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Hegels Idee einer Geschichte der Philosophie und Aristoteles * ALFREDO FERRARIN I. Zu Beginn von H. G. Wells Die Zeitmaschine stellt sich einer der Charaktere die Möglichkeit vor, eine Zeitreise zu machen und Griechisch von den Zungen Homers und Platons zu lernen. Sein Gesprächspartner bezweifelt aber, dass sein Griechisch gut genug wäre, um eine Prüfung zu bestehen und sagt: »Die deut- schen Gelehrten haben das Griechische so sehr verbessert!« Dieser Ausruf ist zweifelsohne recht ironisch, denn er scheint zu implizieren, dass die Griechen sich nicht über ihre eigene Kultur und Sprache im Klaren waren und auf deutsche Philologen aus dem Berlin des 19. Jahrhunderts hätten warten müssen, um ihre Sprache perfektioniert, ihren innigsten Geist enthüllt zu sehen. Verbessern bedeutet transformieren: unabänderlich einen neuen Maßstab für das Objekt des Wandels setzen. Die Verbesserung wird dabei von einem Standpunkt aus gefordert, welcher der zu verbessernden Sache sowohl extern ist als auch als ihr überlegen erachtet wird. Der Gesprächspartner von vorhin scheint unbekümmert zu sein über das Paradox, dass man eine anscheinend (gemäß seiner positivistischen Selbstherrlichkeit zumindest) unreife und tote Sprache im Zuge eines angeblichen Versuchs, den Schatz der Gründungszivilisation europäischer Literatur und Philosophie durch philologische Rekonstruktion antiker Texte zu erneuter Blüte zu treiben, verbessern kann. Was er tut, ist dennoch bedeutsam, da er das eigenste Problem der Philologie klar zutage fördert, die sich ja das Ziel setzt, eben jene Texte zu verbessern, die sie in ihrer ursprünglichen und authentischen Form vorlegen will. Insbesondere verleiht er der im 19. Jahrhundert natürlichen und weit verbreiteten tiefen Bewunderung der außerordentlichen Leistungen der deutschen Philologie Aus- druck. So sehr basiert unser Wissen über die griechische Philosophie auf der Edi- tionsarbeit der Berliner Akademie der Wissenschaften, dass wir uns kaum mehr _____________ * Dieser Beitrag wurde aus dem Englischen von Philippe Roeppstorf-Robiano übersetzt.
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Hegels Idee einer Geschichte der Philosophie und Aristoteles 2009

Feb 01, 2023

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Fabio Fabiani
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Page 1: Hegels Idee einer Geschichte der Philosophie und Aristoteles 2009

Hegels Idee einer Geschichte der Philosophie

und Aristoteles∗

ALFREDO FERRARIN

I.

Zu Beginn von H. G. Wells Die Zeitmaschine stellt sich einer der Charaktere die

Möglichkeit vor, eine Zeitreise zu machen und Griechisch von den Zungen

Homers und Platons zu lernen. Sein Gesprächspartner bezweifelt aber, dass sein

Griechisch gut genug wäre, um eine Prüfung zu bestehen und sagt: »Die deut-

schen Gelehrten haben das Griechische so sehr verbessert!«

Dieser Ausruf ist zweifelsohne recht ironisch, denn er scheint zu implizieren,

dass die Griechen sich nicht über ihre eigene Kultur und Sprache im Klaren

waren und auf deutsche Philologen aus dem Berlin des 19. Jahrhunderts hätten

warten müssen, um ihre Sprache perfektioniert, ihren innigsten Geist enthüllt zu

sehen. Verbessern bedeutet transformieren: unabänderlich einen neuen Maßstab

für das Objekt des Wandels setzen. Die Verbesserung wird dabei von einem

Standpunkt aus gefordert, welcher der zu verbessernden Sache sowohl extern ist

als auch als ihr überlegen erachtet wird. Der Gesprächspartner von vorhin scheint

unbekümmert zu sein über das Paradox, dass man eine anscheinend (gemäß seiner

positivistischen Selbstherrlichkeit zumindest) unreife und tote Sprache im Zuge

eines angeblichen Versuchs, den Schatz der Gründungszivilisation europäischer

Literatur und Philosophie durch philologische Rekonstruktion antiker Texte zu

erneuter Blüte zu treiben, verbessern kann.

Was er tut, ist dennoch bedeutsam, da er das eigenste Problem der Philologie

klar zutage fördert, die sich ja das Ziel setzt, eben jene Texte zu verbessern, die

sie in ihrer ursprünglichen und authentischen Form vorlegen will. Insbesondere

verleiht er der im 19. Jahrhundert natürlichen und weit verbreiteten tiefen

Bewunderung der außerordentlichen Leistungen der deutschen Philologie Aus-

druck.

So sehr basiert unser Wissen über die griechische Philosophie auf der Edi-

tionsarbeit der Berliner Akademie der Wissenschaften, dass wir uns kaum mehr

_____________

∗ Dieser Beitrag wurde aus dem Englischen von Philippe Roeppstorf-Robiano übersetzt.

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bewusst sind, wie es wäre, griechische Philosophie etwa unter Rückgriff auf

Renaissance-Editionen von Aristoteles zu studieren. Es fehlte uns immer noch

eine kritische Ausgabe des Corpus des Stagiriten (wie auch der neuplatonischen

Kommentatoren), hätte es nicht die Arbeit der Berliner Akademie und insbeson-

dere Bekkers gegeben. Ohne jene Arbeit, oder genauer: ohne die Meditation,

inspiriert durch eine Wiedergewinnung dessen, was sich als Korrektiv der subjek-

tivistischen Wende in der modernen Philosophie zu behaupten beginnt, hätte es

niemals Brentano, Phänomenologie, Heidegger, die Rehabilitation praktischer

Philosophie, eine bestimmte Art logischer Analyse sowie im Allgemeinen ein neu

belebtes Interesse für Metaphysik, für naturalistische Psychologie und Epistemo-

logie und für eine Philosophie der belebten Natur gegeben.

Bekker war Hegels Kollege in der damals noch jungen Berliner Universität.

Leider ist uns herzlich wenig über ihre Beziehung überliefert: Wir können nicht

sagen, was Hegel von Bonitz oder Bekker oder überhaupt von der philologischen

Arbeit, die um ihn herum während seiner letzten Lebensjahre geschah, hielt.

Anstatt diese Frage als müßige Neugierde, die zu keinen Ergebnissen führen wird,

beiseite zu tun, sollten wir erwägen, das augenscheinliche historische Urteil in

Frage zu stellen, wonach die Aristoteles-Renaissance, die nach Hegels Tod auf-

blühte und für einen Großteil des 19. Jahrhunderts andauerte sowie eine Wieder-

belebung vieler tot geglaubter Felder der Philosophie (wie etwa die Logik, Meta-

physik und Psychologie) inspirierte, ausschließlich als Reaktion auf die damalig

dominante Hegelsche Philosophie zu verstehen wäre. Während zwar allgemein

bekannt ist, dass mehrere der wichtigeren Aristoteles-Interpreten (von Boniz und

Brandis bis hin zu Schwegler und Brentano) zweifelsohne weniger von Hegel als

von Trendelenburg und Schelling beeinflusst waren, deren Aristoteles-

Interpretation sich explizit polemisch zu Hegels Rezeption verhielt1, ist weit

weniger geläufig, dass Hegels Aristoteles-Lektüre sehr wichtig für den jungen

Zeller und Feuerbach war. Viel wichtiger ist aber, dass es Hegel war, der zum

ersten Mal seit Jahrhunderten für eine Wiederbelebung der aristotelischen Philo-

sophie wie auch für den Umsturz aller billigen Gemeinplätze über diese, die man

in Form seichter Handbücher oder salopper und beiläufiger Bemerkungen von

Philosophen Jahrhunderte lang vererbt hatte, warb.

Hegel ist der Erste in der Moderne, der Aristoteles gründlich auf Griechisch

studiert. Er meint dadurch gegen das Vergessen seiner Philosophie vorgehen zu

können sowie gegen ihre unreflektierte Rezeption bzw. gegen die willkürliche

und bruchstückhafte Ausbeutung einer Philosophie, die nach Hegel der spekulati-

ve Gipfel griechischen Denkens war und die er mehr als jede andere bewunderte,

seine gelegentliche Hochachtung vor Platon ausgenommen.

_____________

1 Vgl. zu dieser Interpretation die kürzlich erschienene Aufsatzsammlung von Thouard (2005)

sowie Ferrarin (2001), wo ich alle Aspekte von Hegels Beziehung zu Aristoteles weitläufig

behandle, was ich hier nicht tun kann. Das Buch wurde 2007 neu als Taschenbuch herausgege-

ben.

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Wenn in der Moderne Aristoteles’ Philosophie ein Auslöser umfassender Kri-

tik ist, dann gestattet es die Epoche sich selbst erst dann, weniger ungerecht mit

Aristoteles umzugehen, als das neue Weltbild sich behauptet hat und seinen siche-

ren Sieg feiert. Die neuen Aristoteles-Editionen und die Philosophiegeschichten,

die nach Brucker in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts publiziert worden

sind – von Tennemann und Buhles bis hin zu Garve und Voigts –, verteufeln

Aristoteles nicht. Das heißt aber nicht, dass sie eine originelle oder kreative Inter-

pretation seiner Texte liefern. Im Großen und Ganzen führen sie Gemeinplätze

an, die größtenteils auf Leibniz und Kant zurückgehen, wie zum Beispiel Leibniz’

Affinität zu Platon und Lockes zu Aristoteles;2 oder: die Notwendigkeit, als Pro-

pädeutikum von Kants Kritiken Aristoteles’ De anima zu lesen, oder andere ähn-

lich oberflächliche und bequeme Vereinfachungen und Etiketten. Im Unterschied

zu seinen Vorgängern verlässt sich Hegel niemals auf traditionelle Interpretatio-

nen. Immer wieder versucht er, eine eigenständige Exegese seines Gegenstands

zu betreiben und ist verpflichtet, sich von üblichen Ansichten zu distanzieren und

die Exegese von Aristoteles unfiltriert und unmittelbar anzugehen. Hegel hat ein

scharfes Bewusstsein für die willkürliche Vernachlässigung von Aristoteles und

will diesen Schaden beheben – nicht bloß, weil er Philosophiegeschichte betreibt,

sondern, was wichtiger ist, aufgrund seines Systems, das der Wiedergewinnung

von Aristoteles’ Philosophie einen großen Wert beimisst.3 Aristoteles’ Bedeutung

sucht ihresgleichen: Seine Philosophie lobt Hegel wie kein Anderer, und zentrale

Themen von dieser Philosophie werden von ihm unverhohlen in seine eigene

integriert und aufgenommen.

Zu weitläufig würde ein Vergleich von Hegels Aristoteles-Interpretation mit

der Relevanz und dem Einfluss von aristotelischen Themen auf Hegels eigene

Philosophie (auf seine Theorien des Denkens, der Subjektivität, des Begriffs, der

Natur als Zweck, der Logik und Metaphysik, des ethischen Lebens) sein.4 Was

ich in diesem Beitrag leisten will, ist, in Teil II Hegels Konzept einer Geschichte

der Philosophie und in Teil III das Bild von Aristoteles, das Hegel in seinen Vor-lesungen malt, zu diskutieren.

_____________

2 Vgl. PS, Bd. V, 41–43 und KrV, A 854/B 882.

3 Die Darstellung von Aristoteles‘ Philosophie in den Vorlesungen ist ungeheuer lang, enthusia-

stisch und leidenschaftlich. Am Schluss sagt Hegel: »In dieser Darlegung des Hauptinhalts der

Aristotelischen Philosophie bin ich weitläufiger gewesen, teils der Wichtigkeit der Sache selbst

(es ist eigener Inhalt) [wegen], teils weil in der Tat an keiner Philosophie sich die neuere Zeit so

vergangen hat als an ihr und keinem der alten Philosophen so viel abzubitten ist als Aristoteles.«

(Hegel [1969–1971], Bd. 18, 242)

4 Vgl. Ferrarin (2001).

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Alfredo Ferrarin 280

II.

Es ist leicht zu vergessen, dass Philosophiegeschichte, wie wir sie heute praktizie-

ren, vor Hegel nicht existierte. Sie war eigentlich seine Erfindung. Obwohl es vor

Hegels Zeit Philosophiegeschichten und Handbücher gab, wurde die Geschichte

der Philosophie weder praktisch noch theoretisch mit philosophischen Mitteln

betrieben; sie war weder eine Disziplin im universitären Lehrplan noch eine

etablierte Gattung.

Hegel interessiert sich für die Geschichte der Philosophie, insofern als sie

Wahrheiten zutage fördert, die uns noch immer angehören und uns wie eine zwei-

te Natur sozusagen in Fleisch und Blut übergegangen sind. Unser Geist ist durch

seine Geschichte gebildet. Tradition ist aber nicht die Konservierung von intakt

bleibenden Daten, vielmehr ist sie die andauernde Wiederaufarbeitung eines

Inhalts, der in der Aneignung transformiert wird. Hegel vergleicht die Tradition

mit Herders »heiliger Kette« und leugnet, dass sie »eine Haushälterin, die nur

Empfangenes treu verwahrt und es so den Nachkommen unverändert überliefert«,

ist (Hegel [1969–1971], Bd. 18, 21). Die Geschichte des Geistes aufzuarbeiten ist

eine Aktivität der Aneignung. Wie jede Aneignung kann sie aber nur in zwei

Weisen kreativ und produktiv sein: Der Geist transformiert sein Erbe und trans-

formiert in dieser aktiven Rezeption gleichzeitig sich selbst. »Dies Erben ist

zugleich ein Empfangen und Antreten der Erbschaft […]. Das Empfangene ist auf

diese Weise verändert und bereichert worden und zugleich erhalten« (Bd. 18, 22).

Anders als in der Natur gibt es in der Geschichte der Philosophie kein »untätiges

Hervorgehen«, sondern ein »Sich-selbst-Finden des Gedankens, und bei dem

Gedanken ist es der Fall, daß er sich nur findet, indem er sich hervorbringt, ja,

daß er nur existiert und wirklich ist, indem er sich findet. Dieses Hervorbringen

sind die Philosophien« (Bd. 18, 23).

Wenn Finden und Hervorbringen sich verschränken, dann ist Geschichte das

wachsende Bewusstsein des Geistes von seiner fortbestehenden durchdringenden

Präsenz und dementsprechend seiner Aktivität und Freiheit. In den Wissenschaf-

ten gibt es nur die Evolution bestimmter Wahrheiten und die nebenher laufende

Widerlegung dessen, was früher für wahr gehalten wurde; aufgrund experimentel-

len Wissens und der Erweiterung unserer Erfahrung berichtigen wir fortwährend

unsere Erkenntnisse. Hegel ist gleichsam Kants Echo, wenn er sagt, dass die

Naturwissenschaften durch Zusatz und Juxtaposition fortschreiten (vgl. Bd. 18,

27) und sich ihr Inhalt in diesem Prozess nicht verändert. Im Gegensatz dazu wird

die Kategorie der Juxtaposition in der Geschichte der Philosophie von derjenigen

der Entwicklung ersetzt, die Hegel explizit auf Aristoteles’ dynamis-energeia-Relation zurückführt (vgl. Bd. 18, 39). Gemeint ist dabei die Entwicklung des als

Wahr Erkannten in der Form, in der wir uns dessen bewusst werden. Aktive Mit-

wirkung in und Aneignung von der Geschichte der Philosophie nehmen die Form

einer Aktualisierung an, welche die in früheren Denkfiguren versteckten Potentia-

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litäten ans Licht bringt. In diesem Sinn steckt keine frühere Philosophie unverän-

derbar fest, weil sie für uns immer noch lebendig ist, uns immer noch gehört.

Gibt es aber eine Kontinuität zwischen der Philosophie und ihrer Geschichte

und ist Aneignung im obigen Sinn produktiv, so folgt, dass eine Neutralität in der

Betrachtung der Philosophiegeschichte Wunschdenken ist. In den letzten Jahr-

zehnten hat es beispielsweise neben der zunehmenden Spezialisierung ein rasches

Anwachsen von so genannten Nachschlagewerken gegeben. Enzyklopädien,

Lexika, Sachregister, Chroniken und Wörterbücher sind besonders wertvolle

Werkzeuge; wenn aber Werkzeuge zu einem »Stil« werden (wie es tendenziell

geschieht), dann wird Geschichte zu einer bloßen Wiederholung. Hier ist das

Problem nicht, dass wir diesen Stil ablehnen; vielmehr ist das Problem, dass der

Stil gegenüber seinen Auswirkungen blind ist – die Wahrheit des Stils und seine

Gewissheit fallen auseinander, wie es Hegel sagen würde. Er ist der Ansicht, dass

wir entweder mit den von uns untersuchten Philosophen denken und ihre Prinzi-

pien hinterfragen, wodurch wir die Früchte ihres Erbes ernten, sogar dann, wenn

es unvermeidlich ist, dass wir an ihnen Verrat begehen und zu anderen Schlüssen

kommen. Oder wir geben unter dem Diktum einer Konservierung ihres Denkens

den Versuch auf, mit ihnen in einen angeregten Dialog zu treten. Während wir im

letzteren Fall zwar glauben, um den Preis der Originalität die authentische Stim-

me des Werks einzukaufen, verdammen wir uns in Wirklichkeit jedoch zu stum-

mem Widerkauen. Wenn selbst unsere Themenauswahl unsere Präferenzen

offenbart, dann kann es diese angebliche Treue der Gelehrsamkeit nicht geben.

Nicht, weil Hegel denkt, Gelehrsamkeit sei bloß Pedanterie oder weil er denkt,

ein authentischer Sinn für Geschichte schließe einen gleichgültigen Bericht über

eine Galerie toter Meinungen aus; vielmehr hält er Gelehrsamkeit für ein unmög-

liches und widersprüchliches Ideal, da sie finden will, ohne zu schaffen, ohne zu

denken. Wichtig für Hegels Projekt der Geschichte der Philosophie ist, dass man

nur unter der Bedingung daran teilnehmen kann, dass man denkt: Nur ein Philo-

soph kann Geschichte der Philosophie betreiben. Wie wir bald sehen werden, ist

dies eine parallele Konsequenz dessen, dass der Philosoph nicht Geschichte

betreibt, sondern Philosophie – die Geschichte der Philosophie ist systematisch

und wissenschaftlich oder sie existiert nicht.

Eine Frage hängt davon ab, wie wir sie uns zurechtlegen und was wir an ihr

relevant finden, von unserer Einnahme einer bestimmten Perspektive auf sie. Der

Anfangspunkt historischen Denkens zeigt sich, wenn wir ein Interesse an dem

Objekt selbst mitbringen, das durch Gedanken und Kategorien strukturiert ist.

Obschon dieses Interesse sich nicht von unreflektierten Meinungen speisen und

unwissentlich einer Ideologie oder Agenda unterwerfen sollte, ist die Hoffnung

auf interesseloses Denken widersinnig. Wenn dies stimmt, wie können wir Belie-

bigkeit vermeiden? Hegel denkt, dass wir frühere Philosophien mit Blick auf das,

was am besten an ihnen ist, untersuchen müssen. Das bedeutet aber, dass wir das

vereinigende Prinzip einer früheren Philosophie, das ihre unterschiedlichen

Ansichten durchdringt, von ihrer äußerlichen Existenz isolieren müssen und dass

der Geist einer Philosophie nur von einem ähnlichen Geist wieder erweckt wer-

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den kann. Wenn es Beschränkungen gibt, so müssen es also jene intrinsischen

Grenzen sein, die zwangsläufig solche Arten von Urteilen begleiten; subjektive

Beschränkungen in Form von Voreingenommenheiten und Vorurteilen müssen

sorgfältig vom Gebäude ferngehalten werden.

Diese Differenz immer aufrechtzuerhalten, ist schwieriger als Hegel denkt,

wie wir an seiner Aristoteles-Interpretation sehen werden. An dieser Stelle ist es

aber, denke ich, wichtiger zu sehen, wie sich Hegel die Lektion der Kantschen

Architektonik aus der Kritik der reinen Vernunft aneignet und in welchen Punkten

er sich von ihr distanziert. Wie Kant denkt Hegel, dass jede Wissenschaft eine für

sie konstitutive Idee voraussetzt. Aber was ist die Idee eines Systems bei Kant?

Beim Reflektieren über das System der Erkenntnisse reiner Vernunft zu Beginn

der transzendentalen Methodenlehre (A 832/B 860) sagt er, dass, nachdem er das

Bauzeug des Gebäudes in der Elementarlehre überschlagen habe, es ihm nun um

den Plan des Gebäudes zu tun sei. Der Maurer wird hier im Geist vom Architek-

ten ersetzt, was dann in der Architektonik oder der »Kunst der Systeme«

(A 832/B 860) wirklich passieren wird. In ihr wird uns gesagt, dass nur ein

System Erkenntnisse zur Wissenschaft produziere und dass sie ohne Systematisie-

rung ein bloßes Aggregat bleiben, obwohl sie doch als ein Organismus konzipiert

werden müssen. Die Vernunft schaue nicht ihren Entwurf von den Wissenschaf-

ten ab, vielmehr können die Wissenschaften erst dann systematischen Charakter

gewinnen, wenn die Vernunft ihnen »den Zweck und die Form des Ganzen«

(A 832/B 860) geliefert hat. Die Vernunft fungiert unabhängig von bestimmten

Erkenntnissen; sie ist nicht vom Verstand angeleitet, sondern projiziert oder plant

die durchgängige Form ihrer Erkenntnisse und steuert somit den Gebrauch des

Verstandes.

Falls unsere gewohnte Lesart der ersten Kritik dieser zuschreibt, dem Muster

der Naturwissenschaften (besonders der Mathematik und der Physik) den Primat

einzuräumen, so werden wir vielleicht darüber überrascht sein, plötzlich ein teleo-

logisches und naturalistisches Vokabular an genau der Stelle zu finden, an der wir

uns mit der Vernunft, die die Natur transzendieren und gänzlich verschieden von

ihr sein soll, sowie mit der Wissenschaft, die von der mutmaßlich Teleologie

verbannt worden ist, beschäftigen müssen. Wir sollten es aber nicht sein: Gleich

zu Beginn der Kritik in den zwei Vorreden wird die Vernunft wechselweise als

Schicksal (sie ist durch Fragen belästigt, die sie nicht abweisen kann), als Trieb

oder ununterdrückbarer Instinkt (Grenzen zu überschreiten), als Aufforderung

(einen Gerichtshof einzusetzen) und als Versprechen einer helleren Zukunft

(wenn die Philosophie endlich den sicheren Weg einer Wissenschaft betritt)

bezeichnet. Am wichtigsten ist, dass Kant vom Ende des dialektischen Scheins in

der Dialektik und von der Vernunft als durch ihre Zwecke bestimmt in der Archi-

tektonik spricht, wo er zwischen wesentlichen Zwecken und einem Endzweck

unterscheidet.

Die Idee eines Systems bedarf zu ihrer Ausführung eines Schemas oder Um-

risses (monogramma), durch den sie ihre Glieder im Hinblick auf ihren obersten

und inneren Zweck einteilen kann (A 833/B 861). In diesem Sinn wird Philoso-

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phie als die Wissenschaft der Beziehung aller Erkenntnis zu den wesentlichen

Zwecken der menschlichen Vernunft verstanden (A 839/B 867), wobei der Philo-

soph Gesetzgeber der menschlichen Vernunft in ihren beiden Tätigkeitsfeldern,

der Natur und der Moral, ist. Hier scheint sich eine Verschiebung vom naturalisti-

schen zum moralischen Vokabular vollzogen zu haben. Wenn aber die Vernunft

Gesetzgebung mit Hinblick auf ihre Zwecke ist, dann fördert und bestimmt sie

eine nicht allein moralische Aktivität – denn angefangen mit der Tätigkeit des

Philosophierens legt sich jegliche Aktivität Zwecke fest. In dieser teleologia humanae rationis werden die Zwecke mit Blick auf eine kosmische Vorstellung

von Philosophie als eine Moralität und Metaphysik vereinigende Tätigkeit ver-

standen.5 Diese Teleologie ist weder natürlich noch moralisch, sondern definiert

die Tätigkeit der Vernunft selbst.

Ich möchte einige vorläufige Schlüsse aus diesen Passagen über Kant ziehen.

Wenn dem Ganzen eines Systems seine Teile vorangehen, ist die Einheit dessel-

ben ein Aggregat und eine zufällige Gesamtheit; wenn den Teilen die Idee des

Ganzen vorangeht, entsteht eine Wissenschaft, in der die Gesamtheit intern ange-

legt ist. Dabei ist die Idee das, was das Ganze möglich macht und seine Einheit

ausmacht; diese innere Einheit bürgt für die Analogie mit dem Organismus, in

dem Wachstum immer intern ist und niemals das Resultat einer externen Hinzu-

fügung von Gliedern. Das System entsteht folglich weder aus der Erfahrung noch

wird es möglich durch eine von außen importierte Methode (wie wir wissen, wird

die Form der Wissenschaft durch mathematische Methode im Großteil moderner

Philosophie bestimmt); vielmehr geht seine Idee dem Bau des Gebäudes voraus,

gleich dem Plan des Architekten, der vorschreibt, wie das Bauzeug zusammen-

gefügt werden soll. Wenn dies die Möglichkeit ausschließt, Mathematik als

Modell für die Philosophie zu erachten (die zwei Arten von Vernunfterkenntnis

beschreiten verschiedene Wege), so schließt dies, was wesentlicher für unsere

gegenwärtigen Absichten ist, auch jegliche historische oder empirische Erkennt-

nis aus (A 836/B 864). Rationale Erkenntnis entstammt ausschließlich Prinzipien,

während historische Erkenntnis von Fakten abhängt. Zwar schließt Kant seine

Kritik mit einer »Geschichte der reinen Vernunft« ab, dieses Kapitel ist jedoch

ahistorisch: unserem Blick zeigen sich an dieser Stelle nur Ruinen (A 852/B 880).

Die Geschichte der Philosophie wird ferner von ihm nur im Licht der Opposition

zwischen dem Sinnlichen und dem Intellektuellen sowie zwischen dogmatischen

und skeptischen Methoden betrachtet.

Warum bietet die Vergangenheit dem Blick nur Ruinen an? Weil Wissen-

schaft eine mündige, systematische Form ist, im Unterschied zu einem vorläufi-

gen Herumtappen an Begriffen. Kant stellt der vorwissenschaftlichen Philosophie

den Neuanfang gegenüber, den die transzendentale Philosophie darstellt, nach

dem man retrospektiv nur Ruinen sieht. Kant unterscheidet eine blinde Prozedur,

_____________

5 Vgl. Tonelli (1994), 277 ff.; Garelli (1999), 42 ff.; La Rocca (2003), 217–243; vgl. jetzt Brandt

(2007).

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die nicht von einer Idee geleitet ist, vom sicheren Weg der Wissenschaft, in der

alle Erkenntnisse zusammenhängen werden. Geschichte und Philosophie scheinen

sich gegenseitig auszuschließen: Geschichtlicher Fortschritt stellt sich als »pro-

gress towards science, not progress within science« dar.6

Dies wird aber nicht Kants letztes Wort bleiben, denn die neue Geschichte

soll nach der transzendentalen Wende in der Philosophie zukünftig geschrieben

werden (A 852/B 880). In diesen Passagen gibt es, wie es für viele revolutionäre

Figuren der Fall ist, eine Kluft zwischen der Geschichte als unnachgiebiger

Bewegung von Erosion und Verlust und der nun inaugurierten neuen Geschichte,

in der die der Auffüllung mit positiven Resultaten harrende Leere gleich einem

Leitstern ist, dem wir uns zuversichtlich nähern. Wenn sich Metaphysik vor der

transzendentalen Wende als das Spektakel eines Kampfplatzes endloser Streitig-

keiten darstellt, in dem Dogmatismus Skeptizismus und Skeptizismus Indifferen-

tismus generiert, dann sichert sich die neue Metaphysik ein begrenzteres, aber

sichereres Territorium. Wie bei den meisten Revolutionen stellt sich aber die

Frage, wie man Vollendung, Endgültigkeit, Erschöpfung einer Aufgabe, Errun-

genschaft eines Bruchs identifiziert. Das Problem der Kluft zwischen diesen zwei

verschiedenartigen Zeiten, zwischen der ruinösen und der wissenschaftlichen

Zeit, selbst ist eine Folge der komplizierten Versöhnung der kosmischen Vorstel-

lung von Philosophie (die eine bloße Idee einer nirgendwo in concreto gegebenen

Wissenschaft ist, vgl. A 838/B 866) mit Kants pikierter Mahnung (in den 1790er

Jahren denjenigen wiederholt vorgetragen, die dachten, sie würden sein System

vollenden), dass seine Philosophie ein fertiges Gebäude sei und dass seine Propä-

deutiken zur Metaphysik, Metaphysik der Natur und Metaphysik der Sitten, den

Umfang der Philosophie erschöpfen (A 850/B 878).

Hegel nimmt viele dieser Kantischen Gedanken sowohl in sein System als

auch in seine Konzeption der Geschichte der Philosophie auf: von der Vernunft

als autonomer Selbstbestimmung und internem Zweck bis hin zum Vergleich der

Vernunft mit dem Organismus. Beispielsweise wird der notwendige Vorrang der

Idee vor den einzelnen Bestimmungen in der Enzyklopädie zu dem Grundsatz,

dass die freie Selbstbestimmung des Denkens die einzige Weise sei, um Erkennt-

nisse der Erfahrung und der Wissenschaften in der Form der Notwendigkeit als

gültig zu erweisen, um in diesen empirischen Inhalten die immanente Entwick-

lung logischer Bestimmungen nachzuweisen (Bd. 8, § 9). In seiner Geschichte der Philosophie argumentiert Hegel, dass ich die Entwicklung der Idee ohne Kenntnis

derselben nicht verfolgen (Bd. 18, 49) und keinen Sinn im von mir untersuchten

Gegenstand finden kann.

Hegel geht wie Kant davon aus, dass Denken geschichtlich ist, teilt aber nicht

dessen Ansicht, dass die Vergangenheit nur Ruinen präsentiert. Philosophie und

_____________

6 Vgl. Nuzzo (2006), 77–94. Das Zitat findet sich auf S. 85, nach einem interessanten Anfang zur

dritten Kritik und Kants neuer Einrahmung des Problems historischen Wandels in der Wirklich-

keit.

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die Aneignung von Tradition sind kontinuierlich im Gange, da jede Philosophie

die Wahrheit ausdrückt. Wahrheit ist ein Ganzes, ist Eines und konkret. Sie muss

als Substanz konzipiert werden, der Differenzen wie Prädikate innewohnen. Da

Substanz aber unabhängig und unbewegt ist, würden ihr Prädikate als akzidentiel-

le externe Bestimmungen innewohnen. Aus diesem Grund muss Wahrheit eher

als Subjekt verstanden werden: als Subjekt seiner eigenen Entwicklung, in dem

Differenzen wesentliche Eigenschaften ausdrücken.7 Alle fest bestimmten Philo-

sophien sind wesentliche Modifikationen der Idee; sie sind alle durch ein be-

stimmtes Prinzip geprägt, das die Gesamtheit ihrer einzelnen Inhalte durchdringt.

Ferner sind die Prädikate nicht der Ursprung der Bewegung, sondern die Idee

selbst, deren Wesen es ist, sich in Form einer Vielheit an Einzelbestimmungen zu

entwickeln. Hegels Metaphorik stammt aus der Anthropologie und der vegetati-

ven Natur: verschiedene Philosophien drücken alle dieselbe Wahrheit aus, in

derselben Weise, wie »der Mann, Jüngling und Kind ein und dasselbe Individuum

ist« (Bd. 18, 65) oder auch, wie verschiedene Äste alle demselben Baum angehö-

ren (Bd. 8, § 13). Hegel drückt sich sehr spinozistisch aus, wenn er sagt, dass »es

[…] eine Idee im Ganzen und in allen ihren Gliedern [ist], wie in einem lebendi-

gen Individuum ein Leben, ein Puls durch alle Glieder schlägt« (Bd. 18, 47).

Wenn es in der Geschichte dieselbe Idee ist, die verschiedenartig zum Vor-

schein kommt, dann folgt daraus als Erstes, dass sowohl Philosophie als auch ihre

Geschichte »System in der Entwicklung« (Bd. 18, 47; Hegel [1993], 24–25) sind.

Ferner funktioniert und entwickelt sich die Geschichte der Philosophie durch

fortschreitende Erinnerung – diese ist hier die aktive und bedächtige Aufnahme

ihrer eigenen Vergangenheit, sie macht die Entwicklung des Geistes zu ihrem

Objekt. Aus diesem Grund soll die Geschichte der Philosophie nicht, wie Bacon

dachte, im Gedächtnis aufbewahrt werden, sondern wird als das sich selbst zum

Gegenstand machende Denken zu einem integralen Bestandteil der Philosophie.

Während die Philosophie selbst zunehmend konkret, d. h. genauer und deut-

licher denkend wird, weist die Geschichte der Philosophie auf, wie diese Konkre-

tisierung und Entwicklung geschichtlich in der Zeit fortschreitet. An sich ist die

Idee ewig, gleichzeitig muss sie aber in endlicher Form erscheinen. Deswegen

kommt hier das Konzept eines irreversiblen Fortschritts der Wahrheit ins Spiel.

Tradition »schwillt als ein mächtiger Strom, der sich vergrößert, je weiter er von

seinem Ursprunge aus vorgedrungen ist« (Bd. 18, 21; Hegel [1993], 7). Je ent-

wickelter eine Philosophie ist, desto konkreter und wahrer ist sie.

Die der Zeit nach letzte Philosophie ist das Resultat aller vorhergehenden Philo-

sophien und muß daher die Prinzipien aller enthalten; sie ist darum, wenn sie anders

Philosophie ist, die entfalteteste, reichste und konkreteste. (Bd. 8, § 13; vgl. auch

Bd. 18, 61)

_____________

7 »Man kann bei der Entwicklung fragen, was sich entwickelt. Es ist der Inhalt der Philosophie –

das Absolute. Die Entwicklung muss doch ein Substrat haben. Das, was sich entwickelt, kann in

der Tat nichts anderes sein als was in der Tätigkeit ist.« (Hegel [1993], 148)

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Wie wir oben gesehen haben, ist in der authentischen Philosophie jeder Rückgriff

auf die Tradition gleichzeitig ein Vorwärtssprung, eine Transformation, die vom

gegenwärtigen Zeitalter abhängig ist. Und ist die Vergangenheit bloß qua vergan-

gen tot und abwesend, unsere Rezeption früherer Philosophien jedoch ein leben-

diger Dialog, d. h. suchen wir in der Vergangenheit immer nur eine besondere

Ausprägung der einen Idee, so muss die Geschichte der Philosophie zwangsläufig

spekulativ sein; die Vergangenheit ist für den spekulativen Philosophen eine

lebendige Gegenwart.8 Wenn es sich aber so verhält, dann ist die dringendste

Aufgabe in früheren Philosophien das Vorübergehende vom Dauerhaften, das

fortbestehender Ertrag ist, zu unterscheiden. Anders ausgedrückt müssen wir den

Unterschied zwischen dem Akzidentiellen und dem vereinigenden neuen Prinzip,

das ans Licht kommt und die verschiedenen Gesichtspunkte seiner Konkretion

schattiert, erkennen können.

Weder ist der Zweig eines Baumes noch die Kindheit eines Mannes entbehr-

lich: Beide sind notwendige Stadien der Entwicklung. Notwendige Stadien ver-

puffen nicht, sobald sie vorüber sind. Deshalb sagt Hegel, dass keine Philosophie

je widerlegt worden ist; widerlegt ist der Eindruck der Absolutheit und Endgül-

tigkeit eines bestimmten Prinzips.

Diese Frage über die Notwendigkeit von früheren geschichtlichen Philo-

sophien taucht in der zugleich berühmtesten und strittigsten Konklusion Hegels

wieder auf:

Dieselbe Entwicklung des Denkens, welche in der Geschichte der Philosophie dar-

gestellt wird, wird in der Philosophie selbst dargestellt, aber befreit von jener

geschichtlichen Äußerlichkeit, rein im Element des Denkens,

schreibt Hegel in seiner Enzyklopädie (Bd. 8, § 14). Diesen Gedanken wiederholt

er in seinen Vorlesungen:

Nach dieser Idee behaupte ich nun, dass die Aufeinanderfolge der Systeme der Philo-

sophie in der Geschichte dieselbe ist als die Aufeinanderfolge in der logischen Ablei-

tung der Begriffsbestimmungen der Idee. (Bd. 18, 49; Hegel [1993], 27; 115; 157;

220; 293)

Was bedeutet »befreit von jeder geschichtlichen Äußerlichkeit«? Was ist hier

genau die Relation zwischen der Zeit und der Idee? Ist die Idee selbst zeitlich?

Schließlich: Ist dies alles plausibel?

_____________

8 »Was in diesem Felde erarbeitet worden, ist das Wahre, und dieses ist ewig, existiert nicht zu

einer Zeit und nicht mehr zu einer anderen […], das unvergängliche Wesen des Geistes, wohin

nicht Motten noch Diebe dringen. Die Erwerbe des Denkens, als dem Denken eingebildet,

machen das Sein des Geistes selbst aus. Diese Erkenntnisse sind eben deshalb nicht eine Gelehr-

samkeit, die Kenntnis des Verstorbenen, Begrabenen, Verwesten; die Geschichte der Philoso-

phie hat es mit dem nicht Alternden, gegenwärtig Lebendigen zu tun.« (Bd. 18, 57–58) Darüber,

wie der Geist die Geschichte benutzt, um sich selbst als Selbstbewusstsein zu produzieren, siehe

neben dem ersten Kapitel meines oben angegebenen Buches Schmidt (1989), 141–171 sowie die

sehr gründliche Untersuchung von Biscuso (1997).

Page 11: Hegels Idee einer Geschichte der Philosophie und Aristoteles 2009

Hegels Idee einer Geschichte der Philosophe und Aristoteles 287

Hegel sagt, es gebe einen Widerstreit zwischen der Ewigkeit der Wahrheit

und ihrer Erscheinung in der Zeit (Bd. 18, 24; Hegel [1993], 9). Dieser Wider-

streit zieht sich durch Hegels Konzeption der Geschichte, stellt sich aber nur als

scheinbar heraus. Er lässt sich durch den Ausschluss der akzidentiellen Dimen

sion der Zeit lösen oder, was auf dasselbe hinausläuft, durch die Aufhebung der

Zeit in einer absoluten Gegenwart (Bd. 9, § 258 Z.). Zeit als Zeitfolge ist diese

oben erwähnte Äußerlichkeit, die Kleidung der Idee, die wir im Zuge der spekula-

tiven Betrachtung der Geschichte der Philosophie entkleiden müssen (Bd. 18, 49;

Hegel [1993], 27; vgl. auch Bd. 18, 20–21). Einerseits verliert die Geschichte der

Philosophie durch diese Aufhebung ihre geschichtliche Bedeutung. Andererseits

behält die der Idee der Notwendigkeit nur so ihre Gültigkeit. Geschichte hat mit

Singularität, Zufälligkeit und Kontingenz zu tun, in ihr kann der Begriff nicht

herrschen; wie es in der Einleitung der Enzyklopädie steht, können wir hier »nur

Gründe« angeben (Bd. 8, § 16). Diese Passage geht folgendermaßen weiter:

»Auch die Geschichte gehört hierher [zu der positiven und zufälligen Seite der

Wissenschaft], insofern die Idee ihr Wesen, deren Erscheinung aber in der Zufäl-

ligkeit und im Felde der Willkür ist«. Die von uns gefundene, in der Geschichte

wirksame Notwendigkeit scheint durch das retrospektive Urteil des über die Ver-

gangenheit reflektierenden Philosophen aufgesetzt zu sein; was diese post festum-

Kette von Notwendigkeit aber rettet und verständlich macht, ist die Notwendig-

keit der Entwicklung der autonomen, sich selbst ausbildenden Idee.

Das Zeitliche ist die notwendige Zufälligkeit des Ewigen. Es ist notwendig,

dass sich die Idee in der Zeit manifestiert oder dass es eine Beziehung zwischen

Zeit und Ewigkeit gibt. Die Zeit bleibt aber akzidentiell, insofern sie nicht sub-

stanziell auf die Ewigkeit der Idee einwirkt. In diesem Sinn, indem er Geschichte

von der Wissenschaft ausschließt, scheint Hegel gar nicht so verschieden von

Kant zu denken, wie es den Anschein hat. Was aber wesentlicher ist und den

Unterschied zwischen Kant und Hegel deutlich macht, ist, dass der Philosoph in

dieser Trennung die Geschichte als durch die unveränderliche Wahrheit unterrich-

tet interpretiert. Das will ebenso viel sein wie ein Versuch, das Ewige und das

Zeitliche, das Notwendige und das Akzidentielle wieder zu vereinigen. Zeit wird

begrifflich in der Totalität ihrer Dimensionen rekonstruiert und zu einer wahren

Unendlichkeit transformiert. Das, was unsere Alltagsvorstellung von Zeit essenzi-

ell ausmacht, ihre lineare Abfolge und die Offenheit ihres Ausgangs, wird hier

aufgegeben.

Wie kann das aber sein, wenn Werden, das Werden des Wahren, wesentlich

ist? Obwohl das Werden sich extern und historisch entfaltet, wird es als etwas

interpretiert, das nur auf der Ebene des Denkens stattfindet, wo uns bewusst wird,

dass unsere Entdeckungen implizit immer schon da waren. Zeit ist demnach die

externe Bühne der Manifestation des Absoluten, welche die Form eines akziden-

tiellen Rahmens annimmt, der von sich aus nichts zum Prozess beiträgt. »Der

Verlauf der Geschichte ist es, welcher uns nicht das Werden fremder Dinge, son-

dern dies unser Werden, das Werden unserer Wissenschaft darstellt« (Bd. 18, 22).

Leitend für diese Konzeption der Geschichte ist die Schlussfolgerung aus der

Page 12: Hegels Idee einer Geschichte der Philosophie und Aristoteles 2009

Alfredo Ferrarin 288

Phänomenologie des Geistes, die begriffene Geschichte als Erinnerung an den

Offenbarungsort des absoluten Geistes durch die Endlichkeit auf der inneren Ebe-

ne des Denkens auffasst (Bd. 3, 590 f.).9

Leider unterlässt es Hegel in diesem Kontext, die den obigen Ausführungen

zugrunde liegende »Metaphysik der Zeit« (Bd. 18, 51; Hegel [1993], 29) zu dis-

kutieren. Anderswo, beispielsweise in der Beschreibung des Übergangs von der

logischen Idee zur Natur, deutet er an, dass Zeit die Gefallenheit der Idee in die

Äußerlichkeit ist. Demnach würde die Ewigkeit nicht jenseits oder nach dem

Ende der Zeit existieren, da dies die Ewigkeit auf eine der zeitlichen Dimensionen

reduzieren würde: auf die Zukunft (Bd. 9, § 258 Z.). Hier gibt es ein Paradoxon:

Sowohl die Zukunft als auch die Taten der Menschen haben die Funktion, das

hervorzubringen, was schon da war; sie fügen dem Wahren nichts Neues oder

Unerwartetes hinzu, außer dem Wesentlichsten – dem Selbst- und Freiheits-

bewusstsein des Geists.

In den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte kommt die wieder-

holte Warnung vor, dass es einen Unterschied zwischen der natürlichen, externen

Zeit und der geistigen Zeit gibt (Bd. 12, 29 ff.). Während erstere Selbstwieder-

holung ist und das Gegebene spontan zersetzt, ist geistige Zeit die Art von kumu-

lativer Zeit, in der wir Fortschritt machen, in der wir sowohl zurück als auch nach

vorne blicken. Fortschritt findet aber im Bewusstsein und Insichgehen statt, und

das bedeutet wiederum, dass das Selbstbewusstsein des Geistes Fortschritte macht

und eben jene Differenz zwischen natürlicher und geistiger Zeit aufstellt. Selbst

hier ist also Zeit ein externer Rahmen, über den sich der Geist erhebt um sein

Selbstverständnis zu erlangen. Das kommt der Aussage gleich, dass Zeit nicht das

wahre Element der Idee ist.

Dieser Befreiung von der Zeit durch die Zeit oder der Erkenntnis des Unend-

lichen ausgehend vom Endlichen sollte man andere Aussagen Hegels gegenüber-

stellen: Philosophie ist »ihre Zeit in Gedanken erfasst« (Bd. 7, 26); wir können

nicht mehr Platoniker oder Aristoteliker sein (Bd. 18, 65); wir können unserer

Zeit ebenso wenig entkommen, wie wir aus unserer Haut schlüpfen können. Wäre

dies aber die ganze Geschichte, dann wäre die Philosophie lediglich Ausdruck des

Geistes der Zeit (wie es in Bd. 18, 74 buchstäblich heißt), und wir könnten in der

Folge nicht die Grenzen der Endlichkeit transzendieren und die Idee erkennen,

geschweige denn frühere Philosophen so verstehen, wie sie sich selbst verstanden

haben. Diese Verwirrung hätte Hegel vermeiden sollen: mit der gebührenden

Betonung des perspektivischen Horizonts jeder Interpretation hätte Hegel auf die

_____________

9 Hier sollte man Hegels grundsätzlich zweideutigen Gebrauch des Wortes »Geschichte« beach-

ten. Geschichte ist für die Idee irrelevant, dennoch muss die Idee in der Geschichte erscheinen –

ihre Erscheinung in der Geschichte ist sogar adäquater als ihre Erscheinung in der Natur. Im

ersten Fall gebraucht Hegel »Geschichte« im Sinn der äußeren Bekleidung der Idee; im zweiten

Fall sind »Geschichte« und das vernünftige Resultat der Selbstkonstitution des Geistes in der

Zeit, die systematische Zivilisation also, synonym. Kein Wunder, dass Hegel gleichzeitig als

absoluter Verfechter des zeitlosen logos und als Vater des Historizismus galt.

Page 13: Hegels Idee einer Geschichte der Philosophie und Aristoteles 2009

Hegels Idee einer Geschichte der Philosophe und Aristoteles 289

Bewegung der Transzendierung diese Horizonts anheben sollen. Ohne dies wäre

die Geschichte der Philosophie nicht ein philosophisches, sondern ein kulturelles

Projekt, unfähig sich über seine Zeit zu erheben – ein mehr als selbstwidersprüch-

licher Anspruch, wenn die Philosophie Erkenntnis der ewigen Wahrheit sein soll.

Wie dem auch sei: Diesen Konflikt spiegelt Hegels spekulatives Konzept der

Geschichte der Philosophie wider. Einerseits kritisiert Hegel Brucker wegen feh-

lenden historischen Gespürs und weil er (unter anderen) Thales mutmaßlich zeit-

genössische Anliegen und Probleme aufzwingt.10

Andererseits sagt er aber: »Man

muss wissen, was man in den alten Philosophen oder in der Philosophie jeder

anderen bestimmten Zeit zu suchen hat« (Bd. 18, 67). Geschichte ist nicht an sich

eine Richtschnur oder ein einheitlicher Maßstab. Ich glaube, wir sollten daraus

schließen, dass frühere Philosophen als Mittel und nicht als Zweck studiert wer-

den. Darin studieren wir Philosophie und nicht Philosophen – aus unserer Per-

spektive und abhängig von einem Bedürfnis unserer Zeit.

Wenn ich auf der Ambiguität und Spannung dieses Konzepts bestehe, dann

geschieht dies zum Zweck der Hinterfragung seiner Annahmen, besonders der

Annahme einer Identität zwischen der Geschichte der Philosophie und der Logik,

die Hegel so vehement behauptet. Diese Identität sollte im Licht der grundsätzli-

chen Frage der Voraussetzungslosigkeit gesehen werden. Hegel rekurriert auf die

traditionelle Vorstellung eines Baumes der Wissenschaft (bezeichnenderweise

dekliniert er »arbor scientiarum« im Singular) und behauptet, wie wir gesehen

haben, dass die Enzyklopädie ein eigenwüchsiger Organismus ist, der nicht durch

Zusatz, sondern durch eine tiefere Einsicht in die Entwicklung des Begriffs (in

seinen eigenen Worten: durch die Selbstbestimmung des Begriffs) wächst. Wenn

wir uns einem Organismus nähern, so leitet unser Verständnis seiner Teile (die

Glieder, Organe und Funktionsweisen) wenn nicht eine Idee, so doch zumindest

eine Repräsentation des Ganzen. Wenn ein Organismus eine beständige Totalität

ist, die sich selbst in ihrem Wachstum, in jedem Moment ihrer Entwicklung erhält

und aufrechterhält, dann kann ich nur ihre Elemente begreifen, wenn ich voraus-

setze, dass sie zu einer ihnen vorhergehenden Totalität gehören.

Oben haben wir den Bezug auf die Altersstufen in der Entwicklung des Men-

schen gesehen. In Kants Passagen über die Geschichte der reinen Vernunft gibt es

den Ausdruck des Kindesalters der Philosophie (A 852/B 880). Wie wir gesehen

haben, teilt Hegel diesen Gedanken – das ist der Grund, weshalb er sagt, dass man

in die Kindheit oder in ein früheres Alter in der Entwicklung der Person zurück-

fällt, wenn man heutzutage von sich behauptet, Platoniker zu sein (Bd. 18, 65).

Gleichzeitig teilt Hegel mit Aristoteles folgende Gedanken: Erstens, dass das

Ding an sich eine dermaßen große Kraft hat, dass das Wahre sich früher oder

später manifestieren muss;11

und zweitens, dass die vergangenen Stadien eines

_____________

10 Vgl. Bd. 18, 62, 134: Hegel sagt hier von Bruckers Verfahrensart, sie sei »durchaus unhisto-

risch; nirgends ist jedoch mehr historisch zu verfahren als in der Geschichte der Philosophie.«

11 Für die in diesem Zusammenhang relevanten Textstellen siehe Ferrarin (2001), 47–52.

Page 14: Hegels Idee einer Geschichte der Philosophie und Aristoteles 2009

Alfredo Ferrarin 290

Gedankens gleichsam zögernde Ausdrücke sind, ihrer Reife harrend, die sie zur

Vollendung bringt. Mag dieses Konzept auch sehr skizzenhaft sein, es impliziert

ohne Frage eine Teleologie in der Geschichte der Wahrheit und ihrer

Erscheinung.

Mir scheint es, als tue die Geschichte der Philosophie das, was die Logik

nicht fähig zu tun ist: aus der Perspektive einer fast fertigen Entwicklung retro-

spektiv urteilend, die Identität dessen, was sich während seines Wandels durch-

weg entwickelt, wieder zu erkennen (wenn nicht anzunehmen). Dem Philoso-

phiehistoriker ist die Vergangenheit nicht ein heraklitscher Fluss, sondern eine

aufeinander folgende Artikulation von Prinzipien, da ein darüber hinaus liegender

Standpunkt angenommen wird: die retrospektive Institution einer Tradition, eine

Kontinuität, die wir im Verstehen der Vergangenheit unterstellen. Geschichte der

Philosophie betreibend orientiere ich mich am Bewusstsein meiner selbst und

meiner Epoche, um meine Vergangenheit zurückzugewinnen. Ich wische nicht

die Tafel all meiner Erfahrungen ab, um mich auf den Versuch, rein und ohne

Voraussetzung zu denken, zu konzentrieren – dies wäre sogar ein sinnloses

Unternehmen. Die Logik wird sich nicht anders als in Form der Untersuchung des

Denkens dessen, was jede Denkbestimmung mit sich bringt, entfalten. Nur am

Ende der Logik entdecke ich, dass ich die ganze Zeit ein und dasselbe Objekt

untersucht habe – das Denken selbst. Dies kann nicht auch für die Geschichte der

Philosophie gelten, die im Konzept der Entwicklung als internem Zweck (was in

der Logik nur die Logik des Begriffs untermauert) und im Wiedererkennen der

Zusammensetzung der Philosophie in der Vergangenheit wurzelt.12

Anders als in der Logik ist in der Geschichte der Philosophie die Suche

durchsetzt vom Vertrauen auf die tief greifende Einheit der Entfaltung derselben

Idee (man erinnere sich daran, dass die Geschichte der Philosophie systematisch

zu des Geistes erneuter Betrachtung seiner selbst gehört). Gleichzeitig muss die

Geschichte der Philosophie dasjenige suchen, was ihre Entwicklung bestätigt:

Notwendigkeit ist weder ihr Leben und Element selbst, wie es im reinen Denken

der Fall ist, noch geht sie einher mit unserer Befreiung von Annahmen. In der

Logik suchen wir nach dem nächsten immanenten und notwendigen Schritt; und

wir können uns nur am Ende unserer selbst entsinnen und zurückblicken, da die

absolute Idee entdeckt, dass sie von Anfang an über allen Fortschritt gewaltet hat.

Eine Nichtidentität zwischen Logik und Geschichte der Philosophie scheint

mir aus Hegels eigenem Denken unvermeidlich zu folgen. Anders als in der

Logik ist der Begriff in der Geschichte der Philosophie von der Differenz zwi-

schen äußerer Existenz und systematischer Entwicklung durchsetzt. Anders als in

_____________

12 Würde dieselbe Teleologie über beide walten, wäre es schwer, sich gegen Schellings Kritik der

Logik zu wehren. Man kann von einer Bestimmung zur nächsten fortschreiten, weil man im

vorhinein schon weiß, worauf man hinaus will – das heißt, man schummelt. – Eine sehr strenge

Lesart der Voraussetzungslosigkeit in der Logik findet sich in Houlgate (2006).

Page 15: Hegels Idee einer Geschichte der Philosophie und Aristoteles 2009

Hegels Idee einer Geschichte der Philosophe und Aristoteles 291

der Logik ist Notwendigkeit nicht das Element der Geschichte der Philosophie.13

Alles in allem ist sogar das »befreit vom Element der Äußerlichkeit« nicht ein

hinreichendes Dementi für die systematische Ambition der Geschichte der Philo-

sophie, da die Motive und Kriterien, welche die Logik und die Geschichte der

Philosophie mit Blick auf Teleologie, Notwendigkeit, interne Entwicklung, orga-

nische Totalität und Voraussetzungslosigkeit leiten, verschieden sind.

Hegel spricht von einer strengen Identität zwischen der Logik und der

Geschichte der Philosophie. Wäre sein Vorschlag plausibler, wenn er unbestimm-

ter von Korrespondenz sprechen würde? Nicht wirklich. Was Hegels Logik so

interessant macht, ist, dass die Behandlung jeder Kategorie von den Konzepten

vieler Vorgänger zehrt, und dies in keiner bestimmten historischen Ordnung. In

der Logik finden wir brillante historische Analysen eingebettet in einem dedukti-

ven Prozess. Für die Logik zählt aber nur die Deduktion. Geschichte wird thema-

tisch benutzt; sie liefert wichtige relevante Beispiele (mit dem Wort »Beispiele«

möchte ich Hegels Behandlung seiner Vorgänger nicht degradieren, die in den

höchsten Rang philosophischen Diskurses gehört und einige von Hegels denk-

würdigste Resultaten zeitigt), nicht aber das Rückgrat einer Entwicklung. Hätte

sich die Identitätsthese gehalten, so hätten wir wenigstens eine Dominanz der

Antiken in der objektiven Logik und der Modernen in der subjektiven Logik.

Nichts liegt aber (selbst wenn dies sinnvoll wäre) den Tatsachen ferner.

Es gibt mehr Belege, die gegen eine solche Identität sprechen. Bevor ich mich

aber ihnen zuwende, möchte ich auf einen sehr wichtigen Punkt hinweisen. Es

gibt eine weitere sehr gewichtige Annahme, die dieser Identität zugrunde liegt,

welche – unabhängig davon, ob wir glauben, dass Hegel seine Position in seiner

Geschichte der Philosophie durch diese bestimmt hat oder nicht – normalerweise

und besonders unter Hegelianern als selbstverständlich gilt. Diese ist die Redu-

zierbarkeit der ganzen Philosophie auf ein logisches (im weiten Sinne von meta-

physischem oder theoretischem) Prinzip. Taucht eine Wahrheit mit einer

bestimmten Philosophie auf, so ist sie in der Logik eine Denkbestimmung. Hier

treffen sich Hegel und Kant erneut: Geschichte ist eine Geschichte der reinen

Vernunft, das heißt von Prinzipien. Es scheint, als habe Kant hier einen kanoni-

schen Grundsatz formuliert, der fortan für alle Philosophiegeschichtsschreibung

gilt und der tiefer greift als es im Angesicht seiner spärlichen Behandlung des

Themas nahe liegen würde. Nach Kant wird Fortschritt – besonders in unserer

_____________

13 Hegel selbst unterstreicht diesen Punkt, indem er in der Vorlesung über die Geschichte der Philosophie von 1823 sagt (Hegel [1993], 25–26): »Die Entwicklung der Idee zwei Gestalten;

einmal als philosophisches System und sodann Geschichte der Philosophie. In der ersten Weise

der Entwicklung ist das Bewusstsein einer Notwendigkeit; nicht so in der zweiten. Dort ist die

Konsequenz des Fortgangs das Wesentliche; hier ist diese Konsequenz nicht; die einzelnen

Gestalten treten für sich hervor. Schein des blossen Nacheinander in der Zeit. Der Begriff ist

jedoch das innere Leitende, der unsichtbare Werkmeister.« In dieser Kluft zwischen Schein und

unsichtbarem Werkmeister zeigt sich die Differenz, auf die ich verweise, vollständig. Rätsel-

hafterweise schließt Hegel nach dieser zitierten Passage auf die in Frage stehende Identität.

Page 16: Hegels Idee einer Geschichte der Philosophie und Aristoteles 2009

Alfredo Ferrarin 292

Einschätzung der modernen Philosophie – gemäß der umfassenden Verteidigung

unserer Urteile gegen eine skeptische Bedrohung beurteilt,14

so als ob die Theorie

des Wissens die Philosophie zusammenfassen würde. So verwurzelt ist in uns der

Gedanke, dass Philosophien auf ihre theoretische Masse, d. h. auf ihre Metaphy-

sik und Logik, reduziert werden sollten, dass wir uns kaum eine Geschichte der

Philosophie vorstellen können, die beispielsweise Ethik und Politik anstelle von

Logik privilegiert.15

Lassen Sie mich ein weiteres Beispiel erwähnen: Solange wir uns von diesem

Modell leiten lassen, werden wir es nicht vermeiden können, die

Geschichte der Naturrechttheorien auf einige wenige Modelle, die ausschließlich

für die Politik oder den objektiven Geist von Interesse sind, zu reduzieren. Rous-

seau würden wir dann beispielsweise eine im Vergleich zu seiner Wichtigkeit

disproportional beschränkte Behandlung widmen (wie es Hegel gemacht hat).

Locke würden wir allein im Licht seiner Essays betrachten und würden seine

Schriften über Religion oder Politik und alles das, was uns nicht an unsere vorge-

fasste Meinung über Pro und Contra des Empirismus erinnert, ignorieren (hier

kann man sich Hegels Vorlesungen und Kants Kritik der reinen Vernunft wieder

anschauen). Humes Philosophie würden wir wiederum ausschließlich mit Blick

auf seine Kritik der Kausalität und der Identität auf Kosten seiner Schriften über

Recht, Politik und Geschichte beurteilen und würden ihn als Vorkämpfer des

Skeptizismus bezeichnen (wie Kant es getan und Hegel es ihm nachgemacht hat).

Nach Hegel soll die angebliche Identität zwischen Logik und Geschichte der

Philosophie die Wissenschaftlichkeit der Geschichte der Philosophie retten, die

nicht in Kants Kampfplatz endloser Streitigkeiten untergehen darf. Wenn Wissen-

schaft den Zufall eliminiert, so tut sie das, um die tiefere und einheitliche Bedeu-

tung ihres Gegenstandes aufzuzeigen, trotz der scheinbaren Zufälligkeit seiner

Entfaltung und jener Ruinen, in denen sich der Gegenstand dem nichtspekulativen

Betrachter präsentiert. Eine Sache ist es, historisch bestimmten Philosophien

einen Ort in der Logik zuzuweisen und ihnen dadurch eine von der Zeit

unabhängige Würde sowie den Status von distinkten, wenngleich

zusammenhängenden Momenten des sich selbst denkenden Denkens zu verleihen;

eine andere Sache ist es jedoch, die Notwendigkeit in der zeitlichen Entfaltung

selbst zu finden. In den Vorlesungen fungiert dieses Identitätsprinzip öfters als

polemische Spitze gegen die losen Sammlungen von Meinungen, welche von

Hegels Zeitgenossen und Vorgängern als »Geschichten« präsentiert wurden. Aus

diesem Grund sollte es meiner Meinung nach als rhetorisches Mittel verstanden

werden, um zu betonen, dass der Zufall nicht über die Geschichte herrscht. Eine

Ablehnung des einen Extrems impliziert aber nicht notwendigerweise eine _____________

14 Vgl. Haakonssen (2005), 3–25.

15 Cassierers brilliante und monumentale Geschichte der modernen Philosophie ist ein extremes

Beispiel einer solchen ausschließlichen Fokalisierung auf den theoretischen (metaphysischen

und epistemologischen) Kern von Philosophien – aber auch Heidegger kann man hier als Bei-

spiel anführen.

Page 17: Hegels Idee einer Geschichte der Philosophie und Aristoteles 2009

Hegels Idee einer Geschichte der Philosophe und Aristoteles 293

Extrems impliziert aber nicht notwendigerweise eine Verteidigung des anderen.

Sogar wenn wir uns der äußeren Form philosophischer Systeme entledigen, um

uns auf deren Essenz zu konzentrieren, finde ich es schwierig, eine solche Identi-

tät ernst zu nehmen.

Ein näherer Blick auf die bestimmte Folge zu Beginn der Logik und der

Geschichte der Philosophie zeigt die Unhaltbarkeit dieser Identität. Unter mögli-

chem Ausschluss des Anfangs (Sein und Parmenides) sind praktisch keine zwei

Etappen vergleichbar. Selbst diese Ausnahme ist aber unvertretbar, da Hegel

meint, Parmenides würde Heraklit vordatieren, was angefochten wird. Noch

schwerer wiegt das Vergessen dieses Anfangs angesichts dessen, dass die Philo-

sophie eigentlich mit Thales und den Ionischen Philosophen und nicht mit Par-

menides anfängt. Aber sogar wenn wir das gesuchte Sein und Werden am Anfang

gefunden hätten, wer soll dann das Stadium des Nichts repräsentieren? Der

Buddhismus wäre für Hegel hier der wahrscheinliche Kandidat, dem er jedoch in

der Logik keinen Auftritt gewährt, da er den Anfang der Philosophie im westli-

chen Denken lokalisiert, wo Freiheit, für die es im orientalischen Denken keinen

Ausdruck gibt, zum ersten Mal auftaucht.

Zu bemerken ist auch, dass, wenn die Vernunft danach strebt, sich in der Welt

zu verwirklichen, ihr Fortschritt in der Geschichte der Philosophie sich ausge-

sprochen von ihrem Fortschritt in der Weltgeschichte unterscheidet. Während

eingehend und einleuchtend auf die Relation zwischen und Rangfolge von Logik

und Realphilosophie am Ende der Enzyklopädie in der Theorie der drei Syllogis-

men eingegangen wird, kann kein Bezug auf minervische Eulen oder die Posterio-

rität der Philosophie im Verhältnis zur ›realen Welt‹ ausreichen, um das fast

unlösbare Problem der Relation zwischen Philosophie- und Weltgeschichte –

ihrem Prioritätsverhältnis und ihrer jeweiligen generativen Kraft – zu lösen. Die-

ses Problem, das hier offenkundig nicht einmal kursorisch behandelt werden

kann, wird durch die einfache Einsicht, dass, während es vier historische Welten

gibt, die Periodisierung der Geschichte der Philosophie nur zwei zentrale Epo-

chen vorsieht, nämlich die griechische und die moderne.16

Wenn sowohl Philoso-

phiegeschichte als auch Weltgeschichte von Fortschritt und Kontinuität durchsetzt

sind, so sind die Kriterien zur Beurteilung dieses Fortschritts grundverschieden:

Im letzteren Fall ist das Kriterium der politische Maßstab der Freiheit, im ersteren

sind die Kriterien die zwei gegensätzlichen Prinzipien, die Hegels Philosophie zu

vereinigen sucht – die Idee, objektives Denken oder die Identität von Denken und

Sein, und Geist oder moderne Subjektivität, sich selbst begreifend als individuel-

len Geist im Gegensatz zur Welt und frei, sich selbst in allen Realitätsaspekten zu

behaupten.

_____________

16 Zu den Differenzen zwischen den Kriterien für die verschiedenen Datierungen siehe Biscuso

(1997), 186 ff. Für eine nachhaltige Kritik der Identitäts-These siehe Jaeschkes »Einleitung« in

Hegel (1993), xvi ff.

Page 18: Hegels Idee einer Geschichte der Philosophie und Aristoteles 2009

Alfredo Ferrarin 294

Auch die Unterscheidung zwischen griechischer und christlich-deutscher Phi-

losophie ist schwer zu fassen, vieldeutig, paradox.17

Ich möchte diesen Abschnitt

zu Ende bringen, indem ich mich den gewichtigsten Belegen für die Unhaltbarkeit

der Identität von Geschichte der Philosophie und Logik zuwende. Denn ich den-

ke, dass eine solche Identität nicht nur ein rhetorisches Argument und eine unbe-

wiesene Annahme ist. Ich möchte dafür argumentieren, dass sie auch in die Irre

führt, da Hegel selbst nicht das umgesetzt hat, was er theoretisch formulierte.

Die Identität von chronologischer und idealer oder logischer Ordnung kann

nur durch drei Dinge begründet werden: durch eine hinreichende Kenntnis der

ganzen Geschichte der Philosophie; durch die Möglichkeit, alle Facetten einer

vergangenen Philosophie im Basisvektor eines leitenden Begriffs zu fassen; und

letztlich durch Hegels synoptische Fähigkeit, die verschiedenen philosophischen

Systeme in der Darlegung auf ihr jeweiliges Prinzip zu reduzieren.

Zwei Beispiele zeigen, dass Hegel seinem eigenen Grundsatz nicht folgt.

Hegel verändert die Datierung moderner Philosophie wiederholt über die Jahre;

zudem bezeichnet er die Epoche vom Ende des Neuplatonismus bis zur Spät-

renaissance als irrelevant für die Entwicklung der Idee der Philosophie, obwohl er

niemals ernsthaft mittelalterliche Philosophie studiert hat (ob lateinische, arabi-

sche oder jüdische). Nicht nur konnte er dies nicht, er tat es auch nicht. Jede sorg-

fältige Historiographie muss – über die in den Vorlesungen zu findenden Urteile

hinausgehend – Hegels Aussagen über vergangene Philosophien hinterfragen und

ihre Präsenz und eigentliche Wichtigkeit in Hegels Denken überprüfen. Platon

beispielsweise, der als ein Meister des Skeptizismus gelobt wird und der das

Besondere sowohl in seiner politischen Philosophie als auch in seiner negativ-

rationalen Dialektik aufgelöst hat, scheint eine permanente Herausforderung dar-

zustellen, die fast überall in Hegels Werken auftaucht. Um Hegel zu paraphrasie-

ren, können wir sagen, dass nicht nur alle Behauptungen Heraklits in der Wissen-schaft der Logik gegenwärtig sind, sondern auch all jene von Platon, Plotin,

Spinoza und Kant. Und zudem die meisten aller Behauptungen von Aristoteles.

Aristoteles’ Philosophie lässt sich nicht auf irgendeine der in Hegels System

dargelegten Kategorien reduzieren; bei ihm gilt mehr als bei jedem anderen die

Unhaltbarkeit der Identitätsthese. Aristoteles erscheint nicht als Gestalt des

Bewusstseins in der Phänomenologie des Geistes (wie es für den Skeptizismus

oder Stoizismus gilt) oder als Position des Denkens mit Hinblick auf die Objekti-

vität im Vorbegriff in der Enzyklopädie. Sogar wenn Hegel an Niethammer

_____________

17 Leider kann ich nicht näher hierauf eingehen, siehe Ferrarin (2001), 45. Ein grundsätzliches

Problem von Hegels Erörterung der Universalität der individuellen Freiheit (welche den Grie-

chen unbekannt war) ist die Frage nach der Entstehungszeit dieses Prinzips: zur Zeit Christi

oder Luthers? Wenn das von Sokrates entdeckte Prinzip eines individuellen Bewusstseins die

Zerstörung der griechischen Polis nach sich gezogen hat, wieso soll dann die Universalität die-

ses Prinzips nicht die hellenistische und mittelalterliche Philosophie leiten und erst im

17. Jahrhundert sich zu behaupten beginnen? Wieso beginnt die Moderne mit Bacon, Böhme

und Descartes und nicht, zum Beispiel, mit Paulus oder Augustinus?

Page 19: Hegels Idee einer Geschichte der Philosophie und Aristoteles 2009

Hegels Idee einer Geschichte der Philosophe und Aristoteles 295

schreibt, dass seine objektive Logik mit Aristoteles’ Ontologie grob korrespondie-

re (Bd. 4, 406–407), scheint eine genauere Untersuchung zu ergeben, dass Aristo-

teles’ Erbe Hegel durch die ganze Logik begleitet (wie auch durch die Naturphi-

losophie, den subjektiven Geist, das ethische Leben usf.); und wenn man wirklich

das, was für Hegel Aristoteles’ neues Prinzip darstellt, energeia, auf eine Katego-

rie oder Ebene der Logik reduzieren wollte, dann wäre diese nicht die objektive

Logik, sondern der Begriff, der Lebendigkeit und Aktivität der Selbstbewusstwer-

dung ist.

Hegels Bemerkungen über Aristoteles, die über sein ganzes Werk verstreut

sind, wären unverständlich, wenn Hegel sich an der Identitätsthese oder selbst am

Gedanken historischen Fortschritts orientiert hätte; seine Auseinandersetzung mit

Aristoteles ist im Großen und Ganzen rein spekulativ.

III.

Mit einer rein spekulativen Beziehung zu Aristoteles meine ich eine direkte und

systematische Herangehensweise an seine Texte, ohne dass eine vorgefasste The-

se, wie beispielsweise der Fortschritt in Tiefe, Hegels Verständnis leiten oder

überhaupt eine Rolle spielen würde. Aristoteles stellt für Hegel den wichtigsten

Gesprächspartner dar, wobei sein Aristoteles seine eigene herausragende Errun-

genschaft ist. Was ich sagen will, ist, dass seine Aristoteles-Interpretation ganz

und gar originell ist und das Spiegelbild einer ernsthaften, anhaltenden und gründ-

lichen Bemühung, das Beste aus der aristotelischen Philosophie herauszudestillie-

ren; gleichzeitig meine ich, dass Hegel dasjenige bei Aristoteles findet, was er im

Entwicklungsgang seines eigenen Denkens stets versucht, zu verstehen und sich

anzueignen. Er zwingt dem Denker, den er untersucht, niemals seine eigenen

Ansichten auf. Was er aber findet – im Einklang mit den Prinzipien seiner

Methode, wie wir gesehen haben – ist das, was er sucht.

Wonach sucht er? Er sucht nach einer rationalen und brauchbaren Überwin-

dung von Abtrennung und Gegensatz; diese glaubt er im Konzept der energeia zu

finden, welche als zweckmäßige Vernunft und sich selbst verwirklichender

Begriff die neue Errungenschaft seiner Philosophie am Ende der Jenaer Zeit dar-

stellt. Für Hegel ist das Wichtige an der energeia, dass Aristoteles ihr seine neue

Konzeption der Aktualität verdankt. Indem er das Sein als energeia auffasst,

schafft er im Sein die Möglichkeit für Bewegung und Aktivität. Weder ist das

Sein unbeweglich und identisch mit sich selbst, wie bei Parmenides, noch ist es

intern in Erkennbarkeit und Existenz gespalten, wie in der Ideenlehre. Bewegung,

Pluralität, Werden sind dem Sein nicht äußerlich, sondern definieren es von

innen. Hegels Analyse besagt, dass die Bewegung zum ersten Mal den Status des

Seins zuerkannt bekommt und dass umgekehrt das Sein nicht mehr statische

Gegebenheit ist. Hegel nimmt an, dass Aristoteles die Natur, den Wandel und das

Werden im Ganzen, an und für sich selbst verständlich gemacht hat. Folglich

Page 20: Hegels Idee einer Geschichte der Philosophie und Aristoteles 2009

Alfredo Ferrarin 296

dürfen wir nicht die Konzeption der Substanz als passives Substrat der Bewegung

entgegensetzen noch die Form oder Essenz dem Werden. Aristoteles’ Fortschritt

im Vergleich zu Platon besteht nur im Konzept der immanenten Form, in wel-

chem Hegel »das Prinzip der reinen Subjektivität«, das bei Platon fehlt, findet

(Bd. 19, 153). Die immanente Form ist für Hegel eine archē oder Ursache, die

nicht in abstracto und isoliert definiert werden kann; die Ursache ist nicht zufällig

zusätzlich zu und unabhängig von ihrem Wesen dem Wandel ausgesetzt. Ihr Sein

selbst besteht aus dem Prozess ihrer Aktualisierung.

Aktualität kann nicht unabhängig von Aktualisierung verstanden werden.

Aktualität ohne Aktivität ist für Hegel sogar undenkbar. Zwar stimmt es, dass

Hegel weder auf Aristoteles’ notorisch dunkle Definition der Bewegung in der

Physik noch auf die Relation zwischen Privation und Form eingeht. Wichtig ist

ihm aber, dass Aristoteles das Sein als reine Tätigkeit, als seine eigene Aktualisie-

rung entdeckt hat; dass die Realität eine sich selbst begründende Aktualität, ein

sich selbst produzierender Zweck ist. Wenn die Substanz die Aktualität irgendei-

ner Materie (Metaph. Θ 6, 1048b 9) und diese Aktualität ihr Zweck ist (Θ 8,

1050a 9), so dass Substanz und Form Tätigkeit sind (Θ 8, 1050b 2), dann beweist

dies laut Hegel, dass Aristoteles ousia als aktiv im Gegensatz zu inaktiv und starr

versteht. Die Realität ist eine innere Bewegung, Sein ist Tätigkeit. Diese Bewe-

gung ist Entwicklung innerhalb desselben und nicht Übergang in ein Anderes.

Wie bei Aristoteles’ energeia akinēsias muss sie nicht unbedingt mit Verände-

rung, Ortsbewegung oder Streben einhergehen. Vielmehr ist sie in Hegels eigenen

Worten die Aneignung eines Seienden seiner selbst. Damit meint er, dass das Sein

intern gespalten ist: Jedes Seiende ist die Bewegung der Verwirklichung seines

Begriffs, seines Zwecks, seiner Aktualität oder seines ihn leitenden und seiner

Einzelexistenz vorgängigen Maßstabs.

Hegel übersetzt energeia normalerweise als Tätigkeit oder Wirklichkeit, auch

wenn er im Zusammenhang einzelner Werke andere Ausdrücke vorzieht (z. B.

Aktuosität in seiner Philosophie des Geistes und in der Logik). Trotz dieser Fluk-

tuation in der Übersetzung meint er immer dasselbe: die Aktualisierung einer dem

Subjekt des Prozesses oder der Bewegung ursprünglich immanenten Potentialität.

Hegel interpretiert energeia als jene selbstreferenzielle Aktivität, die er in vielen

Manifestationen am Werk sieht: von der Selbstbegründung der Essenz bis hin

zum Begriff; vom teleologischen Prozess bis hin zum natürlichen Leben; von der

Essenz des Menschen bis hin zu den Wissens- und Tätigkeitsformen, die bis ins

absolute, sich selbst denkende Denken reichen, ihre am offensichtlichsten freie

und selbstbestimmende Dimension. Die letztere Vorstellung findet sich laut Hegel

in Aristoteles’ noēsis noēseōs, die ihm als Vorläufer des absoluten Geistes gilt

und die er sogar als Schlusszitat der Enzyklopädie einsetzt.

Hegel betont die zentrale Stellung der energeia in seiner Rekonstruktion der

Metaphysik. Er findet hier drei Substanztypen unterschieden: erstens die wahr-

nehmbare ousia (Substanz) als Substrat des Wandels; zweitens der endliche Nous

(Verstand) als formendes Prinzip einer gegebenen Äußerlichkeit; drittens der

göttliche Nous, die absolute Tätigkeit des sich selbst Denkens und sich selbst in

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Hegels Idee einer Geschichte der Philosophe und Aristoteles 297

Natur und Geist Manifestierens. Wenn ousia identisch mit seinem Begriff und

dieser wiederum das Subjekt seiner eigenen Aktualisierung ist, dann ist Gott

einerseits qua sich selbst denkendes Denken die vollständige Identität von Sub-

jekt und Objekt, nach der der gesamte Kosmos strebt. Andererseits findet Hegel

in der physis (Natur), in der Theorie der Form, die in sich selbst den Trieb hat,

sich zu verwirklichen, die Bewegung also, ihr eigenes telos zu erreichen, seine

eigene Idee der natürlichen Subjektivität wieder. Wenn der Gipfel der Metaphysik

für Hegel die spekulative Idee, Gott, darstellt, das sich selbst denkende Denken

und die Substanzen der sublunaren Welt jedoch zwei verschiedene Prinzipien

sind, dann findet Hegel in De anima den archimedischen Punkt, der die Vereini-

gung von natürlicher Subjektivität und Geist, von seinen endlichen bis hin zu

seinen absoluten Formen, ermöglicht.

Als wehrte sich Hegel gegen die schematische Anwendung eines Wesens-

unterschiedes zwischen antiker und moderner Philosophie, versteht er Aristoteles

nicht nur als Vorkämpfer des objektiven Denkens und der Einheit von Begriff und

Objektivität, er eignet sich die Bedeutung von energeia sogar an und transfor-

miert sie im Zuge dieser Aneignung zur Definition des Geistes selbst. Geist ist

Aktuosität, das Selbst oder Subjekt, das in sich selbst seine eigene Bewegung und

seinen eigenen Zweck beinhaltet und in der Aktualisierung seiner Potenzialitäten

seine Identität mit sich selbst sowie seine Beständigkeit in der Auseinander-

setzung mit stets neuen und unterschiedlichen Inhalten ausdrückt.

Für Hegel wird in De anima (»das vorzüglichste oder einzige Werk von spe-

kulativem Interesse über diesen Gegenstand«, d. h. über den Geist [Bd. 10,

§ 378]) das Subjekt der Erfahrung als eine hexis aufgefasst, als aktive Potenziali-

tät, als Aufhebung der Äußerlichkeit. Hegel argumentiert, dass die verschiedenen

Formen des Lebens, Wissen und Handeln, in diesem Werk einheitlich konzipiert

werden als graduelle Momente in der Aktualisierung desselben Prozesses – die

Entelechie des lebendigen Geistes. So findet Hegel in De anima Folgendes:

erstens die Seele als Leben, eine von ihren Manifestationen untrennbare Tätigkeit

und eine Selbstentwicklung in ihrer und durch ihre Relation zum Anderssein (die

unmittelbare Idee im Lexikon der Logik); zweitens die Negativität des Geistes,

für den jede endliche Form Material für die höhere Form der Betrachtung der

Realität wird; drittens die notwendige Entstehung des Geistes aus der Natur als

Wahrheit derselben; viertens Wahrnehmung qua Identität des Wahrnehmenden

und Wahrgenommenen als Tätigkeit der Rezeptivität und die Aktualisierung der

Sinne als den seine eigene Rezeptivität in bestimmte Richtungen bildenden Geist;

fünftens die Vorstellung des Ich als beständige Grundlage (Potenz) oder hexis, die

Gegebenheit im Gedächtnis bewahrt und idealisiert und damit die Konsistenz von

Erfahrungen garantiert; sechstens den Verstand, der die untergeordneten Wissens-

formen thematisiert und im Zuge dieser Auseinandersetzung sich selbst erkennt;

letztens die Einheit von Wille und Vernunft.

Besonders Aristoteles’ Theorie des Verstandes findet Hegel brillant, wo es

notwendig gilt, die Beziehung zwischen objektivem und subjektivem Denken,

zwischen, wie sich jetzt herausstellt, passivem und aktivem Nous zu durchdenken.

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Alfredo Ferrarin 298

Der Begriff ist nicht unsere Aufzwingung oder Konstruktion, da er realiter in der

Natur existiert; dennoch ist er nur in versteckter Form in ihr zu finden, in der

Potenzialität in Bezug auf seine Existenz als Objekt wirklichen Denkens. Wenn

das Allgemeine die Essenz eines natürlichen Wesens, der Naturgesetze, und wenn

es die Objektivität des Lebendigen darstellt, kann es nicht gleichzeitig als solches

in der Natur aufgefunden werden. In einem höchst willkürlichen interpretativen

Schritt identifiziert Hegel das existierende Allgemeine, die objektive Verständ-

lichkeit alles Existierenden, mit dem aristotelischen passiven Nous, nur um dann

den objektivierten Denkbestimmungen den aktiven Nous – Selbstbewusstsein,

den Begriff als absolutes Ich – gegenüberzustellen. Das Objekt wird als begriff-

liche Synthese vom Ich durch die Einheit des Denkens produziert; es wird vom

Begriff postuliert, der im Objekt zum Anderssein wie auch zu sich selbst in eine

Beziehung tritt, und ist die Einheit seiner selbst mit sich selbst, die Einheit von

Subjekt und Objekt.

Wenn es in dieser Relation zwischen aktivem und passivem Nous schwieriger

ist, Aristoteles wiederzuerkennen als die idealistische und im Besonderen Fichtes

Entwicklung von Kants transzendentaler Deduktion, so bleibt es trotzdem wahr,

dass Hegel Aristoteles’ Philosophie als Vereinigungsphilosophie birgt, die er der

Reflexionsphilosophie und den Spaltungen der Moderne entgegenstellt. Das

Wahrnehmbare steht nicht im Widerstreit mit der Vernunft, die Natur widersetzt

sich nicht dem Geist. Natur ist vielmehr die direkte Grundlage des Geistes, das

Anderssein der Idee, aus der der Geist zutage tritt, um sich selbst zu

gewinnen. Es gelangt zu sich selbst in einem Aktualisierungsprozess, der gleich-

zeitig derjenige Gottes ist, d. h. die sukzessive Selbstaneignung der sich selbst

denkenden Idee. Hierbei muss der Geist keinen ihm äußerlichen Zweck erlangen,

da dieser ihm innewohnt. Wenn der Geist die Bewegung ist, sich selbst als sein

Anderes zu setzen und gleichzeitig sein Anderssein abzustreiten, dann ist aristote-

lisch ausgedrückt seine Tätigkeit vollkommen (teleia), selbst wenn sie eine Pro-

duktion ist, denn Hegel fasst die Produktion, wie auch die Theorie und die Praxis,

als Selbst-Produktion des Geistes auf. Mit der Nikomachischen Ethik gesprochen,

können wir sagen, dass die energeia des Geistes seine eigene eudaimonia (Glück-

seligkeit) ist, dass seine Tätigkeit sein eigenes Gedeihen ist. »[…] die ewige an

und für sich seiende Idee sich ewig als absoluter Geist betätigt, erzeugt und ge-

niesst« sind die letzen Worte der Enzyklopädie vor dem Aristoteles-Zitat (Bd. 10,

§ 577). In diesem Bei-sich-selbst-Sein oder Zuhause-Sein mit sich selbst scheint

Hegel auf auffallend unaristotelische Art und Weise Aristoteles’ theōria, praxis und poiēsis miteinander zu identifizieren.

Wenn diese kurze Zusammenfassung von Hegels Zusammenfassung von

Aristoteles’ Philosophie in seinen Vorlesungen und seinem System höchst

bedenklich erscheint, so überrascht dies nicht. Hegels Interpretation wurde mehr-

mals kritisiert: von Schelling und Trendelenburg bis hin zu Gadamer und Auben-

que. Die meisten Kritiken waren aber in Wirklichkeit unbillig und, wie ich denke,

philologisch unsolide. Denn im Fokus der Kritiker stehen Hegels angebliche Feh-

ler in der Übersetzung aus dem Griechischen (besonders von Metaphysik,

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Hegels Idee einer Geschichte der Philosophe und Aristoteles 299

Lamda 7–9), aus denen seine Umdeutung folgen soll. Sehr wenige Gelehrte haben

sich die Mühe gemacht, Hegels Aristoteles-Edition (zusammengestellt von Eras-

mus) zu überprüfen. Hätten sie das getan, wäre ihnen aufgefallen, dass Hegel ein

sehr gekonnter Übersetzer und Interpret ist und dass sein Text, wie viele gedruck-

te Editionen der Frührenaissance, Aristoteles eine Stimme verleiht, die ihrerseits

eine eigene, wieder erkennbare Geschichte hat, welche voll und ganz Hegels

Konsequenzen unterstützt.

Hegels Aristoteles-Exegese in den Vorlesungen ist naturgemäß selektiv. Er

schreibt keinen Kommentar über Aristoteles’ Werke oder einen Essay über die

Einheit seiner Philosophie. Dennoch ist seine Intention klar: seinen Studenten

einen authentischen Aristoteles zu präsentieren, der im Gegensatz steht zur philo-

sophischen Historiographie seiner Zeit. Seine Wahl einiger fundamentaler Begrif-

fe ist bedingt durch seine Bemühen, sie in einer vereinigenden Interpretation kon-

vergieren zu sehen, die im Licht des für ihn neuen aristotelischen Prinzips,

Subjektivität, steht. Für ihn sind die Rückkehr zum griechischen Text und sein

gründliches Studium entscheidend. Ich verstehe dies als ein unabdingbares Zei-

chen von Strenge, das in moderner Zeit ohne Beispiel war; und ich verstehe ferner

das durch gründliches Studium sich äußernde Interesse Hegels an griechischer

Philosophie und seine spekulativen Interpretationen derselben im Allgemeinen als

Zeichen seines hervorragenden philosophiegeschichtlichen Sinnes. Ich denke

auch, dass seine Interpretation von Aristoteles’ energeia, des Verstandes und

Denkens, des natürlichen Lebens, der Form und des Seins (geschweige denn der

Tragödie, der Sittlichkeit, der Wahrnehmung – die Liste könnte endlos weiterge-

hen) eine nicht bloß provokative Weise ist, Aristoteles’ Philosophie für unsere

dringendsten Belange erneut geltend zu machen; sie ist höchst originell, auf-

schlussreich und öfters, ihrer Waghalsigkeit zum Trotz, Aristoteles treuer als die

meisten Interpretationen, die heutzutage verbreiteten Erfolg genießen.

Das Problem liegt vielmehr in der Versöhnung von Hegels historiographi-

schen Prinzipien mit den Interpretationen, die er tatsächlich durchführt. Hier

beziehe ich mich nicht auf die Identitätsthese, die meiner Argumentation gemäß

verworfen werden sollte. Eine genauere Untersuchung, die hier nicht Raum fin-

den kann, würde zeigen, wie sehr Hegels Aristoteles-Interpretation mit postkanti-

schen, spinozistischen und christlich-neuplatonischen Annahmen aufgeladen ist

und wie sehr sie sich an einigen Stellen auf bestimmte hellenistische (besonders

neuplatonische) Interpreten zubewegt. Das Resultat dieser Bewegung ist, dass

Hegel manchmal scheinbar dasselbe sagt wie Aristoteles, während er doch im

Zuge seiner Missachtung der Differenzen in Kontext, Anliegen und Ausgangs-

punkte etwas ganz und gar anderes meint – ohne sich dessen bewusst zu sein.

Dies führt uns zurück zu den objektiv-historischen und subjektiven Grenzen

von Hegels Historiographie. Es ist klar, dass die Frage nicht ist, ob Hegel Fehler

macht, sondern ob er in der Lage ist, uns den authentischen Aristoteles zu präsen-

tieren, der sich gegen alle Entstellungen sowohl seiner Zeit als auch von einund-

zwanzig Jahrhunderten Aristotelismus durchsetzt. Angesichts der Widersprüch-

lichkeit zwischen passiver Rezeption einerseits und Hegels Aufruf andererseits,

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Alfredo Ferrarin 300

Denken als produktive, ja sogar fantasievolle Aneignung des Stoffes zu praktizie-

ren, die die ihrem Objekt entnommenen möglichen Alternativen abwägt, muss

nicht das Prinzip, dass eine Philosophie nur von einem verwandten Geist wieder-

erweckt werden kann, ein gelegentlich notwendiges Maß an Willkür mit sich

bringen?

Wenn es uns nicht gelingt, in Hegel Aristoteles’ Thesen wiederzuerkennen,

die wir aus dem Studium seines Corpus kennen sollten, und uns fragen, was wo

schief gegangen ist, führt uns dies dazu, dass wir uns wundern, ob die Reduktion

der facettenreichen Aspekte von Philosophien auf ein Prinzip im vorhinaus ein

bedachtsamer Schritt war; und ob es überhaupt möglich ist, die äußere Existenz

einer Philosophie von ihrem vorgeblichen vereinheitlichenden Prinzip zu unter-

scheiden. Ist es insbesondere möglich, einen Ursprung zu isolieren, den wir in

seiner Reinheit getrennt von der Geschichte, die er hervorgebracht hat, fassen

wollen – Aristoteles vom Aristotelismus zu isolieren und letzteren hauptsächlich

als Falsifizierung zu behandeln?

Ein Beispiel soll diesen Punkt klarer machen: Es ist ein Leichtes für Hegel,

sich über den Lockeanismus von Tennemanns Lesart der vermeintlichen tabula rasa von Aristoteles lustig zu machen. Wie Hegel zu Recht zeigt, ist dies sowohl

anachronistisch als auch oberflächlich, denn bei Aristoteles findet sich keine

tabula rasa, die mit Lockes leerem Kabinett vergleichbar wäre. Es mag sogar

legitim für Hegel sein, in der Einrahmung dieses Punktes Leibniz’ Kritik von

Locke und das Gewicht der Leibnizschen Tradition in dieser Hinsicht zu ignorie-

ren (über den historischen Hintergrund von Hegels Urteilen Rechenschaft abzule-

gen, ist ja die Aufgabe des sich für bestimmte umfassende Rekonstruktionen

interessierenden Gelehrten). Wenn wir aber zugeben, dass wir Plotins oder Sim-

plikius’ Kommentare des grammateion nicht gelesen haben müssen, um zu einer

wahrheitsgetreuen Interpretation desselben zu gelangen und, was wichtiger ist,

um ein Recht zu haben, darüber zu sprechen, ist es dann nicht merkwürdig, etwas

als neu und wahr vorzustellen, das ohne Hegels Wissen früher schon behauptet

wurde – und das mit ähnlichen oder ganz und gar unähnlichen Intentionen zu

unterschiedlichen Schlussfolgerungen führte – oder das allgemein bekannt war zu

Zeiten, die Hegel für historiographisch irrelevant erklärt?18

Wieso sollte der

Hegel-Gegner sich nicht berechtigt fühlen, Hegel in ähnlicher Weise, wie dieser

es selbst Tennemann antut, zu schelten, weil er einen passiven Nous erfindet, der

an seinen Bedarf besonders angepasst und bei Aristoteles nirgends aufzufinden ist

oder weil er anachronistisch Aristoteles’ Gott »den Vater« nennt?

Ich weise Hegels These, dass wir durch die Lektüre vergangener Philosophen

unsere Zeit transzendieren können, nicht zurück. Meine Pointe ist, dass eine voll-

ständigere Kontextualisierung uns hilft, genau dies umfassender zu tun, wie sie

uns auch hilft, den spekulativen Wert des Interpretierens anzuerkennen. Falls

_____________

18 Ich beziehe mich auf bestimmte Ähnlichkeiten zwischen Hegels und Thomas von Aquins De anima-Interpretationen.

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Hegels Idee einer Geschichte der Philosophe und Aristoteles 301

Gewalt nicht vermieden werden kann, wenn sie nicht sogar unabdingbar ist in

ihrer Schreckwirkung der heilsamen Hinterfragung von unhinterfragten Meinun-

gen, die ihren Ursprung in Gewohnheit und Indifferenz haben, ist meine letzte

Frage, ob es nicht genauso unabdingbar ist, Texte mit einer neuen, frischen

Stimme zu uns sprechen, Texte in einem neuen Licht erscheinen zu lassen, das

etwas uns vormalig Entgangenes oder etwas, das nach Wiederbelebung, Neufor-

mulierung, Neudenken verlangt, sichtbar macht. Wenn es viel schwerer fassbar

und schwieriger ist zu erkennen, wann wir in der Geschichte der Philosophie

etwas Richtiges herausfinden, dann sollten wir vielleicht das Vokabular von

Wahrheit und Falschheit ganz aufgeben: Dieses generiert nicht nur die Anmaßung

der Endgültigkeit, sondern auch ein Gegenlager übersät mit Ruinen.

Ob wir das Risiko der Beliebigkeit eingehen wollen oder nicht, ist ein anderes

Thema. Ich für meinen Teil würde Hegels Aristoteles-Interpretation niemals ver-

werfen, denn was er uns lehren kann übertrifft in seiner Wichtigkeit bei weitem

dasjenige, was wir in seiner Lektüre anfechtbar finden.

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