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Dimensionen medialer Nähe am Beispiel des Radios in Benin TILO GRÄTZ EINLEITUNG Dieser Aufsatz geht Formen von Nähe nach, die im Kontext der Etablierung neuer Radiostationen und ihrer Sendungen in Westafrika generiert werden. 1 Mein Fallbeispiel ist die Republik Benin, wo es im letzten Jahrzehnt zu einem Aufschwung radiomedialer Produktion im Zusammenhang mit einer Medienliberalisierung und der Entstehung vieler neuer Radiosender gekom- men ist. Es wird vor allem medienbezogene Nähe in ihren verschiedenen Dimensionen betrachtet, einschließlich räumlicher, sozialer, affektiver und erfahrungsbezogener Aspekte. Der Aufsatz beschreibt in erster Linie das sich wandelnde Verhältnis zwischen Radioproduzenten und Radiohörern in Benin, vor allem in interaktiven Sendeforrnaten. Mediale Nähe wird dabei als Ergebnis der Verschränkung bzw. sozio-technischen Co-Produktion von Radio-Technologien und neuen Öffentlichkeiten (vgl. Grätz 2009) in Benirr betrachtet und in ihren lokalen Dimensionen und in Beziehung zu ähnlichen radiomedialen Prozessen in anderen Teilen der Welt diskutiert. Sie sind mit neuen Medienpraktiken und Prozessen der Mediatisierung (im Sinne von Krotz 2001) verbunden und führen zur Entstehung neuer Kommunikations- räume (vgl. Healey et al. 2007) in Benin. 1 Der Beitrag basiert auf Feldforschungen in Beninzwischen 2007 und 2010, geför- dert von der DFG. Bereitgestellt von | Freie Universität Berlin Angemeldet Heruntergeladen am | 09.03.18 22:33
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Mar 10, 2023

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Dimensionen medialer Nähe am Beispiel

des Radios in Benin

TILO GRÄTZ

EINLEITUNG

Dieser Aufsatz geht Formen von Nähe nach, die im Kontext der Etablierung

neuer Radiostationen und ihrer Sendungen in Westafrika generiert werden.1

Mein Fallbeispiel ist die Republik Benin, wo es im letzten Jahrzehnt zu

einem Aufschwung radiomedialer Produktion im Zusammenhang mit einer

Medienliberalisierung und der Entstehung vieler neuer Radiosender gekom­

men ist. Es wird vor allem medienbezogene Nähe in ihren verschiedenen

Dimensionen betrachtet, einschließlich räumlicher, sozialer, affektiver und

erfahrungsbezogener Aspekte. Der Aufsatz beschreibt in erster Linie das sich

wandelnde Verhältnis zwischen Radioproduzenten und Radiohörern in

Benin, vor allem in interaktiven Sendeforrnaten. Mediale Nähe wird dabei

als Ergebnis der Verschränkung bzw. sozio-technischen Co-Produktion von

Radio-Technologien und neuen Öffentlichkeiten (vgl. Grätz 2009) in Benirr

betrachtet und in ihren lokalen Dimensionen und in Beziehung zu ähnlichen

radiomedialen Prozessen in anderen Teilen der Welt diskutiert. Sie sind mit

neuen Medienpraktiken und Prozessen der Mediatisierung (im Sinne von

Krotz 2001) verbunden und führen zur Entstehung neuer Kommunikations­

räume (vgl. Healey et al. 2007) in Benin.

1 Der Beitrag basiert auf Feldforschungen in Beninzwischen 2007 und 2010, geför­dert von der DFG.

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Für viele Kommentatoren aus dem Bereich der Entwicklungszusammenar­

beit ist eine mediale Nähe (hier meist verstanden als kulturelle Nähe von

Medienproduzenten und -rezipienten) primär von der Lage eines Rundfunk­

senders, der Struktur seiner Verwaltung im Modus der administrativen Par­

tizipation (im Sinne von >Bürger<-Radios), der Nutzung einheimischer Spra­

chen sowie den Empfangsmöglichkeiten abhängig. In dieser Hinsicht wer­

den vor allem Community-Radiosender bevorzugt und mit der Idee eines

>Rundfunks für Entwicklung< verbunden. Hier wird aber davon ausgegangen,

dass durch diese formalen Kriterien eine Hörernähe des Radios in Afrika

nicht automatisch gegeben ist und zudem durchaus auch ein Merkmal vieler

privater Radiosender (in Benirr z.B. Tokpa FM oder Capp FM, jeweils Coto­

nou) sein kann. Mediale Nähe hängt von einer Kombination aktiver Strate­

gien sowohl von Produzenten und Radiohörern ab, um Nähe und Intimität

durch die Inhalte bestimmter Programme zu erzeugen; sowie sich wechsel­

seitig verstärkende soziale Kontakte im Alltag zu unterhalten.

KONTEXT: MEDIENWANDEL IN BENIN

Der Rundfunk war in Benirr für viele Jahrzehnte die alleinige Angelegenheit

des Staates und der zentralen Sendeanstalt ORTB (Office de Radiodiffusion

et de Television du Benin). Die politischen Veränderungen nach 1990 führ­

ten zu einer Medienliberalisierung (vgl. Adjovi 2001; Carlos/ Djogbenou

2005). In der Folge entstand eine erhebliche Vielfalt unabhängiger Zeitun­

gen und neuer ländlicher Gemeinderadios (vgl. Grätz 2000, 2003). Im Jahr

1997 wurde ein neues Mediengesetz verabschiedet, das die Einrichtung un­

abhängiger Radio- und TV-Stationen im Rahmen eines Lizensierungsverfah­

rens durch die oberste, paritätisch besetzte Medienbehörde HAAC (Haute

Autorite de l'audiovisuel et de Ia Communication; vgl. Adjovi 2003b) er­

möglichte. Heute gibt es ca. 70 Radiostationen, darunter private, kirchliche

und universitäre Sender. Besonders in städtischen Ballungsräumen wie Coto­

nou-Porto-Novo oder Parakou bietet sich den Hörern ein facettenreiches An­

gebot konkurrierender Informations- und Unterhaltungsprogramme. Der da-

2 Hörernähe ist über die hier diskutierten Dimensionen hinaus auch ein legitimie­render Slogan vieler Programme von Geberorganisationen im Bereich der Medien­entwicklung, vor allem in der Förderung kommunaler Radiostationen (Französisch Radios de proximite); für eine Kritik siehe Grätz 2010.

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raus resultierende Wettbewerb zwingt die Sender, attraktive Programme zu

entwickeln und Moderatoren zu fördern, die Anklang bei vielen Hörern fin­

den.

In diesem Prozess der Transformation der Medienlandschaft ist eine

neue Generation von Medienakteuren entstanden. Bei ihnen erfolgte der Be­

rufsstart oft ohne eine formale Medienausbildung, über Praktika und Zeit­

verträge sowie Kooperationen mit verschiedenen Medieninstitutionen. In­

zwischen haben viele dieser neuen Medienakteure aber umfangreiche Erfah­

rungen gewonnen, präsentieren Nachrichten, politische Debatten oder Call­

in-Shows. Einige wurden inzwischen lokale Radiostars oder sogar Direktoren

kleinerer Medienunternehmen. Besonders die jüngeren unter ihnen sind auf

verschiedenen Gebieten kreativer Medienproduktion tätig, kombinieren

Fähigkeiten z.B. aus Theater, szenischem Schreiben und Musikpräsentation

mit jenen der Radioproduktion.

Generell sind die Gehälter in den nichtstaatlichen Sendern aber niedrig

und die Arbeitsbedingungen schlecht; zusätzliche Vergütungen für Ausgaben

bei Reportagen und der Berichterstattung über aktuelle Ereignisse sind sel­

ten. Folglich haben viele Journalisten Nebenjobs, arbeiten entweder als MCs

auf privaten oder öffentlichen Festen, in der Werbung, als Schauspieler oder

Pressereferenten für kleinere Unternehmen ohne eigene PR-Abteilung. Eini­

ge von ihnen organisieren ihre Zeit zwischen zwei Jobs, z.B. als Lehrer und

Radiomoderator, oder arbeiten neben dem Job bei einem Radiosender in

der städtischen Verwaltung oder bei einer Zeitschrift. Einige Radiomodera­

toren und -techniker sind zugleich Musikproduzenten oder Organisatoren

von Theatergruppen. Techniker führen häufig noch eine Werkstatt zu Hau­

se, sind IT-Berater oder leisten technische Hilfe bei Veranstaltungen.3 Dies

kann für die Beteiligten stressbeladene Zeitpläne erzeugen, erhält ihnen

aber den engen Kontakt mit potentiellen Hörergruppen und den Einblick in

verschiedene Bereiche des alltäglichen Lebens.

3 Manche Journalisten versuchen, ihre Situation durch den Verkauf tendenziöser Berichte an Interessengruppen zu verbessern. Dies gilt insbesondere für Teile der Presse, vor allem in Wahlzeiten (vgl. Adjovi 2003a).

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DIMENSIONEN DER NÄHE

Im Hinblick auf den hier analysierten Bereich radiomedialer Produktion und

Rezeption in der Republik Benin, der als ein komplexes sozio-technisches

Ensemble (Bijker et al. 1992) verstanden wird, schlage ich vor, zwischen

drei potentiellen Dimensionen von Nähe zu unterscheiden. Zunächst besteht

hier eine physische oder räumliche Dimension, die durch die Lage der Rund­

funkstationen in städtischen und ländlichen Regionen Afrikas markiert ist.

Die meisten Radiosender in Benirr befinden sich meist nahe im Wohnumfeld

der Hörer, sind nicht abgeschottet und vergleichsweise leicht zugänglich.

Zum zweiten ist die Dimension der persönlichen Beziehungen relevant,

die hier zum einen zwischen Radiogestaltern und ihren Hörern, zum ande­

ren aber auch zwischen (Gruppen von) Radiohörern konstituiert wird. Diese

besitzt sowohl einen direkten kommunikativen Face-ta-Face-Aspekt, z.B. in

der Präsenz der Radiogestalter im Alltagsleben und ihren Interaktionen

außerhalb der Radiosendungen, als auch eine virtuelle4 oder radiotechnolo­

gisch-vermittelte Dimension.

Schließlich lässt sich drittens, z.T. eng mit den erwähnten persönlichen

Beziehungen verbunden, bestimmen, inwiefern Radiosendeproduktionen zur

Generierung einer affektiven Nähe beitragen; vor allem im Hinblick auf die

sinnliche Gesamtheit der Erfahrung des Radiohörens, der individuellen Mo­

tive, Gefühle und Folgen des Hörens sowie der aktiven Teilnahme an Radio­

sendungen. Die Schaffung affektiver Erfahrungen des Radiohörens in enger

Interaktion mit den Radioproduzenten überschreitet die genannten räumli­

chen Aspekte der Nähe und schließt eine persönliche, emotionale Beziehung

von Hörern zu Radiogestaltern ein, die Intimität erzeugen und durch direkte

Beziehungen verstärkt werden kann.

ASPEKTE RÄUMLICHER NÄHE

Radiostationen in Benirr sind nicht nur Orte der Medienproduktion, sondern

auch soziale Räume, die Produzenten und Hörer zusammenbringen. Dies gilt

4 Dieser Effekt evoziert natürlich eine Diskussion um die analytische Relevanz virtu­eller (Hörer-)Gemeinschaften, die im Rahmen dieses Textes jedoch nicht geführt werden kann.

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insbesondere für die PR-Abteilungen oder Empfangs- oder Eingangshallen

von Radiostationen. Hier treffen Besucher auf Radiomitarbeiter, wenn sie

Werbespots, Grüße oder Ankündigungen in Auftrag geben wollen, die später

in lokale Sprachen übersetzt und gesendet werden. Einige Besucher tauchen

auch spontan auf; sind neugierig, möchten Radioleute treffen. In kleineren

Radiosendern werden Besucher oft problemlos eingelassen, können die Stu­

dioeinrichtungen besichtigen und Mitarbeiter sprechen, treffen andere

Hörer. Oft kommt es dazu, dass sie direkt als Studiogäste zu einer Sendung

eingeladen werden. Meist sind die zentralen Produktionsstudios Treffpunkte

für persönliche Freunde der Moderatoren, die Informationen übermitteln

oder CDs kopieren. Diese Besuche sind auch Gelegenheiten, sich über die

Programme und deren Qualität auszutauschen. Scheint ein Besucher seriös

und kommunikativ zugleich zu sein, so tauschen die Radio-Leute mit den

Besuchern Handynummern aus, um ihr Informationsnetzwerk zu vergrö­

ßern, das nutzbar ist, wenn es um die Berichterstattung über lokale Ereig­

nisse geht, bei denen aber der Journalist selbst nicht anwesend sein kann.

Radiostationen sind wichtige Anlaufpunkte in ihren Senderegionen, wo­

raus die meisten Sender versuchen insofern Gewinn zu schlagen, als sie hier

Verkaufsstellen z.B. für CDs und DVDs, Broschüren oder traditionelle Medi­

zin betreiben. Zum Teil schließt man mit Händlern Kommissionsverträge

über den Verkauf bestimmter Waren in der Station ab, die dann gleichzeitig

im Rundfunk beworben werden.

Eine solche räumliche Nähe ist jedoch vor allem in kleineren Orten nicht

ohne Risiko, wo Radioproduzenten im täglichen Leben der Gemeinde oder

des Stadtviertels sehr exponiert sind. Oft versuchen Lokalpolitiker sich in

die Angelegenheiten eines Senders einzumischen (vgl. Grätz 2000) und Mo­

deratoren für ihre Ziele zu gewinnen. In vielen Fällen finden wir Konflikte

zwischen dem Stationsdirektor, den Mitarbeitern5 und den Mitgliedern des

Radio-Kuratoriums oder Vertretern der örtlichen Verwaltung. Im Fall Benins

5 Innerhalb einer Station oszillieren die Beziehungen der Mitarbeiter untereinander typischerweise zwischen Wettbewerb und Solidarität. Nach dem Dienst teilen Moderatoren und Techniker oft ihre Freizeit, laden sich gegenseitig zu privaten Festlichkeiten ein und geben sich oft emotionale Unterstützung, wenn es um per­sönliche Schicksalsschläge geht (vor allem in Fällen von Tod, Bestattung und der folgenden Trauerzeit). Umgekehrt finden wir kleinere In-Gruppen, z.B. der etab­lierten Moderatoren oder Journalisten, die ihre Position gegenüber Praktikanten verteidigen.

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führten solche Konflikte zur (temporären) Schließung von Stationen, so ge­

schehen bei Radio Kandi (2007) und Radio Tanguü~ta (2010), wo Medienbe­

hörden anschließend mit viel Mühe vermitteln mussten (vgl. Grätz 2010).

SOZIALE BEZIEHUNGEN ZWISCHEN

RADIOPRODUZENTEN UND HÖRERN

Eine typische Beobachtung während der Begleitung von Radiomoderatoren

in Benin: Die Menschen erkennen diese meist in der Öffentlichkeit, grüßen

sie, übermitteln ihnen ihre Beobachtungen oder Kritiken zu Programmen,

laden manchmal Radiomitarbeiter für ein Schwätzchen oder gar zu einer

privaten Party ein. Umgekehrt bauen Radioproduzenten auf ihre intensiven

Kontakte zu den Zuhörern, bei der Suche nach Partnern für Interviews, als

Studiogäste, wenn sie wichtige Hintergrundinformationen für ihre Nachrich­

tensendungen oder finanzielle Unterstützung benötigen. Radioproduzenten

und ihr Publikum schenken sich gegenseitig öffentliches Ansehen.

Am 1.3.2010 besuchen die Moderatoren Prince Cool und Fande sowie der Tech­

niker Riffe des Senders Nanto FM (Natitingou) abends Brigitte N'Da, 23. Sie ist

eine der treuesten Hörerinnen des Senders und ruft oft bei Diskussions- oder

Grußsendungen an. Sie hört sowohl die Freitagabend-Sentimental-Sendung, Quiz­

sendungen als auch die Samstagabendmusikshows. Brigitte arbeitet als Kellnerin

in einer kleinen Kneipe und versucht so gut es geht allein klarzukommen, nach­

dem ihr Mann sie und ihren kleinen Sohn vor einem Jahr verlassen hatte. Sie

hofft, bald mit einer Ausbildung als Sekretärin ihre Arbeitsmöglichkeiten zu ver­

bessem Brigitte lud uns nach der vergangenen Samstagsabendsendung ein, be­

grüßt uns freudig, bietet uns Getränke an und stellt uns ihren Sohn Bienvenu vor.

Später macht sie uns im Viertel mit anderen Hörern bekannt, die oft Radio Nanto

einschalten, aber im Gegensatz zu ihr aus mangelndem Selbstvertrauen oder dem

Scheuen der entsprechenden Ausgaben den Sender seltener anrufen. Einige ken­

nen die Radiomitarbeiter bereits vom Sehen, von Reportagen, sind sichtbar er­

freut, diese persönlich kennen zu lernen. Ikro hat eine der letzten Samstagabend­

musik- und Grußshows von Nanto FM als MP3 Datei auf sein Mobiltelefon ko­

piert, spielt diese nun Brigitte vor, gerade an jener Stelle, als sie selbst anrief und

mit dem Moderator plauderte. Später sagt Prince Coo~ dass so ein Besuch von

enormer Bedeutung für den Sender wäre. Obwohl sie natürlich gern eine Einla-

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dung auf ein paar Getränke annehmen, ist es einerseits zeitaufwendig, nach dem

Dienst im Sender noch ans andere Ende der Stadt zu fahreiL Andererseits wollen

sie mit ihrer Präsenz ihre Verbundenheit mit den Hörern zeigen, und >Idealfälle<

wie Brigitte auch als Vorbild treuer Hörerschaft dann präsentieren: Die Radiomo­

deratoren werden Brigitte in vielen Sendungen griißen, auch wenn sie selbst keine

Grüße bestellt oder angerufen hat (Feldtagebuch, 02.03.2010).

Abb. 1: Radiojournalist Stephane Tankwanou, Radio Rurale Locale Tanguieta, März2010

Hörer kennen etliche Radiomitarbeiter auch durch ihre Anwesenheit wäh­

rend der Berichterstattung über lokale Ereignisse, insbesondere bei Inter­

views und Umfragen (vgl. Abb. 1).

Auch die erwähnte Tatsache, dass viele Moderatoren und Techniker

mehr oder weniger gezwungen sind, Nebentätigkeiten als MCs, in Werkstät­

ten, als Lehrer oder Friseur etc. nachzugehen, trägt sowohl zu ihrer Sicht­

barkeit im Alltagsleben, in Nachbarschatten und ihrer Nähe zu alltäglichen

Angelegenheiten ihrer Hörer (die sich von der Schule kennen etc.) bei. Viele

der jüngeren Radioproduzenten haben einen ähnlichen Lebensstil wie ihre

Zuhörer und versuchen, den Geschmack der Hörer, z.B. bei angesagten Mu-

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sikstilen zu treffen. Ihre Sendungen sind vor allem dann erfolgreich, wenn

sie sich flexibel auf Alltagsrhythmen der potenziellen Hörer einstellen, z.B.

durch eine besondere Programmgestaltung zu Markttagen und an Wochen­

enden, sowie durch Unterhaltung und nutzbare Informationen. Letztere kön­

nen nicht nur Ratschläge, Gesundheitstipps, Ankündigungen öffentlicher

oder privater Veranstaltungen, Dienstleistungen, Verlustanzeigen, Presse­

schauen in mehreren Sprachen sondern auch Stellenangebote einschließen,

die sogar gesamte Programme ausfüllen können (z.B. Planete Emploi, Radio

Planete, Cotonou) und Kindersuchdienste.6 Sie müssen aber auch emotional

relevante Interaktionen, hier vor allem über Anrufersendungen, bieten.

Regelmäßige Anrufer in Talk-Shows des Senders Nanto FM in Natitingou befin­

den sich in der Familie Vodoungbo. Sowohl der Vater Pierre als auch sein Sohn

Mathias rufen häufig im Sender an, oft unabhängig von den jeweiligen Sendungen

und ihren Themen, oft einfach nur, um die Radiomitarbeiter zu grilßen oder an­

dere Hörer, die sie von verschiedenen Anrufersendungen her kennen. Ihre Ge­

wohnheiten sind damit begrilndet, dass auf der einen Seite der Vater immer ein

leidenschaftlicher Radiohörer war. Er besitzt mehrere Radiogeräte und scheint

seine Vorliebe auch an andere Familienangehörige weitergegeben zu haben. Auf

der anderen Seite kostet sie das Anrufen gar nichts. Pierre, ein pensionierter An­

gestellter der staadichen Telekom-Firma OPT, verfügt immer noch über einen ko­

stenfreien Festnetzanschluss, der Teil seiner Privilegien aus dieser Tätigkeit ist Er

hat ein Parallelgerät in einem Raum auf dem Hof installiert, mit dem dann sein

Sohn Mathias, ein Maurer, unter Nutzung desselben Anschlusses telefoniert, wenn

immer es ihm möglich ist. Der gleiche Raum dient auch als Treffpunkt für Besu­

cher und zum Verkauf von Gin, den die Familie aus dem Süden des Landes, wo

sie ursprünglich beheimatet war, bezieht Oft kommen hier die Radioleute auf ein

Glas und ein Plauderstündchen vorbei (Feldtagebuch, 27.02. 2010).

Viele Anrufer interaktiver Sendungen kennen die Moderatoren und sich un­

tereinander bereits aus früheren Shows (und/ oder persönlich) und begrüßen

sich entsprechend.

Auch Hörervereine tragen zu einer besseren Position der Stationen im

Leben von Nachbarschaften bei. Diese Verbände bieten den Sendem nicht

6 Meist werden die entsprechenden Kinder zur Station gebracht und später dort von ihren Eltern oder einer Spezialeinheit der Polizei abgeholt.

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nur Beratung und Unterstützung, sie tragen oft dazu bei, bestimmte Shows

zu produzieren oder organisieren Feste. Einige der jüngeren Mitglieder die­

ser Vereine, begeisterte Zuhörer, werden z.T. später auch selbst Radioprodu­

zenten, wie verschiedene Beispiele zeigen. Hörerclubs helfen nicht nur, die

persönlichen Beziehungen zu Moderatoren und Technikern zu intensivieren,

sondern bieten auch häufig Unterstützung und finanzielle Hilfe an. Diese

Vereine können auch lose Netzwerke treuer Hörer repräsentieren, die sich

regelmäßig treffen, um vergangene Sendungen zu diskutieren und Themen

vorzuschlagen. Zusätzlich zum Hörerverein eines Radiosenders gibt es auch

zahlreiche Fanclubs nur für ein bestimmtes Programm, wie z.B. jener zur

Musiksendung Cuba Libre (Samstag von Rosymoh auf CAPP FM, Cotonou)

mit afro-kubanischer Musik, der regelmäßig Tanzabende organisiert.

Die meisten Radiosender mobilisieren die Radiovereine, wenn es um Ju­

biläen, z.B. den Geburtstag ihrer Gründung geht, als einen Anlass der Stär­

kung ihrer Beziehungen zu den Hörern. So veranstaltete der Sender Radio

Nanto in Natitingou im November 2008 aus Anlass seines fünfjährigen

Bestehens ein großes Volksfest mit Künstlern aus der Region und strahlte

spezielle Quiz-Wettbewerbe sowie Sondersendungen aus. Radio Tokpa in

Cotonou organisierte anlässlich seines 10-jährigen Jubiläums Mitte 2009

eine Abstimmung über Lieblings-Moderatoren in verschiedenen Kategorien,

eine Tombola und eine Geschenkfeier für sozial benachteiligte Hörer, gab

einen Dokumentarfilm in Auftrag, forderte auf, spezielle Songs zu kompo­

nieren und organisierte schließlich ein öffentliches Popkonzert im größten

Stadium Cotonous. Viele Stationen bieten zudem regelmäßig Tage der offe­

nen Tür, wo die örtlichen Bewohner die Station in größerem Umfang ent­

decken können. Fan-Clubs und gesellschaftliche Ereignisse der genannten

Art sind nur ein Element, um Nähe zu generieren, deuten aber auf eine zu­

nehmende Institutionalisierung von Medienerfahrungen und individuellen

Medienengagements hin.7

7 Oft wenden sich Hörer mit der Bitte um Unterstützung und Mediatisierung in per­sönlichen Problemlagen an Radiosender. So erhielt der Sender CAPP FM in Coto­nou im November 2008 einen Brief, in dem ein Mitarbeiter der Zollverwaltung aus einem Dorf bei Porto-Novo um Unterstützung bat. Er berichtete von Angehöri­gen, die von Räubern im Grenzgebiet getötet wurden und beschuldigt hohe Staats­angestellte und Politiker, die angeblich Komplizen der Räuber wären. Er legte eine Liste von Unterstützern vor und wünscht ein Treffen mit den Radioleuten, um mehr Details preiszugeben.

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INTERAKTIVE RADIOSENDUNGEN, MEDIATISIERUNG

MORALISCHER PROBLEME UND FORMEN AFFEKTIVER

NÄHE

Die in den Anfangszeiten des unabhängigen Radios in Benin dominierenden

Gruß- und Wunschsendungen haben gegenüber anderen Formen von Anru­

fersendungen mittlerweile etwas an Bedeutung abgenommen, sind aber ge­

rade in einheimischen Sprachen nach wie vor sehr beliebt, da hier Hörer in

spielerisch-reziproker, wettbewerbsartiger Weise ihre Bekanntschaftsnetz­

werke, in Vermittlung durch den sprachkundigen Moderator, medial immer

wieder neu knüpfen. Hier werden bestellte und bezahlte Grüße in Verbin­

dung mit Musikwünschen abgearbeitet, gleichzeitig generieren die Sender

Einnahmen, da die Grüße mit (für den Auftraggeber minimalen) Kosten ver­

bunden sind. Man kann entweder Grüße im Sender selbst, in den PR-Büros,

oder über die einzelnen Moderatoren, wenn man diese unterwegs trifft, in

Auftrag geben. Manche Hörer verzichten darauf, selbst einen Musiktitel zu

wählen, schreiben auf die Wunschkarte einfach nur, dass die Moderatoren

einen geeigneten Titel aussuchen sollen. Viele Sender haben zusätzliche An­

laufste11en dafür eingerichtet. So steHt der Mechaniker und Teilzeit-Radia­

moderator Moderan Soglohoun in Parakau seine Werkstatt auch als Anlauf­

punkt für Hörer zur Verfügung, die Grüße abgeben wo11en. Sie ist zentral

gelegen und gut in der Stadt bekannt, der Wächter holt die entsprechenden

Formulare dann ab.8 Viele der Sender arbeiten mit sog. correspondents zu­

sammen, die für Grußaufträge und Anzeigen einen Anteil- meist 10%- der

Einnahmen erhalten. Darüber hinaus werden inzwischen oft Sendungen aus­

gestrahlt, bei denen nur SMS mit Grüßen verlesen werden. 9 Treue Hörer

werden aber auch dann gegrüßt, wenn sie selbst keine Grüße in Auftrag ge­

geben haben oder von anderen gegrüßt wurden. Natürlich können die

Moderatoren selbst persönliche Freunde grüßen und über diesen Weg ihre

8 Für die Gruß- und Wunschsendungen hat man bei Maranatha auch günstige Mo­nats-Abonnements eingeführt.

9 Douceur du soir ist ein erfolgreiches Sendeformat auf Radio Nanto in Natitingou. Es wird spätabends kurz vor Sendeschluss ausgestrahlt und verbindet sanfte Musik mit Grüßen. Derzeit wird die Sendung von Prince Cool präsentiert, der hier mit tiefer, ruhiger Stimme langsam Musikstücke ankündigt, Inhalte der Titel mitunter bespricht und dann Grüße ausgibt. Hörer können hier nicht selbst anrufen, aber ihre Grüße per SMS übermitteln. Dann wird R&B-Musik gespielt. Manche Hörer übermitteln Gedichte, meist Liebesgedichte mit Widmungen.

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treusten Fans belohnen.10 Nicht immer rufen Hörer an, die konkret jeman­

den grüßen wollen, mitunter wünschen sie nur ein gutes Wochenende etc.

Andere wiederum geben recht persönliche Botschaften kund, wie z.B. Lie­

besgrüße an eine bestimmte Person, oder bieten Entschuldigungen an.

Seit dem Boom der Handys gewinnen Quiz- und Call-in-Shows in Benin

mehr und mehr an Bedeutung Ein sehr verbreitetes Radioformat ist in dieser

Hinsicht eine Art Telefon-Beschwerden-Sendung (grogne matinal, >Morgen­

Wut<), in der Anrufer 90 Sekunden haben, um jeweils ein für die Gesell­

schaft relevantes aktuelles Problem ansprechen zu können, aber auch kriti­

sche Aussagen mit Bezug auf das Radioprogramm zu äußern.

Neue Formen von radiomedialer Nähe sind wie erwähnt nicht nur Er­

gebnis einer kulturellen und räumlichen Nähe zur lokalen Radioproduktion,

sondern beziehen sich zugleich auf persönliche Erfahrungen des Radiohö­

rens, die auch Sphären der Intimität erzeugen können. Diese Perspektive

folgt der Idee der Herstellung von Nähe als situierter Praxis und als ausge­

handelter Prozess, der über räumliche Aspekte hinausgeht und affektive Ele­

mente einschließt. In dieser Hinsicht erzeugen interaktive Radiosendungen

besondere Kommunikationsräume zwischen den Moderatoren und Hörern.

Diese werden vor allem in den derzeit landesweit erfolgreichen »Sentimental­

Programmen« deutlich, d.h. spät-nächtlichen interaktiven Radio-Shows, in

denen Probleme in intimen Beziehungen, Liebe, Eifersucht und Freundschaft

thematisiert werden. Die meisten von ihnen widmen sich Fragen der Part­

nerschaft oder Ehe, Sexualität, privaten Krisen und verschiedenen mora­

lischen Dilemmata, die in Form (anonymer) Briefe von Ratsuchenden den

Hörern vorgestellt werden, dann von den Moderatoren zusammen mit anru­

fenden Hörern ausführlich diskutiert werden. Diese Programme wurden um

das Jahr 2000 zunächst über den privaten Radiosender Golfe FM in Cotonou

und die öffentliche Rundfunkanstalt Radio Parakou ausgestrahlt. Anschlie­

ßend integrierten andere Stationen ähnliche Call-in-Shows in ihr Programm­

schema. Heute finden wir dieses Genre im ganzen Land, auch in kleineren

privaten und kommunalen sowie religiösen Radios, in Französisch und ver­

schiedenen Sprachen Benins. Die Moderatoren dieser Sendungen, überwie­

gend junge Männer und Frauen, zählen zu den angesehensten Mitarbeitern

ihrer Stationen. Manchmal kommt es vor, dass Moderatoren dieser Shows

10 Wichtig ist immer, alle Techniker, den Stationschef sowie örtliche Autoritäten zu grüßen.

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aufgerufen sind, auch bei privaten Problemen außerhalb der Sendungen zu

vermitteln, meistens bei Paarproblemen.

Diese Programme sind erfolgreich, weil sie moralische Probleme anspre­

chen, die bisher nicht Gegenstand einer offenen Debatte in Benirr waren und

nun massen-mediatisiert werden. Ihr Erfolg begleitet gewissermaßen die

Verbreitung von neuen und unabhängigen Radiosendern, im Zusammen­

hang mit einer zunehmenden Kompetenz der Moderatoren und Techniker,

sich die aktuellen Möglichkeiten der Radio-Technologien perfekt anzueig­

nen und ansprechende Programme entwickeln zu können, und wird gewiss

durch den neuen Handyboom erleichtert. Einige dieser Programme haben

besondere Fan-Clubs (wie Lumiere Nocturne, Tokpa FM, oder Carrefour des

Sentiments, Radio Parakou). Diejenigen, die nicht über ausreichende Mittel

verfügen, um anzurufen, verfolgen diese Sendungen dennoch aufmerksam

und diskutieren die entsprechenden Themen unter Gleichaltrigen und Kolle­

gen, auch Tage danach. Häufigste Hörer dieser Sendungen sind Städter zwi­

schen 20 und 45, vor allem Angestellte, Studenten, Handwerker oder Händ­

ler, meist in nicht gesicherten Positionen, oft losgelöst von größeren Fami­

lien, aber mit einem soliden Bildungsstand und Wünschen, sich individuell

zu verwirklichen und zugleich als Partner oder Eltern sozial respektiert zu

werden."

Viele befragte Stammhörer beschreiben die Gefühle im Zusammenhang

mit diesen Sendungen als »ergreifend«, »berührend<<, oder »bedrängend<<,

erwähnen Empfindungen der Empathie mit den Briefeschreibern oder Anru­

fern, bei traurigen Fällen aber auch Erregung und Zorn. Oft fühlen sich

Hörer persönlich betroffen, da sie Erfahrungen mit ähnlichen Problemen

haben, oder sehen diese als Ausdruck von >>Lektionen für das Leben<<, die

keine anderen Institutionen oder Medien des Landes anböten. Sie empfinden

die Programme z.T. auch als eine moralische Bildung. Hörer, die persönliche

Probleme in Form eines Briefes übermitteln, finden ein geeignetes Forum,

das sowohl einen öffentlichen als auch intimen Charakter annimmt, dank

der Anonymität, die sie wählen können. Zudem passt diese Art von Late­

Night Talk-Radioprogramm meinen Umfragen zufolge gut in den Tages­

rhythmus vieler Beniner, wenn sie bereits zu Hause, oft schon im Bett, ent-

11 Es gibt natürlich auch hier verschiedene andere Arten von Radiohörem, nach be­stimmten Routinen, Vorlieben, Bedürfnissen und Berufen; gezielt oder tagesbeglei­tend. Die oft vermittelte Vorstellung des kollektiven Radiohörens in größeren Ge­meinschaften rund um ein Empfangsgerät in Afrika ist eher die Ausnahme.

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spannen. Schließlich ist eines der wichtigsten Motive für das Einschalten

dieser Programme eine Vorliebe für bestimmte Moderatoren, die sie wie

persönliche Ratgeber betrachten.

Schließlich entstehen kulturelle Beziehungen der Nähe und Affinität

durch einen kritischen Dialog zwischen Medienproduzenten und ihrem

Publikum in Verknüpfung verschiedener Foren öffentlicher Kommunika­

tion12, der auch durch die Integration lokaler kultureller Initiativen in die

Sendeproduktion verstärkt wird.

In Djougou arbeitet z.B. der Radiosender RSFM Djougou mit zwei lokalen

Theatergruppen zusammen. Regelmäßig besucht diese ein Mitarbeiter des Radio­

senders, in der Regel einmal im Monat, der bei der Ausarbeitung eines für eine

nicht-visuelle Ausstrahlung geeigneten Szenarios hilft und ihre Darbietungen auf­

zeichnet. Im Studio wird er die Aufnahmen bearbeiten und später in der Sendung,

verpackt in Musikprogramme, angereichert mit weiteren Kommentaren und

Comedy-Spots, präsentieren. Ähnlich werden im Sender Noon Sina (Bembereke)

humoristische Sketche zu Alltagsthemen produziert, an die sich interaktive Dis­

kussionssendungen anschließen.

Die Produktion solcher Sendeformate ist aber sehr aufwändig. Es ist leich­

ter, vorproduzierte Sendungen von einem regionalen Zentrum aus zu sen­

den. Einige Sender wiederum versuchen bewusst, durch die Produktion von

Programmen in situ oder Direktübertragungen und Reportagen auch aus ent­

legenen Regionen in engen Kontakt mit ihren Hörern zu treten. Dabei wird

eine geschickte Integration lokaler Genres der mündlichen Kultur13 in die

12 Hier insbesondere zwischen Begegnungsöffentlichkeit, Publikumsöffentlichkeit und massenmedialer Öffentlichkeit (vgl. Merten 1999: 217f.; 235f.).

13 Der Erfolg der Radiosender in Afrika wird oft mit dem angeblich allein mündli­chen Charakter ihrer Programme erklärt. Merkmale der Oralität, die geschickte In­tegration und Nutzung einschlägiger Genres der mündlichen Literatur tragen ohne Zweifel dazu bei, den Erfolg von Radioprogrammen zu sichern. Allerdings greift diese Sicht zu kurz, da sie die vielfältigen Wechselwirkungen zwischen Mündlich­keil und Schriftlichkeil im Alltag, heute geprägt durch verschiedene Medien wie auch die allgemeine Beziehung zwischen Technologie und Gesellschaft, vernach­lässigt. Wir müssen zum einem einer schrift- und medienbeeinflussten »secondary orality» (Ong 2009), oder modernen Oralität (Schröder et al. 2002) Rechnung tra­gen, aber auch dem wachsenden Einfluss der IKT. Der Erfolg von Radiostationen beruht eher auf einer sinnvollen Kombination (hybrider und konvergenter) Me­dienformen: Anrufe, Briefe von Lesern, Zeitungsberichte, SMS usw. Radio in Afri­ka kann nicht als einfache Persistenz traditioneller Oralität durch neue technologi-

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tägliche Radioproduktion von vielen Hörern geschätzt, wenngleich diese

Fähigkeit individuell unterschiedlich ausgeprägt ist und keine kulturelle

Routine darstellt.

MEDIALE NÄHE ALS RESULTAT INDIVIDUELLER

SOZIO-TECHNISCHER ANEIGNUNG

Das Set-Up der genannten Progranune, ihre geschickte Präsentation sowie

die lebendige Beziehung zwischen Radiomoderatoren bzw. -technikern und

ihrem Publikum kann als eine Form gelebter Medienerfahrung (vgl. Spitul­

nik 2000) sowie als besondere Form kultureller Aneignung14 global zirkulie­

render Medientechnologien und Sendeformate durch junge Radioproduzen­

ten begriffen werden. Es ist vor allem die erwähnte neue Generation von

Radiomoderatoren, die trotz ihrer fragmentierten Ausbildung in der Lage

ist, ansprechende Sendungen ohne Oberflächlichkeit oder sensationelle Ef­

fekte zu produzieren (vgl. Abb. 2). Sie entwickeln wachsende technische

Fähigkeiten, z.B. die Vorteile der Mobiltelefonie und des Internets zu nut­

zen, um die Qualität und Attraktivität ihrer Sendungen zu verbessern. Für

viele Moderatoren sind diese Programme eine perfekte Art der sinnerfüllten

Selbstverwirklichung und zugleich ein Weg, ein Radiostar zu werden (wie

z.B. Stan le Doux, Radio Fraternite Parakou, Elronic, Arzeke FM, jeweils

Parakou; Stephanie Montchon, Tokpa FM, Tatiana Ahanda, Golfe FM,

Master T, Ocean FM, jeweils Cotonou), wenngleich sie, wie in den Inter­

views deutlich wurde, oft selbst von manchen persönlichen Geschichten der

Hörer berührt werden. Durch erfolgreiche Sendungen können Radiogestalter

öffentliches Ansehen15 gewinnen, das aber auch von ihrem sozialen

Verhalten ojj air abhängt.

sehe Mittel gesehen werden, sondern hat eine Vorgeschichte von Hörerfahrungen nationaler und internationaler Programme, die Radioproduktionen beeinflussen.

14 Im Anschluss an Silverstone et al. 1992; Spittler 2002; Hahn 2004. Der Vorteil von Begriffen wie Aneignung oder »domestication« (Silverstone 2006; Hartmann 2008; Berker et al. 2006) im Zusammenhang mit technologischem und medialem Wandel besteht in der Fokussierung auf Aktionen und Prozesse, die Entscheidun­gen, Praktiken und Strategien der Akteure in ihren sozialen und kulturellen Kon­texten analysieren (vgl. Grätz 2009).

15 Moderatoren nutzen meist Spitznamen bzw. Alias-Namen, wie z.B. Prince Cool, Tonton Ro, Stan le Doux, Rosymoh, Ia Tigresse, le Chevalier des ondes, etc. Mit-

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Abb. 2: Moderator Nourou Dine Yaou, Radio Solidarite FM Djougou, März 2008

Hierfür kann Moderan Soglohoun stehen. Er ist Radiomoderator für die Sprache

Adja im christlichen Sender Radio Maranatha in Parakou. Er ist Mitglied der

evangelischen Kirche Assemblees de Dieu in der er auch als Laienprediger wirkt.

Vor einigen Jahren absolvierte er einen Bibelkurs der deeper life-Gemeinschaft.

Moderan besitzt eine Werkstatt und ist Repräsentant einer Mobilfunkgesellschaft

in Parakou. Er betont, dass er in der Radiostation daher nicht aufgrund einer

möglichen Medienkarriere oder aufgrund möglicher Nebenverdienste arbeitet. Für

ihn stellt dies die Möglichkeit dar, seine >Gottesgabe< als guter Sprecher für die

christlichen Hörer der Region einzusetzen. Moderan hat inzwischen auch den Bau

einer kleinen Kirche neben seinem eigenen Anwesen im Stadtviertel Okedama von

Parakau finanziert. Moderan ist unter den Hörern von Maranatha gut bekannt,

da er auch ein Programm zu Fragen des Familienlebens, von Intimität, Partner-

unter wird dieser Name nur im Zusammenhang mit bestimmten Sendungen ver­wendet, z.B. für die oft lockere und spaßige Präsentation der Samstagabend-Mu­sikshow, der Tagesbegleitmoderationen oder einer Comedy-Sendung. Bei eher re­daktionellen bzw. Informationssendungen seriöser Art wird meist der Klarname verwendet. Viele Radiomitarbeiter tragen ihre Alias-Namen aber auch sichtbar, z.B. als Plakette an ihren Fahrzeugen.

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schuft und Ehe moderiert Von Zeit zu Zeit wenden sich auch Hörer außerhalb

der Sendungen mit persönlichen Problemen an ihn. Moderan erinnert sich an

einen konkreten Fal~ als ein Ehepaar kurz vor der Scheidung stand, die er aber

nach einer ganzen Reihe von Versöhnungsgesprächen, die er zusammen mit einem

Pastor seiner Kirche durchführte, abwenden konnte. Als Laienprediger sieht er

seine Arbeit im Sender als Beitrag zu einer »spirituellen Erneuerung« im Raum

Parakau (Parakou, 19.03.2009).

Radiomoderatoren nehmen ihre vielfältigen Alltagserfahrungen, zusammen

mit dem allgemeinen Feedback ihre Hörer, in die Sendegestaltung auf und

versuchen, nach Selbstaussagen vieler von ihnen, den Zuhörern in ihren

kommunikativen Bedürfnissen zu folgen. In einer umfassenderen Perspekti­

ve kann man jedoch argumentieren, dass sie eher dazu beitragen, durch

Radio-Shows und die anschließenden Prozesse ihrer Rezeption, neue Hörge­

wohnheiten und offene Diskursräume zu schaffen und teilweise bestimmte

Hörergruppen erst neu generieren anstatt nur medialen Bedürfnissen lokaler

Hörer-Gemeinschaften zu folgen. Diese Effekte der Aneignung von Radio­

Technologien sollten als ein dialogischer Prozess zwischen Hörern und Ra­

dioproduzenten betrachtet werden, mit verschwimmenden Grenzen dieser

Kategorien (hin zu einer teilweisen produsage radiomedialer Inhalte, vgl.

Bruns 2008), besonders im Hinblick auf interaktive Call-in-Shows, aber auch

in der Überschneidung der beiden Akteursgruppen in einer medienbiogra­

phischen Perspektive.

Jean Aguegue, 25, ist heute einer der wichtigsten Mitarbeiter des christlichen Sen­

ders Maranatha in Cotonou. Er arbeitet hier als Moderator, Journalist und Re­

porter, moderiert Gospel-Shows, Quizsendungen und spricht meist die 19 Uhr­

Nachrichten. Er selbst fing als leidenschaftlicher Hörer christlicher Sendungen an,

und gestaltete schon in der Oberschule Quizspiele bei öffentlichen Veranstaltun­

gen. Später begann er bei Maranatha als Praktikant, übernahm immer mehr Sen­

dungen und wurde hier schließlich zu einem festangestellten Mitarbeiter (Coto­

nou, 07.03.2010).

Im Fall der oben diskutierten Erfolgssendungen handelt es sich um keine

radiomediale Innovation. Call-in-Shows entstanden in den USA bereits in den

1940er Jahren (vgl. Schulz 1997; Bobbitt 2010), erlebten bis in die 1970er

einen großen Zuspruch und sind bis heute Teil der Programme vieler Sender

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rund um den Globus. 16 Es handelt sich um eine lokale Rekombination

(vgl. Schönherger 2007) global bestehender Medienpraxen, die von der Nut­

zung neuer Technologien bzw. -prozessen sozio-technischer Co-Production

(vgl. Oudshoom et al. 2003) beeinflusst wird. Die genannten Sendeformate

werden hier in Verbindung mit lokal relevanten Diskursen und Kommunika­

tionsformen angeeignet, umgewandelt und zu einer neuen Blüte geführt.

Diese Alleignungsprozesse sind in Benirr auch im Kontext eines medialen

Wettbewerbs um öffentliche Aufmerksamkeit und diskursive Autorität zu

sehen, vor allem in den wachsenden städtischen Zentren, wo auch neue

Gruppen von Hörern entstehen. Sie alle können mehr soziale Freiheiten im

Vergleich zu ländlichen Gebieten genießen, müssen sich aber im städtischen

Alltag immer wieder neu durchsetzen, und wollen zugleich eine sozial aner­

kannnte Position im Leben, einschließlich erfüllter familiärer- und Partner­

schaftsbeziehungen gewinnen. Diese Hörer teilen viele alltägliche Ungewiss­

heiten des städtischen Lebens, aber auch Informations- und Unterhaltsbe­

dürfnisse und entwickeln breite Medienrepertoires. Sie nutzen Medien kri­

tisch, selektiv, parallel und intervenieren selbst in Radioproduktionen, von

denen sie sich unmittelbar angesprochen und herausgefordert fühlen, enga­

gieren sich in Fan-Clubs und unterhalten vielfältige Bindungen zu anderen

Hörern (siehe oben), oft über ethnische, religiöse oder berufliche Grenzen

hinweg.

ZUSAMMENFASSUNG

Dimensionen radiomedialer Nähe in Benirr entstehen, unabhängig von der

Art des Senders, durch ein erfolgreiches Zusammenspiel attraktiver und

interaktiver Programme, fähiger Radioproduzenten und damit verbundene

16 Als relevanter Vergleichstext bietet sich eine ethnographische Studie zu Anrufer­sendungen in Berlin Ende der 1990er Jahre von John Flöth (2000) an. Auch hier werden individuelle Motive und Nutzungsformen sowie recht unterschiedliche Moderationsstile der Anrufersendungen als zugleich offener und persönlicher Kommunikationsraum deutlich, der vorwiegend als asymmetrisches Verhältnis zwischen Hörern und Moderatoren markiert wird. Aber auch hier entstehen in einigen Fällen Momente von Nähe sowie emotionaler Verbundenheit zwischen beiden Seiten, die jedoch im Gegensatz zum beninischen Fallbeispiel seltener off air verstärkt werden. Verschieden ist zudem auch die hier eher jüngere Alters­gruppe, der fehlende Einstieg über Hörerbriefe sowie die geringere Dominanz mo­ralischer Debatten.

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neue, in ihren virtuellen und direkten Dimensionen verschränkte Kommuni­

kationsräume auch jenseits von Radiosendungen selbst. In den entsprechen­

den Erfolgsgeschichten (also nicht bei allen Radiosendern), sind sie Resultat

der lokalen Aneignung globaler Medientechnologien und Sendeformate,

engen sozialen Kontakten zwischen Hörern und Medienproduzenten sowie

günstigen institutionellen Rahmenbedingungen. Erfolgreiche Radioprojekte

können eine »technogene Nähe« (Beck 2000) erzeugen; d.h. Interaktionen,

die über die technischen Mittel zur Übertragung radiomedialer Inhalte über

weit entfernte Orte vermittelt werden, bei denen die Zuhörer aber auch per­

sönliche Gefühle und Stimmungen mit Moderatoren und anderen Hörern

austauschen. Diese Intimität als eine besondere Art medial erzeugter Nähe

lässt nicht nur räumliche Distanzen in den Hintergrund treten, sondern wird

zu einem besonderen Modus, in dem sich neue Hörerfahrungen mit relevan­

ten Themen persönlicher Lebensführung und Krisenbewältigung verbinden.

Die wichtigsten Akteure sind in diesem Fall junge Medienproduzenten als

Mittler an der Schnittstelle zwischen globalen und lokalen Medienpraxen.

Wie das hier diskutierte Beispiel der Call-in-Shows zeigt, sind öffentliche

Kultur und Medienpraktiken in der Republik Benirr nicht durch feste lokale

kulturelle Systeme gekennzeichnet, in denen etwas Neues einfach einfließt,

angepasst und nur >kulturell lokalisiert< (vgl. Hepp 2006: 248) wird, sondern

durch permanente Aneignungen und Prozesse der Modifikation von Medien­

praxen gekennzeichnet. Die Verknüpfung globaler Medienflüsse mit lokalen

Sinnzuschreibungen in Benirr kann im Sinne Eisenstadts (2000) zudem als

Beispiel von multiplen und verbundenen Modernen (vgl. auch Friedman

1994; Meyer/ Geschiere 1999; Therborn 2003), als endloser reflexiver und

transformativer Prozess, der multiple lokale kulturelle Logiken und Bewe­

gungen einbezieht, beschrieben werden. Wir beobachten spezifische Nut­

zungsfarmen medialer Formate, die weltweit erfolgreich sind, aber nicht

ohne die Bedeutung verstanden werden können, die sie für lokale Akteure,

neue Hörergruppen und moralische Debatten im Kontext gesellschaftlicher

Veränderungen in Westafrika besitzen.

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