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Gottesdienst am 02.02.2014 in der evangelischen Kreuzkirche Reutlingen
Predigttext 1. Mose 8,1-12 Pfarrer Stephan Sigloch, Pfarramt Reutlingen, Kreuzkirche 3
I. Einleitung
Erinnern Sie sich an die Hysterie, die der Maya-Kalender vor
etwas mehr als einem Jahr ausgelöst hat, liebe Schwestern und
Brüder, liebe Gemeinde? Viele Menschen haben damit gerech-
net, dass am 21.12.2012 die Welt untergehen würde.
Drei Jahre zuvor hat der Film „2012“ viele Zuschauer im Kino
gefesselt, der an die Erwartung des Weltuntergangs anknüpft. In
dem Film werden beim Weltuntergang Menschen in „Archen“
evakuiert und natürlich ist alles ungeheuer dramatisch. Am Ende
des Films hat die Erde sich wieder beruhigt, ist doch nicht unter-
gegangen - und die Arche ist auf ruhigen Ozeanen unterwegs
nach Afrika, das verschont blieb … die Sonne scheint … die Arche
öffnet ihre Luken …
Wenn Ihnen Manches an dieser Geschichte bekannt vorkommt,
ist das keine Überraschung: Flut, Arche und einige, die gerettet
werden… Im April kommt nun sozusagen das Original in die
Kinos: „Noah“. Für diesen Film wird schon eifrig geworben – es
sind dramatische Bilder.
Aus der biblischen Geschichte von Noah und der Sintflut ein
Drehbuch zu schreiben, braucht Einiges an Phantasie. Denn – im
Unterschied zum Film – wird in der Erzählung, wie wir in 1. Mose
nachlesen können, nicht gesprochen. Einzig Gott kommt ein paar
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Mal zu Wort. Von Noah, seiner Familie oder gar den Zeitgenos-
sen … kein Ton!
II. Ur-Geschichten
Das kann daran liegen, dass am Anfang der Bibel einige Er-
zählungen überliefert sind, die uns Ur-Geschichten erzählen.
Urgeschichten erzählen von Erfahrungen, die wir Menschen
immer wieder machen. Die biblischen „Urgeschichten“ nehmen
große und grundlegende Fragen des menschlichen Lebens auf
und suchen – ver-suchen! – Antworten darauf:
Da ist zuerst die Erzählung von Adam und Eva, die trotz des
Verbotes Gottes vom „Baum der Erkenntnis“ essen, getrieben
von dem Misstrauen, Gott könnte ihnen etwas vorenthalten
wollen. Durch ihr Misstrauen, verlieren sie das Paradies (Gen 3).
Dem folgt die Geschichte von Kain und Abel - von Kain, der aus
Neid und Eifersucht seinen Bruder Abel umbringt –, die erzählt,
dass zwischen den Menschen Gewalt und Tod möglich ist, wenn
sie sich von Gott, dem Schöpfer, abwenden und der Finsternis, in
diesem Fall dem Neid und der Eifersucht, Raum lassen. Auch das
ein „Sündenfall“ (Gen 4).
Danach wird erzählt, was mindestens für unsere Ohren eine
ziemliche Herausforderung ist: Gott bereut, dass er die
Menschen geschaffen hat. „Das Trachten ihres Herzens“ (so
übersetzt Luther) – also das, wohin ihr Denken und Wollen und
Handeln sie ‚zieht‘, ist „nur böse immerdar“ (Gen 6,5, LÜ). Mit
anderen Worten: „Die Erde verdarb vor dem Angesicht Gottes, in
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dem Gewalt die Erde erfüllte“ (Gen 6,11, BigS). In solchen Sätzen
wird der Glaube an „das Gute im Menschen“ sehr grundsätzlich
in Frage gestellt – darum wehrt sich in uns beim Hören eine
ganze Menge, nicht wahr? Allerdings können wir aus der Ge-
schichte heraus diesem Urteil auch kaum grundsätzlich wider-
sprechen. Aber ich erzähle erst einmal diese Geschichte weiter –
und komme nachher noch einmal darauf zurück.
III. Die Sintflut
„Geh in die Arche“, sagt Gott zu Noah (Gen 7,1). Und er, seine
Familie und ein Paar von allen Tieren gehen hinein (Gen 7,7ff). Die
Sintflut beginnt – erzählt in bildhafter Sprache: „die Schleusen
des Himmels“ öffnen sich, „die Quellen der Tiefe brechen hervor“
(Gen 7,11): was Gott als Schöpfer „geordnet“ hat, indem er Wasser
und Land unterschied (Gen 1,6ff.9f), wird wieder vom vorsintflut-
lichen Chaos durcheinander gebracht.
Es regnet scheinbar endlos. 40 Tage lang. Und als es aufhört,
dümpelt die Arche auf dem Wasser, mitten im Chaos. Ich mag
mir gar nicht vorstellen, wie Noah sich gefühlt hat. Ob er in
diesem Kasten auf der Flut wirklich das Gefühl hat: Wir sind
gerettet? Sind sie da drin – wie es die Kinderbibeln beschreiben –
‚sicher und geborgen‘? Oder einfach nur allein und verlassen?
Wir verstehen diese elementare Geschichte spätestens dann,
wenn uns auch „das Wasser bis zum Hals“ steht. Wenn durch
eine Katastrophe unsere Welt in einem Chaos versinkt – nicht
nur bei einer Flut, in der Haus oder Stadt untergehen.
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Vor hundert Jahren, 1914, brach in Europa der „Große Krieg“
aus – mit unvorstellbarer Härte und Gewalt, ein unglaublicher
Schock für die Menschen, der Unzählige damals völlig trauma-
tisiert hat. Heute nennen wir diesen Krieg den „Ersten Welt-
krieg“, weil 25 Jahre später der nächste, noch weitaus brutalere
Krieg begann – viele von uns haben die Zeit noch selber erlebt.
Schwer zu fassen, dass wir Menschen aus der großen ersten
Katastrophe offenbar nichts gelernt haben. Wer könnte
angesichts dieser und vieler weiterer Kriege vorher und seitdem
leichthin behaupten, dass der alte Text mit der Feststellung, „das
Trachten des Menschen“ bringe Gewalt über die Erde -, wer will
behaupten, dass der alte Text Unrecht hat?
Und es gibt andere Katastrophenerfahrungen in unserem per-
sönlichen Leben, einer Sintflut vergleichbar - in der unsere Welt
untergeht, wir das Gefühl haben, hilflos im Chaos, in einer
Sintflut zu treiben, die alles um uns mit sich reißt und uns bis
zum Hals steht:
Wie viele erinnern den Verlust der Heimat und vertrauter
Menschen, der Eltern, des Partners, vielleicht sogar der eigenen
Kinder! Jeder einzelne Verlust eine Katastrophe…
Lebensentwürfe scheitern, wenn die Ehe scheitert, der Arbeits-
platz verloren geht, wenn das Leben sich vorrangig darum
drehen muss, irgendwie über die Runden zu kommen. Auch das:
Katastrophen!
Wie viele Jugendliche und junge Erwachsene haben keine
rechte Vorstellung davon, was sie mit ihrem Leben anfangen
sollen oder könnten – und sehen sich einer ‚Sintflut‘ von
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Möglichkeiten einerseits und schlechten Nachrichten anderer-
seits gegenüber: Einer Werbung, die alles verspricht, und einer
Lebenswirklichkeit, die weit weniger bietet. Dass Manchem
Internet und Computerspiele wie eine Arche im Chaos zu sein
scheinen, ändert nichts an der Tatsache: Wir schaffen es in
unserer Gesellschaft oft nicht, unseren Kindern eine Perspektive
zu bieten, der sie sich gewachsen fühlen, ihnen das Gefühl zu
geben, gebraucht zu werden. Für die Einzelnen gleicht auch das
einer Katastrophe.
In jeder Katastrophe steckt die Herausforderung, wieder einen
Anfang zu finden – irgendwo und irgendwie. Die Herausforde-
rung auch, nicht völlig zu verzweifeln und nicht alle Zuversicht
und völlig den Glauben zu verlieren – und (sozusagen) wieder ein
„Fenster zum Himmel“ aufmachen zu können.
An der Stelle setzt unser Predigttext ein – als die Arche auf dem
Wasser treibt, die Zeit vergeht und die in der Arche sicherlich
fragen: „Wie geht es jetzt weiter? Wir sind zwar nicht umgekom-
men in der Katastrophe, aber wir können ja auf Dauer auch nicht
in dieser Arche überleben“ – um tatsächlich zu leben, wieder
leben zu können und einen neuen Anfang zu finden, muss jede
Arche einen festen Platz finden, an dem sie zur Ruhe kommt -
und wir müssen hinaus treten können …
IV. Predigttext
Da dachte Gott an Noach und an all die Tiere, die bei ihm in der
Arche waren. Er ließ einen Wind über die Erde wehen, sodass das
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Wasser fiel. Er ließ die Quellen der Tiefe versiegen und schloss die
Schleusen des Himmels, sodass es zu regnen aufhörte. So fiel das
Wasser nach hundertfünfzig Tagen. Am 17. Tag des 7. Monats
setzte die Arche auf einem Gipfel des Araratgebirges auf. Das
Wasser fiel ständig weiter, bis am 1.Tag des 10. Monats die
Berggipfel sichtbar wurden.
Nach vierzig Tagen öffnete Noach die Dachluke, die er gemacht
hatte, und ließ einen Raben hinaus. Der flog so lange hin und her,
bis die Erde trocken war. Noach ließ auch eine Taube fliegen, um
zu erfahren, ob das Wasser von der Erde abgeflossen war. Sie
fand aber keine Stelle, wo sie sich niederlassen konnte; denn die
ganze Erde war noch von Wasser bedeckt. Deshalb kehrte sie zur
Arche zurück. Noach streckte die Hand aus und holte sie wieder
herein. Er wartete noch einmal sieben Tage, dann ließ er die
Taube zum zweiten Mal fliegen. Sie kam gegen Abend zurück und
hielt einen frischen Ölbaumzweig im Schnabel. Da wusste Noach,
dass das Wasser abgeflossen war. Er wartete noch einmal sieben
Tage, dann ließ er die Taube zum dritten Mal fliegen. Diesmal
kehrte sie nicht mehr zurück.
V. Drei „Themen“
Es sind drei „Themen“, die mich herausgefordert haben in der
Erzählung von der Sintflut und von Noah. – (1) Zunächst Noah in
der Arche. Sozusagen der „Arche-Typ“ eines Menschen in der
Krise. (2) Dann wird in dieser Geschichte von Gott erzählt – und
das, was von ihm erzählt wird, lohnt einen eigenen Blick.
Schließlich ist (3) noch die Frage von vorhin offen: Wie ist das mit
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„den Menschen“, von denen – auch nach der Sintflut noch! -
gesagt wird: „das Trachten des menschlichen Herzens ist böse
von Jugend auf“ (Gen 8,21)? Wie lässt sich das verstehen?
Zu diesen drei Punkten will ich jeweils noch ein paar Bemer-
kungen machen: Noah. Gott. Die Menschen.
VI. „In der Arche …“ – Noah (1) [zu Abschnitt VI. s.u. Literatur]
Ich habe es vorhin schon gesagt: Noah spricht in der ganzen
Erzählung kein Wort. Die Erzählung datiert präzise Anfang,
Scheitelpunkt und Ende der Flut, berechnet die Maße der Arche,
berichtet die Gedanken Gottes – aber nicht ein Wort von Noah.
Adam, Eva, auch die Schlange und Kain wussten in den ent-
scheidenden Momenten mehr zu sagen.
Ist das zustimmendes Schweigen? Verstummt er vor blankem
Entsetzen? Aus Angst, doch noch zu den Opfern zu zählen? Nach
der Flut könnte es „die Verzweiflung und Verlassenheit des
Davongekommenen sein, der überlebt hat und nicht weiß,
warum er und nicht die Freundin oder auch der Feind verschont
worden sind“ (Gertz, s.u. Literatur).
Viele nach Noah haben diese Frage gestellt, etwa mit Blick auf
Millionen von den Nazis ermordeter Juden - vergangenen Mon-
tag haben wir ihrer gedacht am Jahrestag der Befreiung des
Vernichtungslagers Auschwitz [27.01.]. Die ungarische Philosophin
Agnes Heller hat neulich in einem Interview gesagt: „Als Kind
hatte ich vier gute Freunde. Ich bin die Einzige, die den Holocaust
überlebt hat. Natürlich fühle ich mich deswegen schuldig“ (s.u.).
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Der rechtzeitig aus Deutschland emigrierte Erich Fried
formuliert […] so: „Wie oft muss ich sterben dafür, dass ich dort
nicht gestorben bin?“ (zitiert nach Gertz, s.u.).
Diese Frage gibt es auch im Horizont unserer Erfahrungen:
„Was habe ich getan, dass meine Söhne gesund sind, und das
Kind meines Bruders behindert? Warum habe ich Erfolg, und die
nicht weniger talentierte und fleißige Mitbewerberin sitzt auf der
Straße? Finden wir es mit Blick auf uns selbst gerecht, dass wir
alle in Frieden und in einem zumindest relativen Wohlstand
leben, während ein Großteil der Menschheit in Armut und Chaos
versinkt? Was berechtigt uns eigentlich zum seltenen Privileg
einer freiheitlichen Gesellschaft, das [z.B.] 1,3 Milliarden Chi-
nesen[, den Menschen in der Ukraine] und jetzt der Bevölkerung
in (Gertz 2011: Libyen oder im Iran [Syrien] mit offener Gewalt
vorenthalten wird? Vielleicht hat sich schon Noah diese Frage
nach der Schuld der Schuldlosen gestellt“!? (Gertz)
Zu Beginn habe ich den Film „2012“ erwähnt. Dort gelten
eindeutige Kriterien dafür, wer in die Arche kommt: Diejenigen,
die durch ihre wissenschaftlichen Fähigkeiten oder durch ihre
Gene die Zukunft sichern können, und die, die den Bau der Arche
finanzieren. „Im Klartext: die Superschlauen, die Superschönen,
die Superreichen“ (Gertz). Bei Noah ist diese Frage – wie oft bei
uns auch - eine schmerzlich offene Frage …
Mich beschäftigt bei Noah noch mehr – manches wird ja sehr
symbolträchtig erzählt: Während der Flut bleibt die Arche fest
verschlossen. Sogar das Fenster zum Himmel ist dicht, solange
das Chaos tobt. Wäre es nicht tröstlich, wenn es während der
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Katastrophe einen Kontakt zwischen Gott und Noah gäbe? Denn
erst als der Kasten schließlich – so wörtlich im Hebräischen –
„Ruhe“ findet auf dem Gebirge, zeigt sich: Noah ist nicht völlig
verzweifelt.
Merk-würdig eigentlich. Denn: In der Arche bleibt ihm ja nichts,
außer Warten, Hoffen und vielleicht Beten – auch wenn er
vermutlich zeitweise das Gefühl hat: Gott hat uns vergessen. Und
manchmal ein Gespräch mit vertrauten Menschen. Seine große
Aufgabe ist es, nicht zu verzweifeln … bis die Wende eintritt und
es heißt: „Da gedachte Gott an Noah …“ (Gen 8,1).
Als die Wassermassen zurückgehen, da kann er wieder aktiv
werden: So, wie er sich auf die Katastrophe vorbereitet hat, so
bereitet er nun den Weg zurück in ein sich normalisierendes
Leben vor: Er wartet nicht nur ab, er tut, was er kann. Noah ist
für mich auch ein Beispiel dafür, dass wir in und nach den Krisen
unseres Lebens unsere „Vögel“ fliegen lassen müssen, wenn wir
endlich einmal wieder einen frischen, grünen Ölzweig in den
Händen halten wollen.
Dass es diesen grünen Zweig gibt, dass er schließlich wieder
„auf einen grünen Zweig kommt“, das bringt uns zum zweiten
Punkt – zu der Beobachtung, wie in diesen Kapiteln von Gott
erzählt wird.
VII. Gott ändert sich! (2)
Zunächst erzählt die alte Geschichte, dass Gott enttäuscht ist,
frustriert und zornig. Er bereut, dass er die Menschen geschaffen
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hat. Und will in seinem Zorn alles zerstören. Ein durch und durch
menschlicher Gedanke – Mancher wird sich darin selber erken-
nen: Da wollen wir etwas machen, etwas bauen vielleicht - und
wollen es gut machen. Aber es will nicht gelingen … und irgend-
wann ist unsere Geduld zu Ende und wir zerstören zornig, was
wir angefangen haben, weil es nicht so wird, wie wir es uns
vorstellen.
Auch bei Kindern habe ich das schon beobachtet: wenn es
nicht gelingt, aus Legosteinen oder aus Bauklötzen ein besonders
schönes Haus zu bauen – dann kann es passieren, dass so ein
„kleiner Baumeister“ zornig die Nerven verliert und alles wieder
über den Haufen wirft.
Wir lesen aber auch, dass Noah „Gnade findet vor dem Herrn“
(Gen 6,8 LÜ). Karl Barth hat deswegen Noahs Lebensgeschichte als
ein Thema der „Lehre von der »Vollkommenheit« der göttlichen
Geduld“ verstanden (KD II/1, 464f) und es also „vor Allem […] um
Gott selber [geht], der mit dieser Kreatur noch nicht fertig ist, der
mit ihr weiter zusammen sein und weiter an ihr handeln will, der
also, indem er ihr das Leben läßt, sich selber Raum schafft für
das, was er in seinem Verhältnis zu ihr [zukünftig] sein und tun
will“ (a.a.O.).
Nach der Sintflut schließt Gott einen Bund: „Ich gebe euch die
feste Zusage: „Ich will das Leben nicht ein zweites Mal vernich-
ten. Die Flut soll nicht noch einmal über die Erde herein
brechen. Das ist der Bund, den ich für alle Zeiten mit euch und
mit allen lebenden Wesen bei euch schließe. Als Zeichen dafür
setze ich meinen Bogen in die Wolken. Er ist der sichtbare Garant
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für die Zusage, die ich der Erde mache. Jedes Mal, wenn ich
Regenwolken über der Erde zusammenziehe, soll der Bogen in
den Wolken erscheinen, und dann will ich an das Versprechen
denken, das ich euch und allen lebenden Wesen gegeben habe“
(Gen 9,11-15).
Der Regenbogen ist das Zeichen für diesen Bund und erinnert
nicht nur uns: Gott macht sich sozusagen einen Knoten ins
Taschentuch, damit auch er diesen Bund nicht vergisst, dass
über allem Zukünftigen, auch über allen Katastrophen dieser
tröstliche Satz vom Anfang unseres Predigttextes stehen kann:
„Da gedachte Gott an Noah …“ – denn Gott schließt diesen Bund
mit Noah und seinen Söhnen und allen ihren Nachkommen (Gen
9,8), und nach der Sintflut heißt das natürlich: Mit allen
Menschen!
Dass dieser Bund allen Menschen gilt, ist merkwürdig. Denn
nach der Sintflut sagt Gott (als Noah ihm ein Opfer bringt) „zu
sich selbst: »Ich will die Erde nicht noch einmal bestrafen, nur
weil die Menschen so schlecht sind! Alles, was aus ihrem Herzen
kommt, ihr ganzes Denken und Planen, ist nun einmal böse von
Jugend auf.“ (Gen 8,21f GNB). Das klingt, wie es vor der Sintflut
klang.
Trotzdem verspricht er: „Ich will nicht mehr alles Leben auf der
Erde vernichten, wie ich es getan habe. Von jetzt an gilt, solange
die Erde besteht: Nie werden aufhören Saat und Ernte, Frost und
Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht«“ (Gen 8,21f GNB).
Ist das nicht merkwürdig: nach der Sintflut kommt Gott zu
demselben Urteil über die Menschen wie davor. Aber nun ist es
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kein vernichtendes Urteil mehr – sondern Gott schließt einen
Bund: Er ist nicht mehr der Zerstörer, sondern der Bewahrer.
Und das heißt: Gott ändert sich! Er ändert sich, um seine
Schöpfung als sein Gegenüber zu erhalten. Die Bibel endet nicht
nur mit einem barmherzigen Gott, sie beginnt im Grunde bereits
damit – mitten in einer Umwelt, der solche Gedanken absolut
fremd sind. Kann uns da noch wundern, dass er schließlich – für
uns! – in Christus Mensch geworden ist?
VIII. „Zu viel des Guten …“
Damit sind wir beim letzten Punkt: Wie ist das jetzt bei uns
Menschen mit „gut“ und „böse“, mit „gut oder böse“? Sind wir
Menschen „böse von Jugend an“? Ist das nicht eine Über-
treibung? Doch. Auch: „Urgeschichten übertreiben immer“ – um
unsere Wirklichkeit zu ihrer Wahrheit zu bringen (Jüngel).
Ich will dazu nur noch kurz – aber deutlich – zweierlei sagen:
Wer „das Gute im Menschen“ behauptet, wird zugestehen
müssen, dass dieses „Gute“ auf jeden Fall nicht „einfach so“ da
ist – es gibt zu viele furchtbare Beispiele in der Geschichte und in
der Zeitung, wozu Menschen bereit und fähig sind. Wir müssen
also der Frage auf der Spur bleiben: Wodurch lässt es sich för-
dern und entwickeln, was braucht es, dass Menschen Mitgefühl,
Rücksichtnahme, Barmherzigkeit und ein Gespür für Gerechtig-
keit entwickeln und nicht gewissenlos werden?
Trotzdem ist, unabhängig davon, natürlich die Frage absolut
berechtigt: ‚Geschieht denn nicht viel Gutes auf unserer Erde?‘
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‚Und gibt es nicht noch viel mehr guten Willen? Wollen wir nicht
das Gute und sogar das Beste aus unserer Welt herausholen?‘
Doch … aber leider meistens für uns selber. Ja, genau genommen
wollen wir des Guten zu viel und wir wollen es für uns. Mit
bitteren Konsequenzen: „… wer immer nur das Beste aus dem
Menschen und seiner Umwelt herausholen will, [für den wird
alles – Mitmenschen und Umwelt –] zum bloßen Material. Damit
beginnt auch schon die Geschichte des Bösen“ (Jüngel).
Der Ausdruck „Menschenmaterial“ gibt ein übles Beispiel,
hinter dem wir ahnen, was ich gerade andeute. Manchmal sagt
jemand zu einem anderen Menschen: „Ich will doch nur dein
Bestes“ – höchste Zeit zu antworten: „Du bekommst es aber
nicht!“
Und warum? Damit nicht eine Sintflut hereinbricht. Denn: Wo
alles zum bloßen Material eines anderen wird, hat nichts und
niemand mehr eigenständige Bedeutung oder einen selb-
ständigen Wert. So verliert Gottes Schöpfung ihren Reichtum an
Gestalten und Farben (Jüngel) … als wäre alles unter einer mono-
tonen, gleichförmigen Wasserflut. Hitler nannte es „Gleich-
schaltung“. Mao verpasste allen Chinesen einheitliche Kleidung
… Sie ahnen, was ich meine.
Es ist aber auch unsere Geschichte, „im Kleinen“ unseres
Alltags: Das Böse entsteht, wo wir „des Guten zu viel“ wollen
und es nur für uns selber wollen. Was aber Gott Noah und
seinen Söhnen nach der Sintflut in einem Segen zuspricht - „der
Mensch ist nach dem Bild Gottes geschaffen“ (Gen 9,6) – das erfüllt
sich, wo wir nicht zulassen, dass dieses Böse, das „Zu-viel-des-
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Guten“ uns überflutet: Dieses Böse findet seine Grenze, wo wir
uns von Gott in unserem Wollen und Trachten begrenzen lassen
– und wo wir das Gute, das wir tun können, füreinander tun.
Amen.
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Abkürzungen
LÜ - Lutherbibel (1984)
BigS - Bibel in gerechter Sprache (2006)
KD - Karl Barth, Kirchliche Dogmatik
GNB - Gute Nachricht Bibel (1997)
Literatur
Abschitt VI. folgt teilweise einer Predigt von Prof. Dr. Jan Christian Gertz am
30.01.2011 im Universitätsgottesdienst in Heidelberg - http://www.theologie.uni-
heidelberg.de/universitaetsgottesdienste/3001_ws2011.html
Agnes Heller, in: Süddeutsche Zeitung Magazin, 04/2014, nachzulesen unter
http://sz-magazin.sueddeutsche.de/texte/anzeigen/41471/Der-Sinn-des-Lebens-ist-zu-
leben
Den Hinweis auf Karl Barth (Abschnitt VII.) verdanke ich der Predigtmeditation von
Michael Glöckner im Deutschen Pfarrerblatt 12/2013,
http://www.pfarrerverband.de/pfarrerblatt/dpb_print.php?id=3524
Den Grundgedanken in Abschnitt VIII. habe ich gefunden in der Predigt von
Eberhard Jüngel zu 1. Mose 8,1-12 (in „Unterbrechungen“, München 1989).