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Wissenskultur im Alten Orient
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“Headhunter, Bücherdiebe und wandernde Gelehrte: Anmerkungen zum altorientalischen Wissenstransfer im ersten Jahrtausend v. Chr.,” in: H. Neumann (ed.), Wissenskultur im Alten

Feb 04, 2023

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Steven Fraade
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Harrassowitz Verlag · Wiesbaden

Colloquien der Deutschen Orient-Gesellschaft

Band 4

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2012

Harrassowitz Verlag · Wiesbaden

Wissenskultur im Alten Orient

Weltanschauung, Wissenschaften, Techniken, Technologien

4. Internationales Colloquium der Deutschen Orient-Gesellschaft

20.–22. Februar 2002, Münster

Im Auftrag des Vorstandsder Deutschen Orient-Gesellschaft

herausgegeben vonHans Neumann

unter Mitarbeit von Susanne Paulus

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Bibliografi sche Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der DeutschenNationalbibliografi e; detaillierte bibliografi sche Daten sind im Internetüber http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Informationen zum Verlagsprogramm fi nden Sie unterhttp://www.harrassowitz-verlag.de© Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden 2012Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesonderefür Vervielfältigungen jeder Art, Übersetzungen, Mikroverfi lmungen und für die Einspeicherung in elektronische Systeme.Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.Druck und Verarbeitung: Memminger MedienCentrum AGPrinted in GermanyISSN 1433-7401ISBN 978-3-447-06623-5

Die Bände 1–3 der Reihe sind in der Saarländischen Druckerei & Verlags GmbH, Saarwellingen erschienen.

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Inhalt

Vorwort ................................................................................................................... VII Programm ................................................................................................................ IX Stefan M. Maul „Das Band zwischen allen Dingen“ Wissenskultur im Alten Orient .................................................................................. 1

Eckart Frahm Headhunter, Bücherdiebe und wandernde Gelehrte: Anmerkungen zum altorientalischen Wissenstransfer im 1. Jahrtausend v. Chr . .... 15

Andreas Fuchs Wissenstransfer und -anwendung im Bereich des Heerwesens und der Militärtechnik des neuassyrischen Reiches . ............................................... 31

Gebhard J. Selz Götter der Gesellschaft – Gesellschaft der Götter Zur Dialektik von Abbildung und Ordnung ............................................................ 61

Norman Yoffee The Meanings of Law in Ancient Mesopotamia ..................................................... 87

Hermann Hunger Die Wissenschaft der babylonischen Astronomen .................................................. 95

Jens Høyrup Was Babylonian Mathematics Created by ‘Babylonian Mathematicians’? ........... 105

Robert K. Englund Versilberte Arbeit. Äquivalenzenfestsetzung in der Ur-III-Zeit ............................ 121

Jean-Jacques Glassner Le travail des devins à l’époque paléo-babylonienne et la composition des traités d’extispicine. Premiers éléments de réflexion .......... 153

Annette Zgoll Nächtliche Wege der Erkenntnis. Möglichkeiten und Gefahren des Außentraumes ................................................... 169

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Inhalt VI

Manfried Dietrich ša Marduk adallal. „Die ,Heilkraft‘ von Marduk preise ich“ Ein ugaritischer Leidender und sein Verhältnis zu Marduk – RS 25.460 neu interpretiert – ............................................................................... 183

Walter Farber Lamaštu-Beschwörungen zwischen Schulunterricht und medizinischer Praxis .... 225

Anais Schuster-Brandis Heilen mit Steinen: Bemerkungen zum Gebrauch von Amulettsteinketten .......... 237

Doris Prechel Magisches Wissen im hethitischen Königshaus .................................................... 253

Astrid Nunn Magisch-religiöse Vorstellungen in der altorientalischen Wandmalerei ............... 263

Mirko Novák Die architektonische Raumgestaltung als Kommunikationsform .......................... 283

Dominik Bonatz Stelen der Gudea- und Ur III-Zeit Bildliche Wege des Wissenstransfers im Alten Orient .......................................... 307

Blahoslav Hruška Landwirtschaftliche Naturkenntnisse und Technologie der Bodenbearbeitung im alten Sumer ....................................................................................................... 327

Ariel M. Bagg Zur Technologie altorientalischer Bewässerungssysteme: Technologietransfer in Nordmesopotamien im 1. Jt. v. Chr. ................................. 339

Arnulf Hausleiter Keramiktechnologie im Alten Vorderen Orient – Wissenskultur im Alltag .......... 373

Dominique Collon The Influence of Material and Technique on the Style of Neo-Assyrian and Neo-Babylonian Cylinder Seals ...................................................................... 393

Ralf-B. Wartke High Tech-Keramik des Alten Orients Experimentell gestützte Überlegungen zur Herstellung von Mosaikschalen aus Quarzkeramik .................................................................. 401

Indices ................................................................................................................... 417

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Headhunter, Bücherdiebe und wandernde Gelehrte: Anmerkungen zum altorientalischen Wissenstransfer

im 1. Jahrtausend v. Chr.

Eckart Frahm*

„Wissenskultur“ ist ein Thema, das sich in akademischen Zirkeln schon immer gro-ßer Beliebtheit erfreut hat. Hierfür gibt es verschiedene Gründe. Ein wichtiger ist ohne Frage die mit dem Stichwort der „Wissensgesellschaft“ umrissene wissensso-ziologische Einsicht, dass Erkenntnisfortschritt und sozialer Wandel unmittelbar miteinander zusammenhängen. Seit jeher haben aber auch weniger sachorientierte Motive das akademische Interesse an historischen und systematischen Betrachtun-gen zur Wissenschaft befördert. Insbesondere das Bedürfnis nach Selbstbespiege-lung ist hier zu nennen. So wie Steuerberater, um Hans Magnus Enzensberger zu zitieren, „eigene Steuerberater-Bälle veranstalten, auf denen Zahnärzte und Roma-nistik-Professoren nichts zu suchen haben“,1 haben Wissenschaftler und Intellek-tuelle schon immer eine tiefverwurzelte Neigung dazu gehabt, sich mit anderen Wis-senschaftlern und Intellektuellen zu beschäftigen – und zwar nicht nur mit ihren Zeitgenossen, sondern auch mit ihren Vorläufern im Geiste, den Gelehrten längst vergangener Zeiten. Altorientalisten bilden dabei keine Ausnahme: Zu ihren bevor-zugten Forschungsgegenständen gehört seit langem die Beschäftigung mit den Schriftkundigen des Alten Orients, jenen Spezialisten, die zwischen 3300 v. Chr. und der Zeitenwende im Zweistromland als Sachwalter von Wissen und Weisheit fungierten.2

Die mesopotamischen Gelehrten des Altertums, denen die Pflege des Korpus wissensrelevanter Keilschrifttexte anvertraut war, hatten natürlich ein sehr viel pragmatischeres Verhältnis zu den Zeugnissen der mesopotamischen Schriftkultur, als es heutige Altorientalisten besitzen. Aber ihre Methoden, die traditionellen,

* Department of Near Eastern Languages and Civilizations, P.O. Box 208236, New Haven,

Connecticut 06520-8236. Der vorliegende Beitrag geht in wesentlichen Teilen auf das Jahr 2003 zurück. Seither erschienene Literatur konnte nur noch selektiv berücksichtigt werden.

1 Enzensberger, H. M., Mittelmaß und Wahn. Gesammelte Zerstreuungen (Frankfurt, 1988), 207f.

2 Ein assyriologischer „Klassiker“ zum Thema ist Oppenheim, A. L., Laterculis coctilibus, in: Ancient Mesopotamia: Portrait of a Dead Civilization, Revised Edition completed by Erica Reiner (Chicago, 1977), 228-287. Da wir auf zahlreiche Aspekte der altorientalischen Kultur nur durch die Brille der altorientalischen Schreiber zu blicken vermögen, ist das Interesse an ihnen selbstverständlich auch sachlich begründet.

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sprachlich und inhaltlich oft wohl auch ihnen schon ein wenig fremd gewordenen Texte zu bewahren und zu deuten, waren, speziell im ersten Jahrtausend v. Chr., das den zeitlichen Rahmen der folgenden Ausführungen bildet, den unseren durchaus nicht unähnlich. Und auch die Art und Weise, wie die altorientalischen Gelehrten Tontafeln an fremden Orten kopierten oder von dort in ihre Heimatstädte brachten, erinnert an die philologische Praxis heutiger Assyriologen.

Das überkommene Wissen wurde in Assyrien und Babylonien durch Priester, Heilkundige oder Omenexperten an die eigenen Söhne und an andere Schüler weitergegeben.3 Häufig jedoch waren die schriftlichen Ressourcen, die hierfür zur Verfügung standen, unzureichend. Die Texte, die die Gelehrten benötigten – nicht nur für den Unterricht, sondern auch zur Ausübung ihres eigentlichen Brotberufes –, lagen ihnen, so wie heute auch uns, oft nur noch in lückenhafter Form oder in unbefriedigenden Editionen vor.4 Dasselbe Problem stellte sich am Hof von Königen, die danach strebten, das schriftliche Wissen ihrer Zeit in umfangreichen Bibliotheken zu archivieren. Gelehrte wie Herrscher versuchten, Texte, die ihnen gar nicht oder nur in unzulänglichen Ausgaben verfügbar waren, anderorts zu besorgen. Anhand von Beispielen zu erläutern, wie sie dabei vorgingen, ist das Ziel dieses Bei-trags.5 Die keilschriftliche Quellenlage für eine Untersuchung dieser Art ist nicht ungünstig – obwohl, anders als in der klassischen Antike oder der islamischen Zeit, im Alten Orient keine Gelehrten(auto)biographien verfaßt wurden und bislang nur

3 Zum mesopotamischen Elementarunterricht in neu- und spätbabylonischer Zeit siehe Gesche,

P., Schulunterricht in Babylonien im ersten Jahrtausend v. Chr., AOAT 275 (Münster, 2000). Mit der weiterführenden Ausbildung beschäftigen sich Finkel, I. L., On Late Babylonian Medi-cal Training, in: George, A. R., Finkel, I. L., Wisdom, Gods and Literature: Studies in Assyrio-logy in Honour of W. G. Lambert (Winona Lake, 2000), 137–223 und Jursa, M., Das Archiv des Bēl-rēmanni, PIHANS 86 (Leiden, 1999), 4–31.

4 Man beachte die auf Textlücken in der Vorlage Bezug nehmende Formulierung in einem Ko-lophon: ina pî tuppī ḫepûti šatir āmeru lā itappil ḫepâ lišallim „Abgeschrieben entsprechend dem Wortlaut beschädigter Tafeln. Möge derjenige, der (die vorliegende Tafel) liest, sie nicht zerstören, sondern vielmehr die weggebrochenen Partien wiederherstellen“ (Hunger, Kolo-phone, no. 493: 3); für ähnliche Stellen siehe CAD Š/1, 223a. Unsicherheit über die Qualität der Vorlage scheint auch der Kolophon der neubabylonischen Schülerabschrift eines Balag-Liedes aus Nippur auszudrücken; siehe Weszeli M., Du sollst nicht darüber spotten: eine Abschrift der 10. Tafel von Úru-àm-ma-ir-ra-bi, in: Wunsch, C. (Hrsg.), Mining the Archives: Festschrift for Christopher Walker on the Occasion of His 6oth Birthday (Dresden, 2002), 343–354.

5 Natürlich wird auf diese Weise nur ein Teilaspekt des Themas „Wissenstransfer“ angesprochen. Mit einer umfassenderen Darstellung aber würde man schnell ins Uferlose geraten: Zu unter-schiedlich sind die Inhalte, die durch kulturelle Kontakte vermittelt wurden, zu komplex ist das Zusammenspiel der Agenten des Wissenstransfers, seien es Gelehrte, Kaufleute, Künstler oder Militärs, seiner Medien, schriftlich fixierter Texte ebenso wie bloß mündlich vermittelbarer Ge-dächtnisinhalte, und seiner Formen, die friedlich, etwa im Rahmen von Handelsverbindungen, oder aber gewaltsam sein konnten wie im Falle der Deportation von Handwerkern und Künst-lern in Kriegszeiten. Beschränkung tut not, und daher geht es im folgenden ausschließlich um die Frage, in welcher Form religiös-kultische, magisch-medizinische und literarische Wissens-inhalte im Mesopotamien des ersten Jahrtausends v. Chr. zirkulierten. Inhaltliche Fragen kön-nen nur am Rande behandelt werden.

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wenige Briefe bekannt sind, in denen sich mesopotamische Gelehrte an ihresgleichen wenden.6

Als eine der wichtigsten Quellen für unser Thema sind die Kolophone zu nen-nen, die in so mannigfacher Hinsicht aufschlußreichen Unterschriften, die gelehrte Schreiber den von ihnen abgefaßten Texten nachstellten. Kolophone unterrichten uns u. a. über den Titel des jeweils kopierten Textes, den Schreiber der Tafel und das Datum der Abschrift. Von besonderem Interesse für die hier verhandelte Frage-stellung aber ist, dass sie darüber hinaus nicht selten auf den Ort verweisen, aus dem das Original stammte, nach dem die Abschrift eines Textes vorgenommen wurde. Es sind erwartungsgemäß vor allem die großen mesopotamischen Kultmetropolen wie Babylon, Borsippa oder Nippur, die hier genannt werden, also Städte, in denen be-deutende Schreiberfamilien ansässig waren.7

Vielfach dürften auf Wanderschaft befindliche Gelehrte die Texte bei einem Be-such der entsprechenden Städte vor Ort abgeschrieben haben. Die Reiselust keil-schriftkundiger Priester und Ärzte ist bezeugt, z. B. in der in Uruk gefundenen litera-rischen Burleske vom „Doktor aus Isin“,8 die davon erzählt, wie sich Ninurta-pāqidāt aus Nippur, nachdem ihn ein Hund gebissen hatte, zum Zwecke der Heilung seiner Wunden nach Isin begab, und wie der Arzt, der ihn dort erfolgreich behan-delte, in der Hoffnung auf eine angemessene Entlohnung anschließend nach Nippur reiste. Zwar enthält der Text keinen expliziten Hinweis auf einen Austausch schrift-lich niedergelegten Wissens, doch deutet der Umstand, dass der Name Ninurta-pāqidāts in einer späten Liste berühmter Schreiberahnen erscheint,9 indirekt darauf hin, dass reisende Schriftgelehrte im Babylonien des ersten Jahrtausends nichts Ungewöhnliches waren.

Aber auch in ihren Heimatstädten hatten Gelehrte die Möglichkeit, Tafeln, die ursprünglich aus anderen Orten stammten, zu kopieren. So wurden etwa die in Ba-bylon und Borsippa abgefaßten Tafeln, die der assyrische Gelehrte Nabû-zuqup-kēnu als Vorlagen benutzte, von ihm offenbar alle in Kalḫu abgeschrieben.10 Solche

6 Parpola, S., SAA 10, p. xxv nennt drei entsprechende Briefe: nos. 183, 372 und 384. Unklar

bleibt, wer genau hier korrespondiert. 7 Die von Hunger, Kolophone, gesammelten Textunterschriften nennen die folgenden Toponyme

als Herkunftsorte von Vorlagen gelehrter Keilschrifttexte (Reihenfolge nach Häufigkeit der Nennung): Babylon, Borsippa, māt Akkad, Nippur, Aššur, māt Aššur, Uruk, Ninive, Kutha, Dēr, Ur, Eridu, Akkad, Sippar, Larsa. Die Auflistung bedarf angesichts der Publikation zahlrei-cher neuer Texte der Aktualisierung (der Vf. dieses Beitrags beabsichtigt, alle keilschriftlichen Kolophone des ersten Jahrtausends v. Chr. neuerlich zu sammeln). Eine Übersicht über alt-orientalische Archive und Bibliotheken zwischen 1500 und 300 v. Chr. bietet Pedersén, O., Ar-chives and Libraries in the Ancient Near East, 1500-300 B.C. (Bethesda, 1998).

8 Letzte Edition: George, A. R., Ninurta-pāqidāt's Dog Bite, and Notes on Other Comic Tales, Iraq 55 (1993), 63–72.

9 Pinches, Th. G., V R 44, iii 37; vgl. George, op.cit (Anm. 8), 63. 10 Für Nabû-zuqup-kēnu-Kolophone, die als Ort der Abschrift Kalḫu, als Herkunftsort der Vorlage

aber Babylon oder Borsippa angeben, siehe Hunger, Kolophone, no. 293. Die Tafeln des großen assyrischen Gelehrten gelangten später von Kalḫu nach Ninive, wo sie offenbar in die Assurba-

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in fremde Städte gelangten Tafeln sind, wie noch darzustellen sein wird, des öfteren als Plündergut siegreicher Kriegsherren an ihren neuen Aufbewahrungsort verbracht worden. Doch dürften sie in vielen Fällen auch wandernden Gelehrten im Rahmen eines friedlichen geistigen Austausches mitgegeben worden sein.

Dies könnte z. B. für die Originaltafeln aus Ninive, Dēr und Nippur gelten, die bei Grabungen in Uruk in der Bibliothek des während der frühhellenistischen Zeit tätigen Beschwörungspriesters Iqīšâ gefunden wurden.11 Die Tafeln aus Nippur, bei denen es sich um Kommentare und lexikalische Texte handelt, stammen von Mit-gliedern einer in Nippur ansässigen Familie von Tempelbrauern des Gottes Enlil. Da auch Iqīšâ, wie Rechtsurkunden belegen, im Rahmen seiner Tätigkeit als Priester des Anu über Brauerpfründe verfügte, lässt sich vermuten, dass es gemeinsame berufliche Interessen waren, die ihn mit den gelehrten Bierbrauern von Nippur ver-banden. Bei diesen könnte sich Iqīšâ einige Zeit aufgehalten und dabei die nämli-chen Tafeln ausgehändigt bekommen haben.12 Nippur hatte seinen Nimbus als Zent-rum sumerologischer Gelehrsamkeit bis in die Spätzeit hinein behalten. Die Stadt galt als Ort, an dem selbst die Gärtnerinnen Sumerisch zu sprechen pflegten,13 und war ganz offensichtlich ein reizvolles Ziel für bildungsbeflissene Babylonier aus anderen Städten.14

Auch in die im Osttigrisland gelegene Stadt Dēr scheint Iqīšâ eine „Bildungs-reise“ unternommen zu haben. Sie könnte dadurch motiviert gewesen sein, dass er sich als Adept und Mitgestalter der neuen Anu-Theologie, die sich in Uruk seit der Achämenidenzeit etablierte, von den Priestern in Dēr Aufschluß über Wesen und Kult ihres Stadtgottes Anu-rabû (bzw. Ištarān) versprach, der nicht zuletzt aufgrund seines Namens – „der große Anu“ – Vorbildcharakter für den in Uruk an die Spitze

nipal-Bibliothek inkorporiert wurden – ein weiteres Beispiel für den Transfer schriftlich nieder-gelegten Wissens im Alten Orient. Nabû-zuqup-kēnus intellektuelle Aktivitäten sind das Thema von Lieberman, S., A Mesopotamian Background of the So-Called Aggadic ‘Measures’ of Bib-lical Hermeneutics, HUCA 58 (1987), 157-225 (bes. 204–217), Vf., Nabû-zuqup-kēnu, das Gilgameš-Epos und der Tod Sargons II., JCS 51 (1999), 73–90 (mit zusätzlichen Anmerkungen in N.A.B.U. 2005/5) und Guinan, A., A Severed Head Laughed: Stories of Divinatory Inter-pretation, in: Ciraolo, L., Seidel, J. (Hrsg.), Magic and Divination in the Ancient World, An-cient Magic and Divination II (Leiden, 2002), 7–40.

11 Zur Bibliothek Iqīšâs und den zu ihr gehörigen Tafeln aus anderen Städten siehe Vf., Zwischen Tradition und Neuerung: Babylonische Priestergelehrte im achämenidenzeitlichen Uruk, in: Kratz, R. G. (Hrsg.), Religion und Religionskontakte im Zeitalter der Achämeniden, (Gütersloh, 2002), 74–108 (mit weiterer Literatur). Eine ausführliche Gesamtwürdigung der Iqīšâ-Biblio-thek bietet Clancier, Ph., Les bibliothèques en Babylonie dans la deuxième moitié du Ier millé-naire av. J.-C., AOAT 363 (Münster, 2009), 47–73, 387–409.

12 Vf., op.cit. (Anm. 11), 91–94 (mit Belegen). 13 So nach der bereits erwähnten Burleske vom „Doktor aus Isin“, s. o. Anm. 8. 14 Ein altbabylonisches Exemplar des an Silli-Eštar(?) gerichteten „Edubba'a-Briefes“ des Nabi-

Enlil (VS 17, no. 44, ediert von van Dijk, J., Or 58 [1989], 448–452), der die überragende Be-deutung der Schulen von Nippur thematisiert, wurde im Bīt rēš in Uruk in seleukidenzeitlichem Kontext gefunden, siehe Volk, K., Edubba’a und Edubba’a-Literatur: Rätsel und Lösungen, ZA 90 (2000), 4, Anm. 20.

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des Pantheons gerückten, aber zunächst noch wenig profilierten Himmelsgott beses-sen haben mag.15

Der „Wissenstransfer“ zwischen den in den verschiedenen Städten Assyriens und Babyloniens ansässigen Gelehrten dürfte sich, wie vor allem die Ausleihvermerke zeigen, die sich auf einigen Tafeln finden,16 in Form eines reziproken Austausches auf freiwilliger Basis vollzogen haben. Mit einer Metapher aus der Chemie läßt er sich als „Diffusionsphänomen“ beschreiben. Nur selten wird die Weiterleitung schriftlich fixierter Erkenntnisse an die Bewohner anderer Städte ausdrücklich ver-boten. So statuiert etwa die Einleitung einer m. E. aus Babylon stammenden Tafel, dass der Leser ihren Inhalt lediglich seinem Sohn sowie evtl. den Gelehrten von Babylon und Borsippa, aber niemandem sonst zugänglich machen solle.17 Außerdem gab es bestimmte – religiös-mystische wie auch divinatorische – Wissensinhalte, die nur von „Wissenden“ an andere „Wissende“, d.h. wohl an Angehörige des eigenen Berufsstandes, weitergegeben werden durften. Kolophone mit in diesem Sinne aus-zulegenden Geheimhaltungsformeln sind jedoch eher selten.18

Wie sich der intellektuelle Austausch zwischen den Gelehrten des Zweistrom-landes konkret und in Einzelheiten abspielte, darüber kann man aufgrund fehlender einschlägiger Quellen bestenfalls Mutmaßungen anstellen, wie hier mit Blick auf die

15 Vf., op.cit. (Anm. 11), 94f. (mit Belegen). Manche gelehrte Schreiber siedelten sich auch dauer-

haft an anderen Orten an. Dies gilt z.B. für Mitglieder der Iddin-Papsukkal-Familie aus Bor-sippa, die sich im siebten Jahrhundert zunächst in Ur und dann in Uruk niederließen; siehe hierzu Nielsen, J. P., Trading on Knowledge: The Iddin-Papsukkal Kin Group in Southern Ba-bylonia in the 7th and 6th Centuries B.C., JANER 9 (2009), 171–182.

16 Hunger, Kolophone, nos. 91, 96, 97, 124, 126, 128, 234, 240, 359. 17 1[D]UB ni-sir-tu4 AN-e pi-riš-tú DINGIR.MEŠ GAL.MEŠ ana ŠUII NU BÍ.È ana DUMU-šú

šá i-ra-am-mu li-šá-ḫi-iz 2[ana lā D]UMU TIN.TIRki u la DUMU BAR.ZIBki u la DUMU EN aḫ ra (so nach Koll. J. Fincke) šu-ḫu-zu NÍG.GIG dAG ù dNisaba „Tafel des Geheimnisses des Himmels und des Mysteriums der großen Götter. Man soll sie nicht aus den Händen geben. (Der Leser) soll (sie) seinen Sohn, den er liebt, lernen lassen. Sie jemanden lernen zu lassen, der kein Bewohner Babylons und kein Bewohner Borsippas und kein ... ist, wäre dem Nabû und der Nisaba ein Greuel“ (BM 42294+42294 [Join Walker], teilediert von Finkel, op.cit. [Anm. 3], 141, n11; M. Jursa, pers. Mitteilung, erwägt, DUMU EN aḫ ra in DUMU EN.LÍLki „Bewohner Nippurs“ zu emendieren; vgl. jedoch auch al-la DUMU EN du-ul-la in CTMMA 2, no. 69, Rs. 5'). Meine Deutung der Stelle weicht von der Finkels ab; sie ist von dem Kolophon der Tafel CTMMA 2, no. 20 inspiriert, in dem es heißt (Rs. 13'): a-na NU DUMU [Ek]i u a-na NU DUMU BAR.ZIB[ki] la ú-k[al-lam].

18 Siehe Borger, R., Geheimwissen, RlA 3 (1957–71), 188–191. Zur Geheimhaltung bestimmter Wissensinhalte im spätzeitlichen Babylonien äußern sich Beaulieu, P.-A., New Light on Secret Knowledge in Late Babylonian Culture, ZA 82 (1992), 98-111, sowie kritisch hierauf Bezug nehmend Dietrich, M., Babylonische Sklaven auf der Schreiberschule, in: van Soldt, W. H. (Hrsg.), Veenhof Anniversary Volume, PIHANS 89 (Leiden, 2001), 67–81. Zum Versuch des assyrischen Königs, bestimmte divinatorische und magische Wissensinhalte zu „monopolisie-ren“, siehe Pongratz-Leisten, B., Herrschaftswissen in Mesopotamien, SAAS 10 (Helsinki, 1999), 295–320. Eine vergleichende Untersuchung mesopotamischer und biblischer Vorstel-lungen von geheimem Wissen bietet Lenzi, A., Secrecy and the Gods: Secret Knowledge in Ancient Mesopotamia and Biblical Israel, SAAS 19 (Helsinki, 2008).

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Aktivitäten Iqīšâs geschehen. Auch die Bedeutung, die Tempelbibliotheken für die überregionale Zirkulation des Wissens besaßen, läßt sich vorerst nur schwer ab-schätzen. Es ist aber auf jeden Fall bemerkenswert, dass m. W. kein einziger Fall bekannt ist, in dem ein Gelehrter eine Tontafel gekauft hätte. Zu einer Merkantilisie-rung des intellektuellen Austausches scheint es, wohl aufgrund des Korpsgeistes, der die Schriftkundigen Mesopotamiens miteinander verband, wenn überhaupt nur dann gekommen zu sein, wenn Könige Tafeln zu sammeln begannen.19

In solchen nichtparitätischen Konstellationen, in denen der gelehrte Wissens-transfer nicht zwischen gleichberechtigten Partnern erfolgte, sondern zwischen Schriftgelehrten auf der einen und einem Herrscher auf der anderen Seite, vollzog er sich in gewisser Weise „osmotisch“: Es war der Herrscher, der das verfügbare ge-lehrte Wissen, unter Rückgriff auf verschiedene Mittel, in einem einseitigen Aneig-nungsprozeß akkumulierte.

Der nichtparitätische Wissenstransfer konnte sowohl mehr oder weniger freiwil-lig als auch unter Zwang erfolgen. Hinweise auf beides gibt es bereits aus der zwei-ten Hälfte des zweiten Jahrtausends. Die Gelehrten, die einem Kolophon zufolge auf der Grundlage von Vorlagen aus Sippar, Nippur, Babylon, Larsa, Ur, Uruk und Eridu einen neuen hemerologischen Text zusammenstellten, den sie dem Kassiten-könig Nazimaruttaš (1307–1282) übergaben,20 mögen auf dessen Befehl hin gehan-delt haben, doch dürfte ihnen das Editionsunternehmen auch selbst keineswegs sinnlos erschienen sein. Die Bibliothekare von Babylon dagegen, denen der assyri-sche Herrscher Tukulti-Ninurta I. (1243–1207) nach der Eroberung ihrer Stadt um 1225 eine beträchtliche Zahl liturgischer, divinatorischer, medizinischer und magi-scher Texte raubte,21 werden den gewaltsamen Transfer ihres schriftlich niederge-legten Wissens gewiss bedauert und kaum als einen legitimen Akt bildungspoliti-

19 Was hingegen, wenn man entsprechende Fluchformeln in Kolophonen berücksichtigt (siehe

Hunger, Kolophone, p.13), des öfteren vorgekommen zu sein scheint, war der Diebstahl von Tafeln.

20 Der Kolophon des Textes (KAR 177) lautet: iv 25UD.MEŠ DÙG.GA.MEŠ KA 7 t[up-pa-a-n]i (Lesung N. Heeßel) 26GABA.RI ZIMBIRki NIBRUki 27KÁ.DINGIR.RAki LARSAMki 28ÚRIki UNUGki u Eri-du10

ki 29um-ma-a-ni ú-na-as-si-ḫu-ma 30ú-na-as-si-qu-ma 31a-na INa-zi-múru-u[t-ta]š 32LUGAL ŠÚ SUM-nu „Günstige Tage, (nach) dem Wortlaut von sieben Tafeln. Die Ge-lehrten exzerpierten Vorlagen aus Sippar, Nippur, Babylon, Larsa, Ur, Uruk und Eridu, wählten (daraus) aus und gaben (den so geschaffenen neuen Text) Nazimaruttaš, dem König der Ge-samtheit“ (Hunger, Kolophone, no. 292).

21 Aufgelistet im „Tukulti-Ninurta-Epos“: B VII 2' ni-sir-[ta ......] 3'tup-pa-at [......] 4'tup-˹šar˺-˹ru˺-t[a ......] 5'a-ši-pu-ta x [......] 6'ÉR.ŠÀ.ḪUN.GA ... [...] 7'ba-ru-ta ... ú-s[u-r]at AN-˹e˺ [erseti ......] 8'mal-ta-rat a-su-ti né-peš na-[a]s-m[a-da-te ......] „Das Geheimnis [......] Tafeln [......] das Kor-pus schriftgelehrter Texte [......] das Textkorpus des Beschwörungspriesters [......] Eršaḫunga-Gebete ... [...] das Textkorpus des Opferschauexperten ... die Pläne von Himmel [und Erde ......] die zum Textkorpus des Arztes gehörigen Schriften, das Anlegen von Verbänden (betreffend) [......]“ (Lambert, W. G., AfO 18 [1957/58], 44; Machinist, P., The Epic of Tukulti-Ninurta I: A Study in Middle Assyrian Literature, Ph.D. Diss. [Yale, 1978], 128f. ) Ob ein Teil der in Assur gefundenen mittelbabylonischen Tafeln von Tukulti-Ninurtas Raubzug stammen könnte, bedarf noch der Klärung.

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Headhunter, Bücherdiebe und wandernde Gelehrte 21

scher Selbsthilfe von seiten des Führers eines intellektuell rückständigen Staates betrachtet haben. Auch der Umstand, dass der bibliophile Feind seine Freveltat in einem hochelaborierten historisch-literarischen Text, dem „Tukulti-Ninurta-Epos“, verewigen ließ,22 wird sie trotz der sprachlichen Qualitäten desselben schwerlich für den erlittenen Verlust entschädigt haben.

Mehr als ein halbes Jahrtausend nach Tukulti-Ninurta hat der assyrische Herr-scher Assurbanipal (669–631?), Gründer einer großen, fast universal zu nennenden königlichen Bibliothek, erneut eine erhebliche Zahl gelehrter Texte von Babylonien nach Assyrien transferieren lassen. Aus den sog. „Library Records“ aus Ninive geht hervor, dass der König im Jahre 647, also unmittelbar nach dem Krieg gegen das von seinem Bruder Šamaš-šumu-ukīn regierte Babylon, vermutlich ca. 2000 einfa-che Ton- und Holztafeln und 300 mehrteilige Tafeln, sog. Polyptycha, die aus Orten wie Babylon, Nippur oder Bīt-Ibâ stammten, nach Ninive schaffen ließ.23 Zu den Bibliotheken, aus denen Assurbanipal Tafeln requirieren ließ, gehörte u. a. diejenige seines Bruders Aššur-mukīn-palē’a, der in Babylon das Amt eines šešgallu-Priesters des Marduk bekleidet hatte.24 Das königlich sanktionierte „Booknapping“ dürfte eine von den kriegerischen Auseinandersetzungen motivierte Zwangsmaßnahme gewesen sein. Doch scheint den in den „Library Records“ namentlich genannten Gelehrten bei der Auswahl der Tafeln, die sie den assyrischen Requirenten aushän-digten, eine gewisse Freiheit gewährt worden zu sein. So konnten etwa Eingeweide-schauexperten ihre Extispizin-Kompendien offenbar behalten. Nur Tafeln, die sie für

22 Für Literatur zu dem Epos siehe die voranstehende Anmerkung. Eine neue Übersetzung bietet

Foster, B. R., Before the Muses (Bethesda, 2005), 298–317. 23 Die kommentierte Standardedition der „Library Records“ Assurbanipals stammt von Parpola,

S., Assyrian Library Records, JNES 42 (1983), 1–29; Neubearbeitung durch Fales, F. M., Post-gate, J. N., SAA 7, no. 49–56. Ein typischer Absatz der „Library Records“ lautet: I 5'[n e-g]ir-a-te UD AN BAD 6'[n] iq-qur DÙ-uš 7'[n] giš·ZU.MEŠ 8'[n] UD AN dBAD 9'[n] URU ina SUKUD GAR 10'[n] Alan-˹dím˺-[mu-u] 11'[n] SA.GI[G.MEŠ] 12'[n] DUB.MEŠ 13'[n] ki-is-pi 14'[n] MAŠ.MAŠ-tú 15'˹13˺ ÉŠ.GÀR Za-qí-qu 16'6 bul-ti 17'PAB 1 me 88 18' IdMUATI-SUM-A ḪAL 19'[A] ˹I˺d15-BÀD „[n] einkolumnige Tafeln (der astrologischen Serie) Enūma Anu Enlil, [n] (der kalendarischen Serie) Iqqur īpuš; [n] Holztafeln, [n] (der Serie) Enūma Anu Enlil, [n] (der terrestrischen Serie Šumma) ālu ina mēlê šakin, [n] (der physiognomischen Serie) Alandimmû, [n] (der diagnostischen Serie) Sagig; [n] Tafeln, [n] (der Serie?) ‚Totenopfer‘, [n] vom Textkor-pus des Beschwörungspriesters, 13 der (oneiromantischen) Serie Zāqīqu, sechs medizinische Rezepte; insgesamt 188; (von) Nabû-nādin-apli, dem Opferschauexperten, [dem Sohn] des Ištar-dūrī“ (K 4753+: Parpola, JNES 42 [1983], 16; Fales, Postgate, SAA 7, no. 50). Ein Prob-lem ist, dass sich unter den Tausenden von Tafeln aus Assurbanipals Bibliothek, die in der Kuyunjik-Collection des British Museum aufbewahrt werden, zwar viele Texte in babyloni-scher Schrift befinden, aber offenbar nur wenige, die ihren Kolophonen zufolge eindeutig in Babylonien abgefasst wurden. Möglicherweise wurden viele Tafeln aus Babylonien in Ninive abgeschrieben und dann anderorts gelagert oder vernichtet. Zu den aus Ninive stammenden Ta-feln in babylonischer Schrift siehe jetzt Fincke, J., The Babylonian Texts from Nineveh: Report on the British Museum’s Ashurbanipal Library Project, AfO 50 (2003/04), 111–149.

24 Siehe Radner, K. (Hrsg.), PNA 1/I, 162, 197f.

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die Ausübung ihres Berufes nicht unbedingt benötigten und aus einem eher allge-meinen Interesse gesammelt haben dürften, hatten sie abzugeben.25

Jahre bevor er sich babylonische Texte unter Zwang schicken ließ, scheint As-surbanipal sie sich auf friedlichem Wege verschafft zu haben. Hiervon zeugen einige späte Kopien seiner Korrespondenz mit babylonischen Gelehrten. Zwei vermutlich in Borsippa geborgene Tafeln geben ein Schreiben wieder, in dem ein assyrischer König, mit großer Wahrscheinlichkeit Assurbanipal, den Gelehrten der Stadt be-fiehlt, ihm sämtliche vor Ort vorhandenen Tafeln zu schicken, die ihm bei der Aus-übung seiner Herrschaft von Nutzen sein könnten.26 Besonders Ritualtafeln interes-sierten den Herrscher. Die wohl frühestens unter Nabonid (555–539) angefertigten Abschriften des Schreibens verdanken sich offenbar dem Umstand, dass man in Bor-sippa auf das königliche Interesse an den Zeugnissen der lokalen Schriftgelehrsam-keit durchaus nicht ohne Stolz zurückblickte. Erst kürzlich wurde eine vermutlich aus der frühen parthischen Zeit stammende Kopie eines weiteren Schreibens veröf-fentlicht, in dem Assurbanipal babylonische Gelehrte um die Entsendung keil-schriftlicher Texte bittet. Es ist an die schriftkundigen Männer von Babylon gerich-tet und scheint ihnen für die gewünschten Texte, die unterschiedlichsten Gattungen angehören, großzügige Geldzahlungen zu versprechen. Der Brief dürfte aus dem fünften Regierungsjahr Assurbanipals stammen, also einer Zeit, in der er sich mit seinem in Babylon regierenden Bruder, der in dem Schreiben mehrfach erwähnt wird, noch in bestem Einvernehmen befand.27

25 Parpola, op.cit. (Anm. 23), 8f. 26 Die wichtigsten Passagen des Briefes lauten wie folgt: 1a-mat LUGAL a-na IŠá-du-nu 2šul-mu

ia-a-ši lìb-ba-ka lu-u ta-ab-˹ka˺ 3u4-mi tup-pi ta-mu-ru IŠu-ma-a 4DUMU-šú šá IMU-GI.NA Id+EN-KAR-ir ŠEŠ-šú ...... 6ù lúum-ma-nu šá Bár-sipaki 7šá at-ta ti-du-ú ina ŠUII-ka sa-˹bat˺-ma 8DUB.MEŠ ma-la ina É.MEŠ-šú-nu i-ba-áš-šú-ú 9ù DUB.MEŠ ma-la ina É-zi-da šak-nu 10ḫi-pi-ir-ma ...... 28... DUB.MEŠ 29aq-ru-tu šá ...... 30ina KUR Aš-šurki ia-a’-nu bu-’a-a-nim-ma 31šu-bi-la-a-ni ...... 34... ki-i 35mím-ma tup-pi u né-pe-šú šá a-na-ku 36la áš-pu-rak-ku-nu-šú u ta-tam-ra-ma 37a-na É.GAL-ia ta-a-bu ...... 38šu-bi-la-a-ni „Befehl des Königs an Šadûnu. Mir geht es gut; dein Herz sei froh. Sowie du (diese) Tafel gelesen hast, nimm Šumâ, den Sohn des Šumu-ukīn, Bēl-ētir, seinen Bruder ...... und die (übrigen) Gelehrten von Borsippa, die du kennst, an die Hand, und hole alle Tafeln hervor, die es in ihren Häusern gibt, und alle Tafeln, die im Ezida hinterlegt sind. ...... Sucht für mich wertvolle Tafeln, die ... in Assyrien nicht vor-handen sind, und lasst sie zu mir bringen. ...... Wenn ihr irgendwelche Tafeln und Rituale zu se-hen bekommt, von denen ich euch nicht geschrieben habe, die (aber) für meinen Palast nützlich sind, ...... so lasst sie (ebenfalls) zu mir bringen“ (BM 25676 und das Duplikat BM 25678, Ko-pie: CT 22, 1; zuletzt bearbeitet von Frame, G., George, A. R., The Royal Libraries of Nineveh: New Evidence for King Ashurbanipal's Tablet Collecting, Iraq 67 [2005], 280–282, und Lie-berman, S., in: Abusch, T. et al. [Hrsg.], Lingering over Words: Studies in Ancient Near Eas-tern Literature in Honor of William L. Moran, HSS 37 [Atlanta, 1990], 334–336). Lieberman, op.cit., 312 zweifelt daran, dass der Brief Assurbanipal zuzuweisen ist, doch angesichts des im folgenden besprochenen „Antwortschreibens“ der Gelehrten von Borsippa scheint diese Skepsis unangebracht.

27 Es handelt sich um BM 28825, veröffentlich von Frame, George, op.cit. (Anm. 26), 270-277. Dieser wichtige Artikel konnte hier nur noch sporadisch berücksichtigt werden. Meine Inter-pretation des Schreibens, die ich in N.A.B.U. 2005/43 näher erläutert habe, weicht von den

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Auch ein Antwortschreiben, mit dem die borsippäischen Gelehrten auf einen der akademischen Bittbriefe Assurbanipals reagierten, ist unlängst bekannt geworden. In ihm versichern sie, dass sie Tag und Nacht daran arbeiteten, die königlichen Buch-wünsche zu erfüllen. Allerdings versprechen sie nicht, Originaltafeln nach Ninive zu schicken. Stattdessen kündigen die Gelehrten an, Texte aus dem Nabû-Tempel von Borsippa auf Tafeln aus musukkannu-Holz zu kopieren und diese dem König zuzu-leiten.28

Das Antwortschreiben der Gelehrten liegt gleichfalls nicht im Original vor. Die Tafel, auf der es reproduziert wurde, dürfte ebenso wie der kürzlich publizierte Brief Assurbanipals an die Gelehrten von Borsippa aus der frühen Partherzeit stammen. Ist dies an sich schon bemerkenswert genug, so ist ein weiterer Hinweis im Kolo-phon der Tafel noch um einiges erstaunlicher. Ihm ist zu entnehmen, dass das kö-nigliche Schreiben auch auf eine Stele aus Alabaster kopiert worden war.29 Assurbanipals großangelegtes Projekt, das gesamte in Babylonien konzentrierte Wissen nach Assyrien zu überführen, wurde in einigen babylonischen Städten also offenbar als so bedeutungsvoll empfunden, dass man den ihm zugrundeliegenden

Auffassungen der Herausgeber teilweise ab. Während diese glauben, bei dem Text handle es sich um einen Brief der Gelehrten von Babylon an Assurbanipal, nehme ich ein umgekehrtes Verhältnis von Sender und Empfänger an.

28 Der Brief wurde von Frame, George, opcit. (Anm. 26), 267–270 ediert. Er beginnt wie folgt: ob.

Rdina a-mat d+EN u [d]GAŠAN-iá liš-lim Vs. 1a-na IAN.ŠÁR-D[Ù-A L]UGAL GAL-ú LUGAL dan-nu LUGAL kiš-šat LUGAL KUR Aš-šurki ...... 8um-ma BAR.ZIBki.MEŠ sa-an-qu-tú a-na LUGAL EN-šu-nu ú-ta-ru-˹šú˺ na-áš-par-tum šá iš-tu-ru 9um-ma kul-lat lúDUB.SAR-tú š[á Š]À NÍG.GA dAG EN-iá šu-tu-ra-a’ šu-bil-la-ni ...... 11... e-nin-ni ina KA [LUGA]L EN-ni ul ni-ig-gu ni-na-ḫu ni-dal-li-pu ana LUGAL EN-ni nu-šal-lam n[a-áš]-par-tum 12ni-šat-tár ina UGU gišDA šá gišMES.MÁ.KAN.NU nu-bal K[UR A]š-šurki-iš ...... „Auf Geheiß des Bēl und der Bēltīja möge es gelingen. An Assurbanipal, den großen König, den starken König, den Kö-nig der Gesamtheit, den König von Assyrien. ...... Auf die Weisung, die er geschrieben hat: ‚Schreibt alle Schriftwerke aus dem Schatzhaus des Nabû, meines Herrn, ab und lasst sie mir bringen!‘, antworten die loyalen Bewohner von Borsippa ihrem königlichen Herrn folgender-maßen: ‚Wir werden den Befehl unseres königlichen Herrn nicht saumselig missachten, son-dern uns alsbald anstrengen und bemühen und für unseren königlichen Herrn die Weisung aus-führen; wir werden auf Tafel(n) aus musukkannu-Holz schreiben und (sie) nach Assyrien bringen.‘“

29 Rs. 3šá-tár an-na-a ina muḫ-ḫi NA4.R[Ú.A] šá na4GIŠ.NU11.GAL ˹šu˺-ú-li „Dieses Schreiben ist auf eine Alabasterstele kopiert worden.“ Die Tafel mit der Abschrift des Brieftextes gehörte dem Bēl-bullissu, dem Sohn Nabû-mušētiq-uddês und Mitglied der bekannten Mušēzib-Fami-lie, und war von seinem Sohn, der ebenfalls Nabû-mušētiq-uddê hieß (Paponymie), geschrieben worden. Zum kulturellen Hintergrund der spätbabylonischen Abschriften von Assurbanipals Korrespondenz mit den Gelehrten von Babylon und Borsippa siehe nun auch Goldstein, R., Late Babylonian Letters on Collecting Tablets and Their Hellenistic Background – a Sugges-tion, JNES 69 (2010), 199–207. Goldstein schlägt vor, die fraglichen Briefe nicht als authenti-sche Textzeugnisse des siebten Jahrhunderts zu betrachten, sondern als Pseudepigrapha aus der Zeit des Hellenismus, die das Interesse dieser Epoche an der Etablierung von Universalbiblio-theken reflektieren.

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Briefverkehr auf Monumenten verewigte und ihn bis in die babylonische Spätzeit hinein studierte.

Abgesehen davon, dass er Tafeln requirieren ließ und großangelegte Kopierpro-jekte initiierte, griff Assurbanipal auch noch auf eine andere Möglichkeit des Wis-senstransfers zurück: Das moderne Phänomen des Brain-drains antizipierend, ver-sammelte er an seinem Hof zahlreiche nichtassyrische Gelehrte in persona. Diese Gelehrten begaben sich entweder freiwillig nach Ninive, angelockt von der Mög-lichkeit, am Hof eines mächtigen Königs Einfluss zu nehmen und ein regelmäßiges Gehalt zu bekommen, oder aber sie wurden von den Assyrern unter Zwang dorthin transferiert. Unter den von auswärts rekrutierten Gelehrten befanden sich nicht nur Babylonier, sondern auch Experten aus Syrien, besonders Vogelschauer,30 sowie aus Ägypten, von wo bereits Asarhaddon Divinationsspezialisten, Ärzte und die in assy-rischen Quellen als ḫartibī bezeichneten hrj-tp-Magier deportiert hatte.31

Der Westen gehörte im ersten Jahrtausend v. Chr. anders als im zweiten nicht mehr zur Sphäre keilschriftlicher Gelehrsamkeit,32 und so dürften die Spezialisten aus Syrien und Ägypten ihre eigenen angestammten Methoden mit nach Mesopota-mien gebracht haben.33 Keilschriftkundig waren dagegen offenbar noch lange Zeit

30 Parpola, SAA 10, p. xxxiv, Anm. 4, mit Verweis auf ABL 1346 (jetzt ediert von Luuko, M.,

Van Buylaere, G., SAA 16, no. 8), einen Brief, der von Auguren aus Ḫamat handelt. 31 Onasch, H.-U., Die assyrischen Eroberungen Ägyptens (Wiesbaden, 1995), Bd. I, 31. Im bi-

blischen Daniel-Buch (1: 20, 2:2, 2:27, 4:4) ist von hrj-tp-Magiern am babylonischen Königs-hof die Rede; sie werden ḫartummîm bzw. ḫartummajjā’ genannt. Zu den syro-anatolischen und ägyptischen Gelehrten am assyrischen Königshof siehe jetzt ausführlich Radner, K., The Assy-rian King and His Scholars: The Syro-Anatolian and the Egyptian Schools, in: Luuko, M. et al. (Hrsg.), Of God(s), Trees, Kings, and Scholars: Neo-Assyrian and Related Studies in Honour of Simo Parpola, StOr 106 (Helsinki, 2009), 221–238.

32 Siehe Cooper, J. S., Sumerian and Semitic Writing in Most Ancient Syro-Mesopotamia, in: Van Lerberghe, K., Voet, G. (Hrsg.), Languages and Cultures in Contact, OLA 96 (Leuven, 1999), 73f.

33 Dies in Rechnung gestellt, ist es erstaunlich – und wohl Ausdruck einer gewissen intellektuellen Erstarrung des mesopotamischen Geisteslebens des ersten Jahrtausends –, dass die gelehrte Kultur Syriens und Ägyptens die keilschriftliche Wissenstradition dieser Zeit kaum zu beein-flussen vermochte. Hinweise auf kontaktinduzierte intellektuelle Neuerungen in Keilschrifttex-ten der fraglichen Periode sind rar. Zu den wenigen Texten, die außermesopotamisches Gedan-kengut aufzugreifen scheinen, gehört K 2077+ (publiziert von Pingree, D. & Reiner, E., AfO 25 [1974/77], 50–55), eine von 649 v. Chr. stammende Tafel, die astronomische Berechnungen auf der Grundlage von Temporalstunden – statt der üblichen Äquinoktialstunden – enthält. Die Be-rechnungen, so heißt es, seien alt, aber bisher nicht keilschriftlich fixiert worden, und (in einer wegen Textlücken unklaren Weise) mit einem ša rēši des „Königs von Ḫatti“ verbunden. Pingree und Reiner merken an, die in dem Text behandelte Rechenmethode könne aus Ägypten stammen, wo das Konzept der Temporalstunde schon unter Sethos I. belegt ist, und womöglich über Nordsyrien (māt Ḫatti?) nach Mesopotamien vermittelt worden sein. Der Text K 2077+ ist auch deswegen bemerkenswert, weil er in babylonischer Schrift abgefasst ist, aber einen Kolo-phon in assyrischer Schrift aufweist, der den Arzt [Urad]-Gula (als Besitzer der Tafel?) nennt. Für die Möglichkeit, dass der aus spätbabylonischer Zeit stammende sog. „Esoteric Commen-tary“ hellenistisches Gedankengut aufgreift, siehe Scurlock, J., Al-Rawi, F., A Weakness for

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die in Elam ansässigen Gelehrten. Dies belegt ein möglicherweise 647, vielleicht aber auch schon früher verfasster Brief,34 in dem sich ein gewisser Marduk-šāpik-zēri, ein Klagesänger und Omenexperte, an den assyrischen König wendet und die-sem nicht nur seine eigenen Dienste anbietet, sondern, man darf wohl sagen: in der Manier eines Headhunters, auch die von zwanzig anderen Gelehrten, deren spezifi-sche Qualifikationen er auflistet. Von diesen dürften die meisten aus Ur stammen, bei einigen handelt es sich um assyrische Flüchtlinge, von mindestens einem Gelehr-ten, einem in der Astrologie, Eingeweideschau und Interpretationskunde bewander-ten Mann, aber wird gesagt, er sei aus Elam gekommen.35

In Elam gab es also auch noch im ersten Jahrtausend in den traditionellen Keil-schriftwissenschaften bewanderte Spezialisten, die sich mit ihren Kollegen im Zwei-stromland auszutauschen pflegten. Wenn in einer im dritten Jahrhundert v. Chr. abgefassten Tafel aus Uruk davon die Rede ist, der Beschwörungspriester Kidin-Anu habe von Nabopolassar geraubte Texte über die Kultordnungen des Gottes Anu am Anfang der Seleukidenzeit in Elam wiederentdeckt und nach Uruk zurückge-bracht,36 dann muss dies folglich nicht unbedingt eine pia fraus und ein “making of

Hellenism, in: Guinan, A. et al. (Hrsg.), If a Man Builds a Joyful House: Assyriological Studies in Honor of Erle Verdun Leichty, CM 31 (Leiden, 2006), 357–381.

34 Parpola, SAA 10, no. 160; für Anmerkungen siehe Moren, S., RA 74 (1980), 190f., Hunger, H., Empfehlungen an den König, in: Rochberg-Halton, F. (Hrsg.), Language, Literature and His-tory: Philological and Historical Studies Presented to Erica Reiner, AOS 67 (New Haven, 1987), 157–166 und Brown, D., Mesopotamian Planetary Astronomy-Astrology, CM 18 (Groningen, 2000), 277. Die Datierung des Briefes ist unklar, doch kommen nach Ausweis der in ihm enthaltenen astronomischen Daten nur die Jahre 672/671, 660/659 oder 648/ 647 in Frage. PNA 2/I, 633 datiert den Brief in die Zeit Asarhaddons, aber eine Datierung in die Zeit der „Library Records“ erscheint ebenfalls erwägenswert.

35 Vs. 47[... šamallê(?) š]á it-ti-iá li-gìn-nu [... il]-su-ú ˹i˺-ba-áš-ši ina lìb-bi-šú-nu 48[...]-áš-šú ul-tu KUR ELAM.MAki 49[... tupšarrē kalê (?) l]úMAŠ.MAŠ.MEŠ lúḪAL.MEŠ lúA.ZU.MEŠ 50[ušasbatma(?) ana šarri E]N-iá a-nam-din Rs.1[I... šá u]l-tu KUR ELAM.MAki i-bi-ra ba-ru-ti 2[ugdammir(?) DIŠ UD A]N d+En-líl UD.UL.DÙ.A pa-ni u šu-me-ri 3[pirišti(?) šamê u K]I-tim i-le-’e-e a-na LUGAL EN-iá ta-a-bu „[...] Unter [den Lehrlingen], die mit mir [...] liginnu-Ta-feln gelesen (d.h.: studiert) haben, gibt es [welche, die ...] ... aus Elam [... Schreiber, Klagesän-ger], Beschwörungspriester, Eingeweideschauexperten, Ärzte [lasse ich zusammenbringen und] stelle sie meinem Herrn, [dem König], zur Verfügung. [PN, der] aus Elam herüberkam, [be-herrscht vollständig] die Eingeweideschau(texte), kennt (die astrologische Serie) [Enūma] Anu Enlil, alte und sumerische sâtu-Listen/Kommentare, [(die) ein Geheimnis von Himmel und] Erde (sind), und ist für meinen Herrn, den König, nützlich.“

36 TCL 6, no. 38; die relevante Passage des Kolophons lautet wie folgt: Rs. 46... ki-i pi-i tup-pi.MEŠ 47šá Id+AG-A-ÙRI LUGAL KUR tam-tim TA qé-reb UNUGki iš-lu-lu-ma i-nu-uš IKi-din-d60 lúUNUGki-a 48 lúMAŠ.MAŠ d60 u An-tum ŠÀ.BAL.BAL IÉ-kur-za-kir lúŠEŠ.GAL-i šá É SAG tup-pi.MEŠ MU.MEŠ 49ina KUR ELAM.MAki ip-pal-lis-ma ina BALA-e ISi-lu-ku u IAn-ti-’i-i-ku-su LUGAL.MEŠ 50iš-tur-ú-ma a-na qé-reb UNUGki ú-bi-il „(Kopiert) nach dem Wortlaut von Tafeln, die Nabopolassar, der König des Meerlandes, aus Uruk geraubt hat – diese Tafeln hat später Kidin-Anu aus Uruk, Beschwörungspriester des An und der Antu, Nachkomme des Ekurzakir und Oberpriester des Rēš-Tempels, im Lande Elam gesehen und unter der Regierung der Könige Seleukos und Antiochos abgeschrieben und nach Uruk gebracht“ (Hunger, Kolo-phone, no. 107; Farber, W., TUAT II/2, 232).

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tradition” sein; denn offenbar wurde in dem östlichen Staat tatsächlich mesopotami-sches Schriftgut gesammelt und studiert.37 Vielleicht erklären sich die von David Pingree postulierten Übereinstimmungen zwischen keilschriftlichen Divinationstex-ten einerseits und entsprechenden Werken der Sanskritliteratur auf der anderen Seite durch einen Wissenstransfer, der in Mesopotamien seinen Ausgang nahm und über die alten elamischen Zentren des achämenidischen Reiches schließlich Indien er-reichte.38

Für babylonische Kaufleute waren Reisen nach Susa und in andere östlich gele-gene Städte speziell in der Achämenidenzeit nichts Ungewöhnliches. Wie aus zahl-reichen babylonischen Urkunden hervorgeht, dienten solche Reisen dem Handel sowie dem Aufbau guter, dem Geschäft förderlicher Beziehungen mit persischen Offiziellen und Aristokraten.39 Aber auch „Akademiker“ fanden in dieser Zeit ihren Weg nach Elam. Einer von ihnen war der babylonische Gelehrte Marduk-šumu-usur, der vermutlich irgendwann im ausgehenden sechsten Jahrhundert nach Susa reiste. Dort stieß er auf die berühmte, heute im Louvre ausgestellte Gesetzesstele König Hammurapis40 und war von diesem Fund so angetan, dass er den Prolog des auf ihr angebrachten Gesetzestextes sogleich auf eine Tontafel abschrieb.41 Offenbar wusste Marduk-šumu-usur nicht mehr, dass die ihm als Vorlage dienende Stele ursprünglich nicht in Susa, sondern in Sippar gestanden hatte und erst später, im zwölften Jahrhundert, im Zuge einer elamischen Militäraktion geraubt und nach Elam transfe-riert worden war. Im Kolophon der Tafel jedenfalls behauptet er, die von ihm ko-pierte Stele sei einst von Hammurapi selbst in Susa aufgestellt worden.42 Diese Fehl-

37 Es stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, ob elamische ‚Schriftgelehrte‘ für die baby-

lonischen Fassungen der achämenidischen Königsinschriften verantwortlich gewesen sein könnten.

38 Pingree, D., From Astral Omens to Astrology – From Babylon to Bīkāner (Rom, 1997), 31–38. Pingrees Thesen werden gegenwärtig im Rahmen eines von D. Brown und H. Falk initiierten interdisziplinären Berliner Projekts einer kritischen Überprüfung unterzogen, deren Ergebnisse abzuwarten bleiben.

39 Stolper, M. W., Tobits in Reverse: More Babylonians in Ecbatana, AMI 23 (1990), 161–176. 40 Oder auf ein Duplikat derselben. In Susa wurden neben der vollständig erhaltenen Gesetzesstele

Fragmente von zwei oder drei weiteren Stelen gefunden (siehe Klengel, H., König Hammurapi und der Alltag Babylons [München, 1999], 188), und die Orthographie der von Marduk-šumu-usur angefertigten Abschrift (s. u.) weicht an einigen Stellen von der „Hauptstele“ ab.

41 Publiziert von Fadhil, A., XXXIV Uluslararasi Assiriyoloji Kongresi (Ankara, 1998), 717-729. 42 Der Kolophon lautet: viii 4DUB 1-KAM ì-nu! AN si-ru-um 5NU AL.TIL ki KA šá-tá-ru

6GABA.RI NA4.RÚ.A la-bi-ri 7ša Ḫa-am-mu-ra-pí 8LUGAL Eki ina uruŠu-šiki 9uš-zi-zu IM 10

IdAMAR.UTU-MU-ÙRU 11A šá! IMu-šal-lim 12[A lúSANG]A!?-A.GA.DÈki „Erste Tafel von ‚Als der erhabene Anu‘ (Incipit des Codex Hammurapi), nicht beendet. Nach dem schriftlichen Wortlaut der Vorlage, einer alten Stele, die Hammurapi, der König von Babylon, in der Stadt Susa aufstellen ließ. Tafel des Marduk-šumu-usur, des Sohnes des Mušallim, [aus der Šangî]-Akkad-Familie.“ Der Wortlaut lässt es nicht ganz ausgeschlossen erscheinen, dass Marduk-šumu-usur seine Kopie nicht nach dem Original, sondern nach einer Abschrift vorgenommen haben könnte, die ein anderer Babylonier anhand der Originalstele in Susa angefertigt hatte.

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deutung entbehrt nicht einer gewissen historischen Ironie, die noch dadurch gesteigert wird, dass Marduk-šumu-usurs Abschrift nach seiner Rückkehr nach Babylonien schließlich in der 1986 entdeckten Tempelbibliothek des Šamaš zu Sippar Aufnahme fand. Sie gelangte am Ende also just an den Ort, an dem mehrere Jahrhunderte lang die Originalstele gestanden hatte.

Das Interesse an alten Texten – man könnte statt von Neugier von „Altgier“ sprechen – ist charakteristisch für die mesopotamische Wissenskultur des ersten Jahrtausends. Was verschüttet unter den Trümmern der Zeiten lag, fand besondere Aufmerksamkeit. Speziell unter den neubabylonischen Königen, allen voran Nabo-nid, wurden regelrechte Ausgrabungen veranstaltet, um die verborgenen Wissens-schätze älterer Epochen zu heben.43 Die frühen Achämenidenherrscher folgten ihren Vorgängern in diesem Bestreben nach. In einem in das dritte Jahr des Kambyses (527) datierenden Text aus Uruk, der mir dank der Großzügigkeit von Michael Jursa in Kopie vorliegt, wendet sich Nabû-mukīn-apli, der šatammu des Eanna-Tempels in Uruk, an eine Reihe von prominenten Schreibern und Pfründenbesitzern seines Hei-ligtums und teilt ihnen mit, ein königlicher Bote und der šākin tēmi von Babylon hätten darum ersucht, dass dem fraglichen Boten im Eanna aufbewahrte „alte asumittu-Denkmäler und königliche Inschriften“ gezeigt würden.44 Unter Kyros und Kambyses scheinen die persischen Herrscher also noch in einem gewissen Maße an der alten Geschichte Mesopotamiens interessiert gewesen zu sein.

Auch die von Assurbanipal geförderte intellektuelle Kultur des siebten Jahrhun-derts war in hohem Maße vergangenheitsorientiert. Assurbanipal, der sich rühmte,

Siehe zu diesem Kolophon nun auch Charpin, D., Les soldats d'Assurbanipal ont-ils détruit le Code de Hammu-rabi lors du sac de Suse?, N.A.B.U. 2003/77.

43 Hierzu zuletzt Winter, I., Babylonian Archaeologists of the(ir) Mesopotamian Past, in: Mat-thiae, P. et al. (Hrsg.), Proceedings of the First International Congress on the Archaeology of the Ancient Near East (Rom, 2000), 1785–1798.

44 BM 113249, zitiert mit freundlicher Erlaubnis der Trustees des British Museum (der Text ist inzwischen publiziert worden; siehe Kleber, K., Tempel und Palast: Die Beziehungen zwischen dem König und dem Eanna-Tempel im spätbabylonischen Uruk, AOAT 358 (Münster, 2008), 270–271, Tf. XXXIV). Die entscheidenden Passagen lauten: 1 Id+AG-GIN-IBILA ˹lú˺˹šà˺-[ta]m É-an-n[a] ... 2a-na ...... 15 lúTIN.TIRki.MEŠ lúUNUGki-a-a lú<<na>>ki-niš-tum 16iq-bi um-ma lúmar-šip-ri šá LUGAL ù lúGAR-UMUŠ TIN.TIRki 17iq-ta-bu-ú um-ma a-su-mit-tum.MEŠ šá-ta-ri 18šá LUGAL.MEŠ la-bi-ru-tu šá ina É-an-na šak-nu 19kul-lim-a-a-in-ni a-su-mit-tum.MEŠ šá-ta-ri.MEŠ la-bi-ru-tu 20šá ti-da-a4 lúmar-šip-ri šá LUGAL kul-lim-’a „Nabû-mukīn-apli, der šatammu des Eanna ... hat zu (13 namentlich genannten Tempelfunktionären), den Leuten aus Babylon und Uruk, (welche) die kiništu-Körperschaft (bilden), folgendermaßen gesprochen: ‚Der Bote des Königs und der šākin-tēmi von Babylon haben gesagt: ‚Zeigt mir die alten asumittu-Denkmäler (und) königlichen Inschriften, die im Eanna hinterlegt sind.‘ (Also) zeigt dem Boten des Königs die alten asumittu-Denkmäler (und) Inschriften, von denen ihr Kenntnis habt.‘“ Die Aufstellung von asumittu-Stelen im Eanna ist Gegenstand von YOS 3, no. 4, einem Brief des Nabonid an Kurbanni-Marduk, den šatammu des Eanna, siehe hierzu Beaulieu, P.-A., The Reign of Nabonidus, King of Babylon 556–539 B.C. (New Haven, 1989), 18.

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Steine aus der Zeit vor der Sintflut lesen zu können,45 ließ gleichfalls nach Texten früherer Epochen suchen. Als der babylonische Gelehrte Ašarēdu ihm brieflich ankündigte, er werde ihm eine Tafel aus der Zeit Hammurapis und einen sogar noch älteren Text schicken,46 wird dies gewiss das königliche Wohlgefallen erregt haben. Abschriften des Codex Hammurapi fanden sich in Assurbanipals Bibliothek.47 Und auch Assurbanipals gelehrte Entourage bezog sich gern auf das Wissen alter Zeiten. So zitierte Akkullānu, einer der wichtigsten königlichen Ratgeber, in einem Schrei-ben an seinen Herrn zur Rechtfertigung seiner Interpretation einer Omenapodose aus einem Brief, den ein Gelehrter der Isin II-Zeit an den babylonischen König Marduk-nādin-aḫḫē (1099–1082) geschrieben hatte.48 Die mehr als 400 Jahre alte Gelehrtenkorrespondenz lag ihm offenbar vor.

Der Wissenstransfer, um den sich Assurbanipal und seine akademischen Berater bemühten, war also nicht bloß ein räumlich-horizontaler Vorgang, sondern auch ein zeitlich-vertikaler: Das wertvollste, das magisch wirksamste, das divinatorisch er-hellendste Wissen, das man gewinnen konnte, war das noch nicht vom Zeitenlauf korrumpierte Wissen einer fernen Vergangenheit, das letztlich auf göttlichen Ur-sprung zurückging.49 Originalität besaß im Zweistromland nicht, was neu war, son-

45 ḫi-ta-ku GÙ.SUM ab-ni šá la-am a-bu-bi „Ich beschäftigte mich damit, Schriftzeichen auf Stei-

nen aus der Zeit vor der Sintflut zu betrachten“ (L4, I 18' = Streck, M., Assurb., 252f.; Kollati-onsergebnisse: Borger, R., Beiträge zum Inschriftenwerk Assurbanipals [Wiesbaden, 1996], 187f.).

46 Parpola, S., SAA 10, no. 155. Der Absender merkt an, die beiden Texte, offenbar Ritualtafeln, seien deswegen so wichtig, weil die vom König bislang für das in Frage stehende Ritual be-nutzte Tafel unvollständig und beschädigt sei. Ein Kolophon erweist eine in Assur gefundene Tontafel medizinisch-prophylaktischen Charakters (Köcher, F., BAM 4, no. 322) als Abschrift einer Tafel aus dem „Palast Hammurapis, des Königs der Gesamtheit“ (Vs. 29), was dem Quellenvermerk Ašarēdus zusätzliche Glaubwürdigkeit verleiht.

47 Siehe die Übersicht über die Textvertreter des Codex Hammurapi bei Borger, R., Babylonisch-assyrische Lesestücke, 2. Aufl. (Rom, 1979), 2-5.

48 Parpola, SAA 10, no. 100. Der entscheidende Passus lautet: Rs. 1ù ina UGU ŠÈG.MEŠ ša MU.AN.NA an-ni-ti 2im-tu-u-ni BURU14.MEŠ la in-né-piš-u-ni 3du-un-qu ša TI.LA ZIII.MEŠ ša LUGAL 4EN-iá šu-u-tú is-su-ri LUGAL be-lí i-qab-bi 5ma-a ina ŠÀ mi-i-ni ta-a-mur qi-bi-’a-a 6ina ŠÀ ú-ìl-ti ša IdÉ-a-mu-šal-lim 7ša a-na IdMES-SUM-PAB.MEŠ EN-šú iš-pur-u-ni šá-tir 8šum-ma GISKIM ina AN-e DU-kam-ma pi-iš-šá-tu la ir-ši 9šum-ma a-na ma-qa-at ŠÈG.MEŠ ib-ši-ka 10˹3, 20˺ KASKAL.MEŠ na-ki-ri šu-us-bit 11[e]-ma DU-ku i-kaš-šad UD. MEŠ-šú GÍD.DA.MEŠ „Und was die Regenfälle dieses Jahres anbetrifft, die so spärlich waren, dass keine Ernten eingeholt werden konnten – das ist ein gutes, auf Gesundheit und Leben für meinen Herrn, den König (verweisendes Omen). Vielleicht wird mein Herr, der König (jetzt) sagen: ‚Wo hast du (denn das) gelesen? Sag es mir!‘. (Nun), in einem Omenbericht des Ea-mušallim, den er an seinen Herrn Marduk-nādin-aḫḫē schickte, steht geschrieben: ‚Wenn am Himmel ein Zeichen erscheint, es durch nichts aufgehoben wird und es dir geschieht, dass der Regen nachlässt, so lass den König auf einen Feldzug gegen den Feind ziehen. Wo immer er hingeht, wird er Erfolg haben, und seine Tage werden lang sein.‘“

49 Dies wird besonders deutlich in Berossos’ Erzählung vom Kulturheros Oannes-Adapa, „nach dessen Zeit nichts mehr erfunden wurde“ (Burstein, S. M., The Babyloniaca of Berossus, SANE 1/5 [Malibu, 1978], 14).

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dern das, was ganz im etymologischen Sinne des Wortes nahe an den Ursprüngen lag.50

Abschließend scheinen ein paar kurze Anmerkungen zu der sozialen Stellung am Platze, die gelehrte Fremde im ersten Jahrtausend in Mesopotamien innehatten. Aus Raumgründen müssen einige eher anekdotische Betrachtungen zu den „Intellektuel-len“ am ninivitischen Königshof genügen.51 Angesichts der geradezu bibliomanisch anmutenden Begeisterung, mit der Assurbanipal gelehrtes Wissen von überallher zusammentragen und ordnen ließ, könnte man geneigt sein zu vermuten, dass die Gelehrten, die unter seiner Ägide für die Sammel-, Editions- und Interpretationsar-beit zuständig waren, in leidlich komfortablen Umständen lebten. Dies trifft so je-doch nicht zu. Deportierte Babylonier, die in Ninive Texte kopieren mussten, hatten offenbar ein eher hartes Los. So heißt es etwa von Ninurta-gāmil, dem nach Ninive verschleppten Sohn des Stadtoberhauptes von Nippur, er sei, wenn er nicht gerade Tontafelserien abschrieb, in eiserne Fesseln gelegt gewesen.52 Auch der babyloni-sche Gelehrte Kudurru, der gleichfalls ein politischer Gefangener war, scheint in Ninive massiv in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt gewesen zu sein.53 Außer-dem behauptet er in einem Brief, Verschwörer am assyrischen Hof hätten seine Kenntnisse mißbraucht, indem sie ihm Wein zu trinken gegeben und ihn dann ge-zwungen hätten, durch einen divinatorischen Akt zu erweisen, dass der Obereunuch die Königsherrschaft gewinnen würde.54 Die beiden bedauernswerten Männer wer-den in stillen Stunden vermutlich mit großer Inbrunst das Erra-Epos memoriert ha-ben, in dem es heißt: „Der Schreiber, der (das Epos) auswendig weiß, wird aus dem Feindesland entkommen und in seinem eigenen Land geehrt werden.“55

Die Lage der im Dienst des Königs stehenden assyrischen Gelehrten war zwar sicherlich erträglicher als die der deportierten Babylonier, doch glänzend ging es ihnen offenbar auch nicht. Selbst im Haus des Oberschreibers sah es derart ärmlich

50 Offenbar als Beleg dafür, dass sie die prisca sapientia dieser Ursprünge so getreulich wie mög-

lich bewahrten, pflegten babylonische Schüler dem Schreibergott Nabû die von ihnen im Unter-richt angefertigten, mit kanonischen Texten beschriebenen Tafeln um ihres Lebens und Wohl-ergehens willen in seinem Tempel zu dedizieren (Gesche, op.cit. [Anm. 3], 153–166), und As-surbanipal tat Ähnliches mit den Bibliothekstafeln, die er im Nabû-Tempel zu Ninive hinter-legte (Hunger, Kolophone, no. 328 [Asb. Typ o]). Man kann hierin eine Art Umkehrung des – normalerweise natürlich nur zukunftsgerichtet denkbaren – vertikalen Wissenstransfers erken-nen.

51 Reiches Material zu diesem Thema findet man in S. Parpolas epochalem Werk Letters of As-syrian Scholars to the Kings Esarhaddon and Assurbanipal, AOAT 5/2 (Kevelaer/Neukirchen-Vluyn, 1983). Siehe auch Pongratz-Leisten, B., op.cit. (Anm. 18), 163–201.

52 Fales, F. M., Postgate, J. N., SAA 11, no. 156:8–13. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass der fragliche Text in die Zeit Asarhaddons datieren dürfte.

53 Parpola, SAA 10, no. 179: 3-4. Zur Identität Kudurrus siehe Nissinen, M., References to Pro-phecy in Neo-Assyrian Sources, SAAS 7 (Helsinki, 1998), 133–138.

54 Parpola, SAA 10, no. 179:18-r 10'. 55 tupšarru ša iḫḫazu išēt ina māt nakri ikabbit ina mātīšu (Cagni, L., L'epopea di Erra, Studi

Semitici 34 [Rom, 1969], 128f., V 55).

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aus, dass dort nach Ausweis eines Briefes nicht einmal ein Esel hätte eintreten wol-len.56 Und angesichts der großen Zahl von Gelehrten, die sich teils freiwillig, teils unter Zwang am assyrischen Königshof aufhielten, war dort auch noch ein anderes Problem virulent: das der Akademikerarbeitslosigkeit. Seinen literarisch anspre-chendsten Ausdruck fand es in einem Bittbrief, mit dem sich der Exorzist und Arzt Urad-Gula an den assyrischen König wandte.57 Einst, in Diensten Asarhaddons, mit ein bis zwei Minen Silber Jahressold und anderen Vergünstigungen ausgestattet, ist Urad-Gula unter Assurbanipal, dem Adressaten des Briefes, seines Hofamtes ver-lustig gegangen und lebt nun in bescheidensten Verhältnissen: „Nicht einmal mehr ein Paar Sandalen noch den Lohn für einen Schneider kann ich mir leisten“, heißt es in dem Schreiben. „Ich habe keine Zweitgarnitur an Kleidung, aber Schulden von fast sechs Minen Silber, mitsamt Zinsen. [Und angesichts meiner] (Lebens)jahre fragt man mich: ‚Wer wird dich unterstützen, wenn du ein Greis geworden bist?‘“.58 Es ist nicht zu übersehen: die Probleme, die „Geisteswissenschaftler“ vor 2500 Jah-ren hatten, waren denen, die sie heute plagen, durchaus nicht unähnlich. Die „Wis-sensgesellschaft“ war schon immer manchen ihrer Adepten gegenüber eher ungnä-dig.

56 9É lú*GAL-A.BA É qa-lál 10[AN]ŠE.NÍTA-ma ina lìb-bi-šú 11la e-rab „Das Haus des

Oberschreibers ist ein mickriges Haus; nicht einmal ein Esel würde dort eintreten“ (Luuko, M., Van Buylaere, G., SAA 16, no. 89:9-11). Dagegen heißt es im selben Brief vom Haus eines Militäraristokraten: 12É IAš-šur-PAB-ir 13DUMU-ŠU.SI.MEŠ(= mār bānê?) SIG5 „Das Haus des mār banê Aššur-nāsir ist schön“ (Übersetzung nicht ganz sicher, da SIG5 evtl. noch Teil des Titels des Aššur-nāsir sein könnte).

57 Parpola, SAA 10, no. 294, ders., The Forlorn Scholar, in: Rochberg-Halton, F. (Hrsg.), op.cit. (Anm. 34), 257–278. Der Brief, dessen Autor mit dem in K 2077+ erwähnten [Urad]-Gula identisch sein dürfte (s. o. Anm. 33), erinnert in vielen Details an einen 1000 Jahre älteren sumerisch-akkadischen Bittbrief aus Mari, in dem ein anonymer Schreiber, der seine Position nach Zimrilims Machtergreifung verloren hat, den neuen König von seiner Nützlichkeit zu überzeugen versucht. Für den Mari-Brief siehe Charpin, D., Les malheurs d'un scribe ou de l'inutilité du Sumérien loin de Nippur, in: deJong Ellis, M. (Hrsg.), Nippur at the Centennial (Philadelphia, 1982), 7–27.

58 27... šúm-mu am-mar kušE.SÍR am-mar ig-ri 28ša lúTÚG.KA.KEŠDA ma-as-sa-ku-ni te-nu-ú ša túggu-zip-pi-ia i-ba-áš-šú-ni 29ù [0? G]ÍN.MEŠ LAL-ti a-na 6 MA.NA KÙ.BABBAR SAG.DU la ḫab-bu-la-ku-u-ni 30[ù ina(?) M]U.AN.NA.MEŠ-ia ma-a a-na ši-bu-ti tak-šu-da tu-kul-ta-ka lu-u man-nu.