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FALTER HEUREKA Erscheinungsort: Wien P.b.b. 02Z033405 W Verlagspostamt: 1010 Wien laufende Nummer 2294/2011 athematik Für die Forschungen in Biologie und Medizin wird Mathematik immer wichtiger Mieleuropas Spermien halbiert Gründe für die sinkende Fertilität in Österreich Außeruniversitäre Forschung Haben sich die Forschungseinrichtungen neu ausgerichtet? TITELBILD: FLORIAN RAINER Das Wissenschaſtsmagazin Nr. 1/11 Wir werden mehr. Und anders 2050 soll es 9,4 Millionen Österreicherinnen und Österreicher geben. Wir berichten, wie Wissenschaſtler den demografischen Wandel bei uns erläutern und bewerten M
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Heureka_1_11

Mar 23, 2016

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FALTERHEUREKA

Erscheinungsort: Wien P.b.b. 02Z033405 WVerlagspostamt: 1010 Wien laufende Nummer 2294/2011

athematik Für die Forschungen in Biologie und Medizin wird Mathematik immer wichtiger

Mi� eleuropas Spermien halbiert Gründe für die sinkende Fertilität in Österreich

Außeruniversitäre Forschung Haben sich die Forschungseinrichtungen neu ausgerichtet?

T I T E L B I L D : F L O R I A N R A I N E R

Das Wissenscha� smagazin Nr. 1/11

Wirwerden mehr.

Und anders

2050 soll es 9,4 Millionen Österreicherinnen

und Österreicher geben. Wir berichten,

wie Wissenscha� ler den demografi schen

Wandel bei uns erläutern und bewerten

M

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Unsere Infrastrukturlösungen sorgen für eine umweltverträgliche und

nachhaltige Stadtentwicklung. Und somit für grünere Städte.

Jeder, der in einer Großstadt lebt, kennt diese Fragen: Könnte die Luft nicht sauberer sein? Das Wasser reiner? Der öffentliche Nahver-

kehr schneller, die Infrastruktur besser und die medizinische Versorgung effizienter? Unsere Antwort: zahlreiche innovative Produkte

und Lösungen, die helfen, das Leben in der Stadt für ihre Bewohner grüner und gesünder zu machen – einfach lebenswerter eben.

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Sind Grünanlagen alles, was man für eine grüne Stadt braucht?

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HEUREKA F A L T E R 15 /11 3

S A B I N E S E I D L E R

Seit 15. März 2011 hat Österreich of�ziell eine Frauenquote. Sie

drückt einen politischen Willen aus. Doch die Ursachen für die Probleme sind zu vielschichtig, um mit einer so einfachen Maßnahme, die noch dazu in vielen Bereichen gar nicht kurz- oder mittelfristig umsetzbar ist, eine Lösung bieten zu können. Die Quo-te unterstützt Bewusstseinsbildung und kann im Einzelfall auch Unge-rechtigkeiten ausgleichen, die syste-mische Aufgabe ist jedoch so nicht zu bewältigen.

Wenn die bis 2018 angestreb-te Prozentzahl dazu führt, dass sich Prozesse in die richtige Richtung ent-wickeln, wird die Diskussion, ob 35 oder 50 Prozent, obsolet. Die Men-schen, die sich für die Gleichstellung von Frauen und Männern im Arbeits-leben einsetzen, haben nicht die Er-füllung einer Planzahl im Kopf, son-dern betrachten die gesellschaftliche Dimension. Auch wenn fraglich ist, wie ehrgeizig 35 Prozent zu bewerten sind, sie erscheinen realistisch.

Um die geplante siebenjährige Übergangsfrist beurteilen zu können, kommt es auf die angestrebte Wir-kung der Quote an. Wenn es nur dar-um geht, diese zu erfüllen, lässt man sich zu viel Zeit. Geht es aber darum, gesellschaftliche Änderungen herbei-zuführen, für die 35 Prozent letztlich nur eine Zwischenetappe sind, dann ist der Zeitrahmen angemessen.

Nun stellt sich noch die Frage, ob der Staat durch ein vermeintliches Herbeirufen kultureller Änderung ein Vorbild für Privatbetriebe sein kann. Man ist im ersten Moment ver-sucht, mit „Nein“ zu antworten. Im Gesamtkontext betrachtet, scheint es aber logisch, dass der Staat dort be-ginnt, wo er direkte Eingriffsmöglich-keiten hat.

Die Quote ist ein Schritt in die richtige Richtung, der mutlos wird, wenn er der einzige Schritt bleibt.

Seit einiger Zeit unterhalten gro-ße Unternehmen Abteilungen für Corporate Social Responsibility, kurz CSR. Damit wollen sie ihr soziales Engagement für die Gesellschaft signalisieren. Bevor man den akademischen Verdacht aufkommen lässt, es handle sich bloß um Heuchelei, sollten sich Institutionen wie Universitäten lieber die Frage stel-len, ob ihnen so etwas nicht auch von Nutzen sein könnte. Immerhin wird ihnen von ver-schiedenen gesellschaftlichen Ak-teuren, besonders solchen aus der Wirtschaft, unterstellt, durch zwecklose Grundlagenforschung und arkane Postenbesetzungen Steuergeld zu verschwenden. Nun ist es wohl vergebliche Liebes-müh, einem Wirtschaftsfunktio-när die Bedeutung von Grundla-genforschung und akademischer Freiheit begrei�ich zu machen. CSR aber kennt er. Mit CSR-Programmen könnten Unis einiges vom Vorwurf abfan-gen, sich um gesellschaftliche Not-wendigkeiten nicht zu kümmern. Kostet Geld? Nun, wenn es der akademischen Freiheit nutzt, die gesellschaftliche Notwendigkeit, aber schwer zu vermitteln ist … Unis wehren sich wie Unterneh-men gegen Einmischung von au-ßen. Mit CSR aber gehen Letztere in die Offensive, um dem Gegner auf seinem Terrain zu begegnen. [email protected]

Kommentar Editorial

Falter 15a/11 Herausgeber: Falter Verlagsgesellscha� m.b.H. Medieninhaber: Falter Zeitschri�en GmbH, Marc-Aurel-Straße 9, 1010 Wien, T: 01/536 60-0, E: [email protected], www.falter.at Redaktion: Dr. Christian Zillner Artdirektion: Dirk Merbach Layout: Reini Hackl, Raphael MoserFotoredaktion: Karin Wasner, Ioulia Kondratovitch Korrektur: Hildegard Atzinger, Patrick Sabbagh Druck: Goldmann Druck AG, 3430 Tulln DVR: 047 69 86

Impressum

Inhalt

Akademischer Star und junge ForscherinnenBemerkenswerte akademische Karrieren

Herr & Hund haben ein soziales HirnVerhaltungsforschung bei Mensch und Tier

Körpergröße und ErfolgWie beeinflusst die Größe die Karriere?

Der demografische Wandel in ZahlenDer Countdown zum Thema

Neue Staaten in Europa?Soziologe Heinsohn über Europa im Wandel

Wir werden andersMigrantinnen über das Leben in Österreich

Die Multiminoritätengesellscha�Österreichs Gesellscha� wird vielfältiger

Mi�eleuropas Spermien halbiertGründe für geringeres Bevölkerungswachstum

Die Rückkehr der alten Garde Ältere Menschen müssen länger arbeiten

Wo steht die außeruniversitäre Forschung? Arbeiten unter neuen Rahmenbedingungen

Revolutionen in Nordafrika Interview mit der Politologin Irene Etzersdorfer

Gedicht, HEUREKA-Rätsel, Gut und Böse Die Helden von Fukushima

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heureka! erscheint mit Unterstützung des Bundesministeriums für Wissenscha� und Forschung

Auf die begleitenden Maßnahmen kommt es an. Doch damit sind nicht sogenannte „Frauenförderungen“ ge-meint, die fast alle bei vermeintlichen Schwächen und nicht bei den Stärken ansetzen.

Um die Aufgaben in einer Spit-zenposition zu erfüllen, müssen die bisherigen Leistungen des/der BewerberIn Voraussetzung sein. Denn jemanden mit einer Aufga-be zu betrauen, der er/sie nicht ge-wachsen ist, macht keinen Sinn.Doch wer de�niert, welches die not-

Frauenquote: zu wenig C H R I S T I A N Z I L L N E R

wendigen Voraussetzungen sind? Es gilt, eingefahrene Wege zu ver-lassen und sich zu überlegen, ob ausschließlich das, was man als „klassische Karriere“ bezeichnet, letztlich zu der Quali�kation führt, die benötigt wird.

Finkenschlag Handgreifliches von Tone Fink www.tonefink.at

Sabine Seidlerist ab Oktober 2011Rektorin der TU Wien

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AUS WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG4 F A L T E R 15 /11 HEUREKA

Kopf im Bild

Junge Forscherinnen

Unglaublicher BissVor allem die Symbiose von Grund-lagenforschung und klinischer Tätigkeit im Fach Parodontologie und Kieferorthopädie ist für Xiaohui Rausch-Fan eine Heraus-forderung. Sie ist zurzeit Dozentin der Zahnmedizin und Oberärztin an der Division für Parodontologie und Prophylaxe der Bernhard-Go�lieb-Unizahnklinik an der MedUni Wien. Im Jänner 2011 wurde sie auf Platz eins für die Professur für orale Bio-logie an der MedUni Wien gereiht. Allfällige Berufungsverhandlungen stehen allerdings noch aus.Ihr Lebenslauf ist beeindruckend. Rausch-Fan schloss in China ein Medizinstudium ab und arbei-tete als Universitätsassistentin. Anschließend absolvierte sie ein PhD-Studium in Medical Science in Japan. In Wien studierte sie Zahnmedizin nach erfolgreicher Nostrifikation für Medizin. Nach der Gastprofessur an der Bin-Zhou-Uni in China werden wohl in Wien bald weitere Ehrungen und Arbeit auf die mehrfach ausgezeichnete Forsche-rin warten.

T E X T : N A T H A L I E G R O S S S C H Ä D L

F O T O : R E G I N A H Ü G L I

A L E X A N D R A A U R E L I A N E M E T H

Manchmal zeigt sich schon in der Kindheit reges Interesse an ei-

ner Studienrichtung. Mit dem Alter steigt dann der Wunsch zu forschen, wie die folgenden Beispiele zeigen.

Cordula Bartel, 28VetMed Uni, Wien„Die Leidenschaft zu Flora und Fau-na wurde mir in die Wiege gelegt“, so Cordula Bartel. Ihre Stofftiere muss-ten für OPs herhalten. Als Erwachse-ne interessiert sie sich für die Kombi-nation aus Veterinärmedizin, Biologie und Zellbiologie. Die „schicksalhafte Biochemie-prüfung im zweiten Stu-dienjahr Veterinärmedi-zin“ sieht einen Umweg vor: Bartel beendet das Stu-dium der Biologie/Zoologie.

Heute arbeitet die PhD-Studentin im Initiativ Doctoral College BIOREC als wissenschaftliche Mitarbeite-rin: „Ich untersuche die Wir-kung von Steroidhormonen auf die Drüsen des caninen Endometriums. Nach ei-ner Routinekastration wer-den die Drüsen aus dem Ge-webe gelöst und in ein 3D-Zellkulturmodell gebracht.“ Das Modell ermögliche Forschungs-ansätze ohne Tierversuche.

Alexandra Millonig, 39, Austrian Institute of Technology –

Mobility Dept., Wien2005 beendete Millonig das Studium der Raum-planung. Für ihre Diplom-arbeit über das „mensch-liche Orientierungsver-

halten“ erhielt sie den

Anerkennungspreis der Österreichi-schen Forschungsgesellschaft Straße

und Verkehr (FSV). Heute un-tersucht die wissenschaftli-che Mitarbeiterin des AIT Mobility Department das Mobilitätsverhalten von Personengruppen: „Mich

interessiert einerseits, wel-che Routen und Verkehrs-

mittel Menschen wäh-len, andererseits, warum welche Informationsme-dien genutzt werden.“ Verwendung �nden ihre Erkenntnisse in der Ent-wicklung von Simulations-modellen und Verkehrsin-formationssystemen. Das Ziel: Förderung nachhaltiger Verkehrsver-haltensmuster. 2010 wurde sie vom Verkehrsministerium zur FEMtech-Expertin des Monats Juni gekürt.

Eva Schwab, 36, BOKU Wien – Institut für Landscha�sarchitektur„Die Landschaftsarchitektur schien mir ein Beruf zu sein, in dem ich mei-ne Qualitäten einbringen kann“, sagt Schwab. Vor ihrem Studium arbei-tet sie sieben Jahre in Landschafts-architekturbüros. Doch das Bedürf-nis, sich mit der „theoretischen Ebe-ne intensiv auseinanderzusetzen“,

bleibt. In Asien und Südameri-ka wird sie mit der Relevanz von Landschaftsarchitektur konfrontiert. Angesichts der Urbanisierungsentwicklun-gen in Südamerika stellt sich ihr die Frage nach der Rolle

von Landschaftsarchitektur in städtischen Aufwertungsprozes-

sen. „Ich untersuche, wie Frei�ächen dazu beitragen können, Slums zu verbessern. Als Fallstudie werde ich Medellín in Kolumbien bearbeiten.“ F

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weiligen Besitzers verglichen. Bei Menschen mit geringer emotionaler Stabilität „wird der Hund zum sozia-len Unterstützer und hält sich in der Nähe seines Besitzers auf. Das sind oft Liebesbeziehungen.“

Im Rahmen des Wolf Science Cen-ter (WSC) beschäftigt sich Kotrschal ebenfalls mit Kooperation – anhand von Wölfen. „Wir gleichen dem Wolf wesentlich mehr als dem Affen – der Wolf ist zwar grausam nach außen, je-doch extrem kooperativ in der Grup-pe – das ist der Schimpanse nicht. Der Wolf ist ein idealer Spiegel, um etwas über den Mensch zu erfahren.“ Im WSC im Wildpark Ernstbrunn kann man die Tiere bald auf dem größten Laufband der Welt betrachten: „So können wir die Jagd der Wölfe erst-mals im Gehege simulieren – das ist weltweit einzigartig.“

Informationen zum Wildpark Ernstbrunn:

www.wolfscience.at

A L E X A N D R A M A R K L

Dieser Frage gingen Manuela Wedl und Kurt Kotrschal von der Kon-

rad-Lorenz-Forschungsstelle Grün-au nach. Die Verhaltensbiologen be-obachteten dazu Hunde mit ihren Be-sitzern: „Denn Menschen und ihre Kumpantiere teilen dasselbe sozia-

le Hirn“, sagt Kotrschal. Daher seien die Erkenntnisse aus der Interaktion Mensch-Hund eine gute Arbeitshypo-these für das Studium menschlicher Beziehungen und Kooperationen.

Dazu wurde die Aufmerksamkeit des Herrls vom Tier abgelenkt, das Verhalten des Hundes dabei beobach-tet und mit der Persönlichkeit des je-

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AUS WISSENSCHAFT UND FORSCHUNGHEUREKA F A L T E R 15 /11 5

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Geografie

Verhaltensforschung

Sehen gemeinsam die Welt: Herr & Hund teilen „Hirn“

Chirurgie Mathematik

Bis zu 70.000 Menschen gehen in Österreich jährlich zum Schönheitschirurgen

Das Modell der „Stress-Achse“: mit Mathematik komplexe biologische Systeme verstehen

D I E T E R H Ö N I G

J ährlich legen sich 50.000 bis 70.000 Menschen in Österreich

unters Skalpell des Schönheitschirur-gen. Ob dieser dafür auch die Lizenz hat, wird selten gefragt. Viele „Schön-heits-Docs“ entpuppen sich als Ärz-te unterschiedlicher Fachgruppen. Wirklich gelernt hat das Metier nur der Facharzt für Ästhetische, Plasti-sche und Wiederherstellende Chir-urgie. Eine gesetzliche Grauzone, die dies bisher in Europa möglich mach-te, soll nun beseitigt werden.

Seit Monaten bemüht sich die Ös-terreichische Gesellschaft für Plasti-sche, Ästhetische und Rekonstrukti-ve Chirurgie um eine EU-Norm. Sie soll u.a. Ausstattung und Hygiene von OP-Räumen, Werbeaussagen sowie Leitlinien für Patientenaufklärung beinhalten und 2013 europaweit in Kraft treten. „Grundsätzlich haben Normen Empfehlungscharakter“, sagt der Präsident der Gesellschaft, Helmut Ho�ehner. „Sie können in der Folge als Vorlage für Gesetze dienen.“ Sobald die EU-Norm in Kraft tritt, ist davon auszugehen, dass sie bei Ge-richtsverfahren als fachliche Grund-lage herangezogen wird.

Pionierarbeit in puncto Patien-tenaufklärung und Transparenz

leistet der ästhetisch-plastische Chi-rurg Univ.-Prof. Edvin Turkof. Dieser Tage erscheint der 13. Band seiner Se-rie „Enzyklopaedia Aesthetica“ im Maudrich-Verlag.

Das für den interessierten Laien konzipierte Werk (jedem Schönheits-thema ist ein eigener Band gewidmet) spricht endlich Klartext über sinnvol-le Eingriffe und Machbarkeiten, aber auch mögliche Risken. Edvin Turkof: „Die Bücher sind als Aufforderung zu verstehen, Verantwortung gegenüber dem eigenen Körper zu zeigen und eine realistische Erwartungshaltung einzunehmen.“

www.enzyklopaedia-aesthetica.com

U S C H I S O R Z

Mathematik ist eine Querwissen-schaft. Ihre Beziehung zu Phy-

sik oder Technik ist traditionell eng, nun stehen auch Biologie und Medi-zin im Fokus: Das Linzer RICAM (Jo-hann Radon Institute of Computa-tional and Applied Mathematics der Akademie der Wissenschaften) hat 2009 eine Arbeitsgruppe für mathe-matische Methoden in der System- und Molekularbiologie etabliert.

Angesiedelt hat sie sich am Cam-pus Vienna Bio Center. „Hier nehmen wir mit den Biologen und Medizinern Kontakt auf und initiieren Kooperati-onen“, sagt Philipp Kügler, einer der Leiter der Gruppe. „In der Biologie gibt es enorme Datenmengen, und wir können die essenziellen Informa-tionen heraus�ltern.“ Sind diese ein-mal in einem Modell integriert, wer-den am Rechner Hypothesen aufge-stellt und getestet. Das erspart nicht alle Experimente, aber doch einiges an Trial and Error im Labor. Ein gro-ßer Vorteil bei zeit- und ressourcen-intensiven Prozessen, etwa in der Medikamentenentwicklung.

Kügler und der Chemiker Chris-toph Flamm von der Uni Wien haben ein WWTF-gefördertes zweijähriges Projekt geleitet, das sich mit der Regu-lierung von Cortisol durch die Hirn-anhangsdrüse, einer für die Stressbe-wältigung wichtigen Funktion des en-dokrinen Systems, beschäftigt. Jetzt publizieren sie die Ergebnisse.

„Wir haben ein Modell der HPA-Achse erstellt“, erklärt Kügler den mathematischen Part. „Das ist die Hypothalamus-Hirnanhangsdrüsen-Nebennieren-Achse, die bei Stress ak-tiviert wird.“ Wird in nervenaufrei-benden Situationen das Hormon Cor-tisol verstärkt ausgeschüttet, so geht es im Normalfall danach wieder auf ein normales Level zurück. „Aber bei Depressionen oder posttraumatischer Belastungsstörung funktioniert diese Rückkoppelung nicht.“ Die Simula-tion von Fragestellungen am Modell soll zur Verbesserung der Medikati-on bei dysfunktionalen Mechanis-men beitragen. Besonders stolz ist der 35-jährige Biomathematiker, der an seiner Arbeit das Tüfteln liebt, dass er mit seinen Kollegen bestehende HPA-Modelle um den Aspekt des Hyper-cortisolismus erweitern konnte.

Kurt Kotrschal, Konrad-Lorenz-Forschungsstelle Grünau: „Men-schen und ihre Kumpantiere teilen ein soziales Hirn“

Helmut Hoflehner,Präsident der Österr. Gesellscha� für Plastische, Ästhetische und Rekonstruktive Chirurgie

Verhaltensforschung an Hunden und Wölfen zur Frage: Was bestimmt die Grundstruktur einer Beziehung?

Die jüngsten Mü�er auf der Welt. Aus: Le Monde diplomatique 2009, Berlin

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AUS WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG6 F A L T E R 15 /11 HEUREKA

Energietechnik

U S C H I S O R Z

Was hat Musikwahrnehmung mit der Therapie von Schlag-

anfällen zu tun? Und warum kön-nen Work�ow-Systeme die Krebsfor-schung voranbringen? Manchmal sind es gerade solche Kombinationen, die zu neuen Therapien für die Pati-enten führen. Da wissenschaftliche Fragestellungen häu�g über Fach-grenzen hinausreichen, setzt man zu-nehmend darauf, die Kompetenzen verschiedener Fächer zu vernetzen.

„Forschungscluster sollen innova-tive Wege eröffnen und Brücken zwi-schen grundlagen- und patienten-orientierter Forschung schlagen“, be-gründen Wolfgang Schütz, Rektor der MedUni Wien, und Heinz W. Engl, Vi-zerektor der Uni Wien, die gemeinsa-me Einrichtung von sechs neuen For-schungsclustern. Fakultäten, Zent-ren und Kliniken beider Institutionen werden ab Mai fächer- und uniüber-

greifende, translationale Forschungs-vorhaben umsetzen. Beide Unis stel-len eine Anschub�nanzierung von 1,3 Millionen Euro zur Verfügung.

Auf Basis der Begutachtung inter-nationaler Experten wurden aus 33 Anträgen sechs Clusterthemen aus-gewählt: Kooperationen in den Berei-chen „Onkologie & Infektionsbiolo-gie“, „Imaging & Kognitionsbiologie“, „Medizinische/Pharmazeutische Chemie & Onkologie“, „Biologische Psychologie & Imaging“, „Onkologie & Work�ow-Systeme“ und „Bioinfor-matik & Allergologie/Immunologie/Infektiologie“.

Die Synergien sollen Ergebnisse bringen und Keimzelle weiterer, dar-auf aufbauender Forschung sein. Die klinische Anwendung und der direk-te Nutzen für die Patienten spielen eine wichtige Rolle. Die Cluster sind auf drei Jahre befristet, man erwartet, dass sie sich danach durch Drittmittel selbst weiter�nanzieren können.

M A R T I N A W E I N B A C H E R

Dass Körpergröße und Erfolg posi-tiv miteinander korrelieren, da-

von ist der Kulturtheoretiker Gerhard Fröhlich, Professor an der Johannes-Kepler-Universität Linz, überzeugt. Große Menschen hätten es in unserer Gesellschaft leichter. Sie verfügten meist über ein höheres Einkommen und könnten einen gesellschaftlich höheren Status einfacher erreichen als ihre kleineren Mitmenschen.

Demzufolge lautet die Gretchen-frage wohl, wovon das Längenwachs-tum abhängig ist und wie es sich be-ein�ussen lässt.

Laut Fröhlich ist die Größe eine Umweltvariable: „Gene sind an sich irrelevant. Wirkmächtig werden sie erst, wenn sie aufgrund von Umweltein�üssen eingeschaltet werden.“

Das sieht Gernot Faustmann, wis-senschaftlicher Mitarbeiter an der Karl-Franzens-Universität Graz, an-ders. Der Forscher verweist auf Zwil-lingsstudien, aus denen die gene-tische Prädisposition als wichtigs-te Ein�ussgröße für das Wachstum hervorgeht.

Dennoch, fügt Faustmann hinzu, wird die Körpergröße auch zu 20 bis 40 Prozent von Umweltfaktoren mit-bestimmt. „Umweltfaktoren wirken sich besonders während der frühen Kindheit aus. In mittellosen Gesell-schaften, die vermehrt von schlech-ter Ernährung, Krankheit und psy-chosozialem Stress betroffen sind, ist der Ein�uss der Umweltfaktoren auf das Wachstumspotential äußerst stark.“

Interessant ist, dass auch sozial-politische Umstände die Körpergrö-ße negativ beein�ussen könnten. Da-ten der amerikanischen NHANES (National Health and Nutrition Exa-mination Surveys) zufolge stagniert das Längenwachstum in den USA seit den 70er-Jahren. Als wesentlicher Faktor für die Stagnation wird das so-ziale Ungleichgewicht diskutiert.

D I E T E R H Ö N I G

Die Amerikaner sind Weltspitze in puncto Fettleibigkeit. Daher er-

lebt in den USA eine Therapie ihre Re-naissance, mit der in den 60er-Jahren Hollywoodstars abspeckten: die Fett-abbaukur mit dem Schwangerschafts-hormon HCG.

Sie rückt Fettreserven dort zu Lei-be, wo Fasten und Sport nur wenig be-wirken: in den natürlichen Fettdepots an Bauch, Hüfte und Oberschenkeln. Das Prinzip: Eine reduzierte Kalori-enzufuhr von 500 Kalorien pro Tag si-gnalisiert dem Körper einen Energie-mangelzustand, worauf das HCG so-

fort reagiert, indem es die Energie, sprich Fett, aus den Depots zur Auf-rechterhaltung der vitalen Körper-funktionen heranzieht. Dadurch un-terbleibt die diättypische Unterzucke-rung mit allen Folgeerscheinungen wie Erschöpfung, Konzentrations-schwäche und Nervosität.

„Dabei sind sehr komplexe Zusam-menhänge zu beachten. Einerseits sollen Androgene und Gestagene des Patienten vor Beginn der Kur weitge-hend ausbalanciert sein, andererseits ist bei der HCG-Kur auch der indivi-duelle Fett- und Zuckerstoffwechsel mit zu berücksichtigen, um die Dosie-rung möglichst niedrig halten zu kön-nen“, sagt der Hormonexperte Univ.-Prof. Erich Müller-Tyl. Er warnt vor HCG per Selbstmedikation (Tablet-ten). Um Fett abzubauen und Muskeln zu erhalten, könne HCG aufgrund sei-ner Molekülgröße ebenso wie Insulin nur in Form von Injektionen wirksam aufgenommen werden.

Forschungscluster

Soziologie Diät

Musikwahrnehmung und die Therapie von Schlaganfällen

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Was zeigt dieses Bild?Werde du erst einmal groß! Körpergröße und gesellschaftliche Erfolgsaussichten

Gewichtsverlust unter ärztlicher Aufsicht. Fettabbau mit Schwanger-schaftshormon HCG

Gerhard Fröhlich, Professor an der Universität Linz: „Wirkmächtig werden Gene aufgrund von Umwelteinflüssen“

Peter Paul Rubens’ Venus wäre heuteein Fall für die Diätspritze

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TITEL8 F A L T E R 15 /11 HEUREKA

DEMOGRAFISCHER WANDEL

8.255.368 Menschen leben derzeit in Österreich. 2030

wird das Land laut Bevölkerungsprognosen der

Statistik Austria 8.420.812 Einwohner haben.

1.928.352 Menschen sind derzeit 60 Jahre oder älter.

In 20 Jahren werden dieser Alters-

gruppe 2.699.730 Personen angehören.

121.000 Lebensgemeinschaften mit Kindern unter 15

Jahren gab es im letzten Jahr. 1985 betrug die Zahl

der Lebensgemeinschaften mit Kindern 21.000.

107.000 Personen sind 2009 nach Österreich zugewandert,

87.000 haben das Land verlassen. Die Netto-

Zuwanderungszahl beträgt 20.000. Das sind fast 40 Prozent weniger als noch

2008 (34.436 Zuwanderungen).

105.300 Frauen mit Kindern unter 15 Jahren sind allein-

erziehend. Jede achte Mutter betreut ihre Kinder

ohne einen im Haushalt lebenden Partner.

77.814 Kinder kamen 2010 in Österreich zur Welt. 40,1 Prozent

davon unehelich. Landesweit stieg die Geburtenzahl im

Vergleich zum Vorjahr um 3,2 Prozent.

75.387 Sterbefälle gab es 2010. 67,5 Prozent der Menschen

starben in Krankenhäusern oder Heimen.

37.493 Paare traten im letzten Jahr vor das Standesamt.

5,9 Prozent mehr als im Jahre 2009.

1970 gab es 52.773 Hochzeiten.

11.012 Asylanträge wurden 2010 gestellt. Das sind 50 Prozent

weniger als vor fünf Jahren (2005: 22.461 Anträge).

6145 Einbürgerungen gab es 2010 in Österreich.

Das sind um vier Fünftel weniger Einbürgerungen

als 2003 (45.000 Personen).

2060 wird die Lebenserwartung der neugeborenen Buben

bei 85 Jahren, jene der Mädchen bei 89,2 Jahren liegen.

2050 soll die Zahl der Ein-Personen-Haushalte laut

demogra�schen Prognosen auf 1,8 Millionen ansteigen.

Das wären 41,3 Prozent aller Haushalte.

2040 wird Indien China als bevölkerungsreichstes Land der Welt

ablösen. 1,6 Milliarden Menschen sollen bis 2050 in Indien

leben. Das sind 540 Millionen mehr als heute.

2020 werden die 50- bis 64-Jährigen in Österreich die stärkste

Gruppe der Erwerbstätigen stellen.

705 gleichgeschlechtliche Paare ließen 2010 ihre Partnerschaft

eintragen. Knapp zwei Drittel (63,8 Prozent)

davon waren Männer. Die meisten eingetragenen Partnerschaften

gab es in Wien.

70,7 Prozent aller 20- bis 24-jährigen Männer wohnen im elterlichen

Haushalt. Bei den gleichaltrigen Frauen sind es 55,6 Prozent.

46 Prozent aller Ehen in Österreich wurden 2009 geschieden.

Im Schnitt waren diese Paare 10,1 Jahre verheiratet.

Gesamtscheidungsrate 1999: 40,5 Prozent.

21,7 Jahre war das durchschnittliche Heiratsalter der Frauen

im Jahr 1970. Die Männer waren im Schnitt 24,4 Jahre alt.

2010 lag das Heiratsalter der Frauen bei 29,7, das der Männer bei

31,8 Jahren.

17,8 Prozent der Bevölkerung haben Migrationshintergrund.

Ein Drittel davon stammt aus EU-Ländern.

14,3 Prozent der Männer und 17,1 Prozent der Frauen leben allein.

Insgesamt gibt es in Österreich derzeit 1,3 Millionen

Single-Haushalte. 1984 waren es 743.000.

10,7 Prozent der österreichischen Bevölkerung sind

ausländische Staatsangehörige. Die größte Herkunftsgruppe

stellten 2009 mit 213.000 Personen die Deutschen.

9,7 Prozent aller Paare mit Kindern in Österreich sind

sogenannte Patchworkfamilien.

6,93 Milliarden Menschen bevölkern derzeit die Erde.

Die Uno rechnet bis 2015 mit einem Bevölkerungs-

wachstum von 79 Millionen Menschen pro Jahr.

1,42 Kinder pro Frau – so lautet die statistische Geburtenrate 2010

in Österreich. 2009 hatte Österreich mit 1,39 eine der

niedrigsten Geburtenraten Europas.

Der Countdown zum Thema

C A R O L I N G I E R M I N D L

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ELDEMOGRAFISCHER WANDEL

HEUREKA F A L T E R 15 /11 9

Zu den Fotos des Themas

Wie fotografiert man ein

ganzes Land? Welche Leute

fotografiert man, welche

Plätze besucht man, welche

Themen sind relevant?

Wie vermeidet man es,

in visuelle und narrative

Klischees abzudri�en?

Diese Fragen waren für Florian Rainer

der Anlass zum Projekt „1000

ÖsterreicherInnen“.Mehr Infos unter:

facebook.com/1000Austrians

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DEMOGRAFISCHER WANDEL10 F A L T E R 1 5 / 1 1 HEUREKA

G U N N A R H E I N S O H N

Von sechs Kindern pro Frau 1870 sank die Anzahl in Europa bis 1916 auf drei, 1965 waren es 2,5 und im

Jahr 2000 gar nur 1,4 Kinder pro Frau. 2010 liegen 36 der weltweit 56 Staaten

mit weniger als 1,8 Kindern pro Frau in Eu-ropa. Die lebenslange und durch Anhang noch erschwerte Konkurrenz auf Arbeits-märkten zum Gewinn oder zur Verteidi-gung einer Position erweist sich zuerst in Europa und dann global als stärkstes Ver-hütungsmittel überhaupt.

Im privaten Sektor Europas fällt der Rückgang besonders krass aus. Bei jenen Menschen, die sich selbst versorgen, ten-diert die Kinderzahl zu einer schlanken 1. Nur die Ostasiaten sind nicht nur in Mathe-matik, sondern auch beim Verhüten noch besser. Die ersten drei Plätze gehen an Ma-cao (0,91), Hongkong (1,04) und Singapur (1,1). Taiwan (1,15) und Japan (1,2) geben sich nur knapp geschlagen.

Westeuropa setzt bei der Vermehrung auch auf einen der Konkurrenz entzoge-nen staatlichen Sektor, folgt also zwei Prin-zipien: Erstens, wer Nachwuchs will, soll selbst dafür bezahlen oder kinderlos blei-ben. Beihilfen ändern nichts, denn für 100 Euro Kindergeld gehen erst einmal 115 Euro an den Fiskus. Und bei Ermäßigung

S O N J A B U R G E R

Anfang dieses Jahres kam Wolfgang Lutz, Wittgenstein-Preisträger 2010,

der Realisierung seiner Vision ein großes Stück näher. Er verfolgt das Ziel, einen glo-bal gültigen demogra�schen Ansatz zu ent-wickeln, der qualitative Dimensionen wie Bildung berücksichtigt und quantitativ darstellt.

Das von ihm initiierte Wittgenstein Centre for Demography and Global Human Capital bündelt Kompetenzen und Stärken dreier unabhängiger Institutionen unter einem Dach. Somit werden in Zukunft das World Population Program (IIASA), das Vi-enna Institute of Demography der Akade-mie der Wissenschaften und das neuge-gründete WU-Forschungsinstitut Human Capital and Development im Bereich globa-le Demogra�e und Bildungsforschung eng zusammenarbeiten.

Die WU ist für Lutz ein wichtiger Part-ner, „weil im deutschsprachigen Raum we-gen fehlender Ausbildungsmöglichkeiten ein eklatanter Mangel an quali�zierten Nachwuchsdemografen herrscht“.

Entstehen in Europa neue Staaten?Der deutsche Wirtscha�swissenscha�ler Gunnar Heinsohn über den demografischen Wandel in Europa

des Steuersatzes wird dem Bürger vom oh-nehin eigenen Geld nur etwas weniger abgezwackt.

Zweitens, wer bildungsfern ist, das Lan-desidiom nicht versteht, psychisch leidet, nicht arbeiten kann und keine Steuern ent-richtet, erhält jedes Kind zu 100 Prozent aus den Börsen der Mitbürger bezahlt.

Obwohl auch Österreich dem zweiten Prinzip verp�ichtet ist, setzt es niemand radikaler um als Deutschland. Zwischen 1965 und 2010 steigt die Zahl seiner Hil-fekinder unter 15 Jahren von 130.000 auf zwei Millionen. Da keineswegs alle, aber doch viele Migranten die Kriterien des zweiten Prinzips erfüllen, liegt ihr Anteil bei den staatlich versorgten Kindern zwei- bis dreimal über ihrem Bevölkerungsan-teil. Von den Müttern unter 25 Jahren kom-men in Deutschland 57 Prozent aus der un-tersten Ausbildungsstufe. Im Bundesland Bremen werden 2003 sogar 97 Prozent er-reicht. 2011 sind dort 54 Prozent aller Erst-klässler Migranten. Zugleich haben fast 50 Prozent der Neueingeschulten – keines-wegs nur Migranten – keine Kompetenz für den Schulbesuch.

Auch Österreich strebt mit 28 Prozent seiner 15- und 16-Jährigen, die bei Pisa 2009 nicht sinnerfassend lesen konnten,

in diese Richtung. Es liegt keineswegs nur daran, dass 1990 bei den Wiener Neugebo-renen 65 Prozent Katholiken nur neun Pro-zent Muslime gegenüberstanden, während sie 2008 bereits 24,2 Prozent stellten und die Römisch-Katholischen auf 36,7 Prozent abrutschten.

Besser fahren Länder wie Norwegen oder die Schweiz. Ihre Grenzhoheit erlaubt eine gezielte Auswahl der Zuwanderer. Sie sperren keineswegs jene etwa aus Afrika und dem Islambogen aus, sondern gewin-nen von dort die Besten.

Zudem �iehen immer mehr hochquali�-zierte und steuerlich geplünderte Europäer gen Norden oder Eidgenossenschaft.

Doch Auswandern ist kein Spaziergang. Weshalb also nicht daheim bleiben, aber politisch umziehen?

In Vorarlberg, Baden-Württemberg und der Lombardei wünschen 2010 fast drei Viertel der Menschen unter 35 Jahren den Beitritt ihrer Gebiete zu einer Mega-Schweiz. Im Norden wird zwischen Grön-land, Dänemark und Estland ebenfalls ein neuer Souverän konzipiert. Grenzen jen-seits der alten Nationalismen ermöglichen dann Räume, in die auch die Tüchtigen aus den demogra�sch unrettbaren Gebieten östlich der Elbe entkommen können.

Mehr Alte, aber nicht mehr PflegebedarfBildung wurde bisher nicht in Prognosen zur Bevölkerungsentwicklung einbezogen. Das soll sich ändern

Bereits in den späten 1980ern erkannte er, dass es einen Zusammenhang zwischenBildung und Lebenserwartung gibt, der sich in weiterer Folge auf Bevölkerungspro-gnosen niederschlägt. „Das Bildungsni-veau eines Menschen wirkt sich auf fast alle Lebensbereiche aus“, so Lutz. „Die Lebens-erwartung variiert je nach Bildungsstand um fünf bis zwölf Jahre.“ In Österreich sei sie von Personen mit niedrigem Bildungs-niveau im Schnitt um sieben Jahre niedri-ger als jene von sehr gut Ausgebildeten.

Für Österreichs Zukunft entwirft Lutz folgendes Szenario: „Obwohl sich die durchschnittliche Lebenserwartung noch erhöhen wird, ist die Annahme, dass damit auch automatisch der P�egebedarf steigt, schlichtweg falsch. Denn die Alten der Zu-kunft werden ein höheres Bildungsniveau haben als die Alten der Gegenwart. Bezieht man also den Faktor Bildung mit ein, sehen die Prognosen der P�egebedürftigkeit viel besser aus.“

Die Politik wird jedoch mit einem an-deren Problem, nämlich dem Schwund an

quali�zierten Arbeitskräften, konfrontiert sein. Für Nikola Sander, Bevölkerungsgeo-gra�n und Leiterin des Bereichs „Migration and Education“ am Wittgenstein Centre steht die Politik dadurch vor einer großen

Herausforderung. „Wenn bestimmte Ar-beitsplätze nicht mehr von Österreichern nachbesetzt werden können, muss sich die Politik die Frage stellen, ob es sinnvoll und möglich ist, den Mangel durch gesteuerte Zuwanderung auszugleichen.“ Wie auch in anderen Ländern sei die Anerkennung von ausländischen Bildungsabschlüssen aller-dings nach wie vor problematisch. F

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Gunnar Heinsohn ist Soziologe und Ökonom

Nikola Sander, Bevölkerungsgeografin/Demografin am VID (Vienna Institute of Demography) der ÖAW

Wolfgang Lutz,Direktor des Wi�genstein Center for Demography and Global Human Capital

„Mit der Lebenserwartung steigt zukünftig nicht automatisch auch der P�egebedarf“

W O L F G A N G L U T Z ,

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DEMOGRAFISCHER WANDELHEUREKA F A L T E R 15 / 11 11

Grafikkabinett Püribauers Tierversuche Kommentar Go�es Sprache

Freihandbibliothek Buchtipps von Emily Walton

Heimatlosigkeit als Chance Kommunikations- und Wissenschafts-philosoph Vilem Flusser sieht in der Mig-ration eine Chance für Kreativität. Über seine Ansichten schreibt er in „Von der Freiheit des Migranten“ – ein Standard-werk des Wissenschaftlers. Flusser hat selbst Erfahrungen des Vertriebenseins und der Heimatlosigkeit gemacht und die-se Zeit als Chance für geistige Vielheit be-griffen. Mit diesem Werk will er zu einer neuen Denkart in der Migrationsdebatte anregen.

Vilem Flusser. Von der Freiheit des Migranten – Einsprüche gegen den Nationalismus. Europäische Verlagsanstalt. 142 Seiten

Alpenrepublik als Migrationsland Österreich ist seit 1945 ein Einwande-rungs-, Transit- und Auswanderungsland. Selten wird diese Tatsache aber von den Einheimischen so wahrgenommen. Die Folge: Widersprüchliche Migrations- und Integrationspolitiken führen dazu, dass die Gesellschaft zwischen Aufnahmebe-reitschaft und scharfer Abwehr schwankt. Autor Andreas Weigl gibt in seinem Buch einen umfassenden Überblick über die Migrationsgeschichte in der Zweiten Republik.

Andreas Weigl. Migration und Integration (Österreich – Zweite Republik. Befund, Kritik, Perspektive). Studienverlag. 120 Seiten

Fremde und Fachkrä�e für die Wirtscha� Migration wird häu�g als Problem dar-gestellt – und leider nicht als Chance. Ni-gel Harris, Professor an der London Uni-versity, betont in seinem Buch „The New Untouchables“, dass wir umdenken müs-sen: Mobilität und Migrationsprozes-se sind essenziell für den Fortschritt. Harris setzt sich mit globalen Migrations-prozessen auseinander und zeigt, welche Rolle sie für ökonomischen Wandel und Wachstum spielen. Eine wissenschaftli-che Abhandlung, die auch für Laien inter-essant ist.

Nigel Harris. The New Untouchables: Immigration and the New World Worker. Penguin. 272 Seiten

Geschichte einer EinwanderungDie in Wien lebende Autorin Julya Rabi-nowich erzählt die Geschichte einer jü-dischen Familie, die in den 70er-Jahren Russland in Richtung Österreich verlässt. Ein Roman über Zersplitterung, Entwur-zelung, Identität und Neude�nition. Der Leser verfolgt die Entwicklung der Ich-Er-zählerin – von kommunistischen Kinder-jahren in Leningrad (St. Petersburg) bis hin zum Wien der Gegenwart. Ein Buch über das Ankommen. Lesenswert vor al-lem wegen der berührenden, bildhaften Sprache.

Julya Rabinowich. Spaltkopf. Zsolnay Verlag. 188 Seiten

M A R T I N A W E I N B A C H E R

J esus war kein Aramäer, sondern Jude. Dennoch war die Muttersprache von Je-

sus von Nazareth nicht Hebräisch. Chris-tus sprach das damals weit verbreitete und ebenfalls zur semitischen Sprachfamilie gehörige Aramäisch.

„Aramäisch ist die älteste bekannte Buchstabenschrift. Sie existiert seit drei-tausend Jahren. Der aramäische Dialekt von Edessa, genannt Syrisch, hat sich bereits vor über zweitausend Jahren mit dem Christentum bis nach Zentralasi-en, Indien und China verbreitet“, erklärt Univ.-Prof. Aho Shemunkasho von der Uni Salzburg. Die Aramäer waren ursprüng-lich eine vorderasiatische Völkergruppe, deren Existenz seit der Bronzezeit in Syri-en und Mesopotamien nachgewiesen ist. Obwohl die antiken Aramäer ihre Herr-schaft abgeben mussten, wurde ihre Spra-che ab dem 8. Jahrhundert v. Chr. zur Ver-kehrs- und Diplomatensprache im Vorde-ren Orient.

„Ein Großteil des antiken Wissens aus dem Nahen Osten wurde vorerst ins Aramäi-sche übersetzt. Das Aramäische fand unter anderem Eingang in die Bibel und die Tar-gumim“, sagt Shemunkasho.

Während die Einzelstämme der histori-schen Aramäer durch Umsiedlungen und Bevölkerungsverschiebungen bald nicht mehr zu identi�zieren waren, bekam der Begriff „Aramäer“ eine neue Bedeutung. Er gilt ethnisch als Sammelbezeichnung für verschiedene Nomadenstämme aus dem heutigen Länderdreieck Türkei, Sy-rien und Irak. Auch eine religiöse Zuord-nung der Aramäer gibt es, wie Shemunka-sho ausführt: „Ab dem 2. und 3. Jahrhun-dert n. Chr. bekannte sich der Großteil der Aramäer zum Christentum. Die Aramä-er, auch syrische Christen genannt, waren maßgeblich an der Verbreitung des Chris-tentums beteiligt“.

Heute sind die Aramäer als syrische Chris-ten in ihren Heimatländern eine Minder-heit, denn seit dem späten 14. Jahrhundert wurden sie ihres Glaubens wegen verfolgt. „Besonders im 20. Jahrhundert �üchte-ten zahlreiche Aramäer aufgrund des Ge-nozids aus der Türkei in den Westen. Nur wenige Familien blieben zurück. Wie viele Aramäer es derzeit weltweit genau gibt, ist unklar“, sagt Shemunkasho.

Univ.-Prof. Wolfram Reiss von der Uni Wien fügt hinzu, dass Schätzungen je nach Motivation höchst unterschiedliche Angaben bieten. In Österreich leben der-zeit 5000 Aramäer. Diese gehören der sy-risch-orthodoxen Kirche an. Faszinierend ist, dass sich die heutigen Aramäer – wenn auch mit einem anderen Dialekt – theore-tisch problemlos mit Jesus von Nazareth unterhalten könnten.

Wie Jesus reden

In Österreich leben derzeit rund 5000

Aramäer. Sie könnten sich mit Jesus in seiner

Sprache unterhalten

I L L U S T R A T I O N :

B E R N D P Ü R I B A U E R

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DEMOGRAFISCHER WANDEL12 F A L T E R 1 5 /1 1 HEUREKA

E M I L Y W A L T O N U N D

A L E X A N D R A A U R E L I A N E M E T H

Sie wirken beide wie Österreiche-rinnen, sie sprechen ohne Akzent, sie sind in ihrem Beruf als Journa-listinnen erfolgreich – und doch

haben beide, wie es heißt, „Migrationshin-tergrund“. Grund genug, sie zu bitten, im Bericht über wissenschaftliche Erkennt-nisse zum demogra� schen Wandel auch ihre eigene Situation einzubeziehen.

Emily Walton

Engländer und TürkenWas mich an meiner Wohnung faszinier-te, als ich sie besichtigte? Ich denke, es war das Wienerische: der Altbau mit hohen Tü-ren, einem Treppenhaus mit verschnörkel-tem Geländer und in jedem Stockwerk ein Schildchen: „Mezzanin“, „Hochparterre“, „Erster Stock“. Es versteht sich von selbst, dass diese Wohnung von einem „ur“-wie-nerischen Makler angepriesen wurde. Mit seinem Schmäh bemühte er sich, mich, die gnä’ Frau, zu überzeugen. Dabei hatte ich mich längst für diese Wohnung entschie-den – war bereit, von einem Ende der Stadt ans andere zu ziehen, eine Migration im Kleinen sozusagen.

„Hören Sie, wie ruhig es ist“, sagte der Makler. „Wissen Sie, das ist ein gutes Haus. Der Besitzer achtet auf die richtige Klien-tel. Kein Gsindl. Keine Ausländer.“ Er zuck-te nicht mit der Wimper. Er bemühte sich nicht einmal, politisch korrekt zu sein und statt Ausländer das Wort „Migrant“ oder „kulturell Anderer“ zu verwenden. Aber es war nicht seine Wortwahl, die mich stör-te, sondern die Bemerkung an sich. Minu-ten zuvor hatte ich ihm meine Visitenkarte gegeben. Darauf mein englischer Vor- und Nachname.

„San Sie Ameriganerin?“ – „Nein, Eng-länderin. Seit 19 Jahren hier.“

Der Makler nickte zufrieden. Also eh eine von uns – seine Blicke sprachen Bän-de. Für diesen Mann – und für viele andere auch – bin ich keine Ausländerin. Obwohl ich nicht in diesem Land geboren wurde. Obwohl ich einen Vater aus England und eine Mutter aus Deutschland habe. Ob-wohl ich keine österreichische Staatsbür-gerschaft habe. Wenn mich ein Österrei-cher dann doch mal als fremd anerkennt, bin ich eine „gute Ausländerin“. Manch-mal eine „Zugereiste“ oder einfach nur „ein bissl exotisch“.

Was unterscheidet mich, die Engländerin, von den Migranten, die in den Medien ein Thema sind? Von Menschen mit türkischer Abstammung zum Beispiel. Bin ich denn keine Migrantin? Migration de� niert sich als Wanderungsbewegung zwischen Be-völkerungen aus verschiedenen Staaten.

Ich bin im Jahr 1992 von England nach Österreich gezogen. Per De� nition bin ich

tergrund. „Die meisten Westeuropäer, die nach Österreich kommen, sind gebildet. Sie fallen nicht weiter auf“, so Demograf und Wittgenstein-Preisträger Wolfgang Lutz. Engländer kommen nun mal meist als Manager, als Übersetzer, als Universi-tätsprofessoren, vielleicht zum Studium.

Anders ist es bei Migranten aus dem Osten: In den meisten Fällen sind sie auf der Flucht – vor politischen Systemen oder einem niedrigen Lebensstandard. Der Schlüssel liegt für die Wissenschaftler in der Bildung. „90 Prozent der Integrations-probleme sind auf mangelnde Bildung zu-rückzuführen“, sagt Lutz. Bildung führt zu Spracherwerb und quali� zierten Jobs. „Bil-dung hilft auch bei der Aneignung unge-schriebener Verhaltenscodes, die das Zu-sammenleben und Vermischen erleich-tern“, so Migrationsexperte Reinprecht.

Im Alltag schützt Bildung aber nicht vor dem Schubladendenken der Gesellschaft: So-ziologe Yildiz, der in der Türkei maturier-te, in Deutschland studierte, später an der Uni Köln arbeitete und seit 2008 an der Al-pen-Adria-Uni Klagenfurt ist, kennt solche Situationen: „Wollen Sie hier eine Döner-bude aufmachen?“ Das hat man ihn bei ei-nem seiner ersten Einkäufe in Klagenfurt gefragt. Der Name und ein leichter Akzent bringen ihn in die „Türken“-Schublade.

Hätte sich der Universitätsprofessor Yil-diz für meine Wohnung beworben, hät-te er sie bekommen? Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Es ist eben auch Bildung aufsei-ten des Österreichers gefragt. Kann ein Mi-grant Teil des „Wir“ werden? Stereotype können aufgebrochen werden, allerdings nur langsam. „Derzeit sind die Haltungen so verkrustet, dass Migranten sich den ste-reotypen Zuschreibungen kaum entziehen können“, so Soziologe Reinprecht. „Auch Migranten müssen die Chance haben, sich selbst zu de� nieren.“ Jeder Einzelne soll für sich selbst bestimmen können, wie er sich fühlt: Als türkischer Österreicher? Als Österreichischer Türke? Als Österreicher mit türkischen Wurzeln? Als Türke mit ös-terreichischem Wohnsitz?

„Identität ist wandelbar und gestalt-bar“, sagt Reinprecht. Sie kann von der je-weiligen Situation, dem Umfeld, abhängen. Tatsache ist: Österreich muss aufgeschlos-sener werden, sagen die Wissenschaftler. Aber wird das gelingen? Demograf Lutz zeigt sich optimistisch: „Die jungen Tür-ken von heute sind gebildeter als die älte-ren. Sie sind die besser gebildeten 45-Jäh-rigen von morgen.“ Wichtig ist, dass Öster-reich diesem Nachwuchs Chancen gibt. Denn in Zeiten der Globalisierung und der sogenannten zirkulären Migration, ziehen Quali� zierte schnell weg und nehmen ihr wertvolles Wissen mit. Dann wandern jene jungen Migranten, die in Österreich ausge-

Migrantin. In der Wahrnehmung anderer bin ich es nicht. „Die Gesellschaft denkt eben in Kategorien“, sagt Christoph Rein-precht, Sozialwissenschaftler und Migrati-onsexperte an der Uni Wien. „Wir suchen immer nach Merkmalen, die Fremde von uns unterscheiden. Wir neigen dazu, die-se Merkmale zu verallgemeinern und an-deren einen Stempel aufzudrücken.“

Österreicher und Engländer sind einan-der in der Alltags- und auch Populärkultur nah: Wir hören dieselbe Musik. Die Hitlis-ten werden da wie dort von Lady Gaga oder Rihanna angeführt. Die wenigsten Öster-reicher und Engländer kennen türkische Stars wie Mor Ve Ötesi, Tan oder Hande Ye-ner. Von Tarkan, ja, von dem hat man viel-leicht auch hierzulande gehört. Er war in den österreichischen Charts – eine Aus-nahme. Ähnliches gilt für die Belletristik, den Film und das Kochen. Jamie Olivers Rezepte zählen zu den meistverkauften Kochbüchern – in England wie in Belgien, Holland, Deutschland und Österreich.

Laut Christoph Reinprecht sind mei-ne Merkmale, also die einer Englände-rin, nicht auffallend genug. Manche mö-gen zwar glauben, ich esse gerne Baked Beans, trinke Tee mit Milch und stelle mich gerne brav britisch an der Bushalte-stelle an. Aber das reicht nicht, um fremd-artig zu wirken.

Umgekehrt ist es bei Menschen aus der Tür-kei, die Klischees übergestülpt bekom-men: Jeder Türke ist gläubiger Muslim, hat einen niedrigen sozialen Status und spricht kein Deutsch.

„Diese Klischees sind oft historisch be-dingt“, sagt Sprachwissenschaftler Erol Yil-diz von der Uni Klagenfurt. Ein Schlüssel-wort ist hier „Gastarbeiter“. Ungebildete Türken wurden vor Jahrzehnten geholt, um Hilfsarbeit zu verrichten. Da das Bildungs-niveau sich in der Regel von den Eltern auf die Kinder vererbt, sind viele Gastarbeiter-familien ungebildet geblieben. Diese Ent-wicklung hat das Türkenbild in der Gesell-schaft geprägt: Im Alltag kennen wir nicht „die Türken“, sondern Anatolier aus klei-nen Dörfern. Selbst wenn nun quali� zierte Türken nach Österreich kommen oder die zweite und dritte Generation aus der Unge-bildetheit ausbricht, bekommen alle den-selben Stempel.

Wenn ich keine Migrantin bin, was bin ich dann? „Westeuropäer, die migrieren, bezeichnet die Gesellschaft meist als Mobi-le. Menschen, die aus Osteuropa kommen, heißen Migranten“, sagt Forscher Yildiz.

Der Unterschied zwischen diesen bei-den Begriffen ist einfach: Migrant hat in den Köpfen vieler eine negative Konnotati-on. Mobile (Westeuropäer) gelten als welt-offen, interessiert und integrationsfähig. Und teilweise hat es einen wahren Hin-

Was bedeutet der demografi sche Wandel für Österreich? Eine in Österreich aufgewachsene Engländerin und eine aus Ungarn stammende Österreicherin, die nach Kanada will, recherchierten, was die Wissenscha� hierzulande dazu zu sagen hat

„Die Kenntnis

unterschiedlicher

Kulturen schaff t

mehr Off enheit

gegenüber Neuem.

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Beruf fl exibler und

kreativer“

Max Haller

Wir werden anders

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DEMOGRAFISCHER WANDELHEUREKA F A L T E R 15 /11 13

fenen selber ab. Wer eher introvertiert ist, Mitmenschen gegenüber grundsätzlich misstrauisch, wird eher unter solchen Er-fahrungen leiden als jemand, der offen ist“, also „kleine Missverständnisse oder Äu-ßerungen allgemeiner Stereotypen nicht ernst nimmt“.

Als Kind aber nimmt man alles ernst. Zu Hau-se angekommen, in den sicheren vier Wän-den, erblühte ich „zur kleinen Paprika-schote“ – konnte keine Minute still sitzen. Oft fühlte ich mich hin und her gerissen zwischen zwei Welten. Das ist heute noch so. Diese Problematik, „in zwei Welten zu Hause zu sein, wird immer akut bleiben“, weiß Max Haller. Das bedeutet vielleicht „eine Belastung, vor allem anfangs. Das wird sich bei guter Integration wohl immer mehr reduzieren.“ Doch Haller sieht auch klare Vorteile im Migrantendasein: „Die Kenntnis unterschiedlicher Kulturen und Sprachen schafft mehr Offenheit gegen-über Neuem. Auch sind Migranten im Be-ruf �exibler und kreativer.“

Das statistische Jahrbuch 2010 der Statistik Austria und der Kommission für Migrations- und Integrationsforschung bestätigt, dass der „Bildungsstand der zweiten Generation sich dem der inländi-schen Bevölkerung annähert“.

Der Anteil der Berufs- und Fachschul-absolventen bei den in Österreich gebo-renen Migranten ist mit 51 Prozent höher als bei den im Ausland geborenen Zuwan-derern und näherte sich dem Wert der Be-völkerung ohne Migrationshintergrund (59 Prozent), heißt es in dem Bericht. Die Maturanten- und Akademikeranteile der Angehörigen der zweiten Generation un-terschieden sich geringfügig von jenen der Bevölkerung ohne Migrationshinter-grund; sie waren mit zusammen 28 Pro-zent niedriger als bei den Migranten der ersten Generation (35 Prozent).

Auch Johann Bacher von der Johannes-Kepler-Universität Linz bestätigt diese Fakten: „Es gibt zwei Gruppen von Mig-ranten. Eine sehr erfolgreiche Gruppe im Schulsystem, die nach der VS eine AHS be-sucht, maturiert und studiert hat. Etwa 21 Prozent der Kinder mit Migrationshin-tergrund besuchen mit 15, 16 Jahren eine AHS – bei den Inländern sind das 24 Pro-zent. Auf der anderen Seite gibt es eine Gruppe von marginalisierten Migranten, die mit geringen Kenntnissen das Schul-system mit keinem oder nur niedrigem Ab-schluss verlassen.“

Was fehlt, sei eine „mittlere Bildungs-gruppe“. Beispiel für die Erfolgreichen: meine schulische Laufbahn. Nach der Ma-tura studierte ich. Ich denke nicht, dass ich in Ungarn so eine gute Ausbildung genos-sen hätte wie in Österreich. Aber das ist eine andere Geschichte.

Ich schloss mein Bachelorstudium inner-halb der vorgeschriebenen sechs Semester ab. Auch arbeitete ich nebenbei 25 Stun-den pro Woche in einem Büro. Ich hat-te eine österreichische Studienkollegin, die zeitgleich mit mir an�ng. Sie brauchte zwei Semester länger, obwohl sie nicht ne-ben dem Studium arbeitete. Immer wieder stellt sich mir die Frage nach dem Warum.

Johann Bacher erklärt dies so: „Es gibt eine Gruppe von erfolgreichen Schülern und Studierenden mit Migrationshinter-grund, die zu Recht auf ihre Leistungen stolz sind. Aber leider gibt es auch diese Gruppe von VerliererInnen.“

Die Zahlen belegen, dass „AusländerIn-nen ihr Studium in kürzerer Zeit abschlie-ßen“ als einheimische Studierende. Das statistische Jahrbuch 2010 gibt an, dass „im Studienjahr 2007/08 fast 24.000 Stu-dierende, darunter 3500 ausländische Staatsangehörige, ihr Hochschulstudium abschlossen. Inländische Studierende be-nötigen für ihr Diplomstudium im Mittel 12,3 Semester, während ausländische Stu-dierende bereits nach 11,6 Semestern ab-schließen.“ Vielleicht ist es auch nur Ehr-geiz, der sich bei „Migrantenkindern“, wie mir, anders zeigt.

Stichwort Ehrgeiz. Bei genauem Hinsehen wäre ich ohne ihn heute nicht dort, wo ich bin. Immer kam die P�icht zuerst. So wur-de ich erzogen. Als Kind waren die klei-nen Erinnerungen meiner Mutter lästig: „Du musst jetzt Hausaufgaben machen.“ Noch ein wesentlicher Punkt meines be-ru�ichen Erfolges: meine Hartnäckigkeit. Sie hat sich bezahlt gemacht: Ich verdiene heute gutes Geld in meinem Traumberuf.

Doch wie geht es dem Rest der zweiten Generation in Österreich? Immerhin leb-ten 2009 1,468 Millionen Personen mit Migrationshintergrund in Österreich, so der Auszug aus dem statistischen Jahrbuch 2010. Hochgerechnet sind das 17,8 Pro-zent der österreichischen Gesamtbevölke-rung. Davon sind lediglich 385.500 Perso-nen Migranten der zweiten Generation.

August Gächter vom Zentrum für So-ziale Innovation sagt, dass „man es nicht weiß, wie es der zweiten Generation ein-kommensmäßig geht. Beru�ich geht es ihr so lala.“

Das „so lala“ wird durch folgende Zah-len bestätigt: 27 Prozent der 15- bis 59-Jäh-rigen (Frauen) bzw. 64-Jährigen (Männer) sind noch in Ausbildung. Interessant ist auch, dass die Beschäftigen sich auf 19 Pro-zent in höheren Tätigkeiten, 30 Prozent in mittleren und 22 Prozent in Hilfs- und An-lerntätigkeiten verteilen.

Fazit: Alles in allem bin ich „voll inte-griert“. Erleichterung. Was für ein Glück: „Migrantin zweiter Generation“ zu sein tut doch nicht weh.

bildet wurden, ab – nach Istanbul, Berlin, London, egal wohin.

Zeit ist in der Migrationsdebatte ein wichtiger Faktor. „Der natürliche Lauf der Zeit lässt sich beschleunigen: Wenn ein Migrant eine gesellschaftlich relevante Leistung erbringt, wird sie groß gefeiert“, sagt Forscher Yildiz. Sichtbar wird dies im Sport. Ümit Korkmaz ist türkischer Ab-stammung, Aleksander Dragovic ist serbi-scher Herkunft. Sie spielen für das österrei-chische Nationalteam und werden zwar als Migranten, aber im positiven Sinne wahr-genommen. Als unsere Fußballer. Apropos Fußball: Wer sind eigentlich meine Fußbal-ler? Ich würde gern zu Österreich halten, aber leider sind die Engländer nun mal die besseren Kicker. Aber zumindest beim Ski-fahren – da halte ich zu Österreich.

Alexandra Nemeth

Tut Migrantin sein weh?

Sommerferien in Ungarn. Meine Großmut-ter tischte immer eine Wagenladung an ge-bratener Ente mit allen nur vorstellbaren Beilagen auf. Die Verwandten stets dabei und laut. Nicht weil sie stritten. Aus einem einfachen Grund: der ungarischen Menta-lität. Zurück in Österreich nahm ich mei-ne Schulkameraden als etwas kühl und dis-tanziert wahr. Ein kleiner Kulturschock nach drei Monaten Ungarn.

Hilde Weiss vom Institut für Soziologie in Wien, erklärt dieses Gefühl so: „Alle Her-kunftsgruppen zeigen darin Übereinstim-mung, dass die ,geringe Wärme‘ im gegen-seitigen Umgang der Österreicher und die Tatsache, dass Familien zu wenig zusam-menhalten, als ‚kalt‘ empfunden wird.“

In der geistesgeschichtlichen Literatur wird die österreichische Identität als eine von „Ambivalenz geprägte“ beschrieben. Weiss weiter: „Die Ambivalenz der Öster-reicher ist nicht nur feindlich, aber auch keineswegs offen, stark oszillierend, also je nach Situation schwankend.“ Österrei-cher, sagt sie, nehmen „sich selbst als eher freundlich und emotional wahr“. Im be-nachbarten Norden fühlen sich Österrei-cher wie hier die „Südländer“. Es komme hier zu einer Verschiebung der Selbst- bzw. Fremdklischees.

Als „oszillierend“ habe ich manche Szenen aus der Schulzeit in Erinnerung. „Du hast doch Paprika im Hintern“, sagten meine österrei-chischen Schulkameraden. Wenn ich heu-te darüber nachdenke, lache ich. Als Kind verstand ich die Welt nicht. In der Schule war ich vorsichtig und introvertiert.

Max Haller, Soziologe an der Karl-Fran-zens-Universität Graz würde solche Erfah-rungen eher „als leichte Diskriminierung“ bezeichnen. Er führt aus: „Ob sie statt�n-det, hängt ein wenig auch von den Betrof-

Wir werden anders

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Erol Yildiz:„Der Lauf der Zeit lässt sich in der Migrations-deba�e beschleunigen – durch besondere Leistungen“

Christoph Reinprecht:„Wir suchen immer nach Merkmalen, die Fremde von uns unterscheiden“

Hilde Weiss:„Österreicher werden im Umgang miteinander von vielen Migranten als kalt empfunden“

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Die MultiminoritätengesellschaftS A B I N E E D I T H B R A U N

Im Jahr 2025 wird die Bevölkerung Ös-terreichs laut Statistik Austria auf 8,8 Millionen angewachsen sein. Die Zahl

der 15- bis 19-Jährigen schrumpft von der-zeit knapp 500.000 auf rund 432.800, die der 20- bis 24-Jährigen von 522.600 auf etwa 476.000. Die 90- bis 94-Jährigen wer-den sich fast verdoppeln, von 36.500 auf rund 66.400. Über 95-Jährige wird es statt wie derzeit 11.300 fast 18.000 geben. Im Jahr 2050 stehen 451.400 15- bis 19-Jähri-gen fast 45.000 über 95-Jährige gegenüber – bei einer Bevölkerung von 9,4 Millionen.

Weniger Unfälle & KriminalitätEine Folge dieses Älterwerdens, so der Be-völkerungsexperte Rainer Münz, werden u.a. niedrigere Kriminalitäts- und Unfall-raten sein: „Junge Gesellschaften haben ei-nen höheren Level an tödlichen Verkehrs-unfällen, sind mehr testosterongetrieben.“ Es könnte auch die Innovationsbereitschaft abnehmen, so Münz.

Im Jahr 2010 lebten 8,38 Millionen Men-schen in Österreich. Davon wurden 1,29 Millionen im Ausland geboren (375.000 in Ex-Jugoslawien (ohne SLO), 192.000 in Deutschland, 159.000 in der Türkei). „Die Menschen, die vor 40 Jahren aus Jugosla-wien und der Türkei gekommen sind, hat-ten ein geringes Bildungsniveau, das zum Teil kompensiert, zum Teil weitergegeben wurde, u.a. durch Familienzusammen-führung“, erklärt Rainer Münz, „denn un-ser Schulsystem, das auf die Zuwanderung nicht vorbereitet war, hatte da einen Kata-lysatoreffekt. Das hat aber nichts mit der Zuwanderung der Gegenwart zu tun.“

Die MultiminoritätengesellschaftUnd wie geht es den Neo-Österreichern und Migranten heute in der Schule?

„Um deren Bildung steht es schlecht“, meint die Migrationspädagogin und Lin-guistin Inci Dirim von der Uni Wien. „In Österreich spielt die ethnisch-kulturelle Herkunft von Schülern eine große Rolle. Das Bildungssystem verfolgt zwar die Ab-sicht, dass alle dieselben Bedingungen ha-ben – aber in Bezug auf Migranten ist genau das das Problem.“

Diese seien sprachlich oft über-, aber ko-gnitiv unterfordert. Bilinguale Schulen sei-en das Zukunftsmodell. „Aber nicht bloß deutsch-französische oder -englische, son-dern auch deutsch-türkische oder deutsch-bosnisch/serbisch/kroatische Schulen wären gefragt. In Ottakring könne man eine deutsch-türkische Schule machen. Auch monolinguale Kinder wären dort gut aufgehoben. Ich sehe da große Chancen“, meint Dirim.

Die Zukunft werde keiner wie auch im-mer gearteten sprachlichen Mehrheit ge-hören. Dirim verweist auf Herwig Birg, der eine Prognose für Köln, einer Wien ver-gleichbaren Stadt, erstellt hat: „Er ist zu dem Ergebnis gekommen, dass wir auf eine

Multiminoritätengesellschaft zusteuern.“ Münz gibt in diesem Zusammenhang zu bedenken: „Die größte Zuwanderergrup-pe in Österreich sind die Deutschen. Das heißt, die größte Gruppe der Minderheiten spricht die Sprache der Mehrheit!“

Neue Themen in der PolitikIn den Parteien schlagen sich demogra�-sche Veränderungen kaum nieder. „Für Parteien ist es mittlerweile wichtiger, wel-che politischen Inhalte sie anbieten, es geht weniger darum, ein Spiegel soziode-mogra�scher Strukturen zu sein“, so Sylvia Kritzinger, Leiterin des Fakultätszentrums für Methoden der Sozialwissenschaften an der Uni Wien.

Die wachsende Zahl der Pensionisten aber ist wahlberechtigt – ist die Zeit reif für die Pensionistenpartei?

„Pensionist sein oder Frau sein oder Mi-grationshintergrund haben ist als Partei-programm allein zu wenig. Das ist ein so-ziodemogra�sches Merkmal, beinhaltet aber keine ideologische Komponente.“

Themen, die für diese Gruppen von Wichtigkeit sind, dürften nicht auf sie be-schränkt bleiben: „Dass es ein funktionie-rendes Gesundheitssystem gibt, ist für alle wichtig.“

In Zukunft werden wir keine Sparten-parteien brauchen, sondern solche, die-wichtige Inhalte transportieren und sich neuen Politikinhalten widmen. Diese neue, kulturelle Dimension in der Politik werde derzeit von zwei Parteien themati-siert: den Grünen und der FPÖ – mit unter-schiedlicher Stoßrichtung. „SPÖ und ÖVP haben es noch nicht so gut geschafft, die neuen Politikinhalte aufzunehmen und zu vermarkten. Sie werden dies tun müssen, wenn sie weiterhin erfolgreich sein wol-len“, sagt Sylvia Kritzinger.

Machen die Zeitungen dümmer?Auch Hannes Haas, stv. Vorstand des Insti-tuts für Publizistik und Kommunikations-wissenschaft an der Uni Wien, hält nicht viel von einer altersmäßigen Spartenbil-dung: „Wer verlangt in der Tra�k schon gern die Pensionistenzeitung?“

Es gebe sicherlich Bedarf hinsichtlich Service und Sozialrecht, doch der Grat zwi-schen einem Angebot, das Orientierung und Zusammenhalt schaffe, und einem, das eine Form der Ghettoisierung betreibe, sei schmal. Für gelungen hält Haas das Maga-zin Biber, wo quasi alle für alle schreiben. „Das ist nach beiden Richtungen offen, da-her spannend. Wenn hier nur Türken für Türken schrieben, wäre es zu wenig.“

Ist ein jüngeres und/oder migranti-sches Publikum gefährdeter, durch kurze Artikelchen à la Österreich Lesekompe-tenzen einzubüßen? „Ich glaube nicht an Entweder-oder, es gibt Info-Junkies, die al-les lesen und nicht genug kriegen. Und So-cial Media, Internet, Tweets sind auch eine

Form von Lesen“, so Haas. „Wo es für einen selber spannend wird, da sucht man auch. Egal, ob es um den Lieblingssportverein geht oder um die Pensionsregelung.“

Aber auch Haas bestätigt eine Kluft: „Die These von der Wissenskluft ist auch die einer wachsenden Kluft: Eine Gruppe ist gut informiert und weiß, wie man sich noch besser informieren kann; die andere nicht.“ Man setze aber schon in der Schule verstärkt auf Medienkompetenz: „Das ist mehr als nur die technische Beherrschung, das ist auch Quellenkritik. Dass man nicht auf jedes E-Mail reinfällt, zum Beispiel.“

Sind die Medien Spiegel der Gesellschaft – oder umgekehrt? Hannes Haas: „Beides, aber in Wahrheit ist es komplexer. Wir krie-gen das, was wir verdienen, solange wir es hinnehmen. Wir sind nicht ferngesteuert, sondern wenden uns den Medien zu, de-nen wir uns zuwenden wollen. Wenn das Volk Habermas-Diskurse in der Zeitung le-sen will, haben wir die auch!“ Rainer Münz weist darauf hin, dass es noch nie so viel Mediennutzung bzw. Zeitungsleser gege-ben habe wie seit dem 20. Jahrhundert.

Keine „Verlotterung“ der SpracheWarum gibt es die Habermas-Diskurse hier-zulande trotzdem nicht? Und woher kommt die Verlotterung der (Zeitungs-)Sprache?

Der Linguist Hans-Jürgen Krumm von der Uni Wien warnt davor, von „Verlot-terung“ zu reden: „Sprachen verändern sich, immer. Deshalb ist größte Vorsicht geboten, von ‚Verlotterung‘ zu sprechen. Gleichzeitig gebe ich Ihnen Recht: Gerade in Printmedien �nden sich viele Fehler und sprachliche Merkwürdigkeiten – offenbar wird immer weniger sorgfältig Korrektur gelesen.“

Vieles sei, so Krumm, wohl eher ein Un-terschied Jung versus Alt. „Jugendliche ha-ben zu allen Zeiten ihre eigenen Sprachen entwickelt – vielleicht ist der Unterschied, dass heute Medien und Werbung diese stärker ans Licht der Öffentlichkeit brin-gen und auch vereinnahmen.“

„Gemma Billa“ belegt Integration Eine typische Form solchen Sprechens sei das unter türkischstämmigen Jugendlichen in Wien häu�g verwendete „Gemma Bil-la?“. „Aus linguistischer Perspektive ist das ein vom Türkischen beein�usster Ethno-lekt“, sagt Inci Dirim. Das Türkische kennt keine Artikel oder Präpositionen, gramma-tische Merkmale werden agglutiniert. Auf das Anhängen verzichtet, wer „Gemma Billa“ sagt. „Das ist ein Anzeichen für In-tegration, die leider nur zu oft als Assimi-lation verstanden wird. Bei ‚Gemma Billa‘ aber zeigt sich die Verbundenheit mit der österreichischen Sprache, weil sie mit dem Sprachmaterial arbeiten, das sie vor�nden. Sie vermischen es mit dem, was sie mit-gebracht haben, und formen etwas Neues daraus, eine Zugehörigkeit.“

„Um die Bildung von Migranten und Neo-Österreichern steht es schlecht“ İnci Dirim, Migrations-pädagogin & Linguistin

„SPÖ und ÖVP müssen die neuen Politikin-halte aufnehmen und vermarkten“ Sylvia Kritzinger, Sozialwissenscha�lerin

Der

demografische

Wandel verändert

das Verhältnis

von Jung und Alt,

Einheimischen

und Migranten

und unsere

Sprache

„Wir kriegen das, was wir verdienen, solange wir es hinnehmen“ Hannes Haas, Kommunikations-wissenscha�ler

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Mitteleuropas Spermien halbiertM A R T I N A W E I N B A C H E R

Laut Weltbank ist die Fertilitätsrate, also die durchschnittliche Geburten-rate pro Frau, in Österreich von rund

2,6 Kindern 1960 auf 1,4 Kinder gesunken. Demnach gebiert eine Frau in Österreich heute durchschnittlich fast ein Kind weni-ger als noch vor 50 Jahren. „Es kommen im-mer weniger Kinder zur Welt. Der Anteil der älteren Menschen steigt. Da kommt ein Megaproblem auf uns zu“, meint der Fach-arzt für Frauenheilkunde und Geburts-hilfe, Johannes C. Huber, Univ.-Prof. am AKH.

Martina Beham-Rabanser, Soziologin an der Uni Linz, nennt mehre Gründe für die niedrigen Fertilitätsraten. Einerseits hat der Anteil der Mehrkindfamilien abge-nommen, vor allem in städtischen Gebie-ten. Auch bleiben heute mehr Frauen kin-derlos. Und besonders auffällig: Frauen bekommen immer später Kinder. „Noch 1970 lag das Durchschnittsalter von Frau-en bei der Geburt des ersten Kindes bei 23 Jahren. Heute liegt es bei 28“, sagt die Soziologin.

Ähnliche Beobachtungen macht Frauen-arzt Huber: „Heute kommt der Prinz oft nicht mehr mit 20, sondern mit 35. Der potenzielle Zeitraum des Kinderkriegens wird kürzer.“

„Junge Menschen sehen in vielen Fällen einer längeren Ausbildungszeit entgegen“, sagt Rudolf Richter, Soziologe an der Uni Wien. „Paare mit höherem Bildungsgrad bekommen nicht nur später, sondern auch seltener Kinder.“ Anders ist es mit Paaren aus den unteren sozialen Schichten. Diese und vor allem Migranten aus Südosteuro-pa haben deutlich mehr Kinder, erläutert Richter.

Eine in Österreich geborene Frau be-kommt in Wien durchschnittlich 1,1 Kin-der, eine in Wien lebende Frau mit Migrati-onshintergrund jedoch 1,83 Kinder.

Während im Falle der Migranten laut Richter die Kultur eine Rolle spielt, sind weitere Gründe nicht eindeutig festzuma-chen: „Eventuell steht die Überlegung, was sie ihren Kindern bieten können und soll-ten, nicht so stark im Mittelpunkt. Eines ist allerdings klar: Paare aus den unteren Bildungsschichten haben weniger beru�i-chen Flexibilitätsanspruch.“

Dass bei hochbezahlten Berufen tendenzi-ell eine höhere örtliche Mobilität und zeit-liche Anpassungsfähigkeit gefordert wird, die sich schwieriger mit Kindern vereinba-ren lässt, bestätigt Frauenarzt Huber: „Na-türlich ist das alles eine Einstellungssache, aber dass Kinder bei beru�ich erfolgrei-chen Paaren als Belastung gesehen wer-den, hört man heute öfter.“

„Es ist auffällig“, sagt Martina Beham-Rabanser, „dass der höchste Anteil der kin-derlosen Frauen in jenen Branchen ist, die sehr dynamisch und gleichzeitig unplanbar sind.“ Alle befragten Experten sind sich ei-nig, dass das derzeitige globale System, das Flexibilisierung propagiert und von Insta-bilität geprägt ist, die Fruchtbarkeit negativ beein�usst. „Mit der Globalisierung sinkt die Fertilitätsrate weltweit“, sagt Richter.

Neben wirtschaftlichen und sozialen Gründen spielt auch die Psyche eine Rolle: „Besonders bei Frauen wirkt sich Stress ne-gativ auf die Fruchtbarkeit aus. Stress kann dazu führen, dass kein Eisprung statt�n-det“, erklärt Johannes Huber. Auch Unter- und Übergewicht können die Fruchtbar-keit einschränken.

Viel wesentlicher ist für Huber und seinen Kollegen Leonhard Loimer, Leiter der Kin-derWunschKlinik Wien und Wels, die sig-ni�kante Erhöhung toxischer Stoffe in der Umwelt. „Bei 70 Prozent meiner Patienten ist der Mann unfruchtbar. Einer der Verur-sacher könnte das giftige Bisphenol A sein, das als Weichmacher in Plastik�aschen und sogar Windeln verwendet wird“, sagt Loimer.

Laut WHO halbierte sich die Anzahl der Spermien in Mitteleuropa in den letzen 40 Jahren. Zu den Stoffen, die maßgeblich da-für verantwortlich sein könnten, zählt Hu-ber auch die Pestizide: „Sie sind beson-ders gefährlich. Sie verändern den epige-

netischen Code. Die Belastung wird an die nächste Generation weitervererbt.“ Zu-gleich nennt Huber den zu hohen Hormon-anteil in der Umwelt – und hier vor allem das Östrogen im Abwasser – als entschei-dende Ursache für männliche Unfrucht-barkeit. Er spricht diesbezüglich von wis-senschaftlichen Beobachtungen über veränderte Geschlechtsmerkmale bei Rep-tilien, die an Flussmündungen gemacht wurden.

Johannes C. Huber, Frauenarzt:„Pestizide sind besonders

gefährlich. Sie verändern

den epigenetischen

Code. Die Belastung

wird an die nächste

Generation

weitervererbt“

Martina Beham-Rabanser, Soziologin:„Junge Paare leben in der

Rushhour of Life. Alles,

was dazu beiträgt, diese

Rushhour zu beruhigen,

kann sich positiv auf

die Fruchtbarkeitsrate

auswirken“

70 Prozent der

Männer seiner

Patientinnen

seien unfruchtbar,

erklärt ein

österreichischer

Arzt. Haben wir

bald keine

Kinder mehr?

Leonhard Loimer verweist auf Studien zu Östrogenwerten im Wiener Abwasser. Diese seien um neun Uhr vormittags um ein Vielfaches höher als am Nachmittag. Als Ursache nennt er unter anderem die Antibabypille: „Untersuchungen zeigen, dass Frauen morgens beim Urinieren am meisten Hormone ausscheiden.“

Wie lässt sich die Geburtenrate ankur-beln? Der Soziologe Richter plädiert dafür, dass mehr beru�iche Kombinationsmög-lichkeiten, etwa Halbtagsplätze, für Eltern

geschaffen werden. Hier sei der Mann mit-einzubeziehen. Schon jetzt dürften zehn bis zwanzig Prozent der Männer Karenz in Anspruch nehmen, auch wenn sich dies aus rechnerischen Gründen statistisch nicht belegen lässt.

Auch bei der institutionellen Versor-gung der Kleinkinder sieht Richter Hand-lungsbedarf: „Die Berufstätigkeit der Frau ist nicht per se der Grund für die Kinder-losigkeit unserer Gesellschaft. Das sieht man am Beispiel der skandinavischen Län-der. Was fehlt, sind Kinderbetreuungsplät-ze und ein familienfreundliches Umfeld.“

Dies sollte laut der Soziologin Beham-Rabanse auch bei Ausbildungsstätten gegeben sein. Nur wenn die Gefahr der Armutsfalle gebannt sei, würden junge Menschen den Schritt zur Familie wagen. „Sie leben in der rush hour of life. Das ist jene Phase, in der viel zusammenkommt: Beruf, Kinder etc. Alles, was dazu beiträgt, diese Rushhour zu beruhigen, kann sich positiv auf die Fruchtbarkeitsrate auswirken.“

Auch ein verpflichtendes Kindergartenjahr, wie es derzeit in Österreich diskutiert wird, könnte zur Entlastung der Familien beitra-gen, sind sich die Soziologen einig. Als Ein-zelmaßnahme wäre dieses jedoch ein Trop-fen auf den heißen Stein. Zusätzlich sieht Richter in der Verp�ichtung eine Frage der Werthaltung. Bei allem Optimismus wei-sen beide Soziologen auf die Grenzen der Sozialpolitik hin. Diese könne zwar hilf-reich sein, indem sie ein familienfreundli-ches Umfeld schafft und die Vereinbarkeit von Beruf und Familie fördert. Sie könne die Fertilität generell aber nicht beein�us-sen. Durch künstliche Befruchtung könn-te die Fertilität maßgeblich beein�usst werden. Auch spräche medizinisch nichts dagegen, sagen die Loimer und Huber.

„1970 lag das Durch-schnittsalter von Frauen bei der Geburt des ersten Kindes bei 23 Jahren. Heute liegt es bei 28“ M A R T I N A B E H A M - R A B A N S E

S O Z I O L O G I N A N D E R U N I L I N Z

„Untersuchungen zeigen, dass Frauen, die die Pille nehmen, morgens beim Urinieren am meisten Hormone ausscheiden“

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K I N D E R W U N S C H K L I N I K W I E N & W E L S

„Der hohe Hormonanteil in der Umwelt, vor allem das Östrogen im Abwasser, verursacht männliche Unfruchtbarkeit“

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„Was ich all die Jahre höre:

Du bist ein schwarzer

Mensch, du bist ein

schlechter Mensch.

Ich will nur eine Chance

und behandelt werden

wie andere Menschen auch“

Branislav Matic, 40

„Ich bin jung, ich habe

Kra�, ich könnte arbeiten.

Aber ich darf nicht.

Wer soll die Pension für

meine Mu�er verdienen,

wenn die Jungen nicht

arbeiten dürfen?“

Zsuzsanna Hortobagyi, 23

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D I E T E R H Ö N I G

Greise oder Weise – von wem Wirt-schaft und Gesellschaft künftig ge-führt werden, hängt davon ab, wie

wir den demogra�schen Wandel deuten. „Immer stärker ins Blickfeld rückt dabei das Modell von Reife als Ressource“, sagt der Schweizer Sozialwissenschaftler und „Zukunftsphilosoph“ Andreas Giger.

Er berichtet vom Journalisten eines deutschen Wirtschaftsmagazins, der ge-nervt gefragt habe, ob denn die Rückkehr der alten Männer bei der Deutschen Tele-kom, Bertelsmann und ABB als Vorbote ei-nes neuen Trends zu betrachten sei. „Über-nehmen die Alten etwa jetzt endgültig das Ruder? Droht eine Gerontokratie, eine Herrschaft der Greise, in der alles erstarrt und kein Raum mehr ist für junges Blut und Innovationen?“

Dem widerspricht die Tatsache, dass mehr als die Hälfte der deutschen Unternehmen kei-ne Mitarbeiter über 50 beschäftigen. In Ös-terreich ist es nicht viel anders.

Die Angst vor dem Gespenst „Überal-terung“ dürfte dennoch sehr tief sitzen, meint Giger: Zusammenbruch des Renten-systems, enormer Bedarf an neuen P�ege-plätzen, für deren Finanzierung die akti-ve Bevölkerung aufkommen muss, etc. Als Gegenpol werde dagegen das Bild der „neu-en Alten“ heraufbeschworen: fröhliche

Best Ager, die über ausreichend Geld und Zeit verfügen und durch ihren Konsum die Wirtschaft ankurbeln. „Beide Positionen sind eindeutig überzogen.“

Laut dem „Europäischen Demogra�ebe-richt“ trat 2008 ein Wendepunkt ein. Euro-pas Bevölkerung der über 60-Jährigen und Älteren wird in den nächsten 25 Jahren um durchschnittlich zwei Millionen jährlich wachsen. Die Bevölkerung im arbeitsfähi-gen Alter ab 2014 jährlich um eine bis 1,5 Millionen abnehmen.

Die EU muss sich mit Phänomenen wie Bevölkerungsrückgang, schwachem natür-lichem Wachstum und der Überalterung eines Teils der Bevölkerung auseinander-setzen. Eine Folge der Fortschritte, die auf wirtschaftlichem, sozialem und medizi-nischem Gebiet erreicht worden sind. Die Lebenserwartung ist von 1960 bis 2006 um acht Jahre gestiegen. Sie könnte von 2006 bis 2050 noch um weitere fünf Jah-re zunehmen.

„Köpfe und Alter lassen sich zählen“, sagt Giger. „Die wichtigsten Faktoren wie Le-benserwartung und Geburtenrate sind be-kannt und stabil. Wenn der Demograf über die 60-Jährigen in 30 Jahren nachdenkt, sind seine Forschungsobjekte alle längst geboren. Das Phänomen der immer länger lebenden Menschen ist global. Kommen zur steigenden individuellen Lebenserwar-tung sinkende Geburtenraten, steigt das Durchschnittsalter bei abnehmender Be-völkerungszahl. Zuwanderung kann die-se Entwicklung abschwächen, aber kaum aufhalten.“

Ähnlich sieht es der deutsche Wirt-schaftswissenschaftler und Soziologe Gunnar Heinsohn. Er weist überdies auf

die mangelnde Quali�kation mancher Ein-wanderer hin: „Auch die Einwanderung kann das demogra�sche Problem nur stre-cken, da die Elite – so sie überhaupt kommt – selbst zur Kinderlosigkeit tendiert. Da-her gibt es nur eine mutuelle Kannibalisie-rung zwischen Spitzennationen. Sie haben eine Elite, die den anderen fehlt, die sie sel-ber aber nicht verlieren wollen.“ Die bes-ten „Anwerber“ seien Länder mit kontrol-lierbaren Grenzen und eigener Hoheit über die Verwendung ihrer Steuern.

„Die Zeit wird kommen, in der sich die EU-Mitgliedsstaaten die besten Köpfe gegen-seitig abjagen“, sagt der deutsche Bildungs-experte Knut Diekmann, Referent beim Deutschen Industrie- und Handelskam-mertag in Berlin.

„Früher lag der Vorteil bei den Unter-nehmen, da sie leicht aus einem größeren Angebot an potenziellen Erwerbstätigen auswählen konnten – insoweit war es ein Anbietermarkt. Heute verkehrt sich die Si-tuation: Der Vorteil wird allmählich bei den Erwerbstätigen liegen, die sich ihre Jobs auswählen können. In Deutschland gab es in den letzten Jahrzehnten heftige politi-sche Diskussionen um die Versorgung der Jugendlichen mit Lehrstellen. In den letz-ten zwei Jahren hat sich das Blatt gewen-det: Betriebe buhlen um die besseren Ju-gendlichen mit iPads oder Gala-Essen. Das wird beispielgebend für die Zukunft.“

Noch wird diese Entwicklung eher zag-haft und unwillig zur Kenntnis genom-men. „Dieser Widerstand“, sagt der Philo-soph Giger, „speist sich aus der Verschrän-

kung zwischen unserer persönlichen und unserer gesellschaftlichen Existenz. Die wird kaum je so sichtbar wie beim Thema Älterwerden: Wir altern sowohl als Einzel-ne wie als Gesellschaft. An das Altern der Gesellschaft zu denken erinnert deshalb unweigerlich an das eigene Alter und da-mit verbunden an Krankheit und Tod. Da-mit beschäftigen sich die wenigsten gern.“

Das zunehmende Älterwerden unsere Gesellschaft lässt sich, so Giger, nicht ab-wenden – aber analysieren und nutzen. Das gebräuchliche Wort „Überalterung“ lehnt er ab, bezeichnet es als „Unwort“.

Er sieht eine Ressource „in der Reife. Sie korreliert mit dem Alter, das heißt, sie tritt mit zunehmendem Alter mit erhöh-ter Wahrscheinlichkeit auf, ist aber keines-wegs eine automatische Frucht des Älter-werdens. Älter werden wir von selbst, rei-fer nicht.“

Die älteren Manager stünden nicht we-gen ihrer Lebensjahre an der Spitze von Unternehmen, sondern weil sie wüssten, wie der Laden läuft, und weil sie ein Risiko-bewusstsein haben, das über jenes von jun-gen Menschen hinausgeht.

Es werden bald nicht mehr genug junge Nach-wuchskräfte zur Verfügung stehen, meint auch Giger. Daher ginge es nicht mehr um die Organisation eines Gnadenbrots für äl-tere Menschen, sondern darum, wie ihre Reife als Ressource in den Arbeitsprozess eingebracht werden könne.

„Eine unserer Umfragen zeigt: In der Schweiz fühlen sich reifere Menschen mit ihren speziellen Werten und Anliegen von der Politik ungenügend vertreten. In der Wirtschaft fühlen sich ältere Menschen zwar als Zielgruppe angesprochen, aber nicht wirklich wahrgenommen.“

Gefordert werde, so Giger, von allen etwas, wenn die Ressource Reife im Arbeitspro-zess genutzt werden soll: von den Unter-nehmen Angebote für anspruchsvolle älte-re Mitarbeiter. Von der Politik Rahmenbe-dingungen, die berücksichtigen, dass der Trend zur Individualisierung von Arbeits-verhältnissen gerade auch im reiferen Al-ter unaufhaltsam ist. Und von den älteren Menschen schließlich die Einsicht, dass der eigene Reifungsprozess auch jenseits der 50 weitergeht und auch eigener Investi-tionen bedarf.

Andreas Giger,Sozialwissen-scha�ler:„Wir altern sowohl

als Einzelne wie als

Gesellscha�. An das

Altern der Gesellscha�

zu denken erinnert

deshalb unweigerlich

an das eigene Alter und

damit verbunden an

Krankheit und Tod“

Die

demografische

Entwicklung

erzwingt

eine längere

Verweildauer

älterer

Menschen im

Arbeitsprozess

Die Rückkehr der alten Garde

„Europas Bevölkerung der über 60-Jährigen wächst in den nächsten 25 Jahren um durchschnittlich zwei Millionen jährlich“

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„Einwanderung kann das demogra�sche Problem nur strecken, da die Elite,so sie kommt, selbst zur Kinderlosigkeit tendiert“

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„Die Zeit wird kommen, in der sich die EU-Mitgliedsstaaten die besten Köpfe gegenseitig abjagen“

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Forschungslandschaft

Einrichtungen, die von den Kürzun-gen betroffen sind, wird in Universi-täten integriert, schätzt die Präsiden-tin von Forschung Austria.

„Die meisten der anderen Institute haben bisher seitens der öffentlichen Hand so geringe Mittel erhalten, dass dieser Wegfall nicht existenzgefähr-dend sein dürfte.“

Beim Demokratiezentrum Wien setzt man auf eine interinstitutionelle Zu-sammenarbeit: Gemeinsam mit zwei weiteren außeruniversitären Institu-ten und dem Zentrum für Friedensfor-schung und Friedenspädagogik an der Universität Klagenfurt will man ei-nen „Friedenscluster“ aufbauen.

In den nächsten drei Jahren sollen der Inhalt und die Organisationsform des Pilotprojekts zur Friedens-, Kon-�ikt- und Demokratieforschung ent-wickelt werden. Durch diese Koope-ration erhalten die drei außeruniver-sitären Institute jene Förderung, die bei der Streichung der Basissubventi-on weggefallen war.

Während Wissenschaftsminis-terin Beatrix Karl bei einer Presse-konferenz den „Friedenscluster“ als „Role-Model“ bezeichnet, sieht Gertraud Diendorfer die gesetzte Strukturreform kritischer. Die Mit-tel für den Cluster seien nur bis 2013 gesichert, sagt die Leiterin des Demo-kratiezentrums Wien. „Ich bin dafür, dass mit dem Ministerium und ande-ren Einrichtungen gemeinsam gear-beitet wird, Synergien genutzt und Förderungen transparent abgewi-ckelt werden. Aber eine Zusammen-

arbeit des außeruniversitären Sektors mit den Universitäten setzt voraus, dass der außeruniversitäre Sektor im Forschungsförderungsplan einen entsprechenden Platz hat und nicht ausgehungert wird. Daher stellt sich die Frage: Wie wird es nach 2013 wei-tergehen? Mir fehlt die langfristige Perspektive.“

Auch bei anderen stoßen BMWF-Modelle nicht nur auf Zustimmung: wie die Eingliederung von außer-universitären Instituten in universi-täre Strukturen. Laut Gabriele Amb-ros mache das nur „in einigen Fällen“ Sinn. „In anderen wiederum verlieren wir durch diese Zusammenführung natürlich geistige Wertschöpfung.“

Ein Wiko-Vorschlag lautet, Pro-jekt�nanzierungen durch das Minis-terium in Zukunft in einem offenen Call-System abzuwickeln. Für größe-re Institute wären Leistungsverein-barungen in einem Rahmen von fünf bis sieben Jahre abzuschließen.

Einen gemeinsamen Tenor scheint man nach den ersten Monaten gefunden zu haben: Man reagiert positiv auf die neuen Bedingungen. Eine Justierung der Struktur im außeruniversitären Bereich wird teilweise begrüßt. Am Kernargument des Protestes hält man jedoch fest. Ambros: „Wir dürfen auf unser wertvollstes Gut – das Wissen in den Köpfen der Mitarbeiter in den Forschungsstätten – nicht leichtfertig verzichten. Die Auswirkungen wären jedenfalls fatal. Und sind mit dem er-rechneten Einsparungspotenzial in keinster Weise zu rechtfertigen.“

Die Stimmung beschreibt Peter A. Bruck, Präsident der Wiko und Initi-ator der Plattform „Wissen/schafft/Österreich“, als „dynamisch und en-gagiert“: „Die Kürzungen haben ei-nen budgetären, aber nicht einen institutionellen Kahlschlag bewirkt. Manche Auswirkungen wie die Strei-chung der Druckunterstützungen für Publikationen und Zeitschriften wer-den erst sichtbar werden.“

Bei der Tagung habe sich die Viel-falt des Sektors gezeigt: „Mit dieser Energie und dieser Dynamik möch-ten wir weiterarbeiten. Klare Rollen geben auch mehr Kraft.“

Den Versuch, der Situation positive Sei-ten abzugewinnen, unternimmt nicht nur der Wiko-Vorsitzende: Ga-briele Ambros, Präsidentin der For-schung Austria, der Vereinigung der staatlichen und korporativen außer-universitären Forschung, meint, dass ohne den Schockeffekt im November die „Energie, die nun zu einer Nach-justierung der außeruniversitären Forschungslandschaft führen könn-te, anders nicht aufgebracht worden wäre“.

Über die unabhängigen Institu-te, deren Existenz durch die Kürzun-gen gefährdet sein könnte, gibt es von der Wiko keine Auskunft. Erst in den nächsten Wochen werde sich näm-lich zeigen, ob Einrichtungen „ins Exit“ gehen müssen oder ob es ledig-lich zu Neustrukturierungen kommt, sagt Bruck.

Dieser Einschätzung schließt sich Ambros an. Etwa ein Drittel jener 65

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Vor knapp einem halben

Jahr gingen die Wogen hoch:

Da war von „budgetärem

Kahlschlag“, von

„Vertreibung der Intelligenz“

und vom „Aushungern des

Wissenscha�ssystems“

die Rede. Und nun?

Für Aufregung hatte 2010 ein Budgetentwurf der rot-schwarzen Regierung gesorgt,

der unter anderem im Sektor der au-ßeruniversitären Forschung drasti-sche Kürzungen vorsieht: Acht Mil-lionen Euro sollen durch die Strei-chung der Basissubventionen jährlich eingespart werden.

Prompt wurde die Protestplatt-form „Wissen/schafft/Österreich“ gegründet, im November formier-te sich der Verein Wissenschaftskon-ferenz Österreich (Wiko), um die In-teressen aller unabhängigen wis-senschaftlichen Einrichtungen und Forschungsorganisationen sichtbarer zu machen. Die „Strukturbereinigun-gen“, wie sie das Ministerium nennt, könnten für viele Einrichtungen, die auf of�zielle Zuschüsse angewiesen sind, das Aus bedeuten: Laut „Wis-sen/schafft/Österreich“ werden dem Wissenschaftssystem pro Jahr etwa 80 Millionen Euro durch die Kürzun-gen genommen.

Nun, ein halbes Jahr später, ist das Bud-get im Parlament beschlossen und in Umsetzung. Die Proteststimmen sind nur scheinbar leiser geworden: Mit-te März lud die Wissenschaftskonfe-renz Österreich zu ihrer ersten Jah-restagung ins Rathaus. Dort disku-tierten etwa 160 Wissenschaftler, wie der österreichische Forschungs-raum gestaltet werden soll. Eingela-den war ebenfalls die Wissenschafts-ministerin, die sich jedoch aufgrund eines Termins in Brüssel entschuldi-gen ließ.

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Wo steht die außeruniversitäre Forschung?

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Aus gegebenem Anlass unter-sucht die Politologin Irene Et-zersdorfer den Revolutionsbe-

griff, um zu sehen, ob er auf aktuelle Ereignisse passt.

Irene Etzersdorfer ist Politologin an der Uni Wien und Gastprofessorin an der Donau-Uni Krems.

Heureka: Frau Etzersdorfer, wem gilt Ihre Forschung? Irene Etzersdorfer: Dem Versuch, die Welt, in der wir leben, zu verstehen und sich entsprechend dieser Er-kenntnis zu verhalten. Wenn sich Phänomene ändern, ist es an der Zeit, tradierte Konzepte und Begrif�ich-keiten zu überdenken. Mit zeitnahen Vorlesungen lassen sich Erfahrun-gen aus unserem persönlichen Wahr-nehmungsbereich mit theoretischen Analysen verknüpfen.Stellen die Ereignisse in Nordafrikaunser Revolutionsverständnis infrage? Etzersdorfer: Die Diskussion der letz-ten Jahrzehnte war durch alte ideo-logische Grabenkämpfe verstellt, die hier nicht mehr greifen. Die neuen Revolutionen erweisen sich als poli-tische Bewegungen. Auch ökonomi-sche Spannungen erhalten einen po-litischen Charakter. Das haben li-berale Theoretiker von Alexis de Tocqueville bis François Furet schon immer hervorgehoben. Im Gegensatz dazu stellte etwa der revolutionäre Marxismus Gewalt ins Zentrum sei-ner Argumentation, wie überhaupt Politik als ein Gewaltverhältnis be-griffen wird. Gibt es Modelle, die die Revolution in Ägypten beschreiben und erklären können? Etzersdorfer: Es geht im derzeitigen Diskurs nicht um abstrakte Begriffe, sondern zunächst um die adäquate Beschreibung gewisser historischer Ereignisse und deren Bedeutung. Die ägyptische Revolution ist zunächst ein Ereignis für sich. Zugleich zeigt sie, dass sich darin ein gewisser Trend zur Verwirklichung jener universel-len Werte artikuliert, die das Wesen moderner demokratischer Staaten ausmachen. Wie läuft die Diskussion unter Wissenschaftlern über die Ereignisse in Nordafrika? Etzersdorfer: Es gibt die Pessimisten, wie etwa André Glucksmann, die im-mer die islamistische Gefahr im Hin-

Politologie

Revolutionen in Nordafrika

sierungsansatz ein weiteres Mal wi-derlegt wurde, lässt sich mit Fukuya-ma argumentieren, dass auf Dauer ge-wisse Prinzipien nicht unterdrückt werden können. Dazu zählt der har-te Kern jener aufklärerischen Prinzi-pien wie Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Individualismus. Wie werden Sie das Thema weiter bearbeiten? Etzersdorfer: Ich würde mir den Trans-formationsprozess sehr gerne aus der Nähe ansehen und an einer englisch-sprachigen ägyptischen Universität ein Semester verbringen. Vielleicht sollte ich bei jenen österreichischen Politikern nachfragen, die im ersten Enthusiasmus eine großzügige Unter-stützung der Revolution angekündigt haben. Eine lebende Wissenschafts-subvention wäre doch eine solche Unterstützung.

„Ägyptens Revolution ist ein Ereignis für sich. Zugleich artikuliert sie universelle Werte“ I R E N E E T Z E R S D O R F E R

P O L I T O L O G I N

Demonstration für politische Freiheit in Ägypten. Der Aufstand begann am 25. Jänner 2011, dem „Tag des Zorns“

tergrund sehen und nicht merken, dass es keine islamistische Revolte ist. Einige Islamspezialisten schei-nen diese Revolution zu verschlafen, wie einst die großen Sowjetologen die Revolutionen von 1989. Auch die Be-hauptung im Gefolge des israelischen Historikers Dan Diners, dass der ara-bische Raum in Starre verharrt, zur Demokratisierung nicht fähig ist, er-weist sich als unzutreffend. Es gibt auch diejenigen, die aus ökonomi-schen Gründen ein Scheitern dieser Bewegungen voraussagen, weil sich die soziale Frage nicht befriedigen lässt, wie etwa der deutsche Politik-wissenschaftler Herfried Münkler. Welche wissenschaftlichen Erkenntnisse lassen sich jetzt aus den Ereignissen ziehen? Etzersdorfer: Während Huntington mit seinem mechanischen Moderni-

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22 F A L T E R 15 /11 HEUREKA

Gedicht

Rätsel von Gaja

Small is beautiful

E R I C H K L E I N

Es gibt Themen, die man besser mei-det – Helden etwa in einem Atemzug mit Opfern. Nach der Reaktorkatas-trophe in Fukushima sind das jene Männer, die zu retten versuchen, was noch zu retten ist. Dass sie aufgrund der hohen Verstrahlung sterben, scheint sicher; unklar ist hingegen, was sie zu ihrem Handeln motiviert.

Altruismus, eine der wesentlichen Grundlagen jeder Gesellschaft, steht nicht hoch im Kurs. Menschen, die ihr Leben opfern, sind in säkularen Öffentlichkeiten ein Tabu. Schließ-lich haben wir Aufgeklärten aus der Geschichte gelernt: Helden – welche Helden? Manager! Ästheten! Thera-peuten! Hier endet auch die kritische Berichterstattung.

An der Welt der Dachgärten huscht dennoch eine kurze Erinnerung an Atombunker und die Welt vor 1989 vorbei. Kritiker sprechen gar von „Angstlust“.

Mit dem Ende des Kalten Krie-ges und der Logik der Abschreckung schien auch die ursächliche Verbin-dung von Atomwaffen und friedli-cher Nutzung der Atomkraft außer Kraft gesetzt. Der Reaktorunfall von Tschernobyl, der nicht wenig zum Ende der Sowjetunion beigetragen hatte, wurde zum Epochenwandel er-klärt – um in Vergessenheit zu gera-ten. Der oft ge�lmte Sarkophag ist ein gruseliges Denkmal des untergegan-genen Kommunismus – Armageddon hat nicht stattgefunden! Dass auch die russischen und ukrainischen „Liqui-datoren“ vergessen wurden, steht auf demselben Blatt.

Was folgte, war eine kleine Zeit, die man gekannt haben mochte, als sie noch groß war. Ach ja – small is

beautiful. Es verschwand – nicht die Geschichte, aber die Hysterie jener Zeit, in der der deutsche Wald bald sterben sollte. Umweltschäden des Golfkrieges? Kollateral!

Seien wir ehrlich: Die Verschmut-zung von Boden, Luft oder Wasser wurde nicht durch Demonstrationen beendet, sondern durch die Anforde-rungen des Tourismus. Was nach dem Mauerfall als „Klimawandel“ wieder-kehrt, entbehrt des apokalyptischen Potenzials von damals. Wer über ei-nen Strahlenschutzkeller verfügt, hat längst vergessen, dass er mit Gerüm-pel vollgestellt ist. In den Biomarkt geht der, dessen Börse es erlaubt. Wer einst für die Umwelt kämpfte, schreibt heute bestenfalls Umweltge-schichte. Und schien es nicht tatsäch-lich so, als sei der CO2-Ausstoß das größere Übel und das AKW die besse-re Lösung? Wie üblich, haben es alle immer schon gewusst …

J O H N A S H B E R Y , E I N S P R U C H S T A T T G E G E G B E N

– Wie ein französischer König weiß

ich und weiß ich zugleich nicht, was es ist, das ich bin.

Planlos, sinnlos leidend,

glaube ich im Moment auf Draht zu sein.

– Weitere Ränder werden uns in Richtung

Leben einladen, von einem Tag auf den anderen

sämtliche Register ziehen. Verlockend

hält die Menge an, zeigt uns ein Schulterzucken,

fällt ein Urteil.

– Wie auch immer, so passiert es.

Die Eisdose �ng zu rutschen an und bekam einen Sprung.

All meine irdischen Besitztümer waren auf einmal

gar nicht mehr so irdisch. Manchmal

überfällt dich in einem Traum der ganze Chic

von allem wie ein Woge,

der du hinterherschaust in dem Bewusstsein,

sie gesehen zu haben, bereits umhüllt von

einer Andersartigkeit.

– Diese gesamte Energie der vergangenen Woche ging uns

voran ins Labyrinth. Wir konnten ihre Verwunderung

schon im Voraus hören, waren aber entschlossen,

unsere eigene Sicht der Dinge

in entscheidenden Fragen darzulegen. Allmählich verlor ich

zu diesen den Zugang. Ich weiß nicht, wer die anderen sind.

Er starb dann in weiteren Filmen.

John Ashbery (geb. 1927

in Rochester/New York)

gilt mit seinen bislang 27

Gedichtbänden als der

vielleicht bedeutendste

Lyriker Amerikas nach dem

Zweiten Weltkrieg. Lange

Zeit auch als Kunstkri-

tiker tätig, erhielt der

bekannteste Vertreter der

New York School of Poets

1976 für „Self Portrait

in a Convex Mirror“ den

Pulitzer-Preis und in

der Folge alle bedeu-

tenden amerikanischen

Literaturpreise.

E R I C H K L E I N

Aus: John Ashbery:Ein weltgewandtes Land. Gedichte

(zweisprachig, aus dem

Amerikanischen von Er-

win Einzinger). Lux books,

Wiesbaden 2010

Was am Ende bleibt

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Lösungswort:

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Waagrecht:

1 Als konfessioneller Problemstoff durchaus tragbar 6 Politisch korrekt grob gesagt7 Explosives Buchstabengemenge 9 Als EU-Braut ist sie manchen schleierha� 10 Wir fordern: Dringen Sie auf das Fremdwort! 12 Referee im Global Play (Abk.) 13 Umgekehrt macht das Briten traurig15 Oberflächlich betrachtet beherrscht es die Erde 16 So sei bi�e die geile Schni�e 17 Der Kumpel ist ein echter Wiener 19 Roma è l’eterna 22 Austro-Migrant, weltweit bekannt (Init.)23 Instrumentale Zitherpartie: Harry Lime auf Japanisch24 Architektonisches Line-up großer Metropolen 25 Wiener Café in bester Lage

Senkrecht1 Paralytischer Zustand bei starker sozialer Fremdeinwirkung2 Kümmerliche Diskussion? Wird sie nicht jetzt geführt,

werden wir alle bald ziemlich alt aussehen 3 Gulaschsuppentemperament4 Claudia bringt Farbe in den „ZiB- Flash“5 Wirkt aufgesetzt 8 Fixe Größe beim Nagelfest 11 Von ihr kann man maßgeblich abweichen 14 Sorgt für geflügelte Worte 15 Geboren in Novi Sad – heute mit breiter Brust Österreicherin (Vorname) 18 Völkerrechtliche Notunterkun� 20 Bürokratische Kehrseite der Medaillen bei völkerverbindenden

Ringkämpfen (Abk.) 21 Sprichwörtlicher Musikmacher22 Alias alias

Lösungswort:Auflösung aus Falter HEUREKA 5/2010. Waagrecht: 1 AUGUSTIN, 6 MELDEAMT, 8 U-BAHN, 9 TOC, 10 DATE, 12 SCHWEDEN, 13 NERD, 16 II, 17 URAL, 19 WEG, 20 GEIZHALS, 21 NIL, 22 KALT, 23 INES, 25 SANDLER Senkrecht: 1 ARMUTSZEUGNIS, 2 UTE BOCK, 3 SPENDEN, 4 IMMATERIELL, 5 NOTWENDIGSTE, 7 LACH , 11 ADE, 14 MAILEN, 15 BLZ, 18 REINA, 19 WAAGE, 24 SD Lösungswort: CARLA

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