorteil (vgl. Hffe 1987, Kap. 7). Schlielich hat
auch dasGute einer Gemeinschaft keinen
antiuniversalistischenEinschlag. Aristoteles geht es um das
Gemeinwohl, also einzwar vages, aber universalistisches Kriterium.
Es spricht ge-gen die Tyrannis und fr jene politeia, die in etwa
einem de-mokratischen Rechtsstaat mit Gewaltenteilung
entspricht.
13.3 Zum Beispiel Urteilskraft
Whrend man bei Aristoteles den Universalismus vermit,vermit man
bei Kant jene erfahrungsgeschrfte Urteilskraft,die Aristoteles
unter dem Stichwort phronsis, Klugheit, err-tert. Unter den
Kernbegriffen der Kantischen Ethik, selbstunter ihren wichtigeren
Nebenbegriffen, finden wir diesepraktische Urteilskraft in der Tat
nicht. Die deshalb beliebtenVorwrfe Miachtung der Erfahrung,
Hypertrophie desSollens, Abschotten gegen die realen
Handlungsprobleme kommen trotzdem bereilt. In der Vorrede der
Grundle-gung, also schon im Programm seiner Ethik, fordert Kant
alsErgnzung der moralischen Gesetze eine noch durch Erfah-rung
geschrfte Urteilskraft ein (IV 389). Da es zustzlichzu den
moralischen Gesetzen eine Fhigkeit der Anwendung,eben die
praktische Urteilskraft, braucht, versteht sich frKant von selbst.
Zu erfllen hat sie zwei Aufgaben, die beidevon Aristoteles
phronsis-Lehre bekannt sind, so da auch indieser Hinsicht die
beliebte Alternative Aristoteles oderKant zu verabschieden ist: Der
phronsis bzw. bouleusis ver-gleichbar, vermittelt die Urteilskraft
ein Allgemeines mit dem
290 Otfried Hffe
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Einzelfall. Auerdem leistet sie, was bei Aristoteles
freilichnicht mehr die Urteilsfhigkeit, sondern die ihr
vorgeordnetearet thik bernimmt: sie verhilft den moralischen
Gesetzenzur wirklichen Anerkennung.
Weil Kant im Programm seiner Ethik, in der genanntenVorrede, von
der erfahrungsgeschrften Urteilskraft nur ineinem Nebensatz spricht
und weil auerdem in der Durch-fhrung des Programms, in der
Grundlegung selbst, ferner inder Kritik der praktischen Vernunft
und in der Metaphysik derSitten die erfahrungsgeschrfte
Urteilskraft keine Rolle mehrspielt, drngt sich zumindest jene
abgeschwchte Kritik auf,die da sagt, Kant habe die Tragweite der
Urteilskraft unter-schtzt. Eine derartige Kritik bersieht aber den
Grund freine durchaus richtige Beobachtung: Sowohl aus
moraltheo-retischen als auch moralisch-praktischen Grnden
verlangtKant eine thematische Spezialisierung und fordert, die
Moralzunchst einmal unabhngig von allen empirischen Elemen-ten zu
entwickeln. Wer nun in einer ausdrcklich reinen Mo-ralphilosophie
die erfahrungsgesttigte Urteilskraft vermit,der erliegt einem zur
Kategorien-Verwechslung (categorymistake) analogen Fehler. In
Verkennung der (moral-)philo-sophischen Aufgabe sucht er in der
ausdrcklich erfahrungs-freien Ethik eine erfahrungsbezogene
Fhigkeit.
Die thematische Spezialisierung bereitet das
entscheidendeArgument nur vor. Die konkrete moralische Handlung,
daswei Kant durchaus, entsteht aus dem Zusammenwirken
vonnicht-empirischen mit empirischen Momenten. Weil das ei-gentlich
Moralische aber nicht im Zusammenwirken liegt,vielmehr eindeutig
und ausschlielich bei dem einen Mo-ment, dem erfahrungsunabhngigen
Willen, sieht sich Kantzu einer Depotenzierung des anderen Momentes
gezwungen,zu einer Entmachtung der Erfahrung. Von ihr wird die
Ur-teilskraft, weil erfahrungsgeschrft, selbstverstndlich
mit-getroffen. Sie ist aber nicht der primre Gegner der Kanti-schen
Kritik. Nicht gegen die Erfahrung, die einen Einzelfallmit der
Regel vermittelt, richtet sich Kant, sondern gegen die-jenige
Erfahrung, die die Regel, genauer: die den
subjektivenHandlungsgrund, die Maxime, definieren will. Eine
derartigeErfahrung entspricht der Neigung und steht damit in
radika-
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lem Widerspruch zum Kantischen Moralbegriff, der Pflichtbzw. dem
moralischen Willen.
Selbst im Fall des moralischen Willens wird die Urteils-kraft
nicht schlechthin berwunden; zur Seite geschobenwird lediglich ihre
erfahrungsgeschrfte Form. Noch nicht inder Grundlegung, wohl aber
in der zweiten Kritik (V 67 ff.)sieht Kant in seinem
Moralkriterium, dem Experiment derVerallgemeinerung, die
Urteilskraft am Werk. Vorliegt frei-lich eine erfahrungsunabhngige
Form, die Urteilskraft derreinen praktischen Vernunft, die krzer
die reine praktischeUrteilskraft heit (KpV: V 67 f.).
Weil ber das genuin moralische Moment nur sie ent-scheidet, kann
auch allein sie als moralische Urteilskraft gel-ten. Kant fhrt
diesen Ausdruck moralische Urteilskraft auch ein, allerdings erst
relativ spt und auch dann nur beilu-fig. Die Klarheit ber das
Gewicht der Urteilskraft hat Kant,so scheint es, erst nach und nach
gewonnen: ber die we-sentliche Einsicht, da die Entscheidung fr das
genuin Mo-ralische eine nicht-empirische Leistung ist, verfgt er
seit derGrundlegung. Da auch fr diese Leistung eine
Urteilskraftzustndig ist, spricht er deutlich erst in der zweiten
Kritik, imAbschnitt von der Typik der reinen praktischen
Urteilskraftaus; einen Hinweis freilich enthlt auch die Grundlegung
(IV403f.: Richtma ihrer Beurteilung; praktisches
Beurteilungs-vermgen usw.). Und die Konsequenz, da nur die
nichtem-pirische Urteilskraft einen genuin moralischen
Charakterhat, zieht Kant erst, nachdem inzwischen die Kritik der
Ur-teilskraft erschienen ist: in der Religionsschrift (Rel., 4.
St., 4: VI 186).
Die neue, genuin moralische Urteilskraft ist im
Gedanken-experiment der Verallgemeinerung am Werk. Sie ist fr
dieFrage zustndig, welcher der mglichen Maximen der Rangdes
Moralischen gebhrt: der Gleichgltigkeit gegen fremdeNot oder aber
der Hilfsbereitschaft, der Unehrlichkeit oderaber der Ehrlichkeit.
Die bei Aristoteles analoge Frage lautetzum Beispiel: Wie soll man
sich angesichts von Gefahren ver-halten feige, tollkhn oder aber
tapfer? Und die Antwort,die Aristoteles gibt, ist von der
erfahrungsgeschrften Ur-teilskraft (hier: phronsis) ebenso
unabhngig wie die Kanti-
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sche Antwort. Beide Denker kennen also eine moralischeVorgabe,
ber die die praktische Urteilskraft gerade nichtentscheidet. Und
beide wissen, da diese Vorgabe auch feh-len und die Urteilskraft
sich an moralisch schlechten Zielenorientieren kann. Aristoteles
spricht dann von panourgia, voneiner Gerissenheit oder
Verschlagenheit, (VI 13, 1144a26 ff.),Kant in dem dafr lesenswerten
Anhang der AbhandlungZum ewigen Frieden von Sophisterei (VIII 37b)
und denSchlangenwendungen einer unmoralischen Klugheitslehre(VIII
375). In beiden Fllen ist jene amoralische Urteilskraftgemeint, die
man, zumal im Politischen als Machiavellismusbezeichnet.
Auerdem wissen beide gleichermaen, da die moralischeVorgabe
nicht ausreicht und einer Ergnzung bedarf. ObHilfsbereitschaft oder
Tapferkeit wer ber derartigeGrundhaltungen verfgt, mu sich immer
noch berle-gen, wie er in concreto handeln soll. Dazu braucht es
prakti-sche Erfahrung und, je nach Notlage bzw.
Gefahrensituation,ein hohes Ma an fachlicher Kompetenz. Die
entspre-chende Fhigkeit sieht Aristoteles im phronimos verkr-pert,
im klugen Menschen, fr den brigens ein Politiker,Perikles, als
Vorbild gilt (VI 5, 1140b8). Eine hnliche Ver-krperung, ebenso auf
die Politik bezogen, kennt Kant; imgenannten Anhang der Abhandlung
Zum ewigen Friedenspricht er vom moralischen Politiker und hlt ihn
demMachiavellisten, hier politischer Moralist genannt, entge-gen
(VIII 372).
Die Leistung von Moralprinzipien kann man mit den gram-matischen
und semantischen Regeln einer Sprache verglei-chen. Wer die
Grammatik und Semantik miachtet, spricht in-korrekt, wer sie
beachtet, aber nicht mehr kann, als sie mecha-nisch anzuwenden, ist
ein Pedant, der sein eigenes Leben imtrockenen Packpapierstil
schreibt. ber eine jetzt: praktische Urteilskraft verfgt nur, wer
wiederum im tatschlichenLeben die Sprache moralischer Prinzipien
sensibel, kreativund flexibel, kurz: intelligent zu sprechen
versteht. Das ver-langt nicht nur mehr als eine bloe Subsumption,
sondern auchmehr als lediglich eine Kontextualisierung.
UniversalistischePrinzipien sind nicht wie ein fertiges Drehbuch;
sie bedeuten
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erst eine Grundidee, nach der man noch whrend der Drehar-beiten
und das heit: ein Leben lang das Drehbuch schreibt.
Ein letztes ist im Themenbereich der Urteilskraft gemein-sam,
jetzt ein Defizit: Bei den strukturell schwierigen Moral-problemen
von heute stellt sich eine Aufgabe, das Abwgenunterschiedlicher
moralischer Verbindlichkeiten, die wederin Aristoteles noch Kants
Ethik vorgesehen ist. Aristoteleserrtert nicht die Situation, da
Tugenden in ihren Forde-rungen miteinander kollidieren. Ebensowenig
sieht KantKollisionen von Pflichten vor. Bei ihm findet man
allerdingsfr eine Gterabwgung gewisse Instrumente, etwa den
Vor-rang geschuldeter vor verdienstlichen Pflichten oder den
Ge-danken, da etwas an sich zwar Unerlaubtes, doch zur Ver-htung
einer noch greren bertretung (gleichsam nach-sichtlich) erlaubt sei
(Metaphysik der Sitten: VI 426). Weiter-hin spricht er von einem
Notrecht, nach dem gewisseHandlungen, die die Rechte anderer
verletzen, nicht unstrf-lich, aber unstrafbar sind (235f.). Nicht
zuletzt rumt er imKonfliktfall dem strkeren Verbindlichkeitsgrund
den Vor-rang vor der strkeren Verbindlichkeit ein (224). Weil
derar-tige Instrumente noch der Weiterentwicklung harren, weil
sieaber ansatzweise nur bei Kant, nicht auch bei Aristoteles
zufinden sind, ist in diesem Bereich, der Theorie einer
hher-stufigen Urteilskraft, durch einen Rckgriff auf
Aristoteles,durch eine Rearistotelisierung der Ethik, nichts zu
gewin-nen.
13.4 Strebens- oder Willensethik
In Ethics and the Limits of Philosophy entwickelt Bernard
Wil-liams (1985) eine antifundamentalistische und
antireduktio-nistische Ethik. Danach soll es weder eine Menge
moralischerKategorien geben, die fr die gesamte Praxis grundlegend
sei,noch ein Verfahren, um alles moralische Denken auf eine
der-artige Kategorienmenge zurckzufhren. Sucht man fr
diekritisierten Positionen ein klassisches Vorbild, so kommenweder
Kant noch Aristoteles in Frage. Stattdessen entdeckenwir erneut
Gemeinsamkeiten. Nicht nur kennen beide einen
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fr alle moralische Praxis grundlegenden Begriff, sie sind alsoin
Williams Sinn moraltheoretische Reduktionisten undFundamentalisten;
es ist sogar bei beiden derselbe Begriff. Al-lerdings fllt er weit
formaler aus, als man gewhnlich erwar-tet. Und da er in dieser
Formalitt noch gar nicht untersuchtworden ist, knnte man mit dem
Pathos Martin Heideggerssagen: Wir denken den Ursprung der Moral
noch nichtgrndlich genug. Die Quelle der Moral besteht bei
Kantnicht in der Autonomie oder dem guten Willen und bei
Ari-stoteles nicht in der Eudmonie, dem Glck, und schon garnicht in
dieser oder jener Tugend, sondern in einem fr beidegemeinsamen
Superlativ, in der via eminentiae gebildeten Ideedes schlechthin
Guten.
Im berhmten Einleitungssatz der Grundlegung ohneEinschrnkung gut
ist allein ein guter Wille gibt Kant derEthik ein semantisches
Kriterium vor: moralisch gut be-deutet uneingeschrnkt bzw.
unbedingt gut. Zustzlicherhebt er einen Exklusivittsanspruch:
allein der gute Willeerfllt das Kriterium ohne Einschrnkung
gut.
hnliches behauptet Aristoteles vom Glck. Als das Ziel,das wir um
seiner selbst willen wollen und das andere um sei-netwillen (I
1,1094a18f.); als das oberste aller praktischen undpraktikablen
Gter (I 2, 1095a16f.); als etwas, das autark istund fr sich allein
wnschenswert, ohne da etwas andereshinzuaddiert werden knnte (I 4,
1097b14 ff.); und vor allemals das Ziel, das am meisten
Zielcharakter hat, als dasschlechthin vollkommene Ziel (telos
teleiotaton: I 5, 1097a30) mit allen diesen Elementen zeichnet sich
das Glck durcheinen mit dem guten Willen vergleichbaren
Superlativcha-rakter aus. Einerseits ist es die Bedingung dafr, da
alles ver-meintlich Gute tatschlich gut ist; andererseits ist es
selber inkeiner Weise nur bedingt gut (vgl. I 5, 1097a34 ff.).
Insoweitist es ein Superlativ im ersten Sinne, dem des
Unbedingten;auerdem hat diese Eigenschaft lediglich das Glck, so da
esauch die Exklusivitt fr sich beanspruchen kann.
Mit der genuin normativen Seite, der Idee des schlechthinGuten,
tritt nicht nur bei Aristoteles, sondern berraschen-derweise auch
bei Kant ein teleologisches Moment in dieEthik ein. Da derjenige,
der Praxis bewertet, eine Frage auf-
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wirft, die sich erst in der Idee des schlechthin oder
unber-bietbar Guten vollendet, zeigt Aristoteles in der
Steigerungvon (a) (irgendeinem) Ziel (telos), (b) bloem Ziel
(mononteleion) und (c) vollkommenem Ziel (teleiotaton: I 5,
1097a25ff.). Und bei Kant ist es im Nachweis enthalten, da es
berdie beiden hypothetischen Bewertungsstufen, die technischeund
die pragmatische Rationalitt, hinaus noch jene dritteRationalitts-
oder Bewertungsstufe gibt, die sich ihrerseitsnicht mehr berbieten
lt: die kategorische Rationalitt. Mitdem teleologischen Moment
tritt brigens in beide Ethikenauch ein metaphysisches Moment ein,
metaphysisch aller-dings in einem praktischen und zugleich sehr
bescheidenenSinn. Sowohl dort, wo man das vollkommene Ziel
anstrebt,als auch dort, wo man gem kategorischer Rationalitt
han-delt, also in beiden Gestalten einer dritten
Bewertungsstufe,folgt man nicht empirischen Bestimmungsgrnden wie
etwaTrieben, Bedrfnissen oder Leidenschaften. Vielmehr
trans-zendiert man derartige natrliche (physische) Antriebs-krfte
und hat insoweit einen meta-physischen Bestim-mungsgrund.
Erst vor dem Hintergrund dieser Gemeinsamkeit tritt dieDifferenz
zutage, die in der Ethik zwischen der Antike, re-prsentiert durch
Aristoteles, und der Neuzeit, reprsentiertdurch Kant, tatschlich
besteht. Nicht in der Idee desschlechthin oder unberbietbar Guten
unterscheiden sichAristoteles und Kant, wohl aber im Begriff des
Handelns, mitdem sie diese Idee verbinden. Die entsprechende
Weichen-stellung erfolgt also nicht von der genuin normativen
Seite,sondern von der Handlungstheorie her.
Aristoteles versteht das Handeln brigens nicht nur vonMenschen,
sondern auch von Tieren: De motu animalium 67 als Auslangen nach
einem Ziel, als Streben (ephiesthai bzw.orexis). Folgerichtig sieht
er den Superlativ bei einem Ziel,ber das hinaus kein anderes Ziel
gedacht werden kann, beimentsprechend definierten Glck. Kant
verndert den hand-lungstheoretischen Blick, und er verndert ihn
radikal. Nichtlnger achtet er auf das Ziel des Handelns, ihm kommt
es aufseinen Anfang an. Fr Kant erfolgt das typisch
menschlicheHandeln nach der Vorstellung von Gesetzen; es wird
zu
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einem Handeln nach Prinzipien, dessen Grundlage und An-fang der
Wille ist. Der dazugehrige Superlativ liegt in Ge-setzen bzw.
Prinzipien, deren Anfang nicht auerhalb desWillens liegt, sondern
in diesem selbst. Auch hier ist die Aus-kunft konsequent: Der Wille
gibt sich die Gesetze selber; dasPrinzip heit Autonomie.
Da das normative Moment, der Superlativ, gemeinsam,
derHandlungsbegriff aber verschieden ist, sind Rckfragen andie
beiden Autoren beim Handlungsbegriff anzusetzen. Eineerste Frage
lautet: Welche Vorentscheidungen, welche Wei-chenstellungen sind
mit dem jeweiligen Begriff getroffen?Die wichtigste Antwort: Der
Handlungsbegriff enthlt eineVorentscheidung ber die Moral und ihr
Prinzip. Im Stre-bensmodell ist das Gute eine Zielvorgabe und gehrt
als sol-che nicht zu den Gegenstnden menschlicher Entscheidungund
Verantwortung. Nun verstehen wir unter der Moral et-was, das in
unserer Verantwortung liegt, so da das Strebens-modell einen
eingeschrnkten Moralbegriff zur Folge hat.Die Einschrnkung wird
jedoch dadurch minimalisiert, dadie Vorgabe sehr hoch und zugleich
sehr formal angesetztwird. Weder konkrete Gter sind vorgegeben noch
derenLeitbegriffe wie etwa Lust, Reichtum oder Ansehen,
sondernlediglich jene Bedingung, das Glck, unter der sich alle
ge-whnlichen Gter als tatschlich oder aber nur scheinbar
guterweisen. Weil nur das Leitziel Glck vorgegeben ist, erweistsich
der Bereich menschlicher Verantwortung als sehr weit;da eine
Vorgabe bleibt, erreicht er aber nicht das dem Men-schen mgliche
Ma. Das Strebensmodell fhrt jedenfalls zurEudmonie, das
Willensmodell zur Autonomie als Moral-prinzip. Einer am
Strebensglck orientierten Ethik geht esum Entfaltung
objektiv-humaner Mglichkeiten; eine wil-lensorientierte oder
autonome Ethik fragt dagegen nach demallerersten Anfang und
verstrkt dabei den Wollenscharakter,der der Strebensethik aber
nicht fremd ist.
An die Frage nach den moraltheoretischen Vorentschei-dungen
schliet sich die zweite Frage, die nach den charakte-ristischen
Leistungen und den charakteristischen Lasten an,die sich mit dem
einen oder anderen Ethiktyp verbinden.Derartigen Fragen
nachzugehen, geht aber ber eine Kom-
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mentierung der Aristotelischen Ethik hinaus. Anders sieht esmit
einem Einwand aus, der sich gegen eine schroffe Ge-genberstellung
von Strebens- und Willensethik erhebt: DasPhnomen des Willens sei
Aristoteles doch nicht fremd;selbst Hegel habe keinerlei Bedenken,
Aristoteles den Begriffdes Willens zuzubilligen (Vorlesungen ber
Geschichte der Phi-losophie, in: Werke 19, 221). Allenfalls fehle
fr die verschiede-nen Formen, in denen es gegenwrtig ist, ein
zusammenfas-sender Begriff. Die Frage, ob dieser Einwand berechtigt
ist,hngt vom Begriff des Willens ab. Nach Dihle (1985)
kenntAristoteles den Willen ebensowenig wie die anderen Vertre-ter
der klassischen Philosophie der Antike; erst bei Augusti-nus tauche
der Begriff auf. Anders Kenny (1979), der glaubt,den Begriff
problemlos bei Aristoteles identifizieren zu kn-nen. Auch bei der
damit angedeuteten Kontroverse hngt dieEntscheidung vom
Willensbegriff ab.
Gelegentlich verstehen wir den Ausdruck in einem weitenSinn und
meinen jeden von innen kommenden Drang im Un-terschied zu einem
Zwang von auen; mit Willen handelt,wer etwas aus freiem Antrieb,
wer es freiwillig tut. Fr Kantsengeren und zugleich
anspruchsvolleren Begriff wir kon-zentrieren uns auf die
Grundlegung sind mindestens zweiMomente charakteristisch. Nennen
wir sie das voluntativeund das rationale Moment. Einerseits zeigt
sich der Willenicht in einem bloen Wunsch, sondern in der
Aufbietungaller Mittel, soweit sie in unserer Gewalt sind (IV 394);
zumWillen gehrt es, mit einem Wunsch ernst zu machen und ihnmit
aller Kraft zu verfolgen. Andererseits hat einen Willen,wer ber das
Vermgen verfgt, nach der Vorstellung derGesetze, d. i. nach
Prinzipien zu handeln (IV 412). Zu die-sem zweiten Moment gehrt der
Zusatz: Da zur Ableitungder Handlungen von Gesetzen Vernunft
erfordert wird, so istder Wille nichts anderes als praktische
Vernunft [] DerWille ist ein Vermgen, nur dasjenige zu whlen, was
die Ver-nunft unabhngig von der Neigung als praktisch notwendig,d.
i. als gut, erkennt (ebd.).
Mit einer bis heute vorbildlichen Akribie untersucht
Ari-stoteles die verschiedenen Optionen, die sich im Bereich
vonFreiwilligkeit und Entscheidung auftun (III 17; vgl. Beitrag
298 Otfried Hffe
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Nr. 6). Auer den beiden konventionellen Modalitten willentlich
(hekn) bzw. freiwillig (hekousion) und unfreiwillig(akousion) kennt
er als Drittes jenes nichtfreiwillige Handeln(ouch hekn), das aus
Unwissenheit erfolgt, aber nachtrglichZustimmung findet. Ferner
sieht Aristoteles Mischformenvon Freiwilligkeit und Gewalt;
beispielsweise wirft ein Ka-pitn, um sein Schiff in einem Unwetter
zu retten, einen Teilder Ladung weg. Vom Handeln in Trunkenheit
oder im Zornsagt er, es erfolge nicht aus, aber in Unwissenheit;
und dieFrage, ob man sich mit der Verlockung durch die Lust
ent-schuldigen knne, beantwortet er mit Nein, da man es in derHand
habe, der Lust nicht nachzugeben.
Mit dem Moment des Freiwilligen bzw. Willentlichen istdas
voluntative Moment durchaus gegenwrtig. Wie sieht esaber mit dem
zweiten, rationalen Moment aus? Was Kant dieVorstellung der Gesetze
nennt, findet sich bei Aristoteles ineinigen Formen des sog.
praktischen Syllogismus wieder. ImSchlu: Wenn (1) Rauchen
gesundheitsschdlich ist und (2)dieses ein Rauchzeug ist, dann (3)
ist dieses gesundheits-schdlich benennt der Obersatz (1) ein
praktisches Gesetz.Schmilzt also, da auch Kants zweites
Definitionsmomentgegenwrtig ist, die Differenz von Strebens- und
Willensmo-dell dahin? Eine positive Antwort mte auf das
Moralprin-zip durchschlagen und auch die Differenz der
PrinzipienGlck und Willensfreiheit dahinschmelzen lassen.
Minde-stens zwei Unterschiede bleiben aber bestehen. Einerseits
istfr die richtigen Prinzipien nach Kant der Wille zustndig,nach
Aristoteles dagegen die aret thik. Auerdem kannnach Kant die Moral
in bestimmten Situationen verlangen,dem natrlichen Leitziel des
Menschen, dem Glck, zu-widerzuhandeln, was bei Aristoteles, so
scheint es, nicht ein-mal denkbar ist; denn der Grund aller
Verbindlichkeit liegt jaim Glck.
Diese Antwort ist aber nur im Prinzip richtig. Denn dasGlck
verlangt beispielsweise in Gefahren eine Reaktions-weise, die
Tapferkeit, an der man zugrunde gehen kann(I 1, 1094b1719). Da
jemand den Tod auf sich nimmt,ehrt ihn zwar, steht aber nicht im
Einklang mit dem Prin-zip Glck. Die Mglichkeit eines Widerspruchs
zwischen
Ausblick 299
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den Tugenden und ihrem Leitprinzip, dem Glck, siehtAristoteles
also. Er zieht daraus aber nur eine wissenschafts-theoretische
(Zumeist-Aussagen) und nicht auch die prin-zipien- oder
ethiktheoretische Konsequenz, da das Glckgar nicht das schlechthin
hchste und umfassende Prinzipmenschlichen Handelns sei (vgl.
Beitrag Nr. 2.2). Nicht dieeudmonistische Vollendung des Lebens
liegt in der Handdes Menschen sie bleibt ein Geschenk des
Schicksals bzw.der Gtter , wohl aber der autonome Anfang alles
Handelns,die sittliche Einstellung, die moralische Tugend als
Selbst-zweck. Wer diese moraltheoretische Konsequenz zieht,mte
allerdings die handlungstheoretische Folge aner-kennen, da das
Streben nicht das Grundmodell, zumindestnicht das Exklusivmodell
menschlichen Handelns abgebenkann.
Da Aristoteles die entsprechenden Phnomene nicht ausGrnden eines
Systems unterschlgt, zeichnet ihn als un-dogmatischen,
erfahrungsoffenen Denker aus. Da er diesachlichen Konsequenzen
nicht voll bersieht, zeigt freilicheine Grenze an. Aristoteles
relativiert zwar das Prinzip Glck,lt aber nicht seine
Verabschiedung, gewissermaen denKollaps der eudmonistischen Ethik,
zu. Fr den Grund kannich hier nur eine Vermutung uern: Um die
eudmonisti-sche Ethik aufzugeben, braucht es mehr als den
gelegentli-chen Widerspruch, der zwischen der Tugend und dem
Glckbesteht, und die Abhngigkeit des Glcks von uerenGlcks- und
Unglcksfllen. Es bedarf wohl zweierlei. Ei-nerseits ist jene
Erfahrung des moralisch Bsen vonnten, dieman etwa, so Kant, in den
Auftritten von ungereizter Grau-samkeit in den Mordszenen gewisser
Vlker machen kann(Religionsschrift: VI 33). Andererseits braucht es
eine im Ver-gleich zu Priamos noch gesteigerte Unglckserfahrung,
jene,die das Buch Hiob thematisiert und die in anderer Weise
Eu-ropa beim Erdbeben von Lissabon (1755) erlebt. Um gegendas
Prinzip Glck so skeptisch zu werden, da man an seineStelle ein
anderes Prinzip setzt, mute man die Erfahrungmachen, da auch der
rundum Rechtschaffene (Hiob) bzw.da Zehntausende von Unschuldigen
(Lissabon) vom Un-glck heimgesucht werden.
300 Otfried Hffe
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13.5 Trifft Kants wissenschaftstheoretischeKritik Aristoteles
Lehre vom Glck?
Von den verschiedenen Einwnden, die Kant gegen das Prin-zip Glck
erhebt, sei hier nur der wissenschaftstheoretischeEinwand errtert.
Da sich der Begriff des Glcks durch einungewhnlich hohes Ma an
Unbestimmtheit auszeichne(Grundlegung: IV 418), dieser Einwand lt
sich nmlich frAristoteles weitgehend entkrften, bildet er doch
einen wohl-bestimmten und darber hinaus einen objektiven Begriff.
(ZuAristoteles Glcksbegriff neuerdings Annas 1993.) Zunchstwehrt
Aristoteles sowohl das zu kleine und billige Glck ab,das Glck im
Sinne von Glck haben (vgl. I 10, 1099b20f.;Pol. VII 1, 1323b26f.),
als auch das zu groe Glck, jeneGlckseligkeit, die den Gttern
reserviert ist. Fr das Glck,das man sich nicht blo passiv ersehnt,
sondern nach dem manaktiv strebt, fr das Strebensglck im
Unterschied zum Sehn-suchtsglck, ist der Mensch selbst zustndig; er
kann es auchim jetzigen Leben tatschlich erreichen. Dieser Begriff
ent-spricht nicht Kants Begriff einer Zufriedenheit mit demganzen
Dasein, er bedeutet vielmehr ein Glck im Sinne vonglcklich-gelungen
leben (eu zn) und glcklich-gelungenhandeln (eu prattein). (Zwar
gibt es noch eine Steigerung,vom Glcklichen, eudaimn, zum
Glckseligen, makarion; sieliegt aber nicht mehr in des Menschen
Hand: I 11 u. a.)
Die bis heute umstrittene Frage, worin das Strebensglckdenn
bestehe, errtert Aristoteles entlang von bioi. Damitsind
Lebensformen oder Lebensstrategien gemeint, mankann auch sagen:
Lebensentwrfe oder Sinnhorizonte, je-denfalls Grundmuster, nach
denen man sein Leben als ganzesfhrt und unter denen, da es sich um
Alternativen handelt,eine Wahl zu treffen ist (bion prohairoumenoi:
I 3, 1095b20).Schon diese Art, das Glck zu diskutieren, enthlt
wichtigeAussagen. Erstens deutet sie eine Schwierigkeit an, die
jedeLebenserfahrung besttigt: Man strebt nach Glck und kanntrotzdem
nicht unmittelbar darauf hinarbeiten; das Glckselber ist kein
Gegenstand einer Wahl oder Entscheidung;man kann sich nicht
entschlieen, glcklich zu werden. Ent-schlieen kann man sich aber zu
einer Lebensform, die das
Ausblick 301
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Glck mit gutem Grund erwarten lt. Der Versuch von Uti-litaristen
wie Bentham, das Glck zu berechnen und zu die-sem Zweck einen
hedonistischen Kalkl zu entwerfen, er-scheint im Vergleich zu
Aristoteles als naiv. Auf die Fragenach dem Glck bedarf es zunchst
einer zweistufigen, amEnde sogar dreistufigen Antwort; und diese
geht ber dieVerbesserung des Utilitarismus zum sog.
Regelutilitarismushinaus: (1) Man suche eine glckstaugliche
Lebensstrategie;(2) in ihrem Rahmen entwickle man Grundhaltungen
(Tu-genden); (3) erst von ihnen aus lt sich das konkrete Han-deln
bestimmen.
Ein Zweites: Insofern die Lebensstrategie, wie
Aristoteleszumindest andeutet, gewhlt wird (z. B. I 3, 1095b20),
gilt dasGlck nicht als ein Geschick, das man dem Zufall oder ue-ren
Mchten verdankt, vielmehr ist der Mensch selber dafrverantwortlich.
In der Politik (VII 13, 1332a2527) bringtAristoteles einen schnen
Vergleich: Wer die ueren Gterfr die Ursache des Glcks halte, sei
wie jemand, der ein sch-nes Musizieren mehr aufs Instrument als auf
die Spielkunstzurckfhre.
Als Kriterium fr eine Lebensstrategie verstanden, darfman
drittens das Glck weder mit einem vorbergehendenZustand hchsten
Wohlbefindens gleichsetzen noch miteiner berragenden
Einzelleistung, mit jener heroischenGrotat eines Achilleus oder
einer Antigone, die im archai-schen Griechentum so viel zhlt. Das
Glck, das man mitVerllichkeit erreichen kann und das auch vielen
offensteht(I 10, 1099b1820; hier zeigt sich eine gewisse
Demokrati-sierung des Glcks), besteht in mehr als einer privaten
Inner-lichkeit; es bedeutet eine Qualitt, die man seiner
Biographieals ganzer verleiht. Dem Glck geht es um ein Leben,
dasrundum gelingt und dessen Gelingen von Dauer ist.
Der nchste Schritt zu einem wohlbestimmten Glcks-begriff fhrt
ber den Gedanken einer fr den Menschencharakteristischen Leistung.
Dieser Gedanke erlaubt einenobjektiven Glcksbegriff, der wiederum
das entscheidendeGegenargument gegen Kants These der Unbestimmtheit
desGlcks enthlt. Auerdem gewinnt Aristoteles mittels
dercharakteristischen Leistung, der Vernunft, die beiden
Klassen
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von Tugenden; auch in dieser Hinsicht trifft die Un-bestimmtheit
nicht zu. Es bleibt nur ein Rest von Unbe-stimmtheit, da die
Tugenden, wie gesagt, das Glck nichtgarantieren. Aristoteles
Fhigkeit zu einem wohlbestimmtenGlcksbegriff hngt brigens mit den
anderen Elementenzusammen. Der Begriff ist wohlbestimmt, weil
Aristoteleseinen objektiven Begriff sucht, der wiederum zu seiner
selbst-verstndlichen Suche nach einer universalistischen
Ethikgehrt. Auch ein wohlbestimmter Glcksbegriff kann aberden
Menschen nicht von den Unsicherheiten und Risikenbefreien, die die
konkrete Suche nach einem glcklich-gelungenen Leben begleiten.
Deshalb ist der Glcksbegriff,obwohl wohlbestimmt, nur ein Grundri-
bzw. typ(i)-Be-griff.
Ziehen wir zur Frage Aristoteles oder Kant? eine vorlufigeBilanz
in fnf Stzen: (1) Nach der Intention der Ethik alseiner praktischen
Philosophie ist Kant ein Aristoteliker. (2) Inden Grundelementen
seiner Ethik ist Aristoteles Universa-list. (3) Dort, wo
Aristoteles angeblich ber Kant hinaus-reicht, bei der Urteilskraft,
gibt er eine Analyse vor, die Kantin der Sache sowohl anerkennt als
auch moralphilosophischweiterfhrt. (4) Hinsichtlich der
Handlungstheorie weiseneinige der Aristotelischen Analysen ber den
eigenen, nurstrebenstheoretischen Ansatz hinaus. Und (5) in der
Lehrevom Glck gelingt ihm, wogegen Kants These der begriffli-chen
Unbestimmtheit eine grundstzliche Skepsis uert: erentwickelt einen
objektiven und erstaunlich weit wohlbe-stimmten Begriff.
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