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Die historisch-kritische Methode (HKM) betrachtet die Bibel primär wie ein ganz ge-
wöhnliches profanes, literarisches Werk, welches mit rein geschichtlich-literarischen
Methoden gelesen und unter kritischer Einstellung ausgelegt werden muss. Offenbarung
und Inspiration treten zurück oder werden sogar ganz aufgegeben.
Klaus Haacker konstatiert: „In diesem Bereich geht es um die Prüfung berichtender Texte
auf die Richtigkeit ihrer Angaben hin und somit auch um die ‚Kritik‘ = kritische Unter-
suchung der biblischen Geschichtsentwürfe im Großen und Ganzen.“1
Haacker weiß, dass genau an dieser Stelle die historisch-kritische Wissenschaft sich von
der dogmatischen Bibelwissenschaft trennt, die keine historischen Irrtümer in der Bibel
gelten lassen will und mit der Inspiration aller 66 kanonischen Bücher rechnet.2
2) Ziel
„Als Leitmethode wissenschaftlicher Bibelauslegung bemüht sich die historisch-kritische
Exegese zu ermitteln, welchen Sinn ein biblischer Text zur Zeit seiner Abfassung hatte.
Sie berücksichtigt dabei, dass sich dieser Sinn durch Erweiterungen und Veränderungen
gewandelt haben kann.“3 Die historisch-kritische Forschung rechnet mit langen mündli-
chen Überlieferungsprozessen, in denen Botschaften, Geschichten und Erzählungen oft
verändert, revidiert und ergänzt worden seien.
Der historisch-kritischen Methode geht es also vor allem darum, den Entstehungsprozess
der biblischen Texte nachzuzeichnen. Das ist ein äußerst schwieriges Unterfangen, da die
meisten Texte nichts über ihre Entstehung aussagen. Anscheinend war die Überliefe-
rungsgeschichte den Verfassern nicht so essentiell wichtig. Ihnen ging es wohl eher da-
rum, den Inhalt der Botschaft so zu vermitteln, dass jeder Leser Gottes Nachricht erhält.
Die nachgezeichneten Entstehungsprozesse der historisch-kritischen Forschung sind oft
sehr komplex, hypothetisch, literaturwissenschaftlich trocken und undurchsichtig und
vom Leser weder zu evaluieren noch zu verifizieren. Dazu kommen Forschungsergebnis-
se aus annähernd zwei Jahrhunderten mit einer unübersichtlichen Datenfülle von For-
schern, die sich zudem nicht zu wenig kontradiktorisch widersprechen.4
1 Klaus Haacker: Neutestamentliche Wissenschaft, Wuppertal, 21985, 20. 2 Ders., ebd. 3 Joachim Vette (Februar 2008) in WiBiLex, Artikel: „Bibelauslegung, historisch-kritisch“. Download vom
In diesem Sinne kommt schon Ulrich Körtner zu der Feststellung: „An den Universitäten
ist sie weiterhin unangefochten. In der kirchlichen und religionspädagogischen Praxis
aber wird ihr Nutzen durchaus in Frage gestellt. … Im Kern lautet die sich formierende
Kritik an der historisch-kritischen Exegese, dass sie dem Bedeutungsverlust der Bibel
Vorschub leistet.“5
3) Das Wesen der HKM
Sie stellt biblische Texte auf dieselbe Stufe wie die profanen Texte. Dadurch verliert
die Hl. Schrift ihre Autorität, ihren Offenbarungscharakter und ihre Inspiration.
Sie lehnt die Inspiration (Verbalinspiration) ab. Dadurch werden biblische Texte zu
literarischen Texten, von Menschen geschrieben, die nicht bei der Niederschrift durch
den Geist Gottes geleitet wurden.
Damit leugnet sie die Göttlichkeit des Wortes Gottes.
Sie stellt die zuverlässige Historizität der Bibel in Frage. Historizität muss wissen-
schaftlich verifizierbar sein. Wunder, Theophanien (Gotteserscheinungen), Engelser-
scheinungen und Prophetien werden in diesem Sinne angezweifelt.
4) Ausgangspunkt
Geburtsort der HKM ist die autonome Vernunft (Aufklärung). Alles, was der Ver-
nunft widerspricht, muss angezweifelt werden (Wunder, Theophanien, Engel, Pro-
phetie, Eschatologie).
Der Historismus im 19. Jahrhundert. Texte werden in ihrem historischen Kontext
untersucht. Die Botschaft des Textes tritt in den Hintergrund.
Die Bibel wird nicht pneumatisch (durch dem HI. Geist), sondern rationalistisch und
empirisch ausgelegt.6
5) Entstehung der HKM
Johann Salomo Semler
Vater der HKM ist Johann Salomo Semler7 (1725-1791). Er leugnet Inspiration und
trennt HI. Schrift vom Wort Gottes: Jesu Historizität wäre nicht zu leugnen. Er ist der
Retter der Sünder und Zöllner. Die Jungfrauengeburt aber wäre von der späteren Ge-
meinde erfunden worden, um die Göttlichkeit Jesu zu beweisen.
Semler kennt nur einen Zugang zur Bibel: Die Geschichte. Er vergleicht alle biblischen
Texte mit der damaligen Umwelt. Er leugnet den Zugang zur Schrift über den HI. Geist
und durch Gebet.
cher der Thora / des Pentateuch“, in: Erich Zenger, Hrsg., Einleitung in das Alte Testament, Kohlhammer,
Stuttgart, 62006, 60-187. 5 Ulrich Körtner: Einführung in die theologische Hermeneutik, 2006, 97. 6 Dabei bringt man der Bibel wenig Vertrauen entgegen. Ein kritischer Geist benebelt so manchen Ausleger
a priori. Dabei tritt selbst Klaus Haacker für mehr Objektivität ein: „Für den Profanhistoriker ist das Ver-
trauen in die Quellen so lange Arbeitshypothese, bis gegenteilige Beobachtungen eine Quelle als unzuver-
lässig erwiesen haben.“ Klaus Haacker: Neutestamentliche Wissenschaft, a.a.O., 78. 7 Armin Sierszyn: Die Bibel im Griff?, Brockhaus, Wuppertal, 1978, 15 ff
Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768-1834) hat als erster die Hermeneutik syste-
matisiert. Seine Hermeneutik könnte man als „Hermeneutik des Kompromisses“ be-
zeichnen, denn er versuchte Wissenschaft, Philosophie und die religiöse Gewissheit mit-
einander zu vereinigen. Es gibt also keine explizite Abgrenzung der Bibel als Wort Got-
tes gegenüber der Philosophie und der kritischen Wissenschaft. „Historische Kritik ist,
wie für das gesamte Gebiet der Geschichtskunde, so auch für die historische Theologie
das allgemeine und unentbehrliche Organon“, schreibt Schleiermacher in der zweiten
Auflage seiner „Kurze(n) Darstellung des theologischen Studiums…“ von 1830.8
Seine hermeneutischen Überlegungen hat Schleiermacher in dem Werk „Hermeneutik
und Kritik“ dargelegt, das nach seinem Tode von Fr. Lücke 1838 in Berlin herausgege-
ben wurde.
Zwei Grundsätze sind für die Hermeneutik Schleiermachers9 bindend:
1. Grundsatz: Hermeneutik als Kunstlehre
In der Hermeneutik geht es um die Kunstlehre des Verstehens, die explizit den
Grundsätzen der Sprache (Grammatik) und des logischen Denkens folgen muss. Da-
mit grenzt Schleiermacher sich von der „Hermeneutik der Wiedergeburt“ im Pietis-
mus ab. Die Bibel ist ein gewöhnliches Buch. Die Inspiration der neutestamentlichen
Verfasser lehnt Schleiermacher ab, weil sie Allgemeingut der Kirche ist, d. h. jeder
Christ ist inspiriert. Die Bibel ist so auszulegen wie jede andere christliche Ge-
schichtsquelle auch (§ 130,2 Glaubenslehre).
2. Grundsatz: psychologisches Verstehen
Biblische Texte müssen in ihrem historischen Kontext und im Blickfeld des Autors in-
terpretiert werden. Das Alte Testament spielt für Schleiermacher keine Rolle; er
möchte es lieber als Anhang zum Neuen Testament betrachten.
Ernst Troeltsch
Ernst Troeltsch10 (1865-1923) hat die historisch-kritische Methode weiter geformt. Drei
Grundansätze der HKM gibt er:
a) Kritik
Die Bibel muss kritisch gelesen werden, so Troeltsch. Die Kritik stellt die Bibel in Fra-
ge. In der „objektiven“ Kritik werden sowohl positive als auch negative Bewertungen
abgegeben. Die historisch-kritische Methode scheut sich nicht davor, das Wort Gottes
auch negativ zu beurteilen.
8 Zitat in: P. Stuhlmacher: Vom Verstehen, a.a.O., 146. 9 P. Stuhlmacher: Vom Verstehen, a.a.O., 147f. 10 A. Sierszyn: Die Bibel im Griff, a.a.O., 20 ff
der Bultmannschule. Die redaktionskritische Arbeit36 sei eine Ergänzung zur formkriti-
schen Fragestellung.
Systematisch wird jetzt zwischen Formkritik und Redaktionskritik unterschieden:
Die Formkri t ik versucht, die ältesten Traditionsstücke der synoptischen Überliefe-
rungen zu rekonstruieren, die möglicherweise auf Jesus selbst zurückgeführt werden
können. Zugleich will sie zeigen, wie solche authentischen Elemente im Laufe ihrer im
wesentlichen mündlichen Überlieferung verändert und durch neue Stoffe ergänzt worden
sind.
Demgegenüber richtet die R ed ak t ion sk r i t ik (nach Conzelmann, Marxen und Born-
kamm) das Augenmerk auf die Verarbeitung des Traditionsgutes durch die Evangelisten
und fragt nach den Veränderungen, die der Traditionsstoff durch das Eingreifen der Re-
daktoren erfahren hat sowie nach den hinter dem Redaktionsvorgang stehenden theologi-
schen Motiven.37
Es geht bei der Redaktionskritik also um die E n d r e d a k t i o n ! Was veranlasste den End-
redaktor, seinen Stoff so auszuwählen, wie er jetzt im kanonischen Text vorliegt? Welche
M ot iv e , vor allem welche theologischen Motive leiteten ihn bei der Auswahl? An die-
ser Stelle kann man natürlich einige Vergleiche zwischen den Synoptikern ziehen, da sie
oftmals über dieselben Ereignisse berichten, aber unterschiedliche Schwerpunkte setzen.
Lukas z. B. ordnet den Inhalt vor allem heilsgeschichtlich an, Matthäus messianisch und
Markus pragmatisch.
Beurteilung
Natürlich haben die Synoptiker inhaltliche und theologische Schwerpunkte gesetzt. Das
wissen wir aus eigenen Studien heraus und das wissen wir auch schon seit den Kirchen-
vätern, die dies herauskristallisiert haben (Eus., h. e., III, 24,7-11; VI,14,7). Dazu brau-
chen wir die kritischen Ansätze der Redaktionskritik mit ihren Voraussetzungen der
Formkritik nicht. Denn die Redaktionskritik rechnet weder mit der Historizität der Evan-
gelien noch mit ihrer Wahrhaftigkeit und Zuverlässigkeit.
36 Zur neutestamentlichen Redaktionskritik außerhalb der Evangelien vgl. H. Zimmermann: Neutestament-
lichen Methodenlehre: Darstellung der historisch-kritischen Methode, Stuttgart, 1982 (1978). 37 Klaus Berger räumt allerdings ein, dass eine genaue Scheidung von traditionellen und redaktionellen
Stoffen häufig unmöglich ist (Exegese des NT, 206).
Folglich lehnt R. L. Thomas38 die redaktionsgeschichtliche Arbeit kategorisch ab, weil
sie das Vertrauen in den historischen Wert der Evangelien zerstört. Thomas spricht lieber
von der grammatikalisch-historischen Arbeit an den Evangelien.
Es stellt sich vor allem die Frage, wem denn nun diese „redaktionsgeschichtlichen“ Un-
tersuchungen nützen? Wir können doch den Verfassern nicht mehr die Frage stellen,
weshalb sie diese Elemente in ihrem Evangelium aufgenommen haben und jene nicht!
Sie wurden doch bei der Stoffauswahl durch den Hl. Geist geleitet. Der Hl. Geist schreibt
Heilsgeschichte. Die theologischen Schwerpunkte bei den einzelnen Evangelisten sind in
den kanonischen Endtexten zu entdecken und nicht innerhalb von hypothetischen Quel-
len, die angeblich benutzt wurden und die überhaupt nicht mehr (oder nie) vorhanden
sind (waren).
Verwendung der Redakt ionskr i t ik in der L ibera len Theo log ie
Klaus Berger stellt die Redaktionskritik nach der Arbeitsweise der historisch-kritischen
Methode vor.39
„Kriterium für eine befriedigende redaktionsgeschichtliche Erklärung ist u. a. die mögli-
che theologiegeschichtliche und historische Einordnung in das Werden des frühen Chris-
tentums.“
Das bedeutet also wiederum, dass die Gemeindesituation während der Abfassung der
neutestamentlichen Schriften (vor allem der Evangelien und der Apostelgeschichte) eine
wichtige Rolle spielten und somit die Verfasser bei ihrer Niederschrift beeinflusst hätten.
Als Beispiel wird die Endzeitrede aus Mk. 13 vorgelegt.40 Mk. habe die ganze Tradition
der Eschatologie um stilisiert, und zwar auf die Zeit der Mission und der Gegenwart der
Gemeinde hin. Die Gemeinde ist von Leiden und Verfolgungen geprägt. Das apokalypti-
sche Schulmaterial hat Markus für die Gemeinde rezipiert und angeglichen. Man könnte
an dieser Stelle von einer markianischen Gemeindetheologie sprechen. Damit wird die
Endzeitrede nicht mehr Jesus selbst zugebilligt, sondern sie ist nunmehr sekundär, erwei-
tert, verändert, bei Markus auch gekürzt und durch die sogenannte „markianische Ge-
meindetheologie“ neu geschrieben.
In gleicher Weise geht Walter Grundmann41 anhand von Mt. 23 vor: Die Mahnrede (We-
he-Rufe) Jesu über die Pharisäer wurde von Matthäus für die Gemeinde umgeschrieben!
Zur Zeit der Abfassung des Evangeliums zwischen 70 und 100 n. Chr. steht die christli-
38 R. L. Thomas: Hermeneutics of Evangelical Redaction Criticism, JETS 29 (1986), 447-459. Thomas
setzt sich auch kritisch mit den Evangelienkommentaren von Robert H. Gundry, William L. Lane und I.
Howard Marshall auseinander. 39 Klaus Berger, a.a.O., 205-217 40 Vgl. dazu Berger, a.a.O., 210 41 Walter Grundmann: Das Evangelium nach Matthäus (ThHNT), Berlin, 61986 (1968), 481 – 483.
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che Gemeinde nämlich in der Auseinandersetzung mit dem sich in Jabne-Jamnia neu
konstituierenden Judenschaft. Die Weherufe gelten also der Judenschaft in Jabne-Jamnia.
Zwar hätte sich ja auch schon Jesus mit den Pharisäern auseinandergesetzt, aber so ve-
hement wie dies in Mt. 23 geschieht, kann diese scharfe Konfrontation erst im Gemein-
dezeitalter geschehen sein. Welche Worte aus Mt. 23 überhaupt noch auf Jesus selbst
zurückgehen, bleibt fraglich. Der Zweifel durch die redaktionskritische Arbeit ist beim
Leser gestreut und damit hat sie ihr Ziel erreicht.
Anhand dieser zwei Beispiele (Berger / Grundmann) erkennen wir, wie riskant die Re-
daktionskritik seitens der liberalen Theologie ist und wohin ihre wohlgemeinten wissen-
schaftlichen Studien führen und weshalb starke Grenzen zwischen der Redaktionskritik
und der eigentlichen Arbeit der neutestamentlichen Verfasser gezogen werden müssen.
Denn die neutestamentlichen Verfasser hatten das Bedürfnis, die Worte ihres HERRN
und Meisters, dem Messias und dem Sohn Gottes, dem Retter der Welt, so genau wie
möglich (Lk. 1,1-4) unter der Leitung des Hl. Geistes, der sie in alle Wahrheit leitet
(Jh. 14,26), aufzuschreiben, damit Leser und Leserinnen zum lebendigen Glauben an
JESUS kommen können (Jh. 20,31) und diese Berichte eben nicht zu verändern, zu er-
weitern, zu verkürzen oder der Gemeindetheologie anzupassen.
6.6. Die Religionsgeschichte
Die Religionsgeschichte sucht nach Parallelen in der Umwelt Israels oder auch der neu-
testamentlichen Gemeinde. Dabei wird vor allem die biblische Offenbarung zurückge-
drängt und es wird behauptet, dass das Volk Israel viele religiöse Elemente von den
Nachbarvölkern übernommen hätte.
Die Problematik besteht darin, dass die Texte aus der Umwelt zum religionsgeschichtli-
chen Vergleich herangezogen werden. Den Texten aus der Umwelt wird mehr Vertrauen
entgegengebracht als den biblischen Texten. Wenn die Texte aus der Umwelt etwas an-
deres sagen als die biblischen Texte, dann werden jene aus der oft Umwelt bevorzugt.
Das hat damit zu tun, dass sowohl die überlieferungsgeschichtliche als auch die redakti-
onsgeschichtliche Methode die biblischen Texte sehr spät datiert.
Die religionsgeschichtliche Methode geht davon aus, dass die israelitische Religion sich
durch einen langen Entwicklungsprozess aus der kanaanitischen Religion herauskristalli-
siert habe.
Viele Gesamtdarstellungen alttestamentlicher Forschung erscheinen nicht mehr unter
dem Titel „Theologie des Alten Testaments“, sondern unter dem Titel „Religionsge-
schichte Israels“.
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In den Evangelien wendet man das Abstraktionsverfahren an: Die Ausscheidung alles
Jüdischen und alles Christlichen aus der Jesusüberlieferung soll uns zu den echten Je-
susworten führen, konstatieren Bultmann42 und Käsemann43.
Das lehnt selbst Klaus Haacker ab: „Die Ausscheidung alles Jüdischen und alles Christli-
chen aus der Jesusüberlieferung führt also nicht zu einem historisch gesicherten, sondern
zu einem von vornherein mit Sicherheit unhistorischen Bild von Jesus.“44
Zur Begründung seiner Antithese wendet Haacker das Abstraktionsverfahren auf Martin
Luther an:
„Man stelle sich vergleichsweise vor, wir besäßen keine Schriften Martin Luthers und
müssten seine Gestalt und Theologie aus der Überlieferung seiner Schüler rekonstruieren
(etwa aus den am besten vergleichbaren Tischgesprächen). Es wäre geradezu lächerlich,
wenn man den ‚echten‘, den ‚historischen‘ Luther nach einem entsprechenden Subtrakti-
onsprinzip zu rekonstruieren suchte, indem man am überlieferten Lutherbild sowohl alles
Spätmittelalterliche, als auch alles Altprotestantische streichen würde. Es käme alles an-
dere heraus als der Luther, der im 16. Jahrhundert gelebt und die Reformation ausgelöst
hat.“45
42 R. Bultmann: Die Geschichte der synoptischen Tradition, Berlin, 11921, 5.Aufl., 222. Vgl. dazu Kl.
Haacker: Neutestamentliche Wissenschaft, a.a.O., 75. 43 Käsemann: Exegetische Versuche und Besinnungen, Bd. I, Göttingen, 1960, 205. Vgl. dazu Kl. Haacker:
Zwar spricht man heute wieder von Wundern und vom Übernatürlichen. Aber dennoch
ist Bultmanns exegetischer Ansatz nicht überholt. Die historische Faktizität der Bibel
wird auch heute in der modernen Hermeneutik bei Seite gelassen, denn dann müsste man
ja der Bibel die Wahrheit zusprechen und Wahrheit ist heute relativ. Der Entmythologi-
sierungsansatz Bultmanns hat seinen Niederschlag in der ökumenischen, in der feministi-
schen und befreiungstheologischen Hermeneutik gefunden, eigentlich überall dort, wo
ebenfalls die historische Faktizität und der Offenbarungscharakter der Bibel aufgehoben
wird. Auch wenn der Begriff „Entmythologisierung“ nicht mehr in den Mund genommen
wird, so wird der hermeneutische Ansatz dennoch praktiziert.
3. Kontextuale Hermeneutik
Am Ende des 20. Jahrhunderts kamen weitere Auslegungsmethoden hinzu. Die eine ist
die kontextuale.
Kontextuale Bibelexegese besagt, dass man die sozialen, politischen und kulturellen
Fragen, die Menschen heute umtreiben, zur bestimmenden Perspektive der Herme-
neutik erklärt.55 Man sucht sogleich aus der Bibel die Antworten auf sozial-politische
Fragestellungen oder anders ausgedrückt: die Bibel muss dafür erhalten.
Die Befreiungstheologie nennt dies den „hermeneutischen Zirkel“: Wenn der Prophet
Amos die Reichen anklagt, weil sie die Armen unterdrücken (Amos 2,6; 4,1; 5,11.12), so
führt man den Zirkel weiter zu den Ureinwohnern Südamerikas, die ausgebeutet und un-
terdrückt werden. Die Sache ist zwar richtig, aber der Weg ist verkehrt. Denn die Bibel
wird zu einer politischen Charta. Die Bibelexegese wird dazu missbraucht, dass unter-
drückte Völker aufgefordert werden, das Schwert in die Hand zu nehmen – wozu der
Weltkirchenrat immer wieder insgeheim in Südafrika aufrief.
Kontextuale Bibelexegese gibt es auch in der ökumenischen und feministischen Her-
meneutik.
55 Peter Beyerhaus: Aufbruch der Armen, Bad Liebenzell, 1981, 41.
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4. Ökumenische Hermeneutik
Quellen:
1) Joachim Cochlovius / Peter Zimmerling, Hrsg.: Evangelische Schriftauslegung – ein
Quellen- und Arbeitsbuch für Studium und Gemeinde, Brockhaus, Wuppertal, 1987:
Beitrag von Reinhard Slencka: Schrift – Tradition, Kontext – die Krise des Schrift-
prinzips und das ökumenische Gespräch: S. 424 – 433.
2) Hans Steubing: Bekenntnisse der Kirche, Brockhaus, Wuppertal, 1985.
3) Karl Rahner u. Herbert Vorgrimler: Kleines Konzilskompendium – sämtliche Texte
des Zweiten Vatikanischen Konzils: Herder, Freiburg i. Br., 1991.
4) Ulrich H.J. Körtner: Einführung in die theologische Hermeneutik, WBG, Darmstadt,
2006. § VIII Ökumenische Hermeneutik.
Damit eine Verständigung der Kirchen erfolgen kann, braucht es eine gemeinsame
Grundlage.
Verschiedenheiten müssen aufgehoben werden, oder aber man lässt sie anstehen.
Die unterschiedlichen Konfessionen suchen auch nach einer gemeinsamen Hermeneutik.
Grundlage für die Hermeneutik ist die Bibel. Und damit fängt die Kontroverse schon an:
Was ist die Bibel? Welche Bedeutung hat sie? Über welche Autorität verfügt sie? Wie
steht es mit dem Umfang des Kanons? Ist sie Gottes Wort oder Menschenwort? Gilt sie
nur für das Leben oder auch für die Lehre?
Über alle diese Fragen wird es in der ökumenischen Diskussion nie einen gemeinsamen
Nenner geben.
Also muss man nach anderen Lösungen suchen. Die Bibel darf dabei nicht so eine große
Rolle spielen oder gar keine.
Wir sprechen von der Krise des Schriftprinzips.
Von daher versucht man den gemeinsamen Nenner nicht in der Bibel zu finden, sondern
in der Geschichte, denn in der langen Geschichte der Kirchen findet man immer Gemein-
samkeiten. Man will also die Gemeinsamkeiten finden und Unterschiede bei Seite lassen.
Die dogmatische Entscheidung weicht dem Prinzip der geschichtlichen Entwicklung!
Einfach gesagt: Einheit um jeden Preis, auch wenn biblische Wahrheiten dabei zu Grun-
de gehen und mit Füßen getreten werden. Auf der 9. Weltmissionskonferenz im Jahre
1980 in Melbourne (Australien) wurde in der Sektion III,22 aufgefordert:
„Wir könnten dabei vielleicht auch entdecken, dass Gott in den Erfahrungen anderer
Religionen frische Inspirationen für uns bereit hält.“56
56 Peter Beyerhaus: Aufbruch der Armen, Bad Liebenzell, 1981, 47.
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Dabei müssen in der ökumenischen Bewegung die Kirchen nicht ihre Identität aufgeben.
Einheit kann es dennoch geben: „Es gibt viele Kirchen, die Kirchen bleiben und eine
Kirche werden“, sagte vor Jahren Kardinal Josef Ratzinger (Papst Benedikt XVI.).
Aber was müssen die einzelnen Kirchen nicht alles auf dem Weg zur Einheit verwerfen?
Und damit sind wir bei der Basis der Kirchen angelangt: Es geht um die Bibel.
Schrift und Tradition
In der röm.-kath. Kirche spielt die Tradition eine große Rolle.
Zur Tradition gehören die Kirchenväter, Augustin, Thomas von Aquin, die Bekenntnisse,
die Enzykliken.
Was sagt nun die röm.-kath. Kirche zur Tradition (heilige Überlieferung)?
Auf dem 2. Vatikanischen Konzil vom 18. 11. 1965 heißt es in der Konstitution „DEI
VERBUM“ (Gottes Wort):
„Die heilige Überlieferung und die Heilige Schrift sind eng miteinander ver-
bunden und haben aneinander Anteil. Demselben göttlichen Quell entsprin-
gend, fließen beide gewissermaßen in eins zusammen und streben demselben
Ziel zu. Die Heilige Schrift ist Gottes Rede, insofern sie unter dem Anhauch
des Heiligen Geistes schriftlich aufgezeichnet wurde. Die heilige Überliefe-
rung aber gibt das Wort Gottes, das von Christus dem Herrn und vom Heili-
gen Geist den Apostel anvertraut wurde, unversehrt an deren Nachfolger
weiter, damit sie es unter der erleuchtenden Führung des Geistes der Wahr-
heit in ihrer Verkündigung treu bewahren, erklären und ausbreiten. So ergibt
sich, dass die Kirche ihre Gewissheit über alles Geoffenbarte nicht aus der
Heiligen Schrift allein schöpft. Daher sollen beide mit gleicher Liebe und
Achtung angenommen und verehrt werden.“
Reaktion der protestantischen Kirchen
Man würde erwarten, dass die protestantischen Kirchen sich nun wieder an Luthers „sola
scriptura“ (allein die Schrift) erinnern und sich darauf berufen und dass sie neu die 66
Bücher der Bibel hoch halten gegen die Apokryphen, die in dem Kanon der röm. – kath.
Kirche aufgenommen wurden.
Aber da kann man lange warten. Im Gegenteil:
Die protestantischen Kirchen haben das „sola scriptura“ vergessen, bewusst vergessen, es
aufgehoben, zur Seite gedrängt, es in den tiefsten Ozean versenkt. Sie sind so sehr vom
Rausch der Einheit umnebelt, betäubt, befangen, dass sie bereit sind, alle Wahrheiten
aufzugeben, um nur dieses Ziel zu erreichen.
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Gerhard Ebeling spricht von der „Hermeneutik der Konfessionen“.57 Man will also
nur noch von einer Hermeneutik sprechen, der alle zustimmen können. Auch hier muss
man dann wieder Kompromisse eingehen.
Grundlage für eine gemeinsame Hermeneutik ist dann auch nicht mehr die Lutherbibel,
sondern die ökumenische Einheitsübersetzung.
Ebeling versucht den gemeinsamen Nenner wiederum in der Kirchengeschichte zu fin-
den. Und er konstatiert, dass die vielen Bekenner und Theologen der verschiedenen Kir-
chen und Konfessionen doch irgendwie immer wieder dieselben Wahrheiten erkannt ha-
ben. Gott hat sich doch auch in den verschiedenen Kirchen quer durch die Geschichte
immer wieder offenbart: „Insofern gehört die Kirchengeschichte mit zum Offenba-
rungsgeschehen.“
Ähnlich geht der Bultmannschüler Ernst Käsemann vor, wenn er sagt:
Die Schrift steht nicht mehr gleichzeitig der Kirche aller Zeiten gegenüber (!), sondern
sie entfaltet sich gewissermaßen in der Kirchengeschichte und in der Vielfalt von Kir-
chen und Konfessionen!58
Damit steht nicht mehr die Hl. Schrift über die Kirchen, sondern sie ist nur noch ein Teil
der Offenbarungen innerhalb der Kirchen!
Damit ist die Bibel nicht mehr „norma normens“, also alleinige Norm! Die Bibel hat ihre
Autorität verloren. Sie ist nicht mehr das Fundament.
Weltkonferenz für Glauben und Verfassung in Montreal 1963
Auf der 4. Weltkonferenz für Glauben und Verfassung in Montreal 1963 wird dann auch
gar nicht mehr von der Bibel als Gottes Wort gesprochen. Für das Wort „Bibel“ setzt
man das Wort „Tradition“ ein. Und man spricht auf der Konferenz von T r a d i t i o n
und T r a d i t i o n e n !
Unter Tradition versteht man die Bibel, aber auch die kirchliche Überlieferung.59
Damit sind die Kirchen der röm.- kath. Kirche entgegen gekommen!
Und wie ist die röm. –kath. Kirche den protestantischen Kirchen entgegen gekommen?
Im Jahre 1998 veröffentlichte die Ständige Kommission „Faith and Order“ des Weltrats
der Kirchen ihren Entwurf einer ökumenischen Hermeneutik mit dem Titel „A Treasure
in Earthen Vessels“ („ein Schatz in irdenen Gefäßen“, 2.Kor. 4,7).60 Die bisherige
57 Gerhard Ebeling: Wort Gottes und Tradition. Studien zu einer Hermeneutik der Konfessionen (Kirche
und Konfession, Bd. 7), Göttingen, 1964, 9-27 in: Evangelische Schriftauslegung, hrsg. v. Cochlovius u.
Zimmerling, 1987, 425f. 58 Zusammengefasstes Zitat in: Evangelische Schriftauslegung, hrsg. v. Cochlovius u. Zimmerling, a.a.O.,
426. 59 R. Slenczka: Schrift-Tradition-Kontext, in: Evangelische Schriftauslegung, a.a.O., 427. 60 U. Körtner: Einführung in die theologische Hermenutik,2006, 159-171. Körtner selbst versteht seine
theologische Hermeneutik als ein Beitrag zur ökumenischen Hermeneutik (Epilog, S. 172).
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Schrift- und Dogmenhermeneutik wurde um das Thema einer Hermeneutik der Symbole,
Riten und Bräuche erweitert. Neben den Begriff der Einheit tritt der Begriff der Kohärenz
(Zusammenhang): Differenzen und Gemeinsamkeiten der Konfessionen sollen kohärent
nebeneinander stehen und toleriert werden. Ferner spricht man von der „Hermeneutik im
Dienst der Einheit“. Dabei tritt die Wahrheitsfrage selbstverständlich in den Hintergrund,
denn niemand darf behaupten, dass er im Besitz der Wahrheit wäre. Hermeneutik im
Dienst der Einheit um den Preis der Wahrheit, so könnte das Fazit der neueren
ökumenischen Hermeneutik lauten.
Wechsel der Zeiten
Galt in der reformatorischen Zeit das „sola scriptura“ zeitlos und bedingungslos, so ist
dieses Bekenntnis heute verloren gegangen. Die Bibel war das geoffenbarte Wort Gottes.
Sie zeigt den Weg zum Leben, denn JESUS ist das Wort Gottes.
Der Mensch wird geboren aus dem Wort Gottes, sagt der Apostel Petrus.
Wie will der Mensch an JESUS glauben, wenn man die Bibel nicht mehr hat?
Was wir über JESUS wissen, ist uns in der Bibel bezeugt.
Wenn die Bibel nicht mehr „norma normens“ ist, dann schmelzen die Worte aus
Joh. 10,11; 11,25; 14, 6; Apg. 4,12 wie Eis dahin.
Wenn die Wahrheit nicht mehr in der Bibel zu finden ist, wo dann?
Wer ist dann der Weg?
Wenn die historisch – kritische Methode der Bibel das Vertrauen entzogen hat (und Tau-
sende haben dadurch ihr Vertrauen zur Bibel verloren), so hat die ökumenische Bewe-
gung das „sola scriptura“ aufgehoben. Damit ist die Autorität hinfällig.61
Wo aber gibt es dann Autoritäten?
Der postmoderne, postaufgeklärte Christ liest wohl noch die Bibel, aber er lebt nicht
mehr nach dieser göttlichen Autorität:
Die rationalistisch-emotionale, situationsbedingte Subjektivität wird zur „norma nor-
mens“, zur alleinigen Autorität.
Wenn der emanzipierte Mensch die Wegweisung nicht in der Schrift findet, dann in dem
Kollektiv.
Damit vergisst aber der moderne diesseitsorientierte Mensch, dass es nicht nur die göttli-
che Sphäre gibt. Wenn er die Bibel als Autorität verwirft, dann steht er in der Gefahr sich
anderen Autoritäten bewusst oder unbewusst hinzugeben.
61Die Herrnhuter Losungen stehen in der Gefahr, den Weg der liberalen Anpassung zu gehen: Für den 10.
Sonntag nach Trinitatis gab es zwei Predigtvorschläge, einmal aus Jes. 62, 6-12 und dann auch aus dem
Buch der Apokryphen Sirach 36, 13 – 19. Und das Losungswort für den Monat September 2006 stammte
aus Weisheit 15,1. Für die fortlaufende Bibellese kann der Leser sich dann für 1. Chronik oder für das
apokryphische Buch der Weisheit entscheiden.
30
Wie aktuell klingt doch noch immer das Bekenntnis der Barmer Theologischen Erklä-
rung von 1934:
„Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Got-
tes, das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen
haben.
Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne und müsse die Kirche als Quelle ihrer Ver-
kündigung außer und neben diesem einen Wort Gottes auch noch andere Ereignisse
und Mächte, Gestalten und Wahrheiten als Gottes Offenbarung anerkennen.“
Fazit
„Wo das kritische Gegenüber von redender Schrift und Hören der Gemeinde fehlt, wird
zugleich das Gegenüber von HERR und Gemeinde aufgehoben“, konstatiert der Syste-
matiker Reinhard Slencka. Und weiter schreibt er:
„Die Kirche verselbstständigt sich in der Geschichtlichkeit ihrer Erscheinung: die christ-
liche Subjektivität wird zum Selbstzweck und ringt um ihre geschichtliche Selbstver-
wirklichung.“62
Die biblische Lehre hat damit ihren Auftrag verloren. Es gibt keine Dogmatik mehr. Und
wenn es eine Dogmatik gibt, dann als fließende, sich stets verändernde, sich anpassende
Lehre. Sie wird zur Situationsdogmatik.
Eine ökumenische Hermeneutik hat nicht mehr die Bibel als Grundlage der Auslegung.
Es gibt kein „sola scriptura“ mehr. Die Basis für eine ökumenische Hermeneutik bildet
dann das Konvergenzverfahren, d.h. man sucht zwischen den Konfessionen immer erst
den gemeinsamen Nenner. Welche heiligen Schriften haben die anderen? Somit wird der
K o n t e x t zwischen den Konfessionen zur „norma normens“ (zur neuen Norm der Exe-
gese).
Der Schritt zum Kontext der Religionen ist nicht mehr fern!
62 R. Slenczka: Schrift-Tradition-Kontext, in: Ev. Schriftauslegung, hrsg. v. Cochlovius u. Zimmerling,
a.a.O., 432.
31
5. Feministische Hermeneutik
Die Bibel sei ein patriarchales Werk. Sie berücksichtige zu wenig das Wesen und das
Bild einer Frau. Deshalb sind alle Texte in der Bibel unter „Verdacht“ zu lesen, also mit
einem Vorurteil, eben kritisch. Elisabeth Schüssler Fiorenza spricht deshalb von der
„Hermeneutik des Verdachts“. Die Bibel muss neu interpretiert werden, nämlich unter
dem Gesichtspunkt femininer Aspekte. Feministinnen legen die Bibel feministisch aus, d.
h. sie ersetzen männliche Sprache durch feminine. Auch die feministische Theologie be-
dient sich der historisch-kritischen Schriftauslegung. Feministinnen ergreifen Partei für
die Frauen in der Bibel. Die Frauen in der Bibel werden gerne mit einem emanzipatori-
schen Mantel umhüllt. Es werden vor allem Frauen als Leitbild genommen, die selber
Leid erfahren haben, stark wurden und die aus eigenem Antrieb in Aktion getreten sind.
Gerne arbeiten feministische Auslegerinnen mit Symbolismen in der Bibel, d. h. die his-
torische Echtheit spielt keine Rolle, sondern die Intention und diese ließe sich leichter
durch Symbolismen herauskristallisieren.
Lutz von Padberg hat die Regeln einer feministischen Hermeneutik kurz zusammen ge-
fasst:
(1) Grundlage der feministischen Hermeneutik ist die historisch-kritische Methode.
(2) Die religionsgeschichtliche Methode muss dazu herhalten, dass ältere Gottesvor-
stellungen mütterlichen Charakter gehabt hätten. Es wird ein Bezug hergestellt zu
Naturreligionen.
(3) Die kontextuale Methode wird konsequent angewandt, d. h. zeitgenössische Texte
werden gleichberechtigt neben biblische Texte gestellt, und zwar solche zeitge-
nössischen Texte, in denen Frauen dieselben leidvollen Erlebnisse gehabt haben
wie zu biblischen Zeiten. Dabei werden einzelne biblische Aussagen, Begriffe
und Texte aus dem Zusammenhang gelöst und mit Ideen und der Praxis des säku-
laren Feminismus verknüpft.
(4) Der Kanon der Bibel wird durch die Frauenbewegung erweitert. Apokryphische
Texte und weitere außerbiblische Texte erhalten ihre Gleichberechtigung.
(5) Der Hl. Geist sei die Intuition der Frau.
(6) Bei der Bibelexegese spielen Gefühle und Erfahrungen eine große Rolle. Dabei
wird vor allem die Assoziationsbildung gefördert, die die Bibel nur noch als Auf-
hänger benutzt und ihr ganz andersartige Bedeutungen unterlegt.
(7) Das Schriftverständnis der feministischen Theologie erweist diese als Prozess-
und Erfahrungstheologie, der es vor allem auf Aktion, Erfahrung und Handlung
ankommt. So wird aus der Theologie unter Verwendung der Jungschen Psycholo-
gie die „Theo-Phantasie“, die die Bibel in den Befreiungsprozess der Frauen inte-
griert und die Offenbarung fortführt.63
63 Lutz von Padberg: Feminismus, Wuppertal, 1985, 144f.
32
Ein Produkt der feministischen Exegese ist die „Bibel in gerechter Sprache“.64
Der „Bibel in gerechter Sprache“ liegt ein dreifaches Leitinteresse zugrunde: ein „ge-
schlechtergerechtes“, ein Interesse des gegenwärtigen christlich-jüdischen Dialogs
und ein Interesse an der Bedeutung der biblischen Texte für die gesellschaftliche Le-
benswirklichkeit.65 Es geht den Übersetzerinnen und Übersetzern primär um eine
„geschlechtergerechte Sprache“ und nicht um die Bewahrung des theologischen und
linguistischen Inhalts des griechischen Neuen Testaments. Es gelten nicht mehr die
Regeln der Übersetzung und der Grammatik, sondern da wird interpretiert, ergänzt
und verändert. Es ist von „Apostelinnen und Aposteln“ die Rede (Apg. 1,3-11), von
„Jüngerinnen und Jüngern“ (Mt. 10,24) sowie von „Pharisäerinnen und Pharisäern“.
Der Apostel Johannes hätte Jüngerinnen und Jünger gehabt, was historisch nie verifi-
zierbar sein wird. Bei den Ältesten wird hinzugefügt, dass es sich um Frauen und
Männer handelt (Offb. 5,11). Es heißt nicht mehr in Jh. 1,14 „das Wort ward
Fleisch“, sondern ganz unpersönlich und materialistisch „die Weisheit wurde Mate-
rie“. Damit wird die Inkarnation geleugnet. Die Ausdrücke „Vater“ und „Sohn“ in
Bezug auf Gott und JESUS werden häufig ersetzt, wodurch inhaltliche Veränderun-
gen hervorgerufen werden. Wenn JESUS von „meinem Vater“ spricht, wird dies
übersetzt durch „Gott, Vater und Mutter für mich“ (Mt. 7,21; 10,32.33; 12,50; 15,13;
16,17 u.a.). In den johanneischen Schriften wird „Vater“ überwiegend mit „Gott“
wiedergegeben (Jh. 2,16; 6,32; 8,49 u.a.). „Unsere Mutter und unser Vater“ steht in
Phil. 2,11; Kol. 3,17. Vielfach ist von Jesus statt von „Gottes Sohn“ von „Gottes
Kind“ die Rede (Mk. 1,2; Mt 8,29; 27,43.54; Lk. 8,38; Jh. 3,16.18 u.a.). Die Umdeu-
tung der Christologie in eine Anthropologie wird deutlich in Jh. 5,19: „Das Kind
kann nichts von sich aus tun, wenn es nicht die Eltern etwas tun sieht. Was nämlich
jene machen, das macht genauso auch das Kind.“ In den johanneischen Schriften
wird „Sohn Gottes“ am häufigsten mit „der Erwählte Gottes“ übersetzt (Jh. 1,49.51;
3,18; 5,25; 6,40; 11,4.27 u.a.). Auch der christologische Titel „Menschensohn“ wird
häufig mit „Mensch“ (Mt. 17,9.12; Mk. 10,45; Lk. 9,44 u.a.) umschrieben oder „der
erwählte Mensch“ (Jh. 1,51; 3,13f.; 5,27; 6,27 u.a.). Kyrios wird durch „die Ewige“
oder „die Lebendige“ vorwiegend ersetzt (im Lukasevangelium steht durchweg „die
Lebendige“: 1,6.8.11.15f.17.25.28.32.45. Im 1. Korintherbrief 4,4f.;
Das geschieht in philologischer Willkür – an keiner einzigen dieser Stellen gibt es
auch nur ein sprachliches Anzeichen dafür, die Rede von Gott dem „Herrn“ sei weib-
lich zu verstehen. Im Magnificat ruft die Maria aus: „Großes hat die göttliche Macht
an mir getan und heilig ist ihr Name“ (Lk. 1,49). Das Gebet, das der HERR seinen
64 Ich beschränke mich an dieser Stelle auf das Neue Testament. 65 Ulrike Bail, Frank Crüsemann, Marlene Crüsemann, Erhard Domay, Jürgen Ebach, Claudia Janssen,
Hanne Köhler, Helga Kuhlmann, Martin Leutzsch und Luise Schottroff (Hrsg.): Bibel in gerechter Spra-
che, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2006. - Das dreifache Leitinteresse findet sich im Vorwort (S. 5)
von dem Kirchenpräsidenten der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau Dr. Dr. h. c. Peter Steinacker
Jüngern lehrte beginnt mit den Worten: „Gott, für uns wie Vater und Mutter im Him-
mel, dein heiliger Name werde wirksam unter uns.“
Der emeritierte Professor für Neues Testament und ehemalige Bischof des Sprengels
Holstein-Lübeck Ulrich Wilckens (geb. 1928, Hamburg) und Verfasser der Theologie
des Neuen Testaments erstellte ein Theologisches Gutachten zur „Bibel in gerechter
Sprache“.66 Vor allem kritisiert er, dass die eigentlichen theologischen und christolo-
gischen Aussagen des Neuen Testaments so stark verändert werden, dass sie einen
anderen, meist abgeschwächten, anthropologischen Sinn bekommen. „Diese Überset-
zung beraubt das Neue Testament der Wahrheit der beiden Grundkenntnisse aller
christlichen Kirchen, die sie in ihrer Heiligen Schrift begründet wissen: Der Wahrheit
der Gottessohnschaft Jesu Christi und damit der Wahrheit des Drei-einen Gottes.“67
In Bezug auf die Abwertung der Christologie in der „Bibel in gerechter Sprache“ hält
Ulrich Wilckens fest: „Mit der weitgehenden Vermeidung des biblischen ‚Soh-
nes’prädikats wird Jesus Christus seiner völligen Einheit mit Gott und Gottes mit ihm
beraubt, kraft derer er allein unser Erlöser ist und sein kann. Statt dessen erscheint er
als vorbildlicher Mensch, der uns Menschen als seinen ‚Geschwistern‘ die weiblichen
Züge seiner Gotteserfahrung nahe bringen möchte, wozu ihm die Übersetzerinnen
endlich zur Sprache zu kommen helfen wollen.“68
Sein Schlussurteil lautet:
„Die ‚Bibel in gerechter Sprache‘ ist nicht nur für den Gebrauch in der Praxis der
Kirche nicht zu empfehlen, weder für den Gottesdienst, noch auch für den kirchlichen
Unterricht und nicht einmal für die persönliche Lektüre. Sie ist vielmehr für jeglichen
Gebrauch in der Kirche abzulehnen. Denn diese ‚Übersetzung‘ unterwirft den Text
der Bibel – jedenfalls des Neuen Testaments – sachfremden Interessen ideologischer
Art und verfälscht so in entscheidenden Grundaspekten ihren Sinn. Weil aber die Bi-
bel als Heilige Schrift die Wurzel und der Grund alles Glaubens und Lebens der Kir-
che und aller Christen ist, und weil deshalb das Bekenntnis der Kirche seine Wahrheit
in der Wahrheit der Heiligen Schrift hat, darum ist die ‚Bibel in gerechter Sprache‘
als bekenntniswidrig zu beurteilen und aus jeglichem Gebrauch des Lebens in der
Kirche auszuscheiden.“69
66 http://www.bigs-gutachten.de/bigs-theol-gutachten.pdf vom 15.02.2007. (Zugriff: 10.07.09). 67 U. Wilckens: Gutachten, a.a.O., S. 1 68 Ders., a.a.O., S. 6 69 Ders., a.a.O., S. 26.
Bei manchen moderneren liberalen Theologen kommt die Hermeneutik aus tiefenpsycho-
logischer Sicht hinzu. So ist ihr Vorreiter der katholische Privatdozent und erfolgreiche
Schriftsteller, der Priester Eugen Drewermann, geb. 1940 in Bergkamen. Persönlich
habe ich ihn in einem Vortrag am 29. Okt. 1992 in Aurich gehört, wo er folgende Thesen
aufgestellte: „Das Gottesbild hätten die Kinder von den Eltern übernommen; eine Hölle
gäbe es nicht, da Gott Liebe ist; Ehebruch sei keine Sünde, sondern ein Unglücksfall; der
Begriff ‚Sünde‘ sei überholt – man sollte eher von ‚Schwäche‘ oder ‚Unfähigkeit‘ spre-
chen.“
Mit Hilfe der Psychoanalyse von Sigmund Freud und Carl Gustav Jung will Drewermann
die historisch-kritische Methode der Bibelexegese überwinden. In Wirklichkeit aber
überwindet er sie nicht, sondern wendet sie konsequent an.
Der katholische Priester übernimmt die Lehre der ‚Archetypen‘ von dem Psychoanalyti-
ker C. G. Jung. Das griechische Wort ‚Arche‘ bedeutet ‚Anfang / Ursprung‘. Archetypen
seinen Urbilder im menschlichen Unterbewusstsein, die auf den evolutionistischen Ur-
sprung es Menschen hinweisen. Diese Urbilder tauchen im Traum, in der Phantasie, im
Märchen70, in Mythen und in Formen von Symbolen71 wieder auf.
Wenn ein Kleinkind mit angewinkelten Beinen schläft, so erinnere es sich unbewusst an
die Zeit im Mutterleib. Dieser Schlafzustand drücke nach Jung dann die Geborgenheit
aus. Jung spricht von dem ‚kollektiv Unbewussten‘, weil die ganze Menschheit solche
Archetypen kenne.
Eugen Drewermann spricht nun von einer ‚archetypischen Hermeneutik‘.72 Die mosai-
sche Urgeschichte (Gen. 1-11) legt er tiefenpsychologisch-archetypisch aus. Schöpfung,
Sündenfall, Brudermord (Neid), Sintflut und Turmbau (Hochmut) spiegeln nur archetypi-
sche Bedürfnisse des Menschen wieder, um eine Antwort auf die Genese (Entstehung)
des Menschen und der Sünde (des Bösen in der Welt) zu bekommen. Es sind für Dre-
wermann keine historischen Fakten, sondern nur archetypische Denkmuster, die im Un-
terbewusstsein (Erbgedächtnis) als Mythen und Legenden gespeichert sind.
Der Schlüsselbegriff für Gen. 3-11 sei Angst. Der Mensch lebt seit dem Sündenfall au-
ßerhalb der Gemeinschaft mit Gott. Diese Angst wird anhand der Erzählungen von
Gen. 3-11 bewältigt. Sünde wird nur als Angst beschrieben, nicht als Trennung von Gott,
aus der Eigenverantwortung des Menschen heraus. Klaus Rudolf Berger, der sich kritisch
mit der archetypischen Hermeneutik Drewermanns auseinandergesetzt hat, schreibt:
„Sünde, die eigentliche Trennung des Menschen von Gott, wird bei Drewermann in
Angst umgedeutet und durch Selbsterkenntnis und Beobachtung schließlich integrierbar,
so dass wir Menschen mit ihr leben können. Echte Befreiung zeigt er nicht.“73
70 Dieser Ansatz erinnert an Bultmanns Entmythologisierung. 71 Es ist auf die semiotische Bibelauslegung zu verweisen. 72 Klaus R. Berger in: Factum 11/12, 1991, 16. Vgl. auch dazu E. Hahn in: Das Studium des NT, Wupper-
tal, 2000, Bd. 2, 19-24 73 Klaus R. Berger in: Factum 11/12, 1991, 18.
35
Die Schlange in Gen. 3 wird zu einer weisen Therapeutin, die das Handeln gegen Gottes
Gebot als notwendig zur Erkenntnis von Gut und Böse werden lässt.
Der Glaube an Gott ist für Drewermann die Antwort des Menschen auf Angst. Wer aus
der Angst heraus an Gott glaubt, hat noch eine gebrochene Beziehung zu ihm.
Biblische Texte sollte man nach Drewermann durch Träume, durch Gefühle und
durch die Sprache der Sehnsucht auslegen.
Gott erkennen könne man besser durch die Natur als durch die Bibel. In seinem pantheis-
tischen Gottesansatz ist es für Drewermann kein Problem, alle Religionen synkretistisch
miteinander zu verknüpfen. Das Kreuz dürfe nicht länger dazu herhalten, die Natur des
Menschen sündig zu sprechen. Deshalb lehnt er auch den stellvertretenden Sühnetod
Christi radikal ab.74
74 Drewermann: Markusevangelium. Bilder von der Erlösung, Bd. 2: Mk 9,14-16,20, Olten / Freiburg i.
Br., 1988, 142-143
36
7. Der philosophische Ansatz von Hans-Georg Gadamer
Die Philosophie gehört zu den Geisteswissenschaften und beschäftigt sich von daher ge-
sehen vor allem mit Texten. In der Mitte des 20. Jh. gab es durch Hans-Georg Gadamer
(1900 – 2002) einen neuen Durchbruch in der Hermeneutik, und zwar mit seinem inter-
national bekannt gewordenen Werk „Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philoso-
phischen Hermeneutik“, Tübingen, 1960.
Jeder Text ist in ein Geflecht von vor- und außertextlichen Voraussetzungen eingewoben
(Kontext / Intertextualität). Was dasteht, hat mit anderen Worten immer schon eine Art
Vorgeschichte. Texte sind als Teil der menschlichen Erfahrungswelt ausgewiesen.
Als zentralen Gedanken dieser Analyse formuliert Gadamer: „Wer einen Text verstehen
will, vollzieht immer ein Entwerfen. Er wirft sich einen Sinn des Ganzen voraus, sobald
sich ein erster Sinn im Text zeigt. Ein solcher zeigt sich wiederum nur, weil man den
Text schon mit gewissen Erwartungen auf einen bestimmten Sinn hin liest. Im Ausarbei-
ten eines solchen Vorentwurfs, der freilich beständig von dem her revidiert wird, was
sich bei weiterem Eindringen in den Sinn ergibt, besteht das Verstehen dessen, was da-
steht“(GW 1,271).75
Niemand geht ohne Vorurte i l e (persönliche, bewusste oder unbewusste) und V o rm -
e inu ng en an einen Text heran. Es gibt keine Neutralität und vollkommene Objektivität
seitens des Interpreten.
Von daher betrachtet braucht es beim Interpreten eine gewisse O f f enh e i t für die Mei-
nung des anderen bzw. des Textes.76
In einer Art von h erm en eu t i s ch em P os tu la t formuliert Gadamer:
„Wer einen Text verstehen will, ist [...] bereit, sich von ihm etwas sagen zu lassen. Daher
muss ein hermeneutisch geschultes Bewusstsein für die Andersheit des Textes von vorn-
herein empfänglich sein. Solche Empfänglichkeit setzt aber weder sachliche ‚Neutralität’
noch gar Selbstauslöschung voraus, sondern schließt die abhebende Aneignung der eige-
nen Vormeinung und Vorurteile ein“ (GW 1, 273 f.).
75 Hans-Helmuth Gander: Erhebung der Geschichtlichkeit des Verstehens zum hermeneutischen Prinzip
(Gadamer, Gesammelte Werke 1, 270-311) in: Wahrheit und Methode. Klassiker auslegen, hrsg. v. Gün-
ther Figal, Berlin, 2007, 105 – 125. 76 Gadamer bezog seine Hermeneutik nicht nur auf Texte, sondern auch auf die Kunst und auf das Ge-
spräch (auf die Kommunikation im Dialog).
37
Es gilt „der eigenen Voreingenommenheit innezusein, damit sich der Text selbst in seiner
Andersheit darstellt und damit in die Möglichkeit kommt, seine sachliche Wahrheit ge-
gen die eigene Vormeinung auszuspielen“ (GW 1, 274).
In unserem O f f en s e in für die hermeneutische Reflexion sind unsere V o r m ei nu ng en
prinzipiell r ev id i e rb a r .
Dies ist aber nur möglich, wenn unser Vorwissen nicht bei uns und für sich bleibt, son-
dern sich flexibel neuen Erfahrungen stellt und d. h. sich für Erfahrungen und Andersheit
öffnet. Nach Gadamer wird „das eigene Vorurteil dadurch recht eigentlich ins Spiel ge-
bracht, dass es selber auf dem Spiele steht. Nur indem es sich ausspielt, vermag es den
Wahrheitsanspruch des andern [etwa des Textes] überhaupt zu erfahren und ermöglicht
ihm, dass er sich auch ausspielen kann“ (GW 1, 304).
Wenn in diesem Sinne Wahrheitsvermutung auf Seiten des Textes liegt und damit eine
Überlegenheit seines Wahrheitsanspruches suggeriert, so bedeutet die darin implizierte
Unterlegenheit des Interpreten aber keineswegs dessen grundsätzliche Unfähigkeit, die
sachlichen Wahrheitsansprüche zu erkennen. Denn erst aus dem Anerkennen und in die-
sem Sinne Erkennen des sachlichen Wahrheitsanspruches gewinnt die kritische Vernunft,
auf der Gadamer als Instanz der Vorurteilsprüfung besteht, die Möglichkeit, ihre Funkti-
on und Rolle im Verstehensprozess zu begreifen. Hier setzt erneut seine Kritik am Ver-
nunftsbegriff der Aufklärung an. Die Vernunft darf nicht Herr sein, sondern bleibt stets
auf Gegebenheiten angewiesen.
Mit anderen Worten sind wir dafür offen, „dass ein überlieferter Text es besser weiß, als
die eigene Vormeinung gelten lassen will“ (GW 1,299).
Die entsprechende hermeneutische Haltung ist der „Versuch, das Gesagte als wahr gelten
zu lassen“ (GW 1,299).
Natürlich rechnet Gadamer als Philosoph nicht damit, dass auch die menschliche Ver-
nunft dem Lapsus (dem Sündenfall) unterliegt (Eph. 4,18) und von daher begrenzt, be-
tört, irregeleitet, verwirrt, manipuliert ist und wird. Der biblische Exeget braucht von
daher die Erleuchtung (Eph. 5,8.14) seiner verdunkelten Vernunft (1.Kor. 2,14), damit er
überhaupt geistliche Zusammenhänge in der Hl. Schrift erkennen kann.
38
7.1. Die persönliche Wirkungsgeschichte
Kernstück der Hermeneutik Hans Georg Gadamers ist die „Wirkungsgeschichte“.
Verstehen ist ein wirkungsgeschichtlicher Vorgang.
Wirkungsgeschichte ist das Verhältnis von Vergangenheit und Gegenwart.
Der Autor eines Textes hat ein soziales Umfeld, eine Erziehung, vielleicht eine Religion.
Dieses Umfeld wirkt auf den Autor und auf den Text und der Text wirkt in die Gegen-
wart hinein. Er hat einen Einfluss auf den Interpreten der Gegenwart (Rezeptionsästhe-
tik).
Geschichte ist also überhaupt nichts Abgeschiedenes, sondern immer auch Wirkungsge-
schichte.
Der biblische Exeget kann seine persönliche Wirkungsgeschichte nicht ausklammern.
Seine persönliche Wirkungsgeschichte kann aus der Kultur bestehen, worin er aufge-
wachsen ist. Diese Kultur projiziert der Ausleger bewusst oder unbewusst auf den bibli-
schen Text und legt diesen so aus, dass seine Kultur Bestätigung findet. Die persönliche
Wirkungsgeschichte kann ferner aus der mitgebrachten Tradition bestehen, die der Aus-
leger durchlebt hat, entweder in der Familie oder in der Gemeinde. Schließlich kann die
Wirkungsgeschichte aus der Konfession (lutherisch, reformiert, freikirchlich etc.) beste-
hen oder auch aus einer mitgebrachten Dogmatik einer konfessionellen Richtung. Hierzu
gehört auch die theologische Ausbildungsstätte. Schließlich kann die persönliche Wir-
kungsgeschichte aus verschiedenen Kommentaren zur Bibel begleitet sein, die der Aus-
leger bereits studiert hat und nun unbewusst anwendet.
Natürlich kann niemand seine persönliche Wirkungsgeschichte völlig ausklammern und
abstreifen, aber er kann sie in Christus überwinden. Ich muss bereit sein, meine persönli-
che Wirkungsgeschichte zu erkennen, sie zugestehen und ein Stück weit zurückzustellen,
bevor ich den biblischen Text auszulegen versuche.
Damit wir unsere persönliche Wirkungsgeschichte erkennen können, ist es hilfreich, in
die Kirchengeschichte und Theologiegeschichte hineinzublicken, denn aus den Vorüber-
legungen zu bestimmten Sachthemen können wir lernen, eben auch aus ihren Fehlern.
Zurecht konstatiert Donald A. Carson:
„Wenn wir unsere Meinungen, Werte, und Denkweisen nicht an die Lehren der Bibel
knüpfen, wissen wir weder, was die Autorität der Bibel bedeutet, noch was Unterordnung
unter die Herrschaft Jesu Christi heißt. Es gibt viele verschiedene Meinungen darüber,
was die Bibel wirklich sagt – Meinungsunterschiede, die manchmal mit demütigem Aus-
tausch und viel Zeit überwunden werden können; doch für Christen ist es unverzeihlich,
wenn man mit der falschen Begründung, die Erkenntnis objektiver Wahrheit sei unmög-
lich, die Aussagen der Schrift ignoriert oder ihnen ausweicht.“77
77 Donald A. Carson: Stolpersteine der Schriftauslegung, 124f.
39
Fachliches Abkürzungsverzeichnis von Nachschlagewerken
Siehe dazu: Siegfried Schwertner: Internationales Abkürzungsverzeichnis für Theologie und
Grenzgebiete (IATG), Berlin / New York, 21992.
Balz, H. / Schneider, G., Hrsg.: Exegetisches Wörterbuch zum NT, 3 Bde., Kohlhammer, Stuttgart, 21992
EWNT
Bauer, Walter : Griechisch-Deutsches Wörterbuch zu den Schriften des NT’ s u. der übrigen ur-
christlichen Literatur, Walter de Gruyter, Berlin, 51971.
Neuausgabe: Walter Bauer und Kurt Aland u.a.: Griechisch-Deutsches Wörterbuch zu den Schrif-
ten des Neuen Testaments und der frühchristlichen Literatur, Berlin, 61988.
WBNT
BA
Botterweck, G. J. und H. Ringgren, Hrsg.: Theologisches Wörterbuch zum AT, Kohlhammer,
Stuttgart, 1970 - 2000
ThWAT
Bühlmann, Walter / Scherer, Karl: Sprachliche Stilfiguren der Bibel. Von Assonanz bis Zahlen-
spruch. Ein Nachschlagewerk, Gießen, 21994
Das Große Bibellexikon, Bd. I - III, hrsg. v. H. Burkhardt, F. Grünzweig, F. Laubach, G. Maier,
Brockhaus und Brunnen, Wuppertal und Gießen, 1987
GBL
Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet der Deutschen Bibelgesellschaft Stuttgart.
www.wibilex.de WiBiLex
Duden-Etymologie, bearbeitet von G. Drosdowski, P. Grede, Duden Bd. 7, Dudenverlag, Mann-
heim, 1963.
Duden
Der Kleine Pauly – Lexikon der Antike in 5 Bde. – auf der Grundlage von Pauly’ s Realenzyklo-
pädie der klassischen Altertumswissenschaft in 80 Bde., hrsg. v. Konrat Ziegler u. Walther
Sontheimer, dtv, München, 1979
Der Kleine Pauly
Evangelisches Lexikon für Theologie und Gemeinde. Hrsg. v. H. Burkhardt u. U. Swarat, Bd. 1-
3 der Studienausgabe, Brockhaus, Wuppertal, 21998
ELThG
Evangelisches Kirchenlexikon (EKL), hrsg. v. Erwin Fahlbusch, Jan M. Lochman u. John S.
1) Arnd Brettschneider: Heilsgeschichtliche Schriftauslegung. Die Bibel heilsgeschichtlich
lesen, verstehen und anwenden, Dillenburg, 2006.
2) Rinaldo Diprose: Israel aus der Sicht der Gemeinde, Edition Wiedenest, Hammerbrücke,
2001.
Diprose beschäftigt sich hauptsächlich mit der Substitutionstheorie, die besagt, dass die Gemeinde für
immer Israel ersetzt hätte. Diprose bringt dagegen sehr gute Einwände aus der Hl. Schrift.
3) Martin Heide: Worauf noch warten? – Das Reich Gottes im Wandel der Zeiten, CLV, Biele-
feld, 1992.
In den Exkursen und Statements gibt Heide praktisch-exegetische Beispiele in Bezug auf das Millen-
nium und die Stellung Israels und der Gemeinde. Z. B. Amos 9, Römer 11; Mt. 24,30. Die Bedeutung
des Reiches Gottes. Die Prophetie Joels. Israels Verwerfung und das NT. Die Drangsal. Das gegen-
wärtige und zukünftige Zeitalter. Die Offenbarung als symbolisches Buch. Die erste Auferstehung.
Die Offenbarung im Zugriff der Philosophie. Geistliche und leibliche Auferstehung. Die Wiederkunft
Christi. Die Wolken des Himmels.
4) Cyrus Ingerson Scofield: Legen wir die Bibel richtig aus?, Verlag Hermann Schulte, Wetz-
lar, 1974 (Originalausgabe: „Rightly Dividing the Word of Truth“ im Verlag Zondervan,
Publishing House, Grand Rapids, Michigan, 1896).
44
Scofield legt die Sicht des klassischen Dispensationalismus dar und vertritt die „Sieben-Zeitalter-
Lehre“. Im deutschsprachigen Raum wurde er durch die Scofield-Studienbibel (1909) bekannt.
5) Helge Stadelmann / Berthold Schwarz: Heilsgeschichte verstehen, CV, Dillenburg, 2008. Das Buch bietet einen optimalen Überblick über die heilsgeschichtlichen Zusammenhänge des Alten
und Neuen Testaments wie auch über die verschiedenen heilsgeschichtlichen Epochen, die der Ausle-
ger beim Studium des Alten und Neuen Testaments berücksichtigen sollte. Die fortschreitende Offen-
barung wird erklärt ebenso wie die Ökonomien und Dispensationen. Es gibt genügend Fallbeispiele.
Auch die verschiedenen Richtungslager in ihrer Wirkungsgeschichte mit ihren verschiedenen Vertre-
tern werden vorgestellt. Dabei wird davor gewarnt, dass der Ausleger nicht über das Ziel der
Schriftoffenbarung hinausschießen darf. Es gibt Tipps zum Verständnis der Evangelien, der Bergpre-
digt und des Reiches Gottes. Zum Schluss gibt es praktische Hinweise für eine heilsgeschichtliche
Schriftauslegung.
6) Helge Stadelmann: Grundlinien eines bibeltreuen Schriftverständnisses, Wuppertal, 31996
(1985).
Der Autor weist in diesem Buch vor allem auf die notwendige Beachtung der großen heilsgeschichtli-
chen Linien in der Exegese hin.
6. Allgemeine Literatur der Hermeneutik
Die wichtigste Literatur zum Studium der Hermeneutik und der Exegese mit kurzen Erläuterungen in Aus-
wahl.
1. Otto Betz: Wie verstehen wir die Bibel?, Aussat Verlag, Wuppertal,1981.
2. Claus von Bornmann: Hermeneutik I, TRE, 15, 108-137, hrsg. v. Gerhard Müller, deGruyter,
Berlin u. New York, 1986.
3. Jakob van Bruggen: Wie lesen wir die Bibel?, Hänssler, Neuhausen-Stuttgart, 1998
Bruggen bringt gute Beispielexegesen zu Ps. 69; 1.Kor. 15,29; Ps. 2 u. zu Melchisedek. Er stellt dem
Leser praktische Hausaufgaben und im Anhang des Buches hat er eine ausgezeichnete Literaturliste.
Kritik: Auf den Seiten 151 - 156 legt er Röm. 9 - 11 auf die Gemeinde hin aus. Das bedeutet: Israel hat
nach van Bruggen als Nation keine eschatologische Zukunft mehr. Für Israel gibt es keine nationale,
wirtschaftliche und geistliche Wiedergeburt. Und folglich gelten alle eschatologischen Verheißungen
im AT nicht Israel, sondern der Gemeinde. Diese antieschatologische Ansicht ist von der Exegese und
von der Heilsgeschichte her nicht haltbar, weil es noch unerfüllte alttestamentliche Prophezeiungen
gibt, die eindeutig Israel gelten. Und zuletzt: van Bruggen stülpt der Bibel seine calvinistische Ansicht
über. Der Calvinismus ist amillennialistisch eingestellt. Van Bruggen zieht die Dogmatik der Herme-
neutik vor. Umgekehrt soll es aber sein.
4. Donald A. Carson: Stolpersteine der Schriftauslegung, Betanien-Verlag, Oerlinghausen, 2007
(Original: „Exegetical Fallacies, Baker Academic, Grand Rapids, 1996).
Donald Arthur Carson lehrt an der Trinity Evangelical Divinity School (Deerfield) und ist zusammen
mit Douglas J. Moo der Verfasser einer „Einleitung in das Neue Testament“, Gießen, 2010 (925 S.). In
dem kleinen Büchlein „Stolpersteine der Schriftauslegung“ deckt er einige Fehler, bzw. Fehlermöglich-
keiten auf, die bei der Auslegung immer wieder gemacht werden (können). Dabei ist er in seinen Unter-
suchungen unabhängig von konfessionellen Bestimmungen. Das Büchlein ist sehr praktisch und ver-
ständlich, geht aber auch in die Tiefe der griechischen Grammatik hinein.
5. Joachim Cochlovius / Peter Zimmerling, (Hrsg.): Evangelische Schriftauslegung, Quellentex-