Dimensionen medialer Nähe am Beispiel des Radios in Benin TILO GRÄTZ EINLEITUNG Dieser Aufsatz geht Formen von Nähe nach, die im Kontext der Etablierung neuer Radiostationen und ihrer Sendungen in Westafrika generiert werden. 1 Mein Fallbeispiel ist die Republik Benin, wo es im letzten Jahrzehnt zu einem Aufschwung radiomedialer Produktion im Zusammenhang mit einer Medienliberalisierung und der Entstehung vieler neuer Radiosender gekom- men ist. Es wird vor allem medienbezogene Nähe in ihren verschiedenen Dimensionen betrachtet, einschließlich räumlicher, sozialer, affektiver und erfahrungsbezogener Aspekte. Der Aufsatz beschreibt in erster Linie das sich wandelnde Verhältnis zwischen Radioproduzenten und Radiohörern in Benin, vor allem in interaktiven Sendeforrnaten. Mediale Nähe wird dabei als Ergebnis der Verschränkung bzw. sozio-technischen Co-Produktion von Radio-Technologien und neuen Öffentlichkeiten (vgl. Grätz 2009) in Benirr betrachtet und in ihren lokalen Dimensionen und in Beziehung zu ähnlichen radiomedialen Prozessen in anderen Teilen der Welt diskutiert. Sie sind mit neuen Medienpraktiken und Prozessen der Mediatisierung (im Sinne von Krotz 2001) verbunden und führen zur Entstehung neuer Kommunikations- räume (vgl. Healey et al. 2007) in Benin. 1 Der Beitrag basiert auf Feldforschungen in Beninzwischen 2007 und 2010, geför- dert von der DFG. Bereitgestellt von | Freie Universität Berlin Angemeldet Heruntergeladen am | 09.03.18 22:33
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Grätz, Tilo 2012. Dimensionen medialer Nähe am Beispiel des Radios in Benin. In: Pablo Abend, Tobias Haupts und Claudia Müller (eds.): Medialität der Nähe. Bielefeld: transcript,
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Dimensionen medialer Nähe am Beispiel
des Radios in Benin
TILO GRÄTZ
EINLEITUNG
Dieser Aufsatz geht Formen von Nähe nach, die im Kontext der Etablierung
neuer Radiostationen und ihrer Sendungen in Westafrika generiert werden.1
Mein Fallbeispiel ist die Republik Benin, wo es im letzten Jahrzehnt zu
einem Aufschwung radiomedialer Produktion im Zusammenhang mit einer
Medienliberalisierung und der Entstehung vieler neuer Radiosender gekom
men ist. Es wird vor allem medienbezogene Nähe in ihren verschiedenen
Dimensionen betrachtet, einschließlich räumlicher, sozialer, affektiver und
erfahrungsbezogener Aspekte. Der Aufsatz beschreibt in erster Linie das sich
wandelnde Verhältnis zwischen Radioproduzenten und Radiohörern in
Benin, vor allem in interaktiven Sendeforrnaten. Mediale Nähe wird dabei
als Ergebnis der Verschränkung bzw. sozio-technischen Co-Produktion von
Radio-Technologien und neuen Öffentlichkeiten (vgl. Grätz 2009) in Benirr
betrachtet und in ihren lokalen Dimensionen und in Beziehung zu ähnlichen
radiomedialen Prozessen in anderen Teilen der Welt diskutiert. Sie sind mit
neuen Medienpraktiken und Prozessen der Mediatisierung (im Sinne von
Krotz 2001) verbunden und führen zur Entstehung neuer Kommunikations
räume (vgl. Healey et al. 2007) in Benin.
1 Der Beitrag basiert auf Feldforschungen in Beninzwischen 2007 und 2010, gefördert von der DFG.
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Für viele Kommentatoren aus dem Bereich der Entwicklungszusammenar
beit ist eine mediale Nähe (hier meist verstanden als kulturelle Nähe von
Medienproduzenten und -rezipienten) primär von der Lage eines Rundfunk
senders, der Struktur seiner Verwaltung im Modus der administrativen Par
tizipation (im Sinne von >Bürger<-Radios), der Nutzung einheimischer Spra
chen sowie den Empfangsmöglichkeiten abhängig. In dieser Hinsicht wer
den vor allem Community-Radiosender bevorzugt und mit der Idee eines
>Rundfunks für Entwicklung< verbunden. Hier wird aber davon ausgegangen,
dass durch diese formalen Kriterien eine Hörernähe des Radios in Afrika
nicht automatisch gegeben ist und zudem durchaus auch ein Merkmal vieler
privater Radiosender (in Benirr z.B. Tokpa FM oder Capp FM, jeweils Coto
nou) sein kann. Mediale Nähe hängt von einer Kombination aktiver Strate
gien sowohl von Produzenten und Radiohörern ab, um Nähe und Intimität
durch die Inhalte bestimmter Programme zu erzeugen; sowie sich wechsel
seitig verstärkende soziale Kontakte im Alltag zu unterhalten.
KONTEXT: MEDIENWANDEL IN BENIN
Der Rundfunk war in Benirr für viele Jahrzehnte die alleinige Angelegenheit
des Staates und der zentralen Sendeanstalt ORTB (Office de Radiodiffusion
et de Television du Benin). Die politischen Veränderungen nach 1990 führ
ten zu einer Medienliberalisierung (vgl. Adjovi 2001; Carlos/ Djogbenou
2005). In der Folge entstand eine erhebliche Vielfalt unabhängiger Zeitun
gen und neuer ländlicher Gemeinderadios (vgl. Grätz 2000, 2003). Im Jahr
1997 wurde ein neues Mediengesetz verabschiedet, das die Einrichtung un
abhängiger Radio- und TV-Stationen im Rahmen eines Lizensierungsverfah
rens durch die oberste, paritätisch besetzte Medienbehörde HAAC (Haute
Autorite de l'audiovisuel et de Ia Communication; vgl. Adjovi 2003b) er
möglichte. Heute gibt es ca. 70 Radiostationen, darunter private, kirchliche
und universitäre Sender. Besonders in städtischen Ballungsräumen wie Coto
nou-Porto-Novo oder Parakou bietet sich den Hörern ein facettenreiches An
gebot konkurrierender Informations- und Unterhaltungsprogramme. Der da-
2 Hörernähe ist über die hier diskutierten Dimensionen hinaus auch ein legitimierender Slogan vieler Programme von Geberorganisationen im Bereich der Medienentwicklung, vor allem in der Förderung kommunaler Radiostationen (Französisch Radios de proximite); für eine Kritik siehe Grätz 2010.
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raus resultierende Wettbewerb zwingt die Sender, attraktive Programme zu
entwickeln und Moderatoren zu fördern, die Anklang bei vielen Hörern fin
den.
In diesem Prozess der Transformation der Medienlandschaft ist eine
neue Generation von Medienakteuren entstanden. Bei ihnen erfolgte der Be
rufsstart oft ohne eine formale Medienausbildung, über Praktika und Zeit
verträge sowie Kooperationen mit verschiedenen Medieninstitutionen. In
zwischen haben viele dieser neuen Medienakteure aber umfangreiche Erfah
rungen gewonnen, präsentieren Nachrichten, politische Debatten oder Call
in-Shows. Einige wurden inzwischen lokale Radiostars oder sogar Direktoren
kleinerer Medienunternehmen. Besonders die jüngeren unter ihnen sind auf
verschiedenen Gebieten kreativer Medienproduktion tätig, kombinieren
Fähigkeiten z.B. aus Theater, szenischem Schreiben und Musikpräsentation
mit jenen der Radioproduktion.
Generell sind die Gehälter in den nichtstaatlichen Sendern aber niedrig
und die Arbeitsbedingungen schlecht; zusätzliche Vergütungen für Ausgaben
bei Reportagen und der Berichterstattung über aktuelle Ereignisse sind sel
ten. Folglich haben viele Journalisten Nebenjobs, arbeiten entweder als MCs
auf privaten oder öffentlichen Festen, in der Werbung, als Schauspieler oder
Pressereferenten für kleinere Unternehmen ohne eigene PR-Abteilung. Eini
ge von ihnen organisieren ihre Zeit zwischen zwei Jobs, z.B. als Lehrer und
Radiomoderator, oder arbeiten neben dem Job bei einem Radiosender in
der städtischen Verwaltung oder bei einer Zeitschrift. Einige Radiomodera
toren und -techniker sind zugleich Musikproduzenten oder Organisatoren
von Theatergruppen. Techniker führen häufig noch eine Werkstatt zu Hau
se, sind IT-Berater oder leisten technische Hilfe bei Veranstaltungen.3 Dies
kann für die Beteiligten stressbeladene Zeitpläne erzeugen, erhält ihnen
aber den engen Kontakt mit potentiellen Hörergruppen und den Einblick in
verschiedene Bereiche des alltäglichen Lebens.
3 Manche Journalisten versuchen, ihre Situation durch den Verkauf tendenziöser Berichte an Interessengruppen zu verbessern. Dies gilt insbesondere für Teile der Presse, vor allem in Wahlzeiten (vgl. Adjovi 2003a).
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DIMENSIONEN DER NÄHE
Im Hinblick auf den hier analysierten Bereich radiomedialer Produktion und
Rezeption in der Republik Benin, der als ein komplexes sozio-technisches
Ensemble (Bijker et al. 1992) verstanden wird, schlage ich vor, zwischen
drei potentiellen Dimensionen von Nähe zu unterscheiden. Zunächst besteht
hier eine physische oder räumliche Dimension, die durch die Lage der Rund
funkstationen in städtischen und ländlichen Regionen Afrikas markiert ist.
Die meisten Radiosender in Benirr befinden sich meist nahe im Wohnumfeld
der Hörer, sind nicht abgeschottet und vergleichsweise leicht zugänglich.
Zum zweiten ist die Dimension der persönlichen Beziehungen relevant,
die hier zum einen zwischen Radiogestaltern und ihren Hörern, zum ande
ren aber auch zwischen (Gruppen von) Radiohörern konstituiert wird. Diese
besitzt sowohl einen direkten kommunikativen Face-ta-Face-Aspekt, z.B. in
der Präsenz der Radiogestalter im Alltagsleben und ihren Interaktionen
außerhalb der Radiosendungen, als auch eine virtuelle4 oder radiotechnolo
gisch-vermittelte Dimension.
Schließlich lässt sich drittens, z.T. eng mit den erwähnten persönlichen
Beziehungen verbunden, bestimmen, inwiefern Radiosendeproduktionen zur
Generierung einer affektiven Nähe beitragen; vor allem im Hinblick auf die
sinnliche Gesamtheit der Erfahrung des Radiohörens, der individuellen Mo
tive, Gefühle und Folgen des Hörens sowie der aktiven Teilnahme an Radio
sendungen. Die Schaffung affektiver Erfahrungen des Radiohörens in enger
Interaktion mit den Radioproduzenten überschreitet die genannten räumli
chen Aspekte der Nähe und schließt eine persönliche, emotionale Beziehung
von Hörern zu Radiogestaltern ein, die Intimität erzeugen und durch direkte
Beziehungen verstärkt werden kann.
ASPEKTE RÄUMLICHER NÄHE
Radiostationen in Benirr sind nicht nur Orte der Medienproduktion, sondern
auch soziale Räume, die Produzenten und Hörer zusammenbringen. Dies gilt
4 Dieser Effekt evoziert natürlich eine Diskussion um die analytische Relevanz virtueller (Hörer-)Gemeinschaften, die im Rahmen dieses Textes jedoch nicht geführt werden kann.
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insbesondere für die PR-Abteilungen oder Empfangs- oder Eingangshallen
von Radiostationen. Hier treffen Besucher auf Radiomitarbeiter, wenn sie
Werbespots, Grüße oder Ankündigungen in Auftrag geben wollen, die später
in lokale Sprachen übersetzt und gesendet werden. Einige Besucher tauchen
auch spontan auf; sind neugierig, möchten Radioleute treffen. In kleineren
Radiosendern werden Besucher oft problemlos eingelassen, können die Stu
dioeinrichtungen besichtigen und Mitarbeiter sprechen, treffen andere
Hörer. Oft kommt es dazu, dass sie direkt als Studiogäste zu einer Sendung
eingeladen werden. Meist sind die zentralen Produktionsstudios Treffpunkte
für persönliche Freunde der Moderatoren, die Informationen übermitteln
oder CDs kopieren. Diese Besuche sind auch Gelegenheiten, sich über die
Programme und deren Qualität auszutauschen. Scheint ein Besucher seriös
und kommunikativ zugleich zu sein, so tauschen die Radio-Leute mit den
Besuchern Handynummern aus, um ihr Informationsnetzwerk zu vergrö
ßern, das nutzbar ist, wenn es um die Berichterstattung über lokale Ereig
nisse geht, bei denen aber der Journalist selbst nicht anwesend sein kann.
Radiostationen sind wichtige Anlaufpunkte in ihren Senderegionen, wo
raus die meisten Sender versuchen insofern Gewinn zu schlagen, als sie hier
Verkaufsstellen z.B. für CDs und DVDs, Broschüren oder traditionelle Medi
zin betreiben. Zum Teil schließt man mit Händlern Kommissionsverträge
über den Verkauf bestimmter Waren in der Station ab, die dann gleichzeitig
im Rundfunk beworben werden.
Eine solche räumliche Nähe ist jedoch vor allem in kleineren Orten nicht
ohne Risiko, wo Radioproduzenten im täglichen Leben der Gemeinde oder
des Stadtviertels sehr exponiert sind. Oft versuchen Lokalpolitiker sich in
die Angelegenheiten eines Senders einzumischen (vgl. Grätz 2000) und Mo
deratoren für ihre Ziele zu gewinnen. In vielen Fällen finden wir Konflikte
zwischen dem Stationsdirektor, den Mitarbeitern5 und den Mitgliedern des
Radio-Kuratoriums oder Vertretern der örtlichen Verwaltung. Im Fall Benins
5 Innerhalb einer Station oszillieren die Beziehungen der Mitarbeiter untereinander typischerweise zwischen Wettbewerb und Solidarität. Nach dem Dienst teilen Moderatoren und Techniker oft ihre Freizeit, laden sich gegenseitig zu privaten Festlichkeiten ein und geben sich oft emotionale Unterstützung, wenn es um persönliche Schicksalsschläge geht (vor allem in Fällen von Tod, Bestattung und der folgenden Trauerzeit). Umgekehrt finden wir kleinere In-Gruppen, z.B. der etablierten Moderatoren oder Journalisten, die ihre Position gegenüber Praktikanten verteidigen.
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führten solche Konflikte zur (temporären) Schließung von Stationen, so ge
schehen bei Radio Kandi (2007) und Radio Tanguü~ta (2010), wo Medienbe
hörden anschließend mit viel Mühe vermitteln mussten (vgl. Grätz 2010).
SOZIALE BEZIEHUNGEN ZWISCHEN
RADIOPRODUZENTEN UND HÖRERN
Eine typische Beobachtung während der Begleitung von Radiomoderatoren
in Benin: Die Menschen erkennen diese meist in der Öffentlichkeit, grüßen
sie, übermitteln ihnen ihre Beobachtungen oder Kritiken zu Programmen,
laden manchmal Radiomitarbeiter für ein Schwätzchen oder gar zu einer
privaten Party ein. Umgekehrt bauen Radioproduzenten auf ihre intensiven
Kontakte zu den Zuhörern, bei der Suche nach Partnern für Interviews, als
Studiogäste, wenn sie wichtige Hintergrundinformationen für ihre Nachrich
tensendungen oder finanzielle Unterstützung benötigen. Radioproduzenten
und ihr Publikum schenken sich gegenseitig öffentliches Ansehen.
Am 1.3.2010 besuchen die Moderatoren Prince Cool und Fande sowie der Tech
niker Riffe des Senders Nanto FM (Natitingou) abends Brigitte N'Da, 23. Sie ist
eine der treuesten Hörerinnen des Senders und ruft oft bei Diskussions- oder
Grußsendungen an. Sie hört sowohl die Freitagabend-Sentimental-Sendung, Quiz
sendungen als auch die Samstagabendmusikshows. Brigitte arbeitet als Kellnerin
in einer kleinen Kneipe und versucht so gut es geht allein klarzukommen, nach
dem ihr Mann sie und ihren kleinen Sohn vor einem Jahr verlassen hatte. Sie
hofft, bald mit einer Ausbildung als Sekretärin ihre Arbeitsmöglichkeiten zu ver
bessem Brigitte lud uns nach der vergangenen Samstagsabendsendung ein, be
grüßt uns freudig, bietet uns Getränke an und stellt uns ihren Sohn Bienvenu vor.
Später macht sie uns im Viertel mit anderen Hörern bekannt, die oft Radio Nanto
einschalten, aber im Gegensatz zu ihr aus mangelndem Selbstvertrauen oder dem
Scheuen der entsprechenden Ausgaben den Sender seltener anrufen. Einige ken
nen die Radiomitarbeiter bereits vom Sehen, von Reportagen, sind sichtbar er
freut, diese persönlich kennen zu lernen. Ikro hat eine der letzten Samstagabend
musik- und Grußshows von Nanto FM als MP3 Datei auf sein Mobiltelefon ko
piert, spielt diese nun Brigitte vor, gerade an jener Stelle, als sie selbst anrief und
mit dem Moderator plauderte. Später sagt Prince Coo~ dass so ein Besuch von
enormer Bedeutung für den Sender wäre. Obwohl sie natürlich gern eine Einla-
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dung auf ein paar Getränke annehmen, ist es einerseits zeitaufwendig, nach dem
Dienst im Sender noch ans andere Ende der Stadt zu fahreiL Andererseits wollen
sie mit ihrer Präsenz ihre Verbundenheit mit den Hörern zeigen, und >Idealfälle<
wie Brigitte auch als Vorbild treuer Hörerschaft dann präsentieren: Die Radiomo
deratoren werden Brigitte in vielen Sendungen griißen, auch wenn sie selbst keine
Grüße bestellt oder angerufen hat (Feldtagebuch, 02.03.2010).
Abb. 1: Radiojournalist Stephane Tankwanou, Radio Rurale Locale Tanguieta, März2010
Hörer kennen etliche Radiomitarbeiter auch durch ihre Anwesenheit wäh
rend der Berichterstattung über lokale Ereignisse, insbesondere bei Inter
views und Umfragen (vgl. Abb. 1).
Auch die erwähnte Tatsache, dass viele Moderatoren und Techniker
mehr oder weniger gezwungen sind, Nebentätigkeiten als MCs, in Werkstät
ten, als Lehrer oder Friseur etc. nachzugehen, trägt sowohl zu ihrer Sicht
barkeit im Alltagsleben, in Nachbarschatten und ihrer Nähe zu alltäglichen
Angelegenheiten ihrer Hörer (die sich von der Schule kennen etc.) bei. Viele
der jüngeren Radioproduzenten haben einen ähnlichen Lebensstil wie ihre
Zuhörer und versuchen, den Geschmack der Hörer, z.B. bei angesagten Mu-
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sikstilen zu treffen. Ihre Sendungen sind vor allem dann erfolgreich, wenn
sie sich flexibel auf Alltagsrhythmen der potenziellen Hörer einstellen, z.B.
durch eine besondere Programmgestaltung zu Markttagen und an Wochen
enden, sowie durch Unterhaltung und nutzbare Informationen. Letztere kön
nen nicht nur Ratschläge, Gesundheitstipps, Ankündigungen öffentlicher
oder privater Veranstaltungen, Dienstleistungen, Verlustanzeigen, Presse
schauen in mehreren Sprachen sondern auch Stellenangebote einschließen,
die sogar gesamte Programme ausfüllen können (z.B. Planete Emploi, Radio
Planete, Cotonou) und Kindersuchdienste.6 Sie müssen aber auch emotional
relevante Interaktionen, hier vor allem über Anrufersendungen, bieten.
Regelmäßige Anrufer in Talk-Shows des Senders Nanto FM in Natitingou befin
den sich in der Familie Vodoungbo. Sowohl der Vater Pierre als auch sein Sohn
Mathias rufen häufig im Sender an, oft unabhängig von den jeweiligen Sendungen
und ihren Themen, oft einfach nur, um die Radiomitarbeiter zu grilßen oder an
dere Hörer, die sie von verschiedenen Anrufersendungen her kennen. Ihre Ge
wohnheiten sind damit begrilndet, dass auf der einen Seite der Vater immer ein
leidenschaftlicher Radiohörer war. Er besitzt mehrere Radiogeräte und scheint
seine Vorliebe auch an andere Familienangehörige weitergegeben zu haben. Auf
der anderen Seite kostet sie das Anrufen gar nichts. Pierre, ein pensionierter An
gestellter der staadichen Telekom-Firma OPT, verfügt immer noch über einen ko
stenfreien Festnetzanschluss, der Teil seiner Privilegien aus dieser Tätigkeit ist Er
hat ein Parallelgerät in einem Raum auf dem Hof installiert, mit dem dann sein
Sohn Mathias, ein Maurer, unter Nutzung desselben Anschlusses telefoniert, wenn
immer es ihm möglich ist. Der gleiche Raum dient auch als Treffpunkt für Besu
cher und zum Verkauf von Gin, den die Familie aus dem Süden des Landes, wo
sie ursprünglich beheimatet war, bezieht Oft kommen hier die Radioleute auf ein
Glas und ein Plauderstündchen vorbei (Feldtagebuch, 27.02. 2010).
Viele Anrufer interaktiver Sendungen kennen die Moderatoren und sich un
tereinander bereits aus früheren Shows (und/ oder persönlich) und begrüßen
sich entsprechend.
Auch Hörervereine tragen zu einer besseren Position der Stationen im
Leben von Nachbarschaften bei. Diese Verbände bieten den Sendem nicht
6 Meist werden die entsprechenden Kinder zur Station gebracht und später dort von ihren Eltern oder einer Spezialeinheit der Polizei abgeholt.
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nur Beratung und Unterstützung, sie tragen oft dazu bei, bestimmte Shows
zu produzieren oder organisieren Feste. Einige der jüngeren Mitglieder die
ser Vereine, begeisterte Zuhörer, werden z.T. später auch selbst Radioprodu
zenten, wie verschiedene Beispiele zeigen. Hörerclubs helfen nicht nur, die
persönlichen Beziehungen zu Moderatoren und Technikern zu intensivieren,
sondern bieten auch häufig Unterstützung und finanzielle Hilfe an. Diese
Vereine können auch lose Netzwerke treuer Hörer repräsentieren, die sich
regelmäßig treffen, um vergangene Sendungen zu diskutieren und Themen
vorzuschlagen. Zusätzlich zum Hörerverein eines Radiosenders gibt es auch
zahlreiche Fanclubs nur für ein bestimmtes Programm, wie z.B. jener zur
Musiksendung Cuba Libre (Samstag von Rosymoh auf CAPP FM, Cotonou)
mit afro-kubanischer Musik, der regelmäßig Tanzabende organisiert.
Die meisten Radiosender mobilisieren die Radiovereine, wenn es um Ju
biläen, z.B. den Geburtstag ihrer Gründung geht, als einen Anlass der Stär
kung ihrer Beziehungen zu den Hörern. So veranstaltete der Sender Radio
Nanto in Natitingou im November 2008 aus Anlass seines fünfjährigen
Bestehens ein großes Volksfest mit Künstlern aus der Region und strahlte
spezielle Quiz-Wettbewerbe sowie Sondersendungen aus. Radio Tokpa in
Cotonou organisierte anlässlich seines 10-jährigen Jubiläums Mitte 2009
eine Abstimmung über Lieblings-Moderatoren in verschiedenen Kategorien,
eine Tombola und eine Geschenkfeier für sozial benachteiligte Hörer, gab
einen Dokumentarfilm in Auftrag, forderte auf, spezielle Songs zu kompo
nieren und organisierte schließlich ein öffentliches Popkonzert im größten
Stadium Cotonous. Viele Stationen bieten zudem regelmäßig Tage der offe
nen Tür, wo die örtlichen Bewohner die Station in größerem Umfang ent
decken können. Fan-Clubs und gesellschaftliche Ereignisse der genannten
Art sind nur ein Element, um Nähe zu generieren, deuten aber auf eine zu
nehmende Institutionalisierung von Medienerfahrungen und individuellen
Medienengagements hin.7
7 Oft wenden sich Hörer mit der Bitte um Unterstützung und Mediatisierung in persönlichen Problemlagen an Radiosender. So erhielt der Sender CAPP FM in Cotonou im November 2008 einen Brief, in dem ein Mitarbeiter der Zollverwaltung aus einem Dorf bei Porto-Novo um Unterstützung bat. Er berichtete von Angehörigen, die von Räubern im Grenzgebiet getötet wurden und beschuldigt hohe Staatsangestellte und Politiker, die angeblich Komplizen der Räuber wären. Er legte eine Liste von Unterstützern vor und wünscht ein Treffen mit den Radioleuten, um mehr Details preiszugeben.
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INTERAKTIVE RADIOSENDUNGEN, MEDIATISIERUNG
MORALISCHER PROBLEME UND FORMEN AFFEKTIVER
NÄHE
Die in den Anfangszeiten des unabhängigen Radios in Benin dominierenden
Gruß- und Wunschsendungen haben gegenüber anderen Formen von Anru
fersendungen mittlerweile etwas an Bedeutung abgenommen, sind aber ge
rade in einheimischen Sprachen nach wie vor sehr beliebt, da hier Hörer in
spielerisch-reziproker, wettbewerbsartiger Weise ihre Bekanntschaftsnetz
werke, in Vermittlung durch den sprachkundigen Moderator, medial immer
wieder neu knüpfen. Hier werden bestellte und bezahlte Grüße in Verbin
dung mit Musikwünschen abgearbeitet, gleichzeitig generieren die Sender
Einnahmen, da die Grüße mit (für den Auftraggeber minimalen) Kosten ver
bunden sind. Man kann entweder Grüße im Sender selbst, in den PR-Büros,
oder über die einzelnen Moderatoren, wenn man diese unterwegs trifft, in
Auftrag geben. Manche Hörer verzichten darauf, selbst einen Musiktitel zu
wählen, schreiben auf die Wunschkarte einfach nur, dass die Moderatoren
einen geeigneten Titel aussuchen sollen. Viele Sender haben zusätzliche An
laufste11en dafür eingerichtet. So steHt der Mechaniker und Teilzeit-Radia
moderator Moderan Soglohoun in Parakau seine Werkstatt auch als Anlauf
punkt für Hörer zur Verfügung, die Grüße abgeben wo11en. Sie ist zentral
gelegen und gut in der Stadt bekannt, der Wächter holt die entsprechenden
Formulare dann ab.8 Viele der Sender arbeiten mit sog. correspondents zu
sammen, die für Grußaufträge und Anzeigen einen Anteil- meist 10%- der
Einnahmen erhalten. Darüber hinaus werden inzwischen oft Sendungen aus
gestrahlt, bei denen nur SMS mit Grüßen verlesen werden. 9 Treue Hörer
werden aber auch dann gegrüßt, wenn sie selbst keine Grüße in Auftrag ge
geben haben oder von anderen gegrüßt wurden. Natürlich können die
Moderatoren selbst persönliche Freunde grüßen und über diesen Weg ihre
8 Für die Gruß- und Wunschsendungen hat man bei Maranatha auch günstige Monats-Abonnements eingeführt.
9 Douceur du soir ist ein erfolgreiches Sendeformat auf Radio Nanto in Natitingou. Es wird spätabends kurz vor Sendeschluss ausgestrahlt und verbindet sanfte Musik mit Grüßen. Derzeit wird die Sendung von Prince Cool präsentiert, der hier mit tiefer, ruhiger Stimme langsam Musikstücke ankündigt, Inhalte der Titel mitunter bespricht und dann Grüße ausgibt. Hörer können hier nicht selbst anrufen, aber ihre Grüße per SMS übermitteln. Dann wird R&B-Musik gespielt. Manche Hörer übermitteln Gedichte, meist Liebesgedichte mit Widmungen.
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treusten Fans belohnen.10 Nicht immer rufen Hörer an, die konkret jeman
den grüßen wollen, mitunter wünschen sie nur ein gutes Wochenende etc.
Andere wiederum geben recht persönliche Botschaften kund, wie z.B. Lie
besgrüße an eine bestimmte Person, oder bieten Entschuldigungen an.
Seit dem Boom der Handys gewinnen Quiz- und Call-in-Shows in Benin
mehr und mehr an Bedeutung Ein sehr verbreitetes Radioformat ist in dieser
Hinsicht eine Art Telefon-Beschwerden-Sendung (grogne matinal, >Morgen
Wut<), in der Anrufer 90 Sekunden haben, um jeweils ein für die Gesell
schaft relevantes aktuelles Problem ansprechen zu können, aber auch kriti
sche Aussagen mit Bezug auf das Radioprogramm zu äußern.
Neue Formen von radiomedialer Nähe sind wie erwähnt nicht nur Er
gebnis einer kulturellen und räumlichen Nähe zur lokalen Radioproduktion,
sondern beziehen sich zugleich auf persönliche Erfahrungen des Radiohö
rens, die auch Sphären der Intimität erzeugen können. Diese Perspektive
folgt der Idee der Herstellung von Nähe als situierter Praxis und als ausge
handelter Prozess, der über räumliche Aspekte hinausgeht und affektive Ele
mente einschließt. In dieser Hinsicht erzeugen interaktive Radiosendungen
besondere Kommunikationsräume zwischen den Moderatoren und Hörern.
Diese werden vor allem in den derzeit landesweit erfolgreichen »Sentimental
Programmen« deutlich, d.h. spät-nächtlichen interaktiven Radio-Shows, in
denen Probleme in intimen Beziehungen, Liebe, Eifersucht und Freundschaft
thematisiert werden. Die meisten von ihnen widmen sich Fragen der Part
nerschaft oder Ehe, Sexualität, privaten Krisen und verschiedenen mora
lischen Dilemmata, die in Form (anonymer) Briefe von Ratsuchenden den
Hörern vorgestellt werden, dann von den Moderatoren zusammen mit anru
fenden Hörern ausführlich diskutiert werden. Diese Programme wurden um
das Jahr 2000 zunächst über den privaten Radiosender Golfe FM in Cotonou
und die öffentliche Rundfunkanstalt Radio Parakou ausgestrahlt. Anschlie
ßend integrierten andere Stationen ähnliche Call-in-Shows in ihr Programm
schema. Heute finden wir dieses Genre im ganzen Land, auch in kleineren
privaten und kommunalen sowie religiösen Radios, in Französisch und ver
schiedenen Sprachen Benins. Die Moderatoren dieser Sendungen, überwie
gend junge Männer und Frauen, zählen zu den angesehensten Mitarbeitern
ihrer Stationen. Manchmal kommt es vor, dass Moderatoren dieser Shows
10 Wichtig ist immer, alle Techniker, den Stationschef sowie örtliche Autoritäten zu grüßen.
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aufgerufen sind, auch bei privaten Problemen außerhalb der Sendungen zu
vermitteln, meistens bei Paarproblemen.
Diese Programme sind erfolgreich, weil sie moralische Probleme anspre
chen, die bisher nicht Gegenstand einer offenen Debatte in Benirr waren und
nun massen-mediatisiert werden. Ihr Erfolg begleitet gewissermaßen die
Verbreitung von neuen und unabhängigen Radiosendern, im Zusammen
hang mit einer zunehmenden Kompetenz der Moderatoren und Techniker,
sich die aktuellen Möglichkeiten der Radio-Technologien perfekt anzueig
nen und ansprechende Programme entwickeln zu können, und wird gewiss
durch den neuen Handyboom erleichtert. Einige dieser Programme haben
besondere Fan-Clubs (wie Lumiere Nocturne, Tokpa FM, oder Carrefour des
Sentiments, Radio Parakou). Diejenigen, die nicht über ausreichende Mittel
verfügen, um anzurufen, verfolgen diese Sendungen dennoch aufmerksam
und diskutieren die entsprechenden Themen unter Gleichaltrigen und Kolle
gen, auch Tage danach. Häufigste Hörer dieser Sendungen sind Städter zwi
schen 20 und 45, vor allem Angestellte, Studenten, Handwerker oder Händ
ler, meist in nicht gesicherten Positionen, oft losgelöst von größeren Fami
lien, aber mit einem soliden Bildungsstand und Wünschen, sich individuell
zu verwirklichen und zugleich als Partner oder Eltern sozial respektiert zu
werden."
Viele befragte Stammhörer beschreiben die Gefühle im Zusammenhang
mit diesen Sendungen als »ergreifend«, »berührend<<, oder »bedrängend<<,
erwähnen Empfindungen der Empathie mit den Briefeschreibern oder Anru
fern, bei traurigen Fällen aber auch Erregung und Zorn. Oft fühlen sich
Hörer persönlich betroffen, da sie Erfahrungen mit ähnlichen Problemen
haben, oder sehen diese als Ausdruck von >>Lektionen für das Leben<<, die
keine anderen Institutionen oder Medien des Landes anböten. Sie empfinden
die Programme z.T. auch als eine moralische Bildung. Hörer, die persönliche
Probleme in Form eines Briefes übermitteln, finden ein geeignetes Forum,
das sowohl einen öffentlichen als auch intimen Charakter annimmt, dank
der Anonymität, die sie wählen können. Zudem passt diese Art von Late
Night Talk-Radioprogramm meinen Umfragen zufolge gut in den Tages
rhythmus vieler Beniner, wenn sie bereits zu Hause, oft schon im Bett, ent-
11 Es gibt natürlich auch hier verschiedene andere Arten von Radiohörem, nach bestimmten Routinen, Vorlieben, Bedürfnissen und Berufen; gezielt oder tagesbegleitend. Die oft vermittelte Vorstellung des kollektiven Radiohörens in größeren Gemeinschaften rund um ein Empfangsgerät in Afrika ist eher die Ausnahme.
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DIMENSIONEN MEDIALER NÄHE I 221
spannen. Schließlich ist eines der wichtigsten Motive für das Einschalten
dieser Programme eine Vorliebe für bestimmte Moderatoren, die sie wie
persönliche Ratgeber betrachten.
Schließlich entstehen kulturelle Beziehungen der Nähe und Affinität
durch einen kritischen Dialog zwischen Medienproduzenten und ihrem
Publikum in Verknüpfung verschiedener Foren öffentlicher Kommunika
tion12, der auch durch die Integration lokaler kultureller Initiativen in die
Sendeproduktion verstärkt wird.
In Djougou arbeitet z.B. der Radiosender RSFM Djougou mit zwei lokalen
Theatergruppen zusammen. Regelmäßig besucht diese ein Mitarbeiter des Radio
senders, in der Regel einmal im Monat, der bei der Ausarbeitung eines für eine
nicht-visuelle Ausstrahlung geeigneten Szenarios hilft und ihre Darbietungen auf
zeichnet. Im Studio wird er die Aufnahmen bearbeiten und später in der Sendung,
verpackt in Musikprogramme, angereichert mit weiteren Kommentaren und
Comedy-Spots, präsentieren. Ähnlich werden im Sender Noon Sina (Bembereke)
humoristische Sketche zu Alltagsthemen produziert, an die sich interaktive Dis
kussionssendungen anschließen.
Die Produktion solcher Sendeformate ist aber sehr aufwändig. Es ist leich
ter, vorproduzierte Sendungen von einem regionalen Zentrum aus zu sen
den. Einige Sender wiederum versuchen bewusst, durch die Produktion von
Programmen in situ oder Direktübertragungen und Reportagen auch aus ent
legenen Regionen in engen Kontakt mit ihren Hörern zu treten. Dabei wird
eine geschickte Integration lokaler Genres der mündlichen Kultur13 in die
12 Hier insbesondere zwischen Begegnungsöffentlichkeit, Publikumsöffentlichkeit und massenmedialer Öffentlichkeit (vgl. Merten 1999: 217f.; 235f.).
13 Der Erfolg der Radiosender in Afrika wird oft mit dem angeblich allein mündlichen Charakter ihrer Programme erklärt. Merkmale der Oralität, die geschickte Integration und Nutzung einschlägiger Genres der mündlichen Literatur tragen ohne Zweifel dazu bei, den Erfolg von Radioprogrammen zu sichern. Allerdings greift diese Sicht zu kurz, da sie die vielfältigen Wechselwirkungen zwischen Mündlichkeil und Schriftlichkeil im Alltag, heute geprägt durch verschiedene Medien wie auch die allgemeine Beziehung zwischen Technologie und Gesellschaft, vernachlässigt. Wir müssen zum einem einer schrift- und medienbeeinflussten »secondary orality» (Ong 2009), oder modernen Oralität (Schröder et al. 2002) Rechnung tragen, aber auch dem wachsenden Einfluss der IKT. Der Erfolg von Radiostationen beruht eher auf einer sinnvollen Kombination (hybrider und konvergenter) Medienformen: Anrufe, Briefe von Lesern, Zeitungsberichte, SMS usw. Radio in Afrika kann nicht als einfache Persistenz traditioneller Oralität durch neue technologi-
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tägliche Radioproduktion von vielen Hörern geschätzt, wenngleich diese
Fähigkeit individuell unterschiedlich ausgeprägt ist und keine kulturelle
Routine darstellt.
MEDIALE NÄHE ALS RESULTAT INDIVIDUELLER
SOZIO-TECHNISCHER ANEIGNUNG
Das Set-Up der genannten Progranune, ihre geschickte Präsentation sowie
die lebendige Beziehung zwischen Radiomoderatoren bzw. -technikern und
ihrem Publikum kann als eine Form gelebter Medienerfahrung (vgl. Spitul
nik 2000) sowie als besondere Form kultureller Aneignung14 global zirkulie
render Medientechnologien und Sendeformate durch junge Radioproduzen
ten begriffen werden. Es ist vor allem die erwähnte neue Generation von
Radiomoderatoren, die trotz ihrer fragmentierten Ausbildung in der Lage
ist, ansprechende Sendungen ohne Oberflächlichkeit oder sensationelle Ef
fekte zu produzieren (vgl. Abb. 2). Sie entwickeln wachsende technische
Fähigkeiten, z.B. die Vorteile der Mobiltelefonie und des Internets zu nut
zen, um die Qualität und Attraktivität ihrer Sendungen zu verbessern. Für
viele Moderatoren sind diese Programme eine perfekte Art der sinnerfüllten
Selbstverwirklichung und zugleich ein Weg, ein Radiostar zu werden (wie
z.B. Stan le Doux, Radio Fraternite Parakou, Elronic, Arzeke FM, jeweils
Master T, Ocean FM, jeweils Cotonou), wenngleich sie, wie in den Inter
views deutlich wurde, oft selbst von manchen persönlichen Geschichten der
Hörer berührt werden. Durch erfolgreiche Sendungen können Radiogestalter
öffentliches Ansehen15 gewinnen, das aber auch von ihrem sozialen
Verhalten ojj air abhängt.
sehe Mittel gesehen werden, sondern hat eine Vorgeschichte von Hörerfahrungen nationaler und internationaler Programme, die Radioproduktionen beeinflussen.
14 Im Anschluss an Silverstone et al. 1992; Spittler 2002; Hahn 2004. Der Vorteil von Begriffen wie Aneignung oder »domestication« (Silverstone 2006; Hartmann 2008; Berker et al. 2006) im Zusammenhang mit technologischem und medialem Wandel besteht in der Fokussierung auf Aktionen und Prozesse, die Entscheidungen, Praktiken und Strategien der Akteure in ihren sozialen und kulturellen Kontexten analysieren (vgl. Grätz 2009).
15 Moderatoren nutzen meist Spitznamen bzw. Alias-Namen, wie z.B. Prince Cool, Tonton Ro, Stan le Doux, Rosymoh, Ia Tigresse, le Chevalier des ondes, etc. Mit-
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DIMENSIONEN MEDIALER N ÄHE I 223
Abb. 2: Moderator Nourou Dine Yaou, Radio Solidarite FM Djougou, März 2008
Hierfür kann Moderan Soglohoun stehen. Er ist Radiomoderator für die Sprache
Adja im christlichen Sender Radio Maranatha in Parakou. Er ist Mitglied der
evangelischen Kirche Assemblees de Dieu in der er auch als Laienprediger wirkt.
Vor einigen Jahren absolvierte er einen Bibelkurs der deeper life-Gemeinschaft.
Moderan besitzt eine Werkstatt und ist Repräsentant einer Mobilfunkgesellschaft
in Parakou. Er betont, dass er in der Radiostation daher nicht aufgrund einer
möglichen Medienkarriere oder aufgrund möglicher Nebenverdienste arbeitet. Für
ihn stellt dies die Möglichkeit dar, seine >Gottesgabe< als guter Sprecher für die
christlichen Hörer der Region einzusetzen. Moderan hat inzwischen auch den Bau
einer kleinen Kirche neben seinem eigenen Anwesen im Stadtviertel Okedama von
Parakau finanziert. Moderan ist unter den Hörern von Maranatha gut bekannt,
da er auch ein Programm zu Fragen des Familienlebens, von Intimität, Partner-
unter wird dieser Name nur im Zusammenhang mit bestimmten Sendungen verwendet, z.B. für die oft lockere und spaßige Präsentation der Samstagabend-Musikshow, der Tagesbegleitmoderationen oder einer Comedy-Sendung. Bei eher redaktionellen bzw. Informationssendungen seriöser Art wird meist der Klarname verwendet. Viele Radiomitarbeiter tragen ihre Alias-Namen aber auch sichtbar, z.B. als Plakette an ihren Fahrzeugen.
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schuft und Ehe moderiert Von Zeit zu Zeit wenden sich auch Hörer außerhalb
der Sendungen mit persönlichen Problemen an ihn. Moderan erinnert sich an
einen konkreten Fal~ als ein Ehepaar kurz vor der Scheidung stand, die er aber
nach einer ganzen Reihe von Versöhnungsgesprächen, die er zusammen mit einem
Pastor seiner Kirche durchführte, abwenden konnte. Als Laienprediger sieht er
seine Arbeit im Sender als Beitrag zu einer »spirituellen Erneuerung« im Raum
Parakau (Parakou, 19.03.2009).
Radiomoderatoren nehmen ihre vielfältigen Alltagserfahrungen, zusammen
mit dem allgemeinen Feedback ihre Hörer, in die Sendegestaltung auf und
versuchen, nach Selbstaussagen vieler von ihnen, den Zuhörern in ihren
kommunikativen Bedürfnissen zu folgen. In einer umfassenderen Perspekti
ve kann man jedoch argumentieren, dass sie eher dazu beitragen, durch
Radio-Shows und die anschließenden Prozesse ihrer Rezeption, neue Hörge
wohnheiten und offene Diskursräume zu schaffen und teilweise bestimmte
Hörergruppen erst neu generieren anstatt nur medialen Bedürfnissen lokaler
Hörer-Gemeinschaften zu folgen. Diese Effekte der Aneignung von Radio
Technologien sollten als ein dialogischer Prozess zwischen Hörern und Ra
dioproduzenten betrachtet werden, mit verschwimmenden Grenzen dieser
Kategorien (hin zu einer teilweisen produsage radiomedialer Inhalte, vgl.
Bruns 2008), besonders im Hinblick auf interaktive Call-in-Shows, aber auch
in der Überschneidung der beiden Akteursgruppen in einer medienbiogra
phischen Perspektive.
Jean Aguegue, 25, ist heute einer der wichtigsten Mitarbeiter des christlichen Sen
ders Maranatha in Cotonou. Er arbeitet hier als Moderator, Journalist und Re
porter, moderiert Gospel-Shows, Quizsendungen und spricht meist die 19 Uhr
Nachrichten. Er selbst fing als leidenschaftlicher Hörer christlicher Sendungen an,
und gestaltete schon in der Oberschule Quizspiele bei öffentlichen Veranstaltun
gen. Später begann er bei Maranatha als Praktikant, übernahm immer mehr Sen
dungen und wurde hier schließlich zu einem festangestellten Mitarbeiter (Coto
nou, 07.03.2010).
Im Fall der oben diskutierten Erfolgssendungen handelt es sich um keine
radiomediale Innovation. Call-in-Shows entstanden in den USA bereits in den
1940er Jahren (vgl. Schulz 1997; Bobbitt 2010), erlebten bis in die 1970er
einen großen Zuspruch und sind bis heute Teil der Programme vieler Sender
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DIMENSIONEN MEDIALER N ÄHE I 225
rund um den Globus. 16 Es handelt sich um eine lokale Rekombination
(vgl. Schönherger 2007) global bestehender Medienpraxen, die von der Nut
zung neuer Technologien bzw. -prozessen sozio-technischer Co-Production
(vgl. Oudshoom et al. 2003) beeinflusst wird. Die genannten Sendeformate
werden hier in Verbindung mit lokal relevanten Diskursen und Kommunika
tionsformen angeeignet, umgewandelt und zu einer neuen Blüte geführt.
Diese Alleignungsprozesse sind in Benirr auch im Kontext eines medialen
Wettbewerbs um öffentliche Aufmerksamkeit und diskursive Autorität zu
sehen, vor allem in den wachsenden städtischen Zentren, wo auch neue
Gruppen von Hörern entstehen. Sie alle können mehr soziale Freiheiten im
Vergleich zu ländlichen Gebieten genießen, müssen sich aber im städtischen
Alltag immer wieder neu durchsetzen, und wollen zugleich eine sozial aner
kannnte Position im Leben, einschließlich erfüllter familiärer- und Partner
schaftsbeziehungen gewinnen. Diese Hörer teilen viele alltägliche Ungewiss
heiten des städtischen Lebens, aber auch Informations- und Unterhaltsbe
dürfnisse und entwickeln breite Medienrepertoires. Sie nutzen Medien kri
tisch, selektiv, parallel und intervenieren selbst in Radioproduktionen, von
denen sie sich unmittelbar angesprochen und herausgefordert fühlen, enga
gieren sich in Fan-Clubs und unterhalten vielfältige Bindungen zu anderen
Hörern (siehe oben), oft über ethnische, religiöse oder berufliche Grenzen
hinweg.
ZUSAMMENFASSUNG
Dimensionen radiomedialer Nähe in Benirr entstehen, unabhängig von der
Art des Senders, durch ein erfolgreiches Zusammenspiel attraktiver und
interaktiver Programme, fähiger Radioproduzenten und damit verbundene
16 Als relevanter Vergleichstext bietet sich eine ethnographische Studie zu Anrufersendungen in Berlin Ende der 1990er Jahre von John Flöth (2000) an. Auch hier werden individuelle Motive und Nutzungsformen sowie recht unterschiedliche Moderationsstile der Anrufersendungen als zugleich offener und persönlicher Kommunikationsraum deutlich, der vorwiegend als asymmetrisches Verhältnis zwischen Hörern und Moderatoren markiert wird. Aber auch hier entstehen in einigen Fällen Momente von Nähe sowie emotionaler Verbundenheit zwischen beiden Seiten, die jedoch im Gegensatz zum beninischen Fallbeispiel seltener off air verstärkt werden. Verschieden ist zudem auch die hier eher jüngere Altersgruppe, der fehlende Einstieg über Hörerbriefe sowie die geringere Dominanz moralischer Debatten.
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neue, in ihren virtuellen und direkten Dimensionen verschränkte Kommuni
kationsräume auch jenseits von Radiosendungen selbst. In den entsprechen
den Erfolgsgeschichten (also nicht bei allen Radiosendern), sind sie Resultat
der lokalen Aneignung globaler Medientechnologien und Sendeformate,
engen sozialen Kontakten zwischen Hörern und Medienproduzenten sowie