WISSEN 1 Wieviel Freiheit darf's denn sein? Hirnforscher stellen unseren freien Willen infrage. Philosophen wenden ein: Automaten sind wir deshalb noch lange nicht VON Manuela Lenzen | 13. September 2001 - 14:00 Uhr Nennen wir ihn Jones. Ein armer Tropf. Zuerst wurde bei ihm ein Gehirntumor festgestellt. Und als er diesen entfernen lassen wollte, geriet er an einen ruchlosen Neurochirurgen namens Dr. Black. Der nutzte die Operation, um Jones einige Elektroden ins Gehirn zu pflanzen. Von seinem Computer aus kann er seither Jones' Gedanken Tag und Nacht überwachen und fernsteuern. Er interveniert, wann immer Jones im Begriff ist, etwas zu tun, was ihm nicht gefällt. Der einzige Trost: Jones bemerkt nichts davon. Dieses Szenario stammt nicht aus einem billigen Horrorstreifen, sondern aus einem Aufsatz des amerikanischen Philosophen John Martin Fischer. Ist Jones' Wille frei? Nur bedingt - nämlich nur dann, wenn er von sich aus tun will, was auch in Blacks Interesse ist. Denn dann interveniert Black nicht. Die Frage, ob Menschen einen freien Willen haben und wie man sich diesen vorzustellen hat, ist ein philosophischer Dauerbrenner, dem derzeit allerdings besonders viel Aufmerksamkeit zuteil wird. Ihm widmen sich allein auf dem deutschsprachigen Buchmarkt in diesem Herbst gleich drei Neuerscheinungen. Diese Aktualität haben die Philosophen den Hirnforschern zu verdanken. Gestützt auf verstörende experimentelle Befunde, verkünden die Neurobiologen allenthalben auf Tagungen, in Büchern und Zeitungsartikeln: Der freie Wille ist eine Illusion. Kürzlich kam es gar in Berlin zum öffentlichen Show-down zwischen dem Direktor des Frankfurter Max-Planck-Instituts für Hirnforschung, Wolf Singer , und dem leitenden Bischof der Vereinigten Evangelisch- Lutherischen Kirche Deutschlands, Hans Christian Knuth. Während Knuth mit Luther den absoluten Vorrang des göttlichen Willens gegenüber der vermeintlich menschlichen Willensfreiheit herausstrich, hielt Singer dagegen: Alle mentalen Prozesse beruhten aufrein materiellen Vorgängen und seien daher deterministisch. Er könne jedenfalls "bei der Erforschung von Gehirnen nirgendwo ein mentales Agens wie den freien Willen oder die eigene Verantwortung finden". Das klingt nach schwerer Kost: Ist damit der Kern des menschlichen Selbstverständnisses bedroht? Geht es uns letztlich nicht anders als dem armen Jones? Sind wir nur Marionetten unserer Neuronen, Automaten ohne selbstständige Entscheidungsgewalt? Zwar mag jeder seine eigene Idee vom freien Willen haben, doch alle sind sich einig, dass ein Leben ohne diesen schrecklich sein muss. Doch was ist das überhaupt für ein Wille, der sich als Illusion erwiesen hat? Wollen wir ihn überhaupt? Der Verdacht, dass es sich mit dem freien Willen ganz anders verhalten könnte, als uns das alltäglich vorkommt, ist nicht neu. Vermutlich ist dieser Zweifel sogar so alt wie die
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Roth mahnt zur Vorsicht. "Man muss erst einmal die Fakten diskutieren, ehe man zu
großen Rezepten greift." Er selbst ist allerdings davon überzeugt, dass der Gedanke der
persönlichen Schuld und Sühne aufgegeben werden müsse.
An seine Stelle sollte der Gedanke der Prävention und Umerziehung treten.
Denn auch wenn der subjektive Wille zum Handeln nicht frei sei, so ist sei doch
wenigstens mehr oder weniger erziehbar. Für unser bisheriges Menschenbild stellen solche
Gedanken eine radikale Herausforderung dar. Denn ohne Zweifel ist es eine ungemütliche
Vorstellung, seinen Willen nur den eigenen, unkontrollierbaren neuronalen Schaltkreisen
zu verdanken. Doch was wäre das Gegenteil, ein unbedingt freier Wille? Der Philosoph
Michael Pauen, der sich in seinem neuen Buch Grundprobleme der Philosophie des
Geistes (Fischer Taschenbuch) ebenfalls mit der Willensfreiheit befasst, bemüht dazu eine
Analogie: Man stelle sich ein Parlament vor, das unter identischen Umständen mal so, malanders entscheide. Dies würde man nicht etwa wegen besonderer Unabhängigkeit schätzen,
sondern seiner Willkür wegen fürchten.
Wer will schon die totale Freiheit Ähnlich argumentiert Peter Bieri, der gerade das Buch
Das Handwerk der Freiheit fertig gestellt hat ( Hanser Verlag ). Er beschreibt einen
Menschen mit unbedingt freiem Willen als jemanden, der gerade eine neue Wohnung
bezogen hat. Bei der Einweihung versichert er, so bald nicht wieder auszuziehen. Am
nächsten Tag bestellt er die Möbelpacker, sein Wille hat sich geändert. Bei der neuen
Wohnung angekommen, hat er sich schon wieder anders entschieden. Die Möbelpacker
lassen ihn mit seinem Mobiliar am Straßenrand stehen. Unser Held aber folgt seinemWillen und geht erst einmal ins Kino.
Als er zurückkommt, haben die Leute vom Sperrmüll seine Möbel mitgenommen.
Ein derart freier Wille, schließt Bieri, wäre nicht nur wenig überlebensdienlich, er wäre das
Letzte, was wir uns wünschen würden.
Und was würden wir uns wünschen? Einen Willen, der sich unseren Urteilen fügt, meint
Bieri. Für ihn ist der freie Wille der "verstandene Wille", der zu unserem Selbstbild und
in das Profil unserer sonstigen Wünsche passt. Aber ist das nicht die Freiheit eines Jones,
der sich letztlich nur bemüht, das zu wollen, was auch Dr. Black will? Sollen wir unsere
Beschränktheiten am Ende noch begrüßen? Natürlich nicht, meint Bieri. Wir können sie
uns immerhin bewusst machen und in den Prozess der Willensbildung einbeziehen.
So gesehen bringen die Erkenntnisse der Hirnforscher die Menschheit nicht um einen
zentralen Bestandteil ihres Selbstverständnisses, sondern nur um die inkonsistente Idee
vom unbedingt freien Willen. Peter Bieri zufolge können wir alles, was uns an der Freiheit
des Willens lieb und teuer ist, nur im Rahmen durchgängiger Bedingtheit bekommen.
"Willensfreiheit ist ein zerbrechliches Gut, um das man sich stets von neuem bemühen
muss", schreibt er. Ob man sie je erreichen kann, sei eine offene Frage. "Vielleicht ist sie
eher wie ein Ideal, an dem man sich orientiert, wenn man sich um seinen Willen kümmert."
Trotz all unserer Bedingtheiten hat uns die Evolution, verglichen mit einfachenOrganismen, immer noch viel Leine gelassen. Wir funktionieren nicht wie Cola-
Automaten, bei denen man nur eine Münze einzuwerfen braucht, damit unten eine Dose
herauskommt. "Wir sind so komplex und flexibel, dass wir uns sogar selbst immer wieder
einmal überraschen können", stellt Thomas Metzinger fest. Was will man mehr?
COPYRIGHT: DIE ZEIT, 38/2001ADRESSE: http://www.zeit.de/2001/38/Wieviel_Freiheit_darf's_denn_sein_