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Chemie lngenieur Technik (69) 1+2 I97 5. 44-54 0 VCH Verlagrgerellrchaft rnbH, 0-69469 Weinheim, 1997 0009-286W970102-0044$10.00+.25/0 Glanz und Elend technischer Prognosen* ORTWIN RE"** Im Berufs- wie im Alltagsleben sind Menschen auf Technik angewiesen. Ohne Eingriffe in die Natur auf der auRer Kraft setzen. Aus diesem Grunde kann eine Abschatzung der Folgen von Technik auch nicht eine The Bright and the Dark Sides of Technological Forecasting People depend upon technology, at work and in everyday life. Without Basis von Organisation und Technik Vorwegnahme aller negativer organisational and technological inter- ware es der Menschheit unmoglich, die bis heute erzielte Siedlungs- dichte sowie den ethischen Auswirkungen, nicht einmal die Sicherheit einer positiven Kosten- Nutzen-Bilanz versprechen. vention in nature humankind never have been able to maintain the population densities encountered today or uphold an ethical claim to an individual livelihood in dignity. At the same time, however, technology Anspruch auf individuellen Lebens- Vielmehr ist es die Aufgabe der erhalt in menschendrdigen Technikfolgenabschatzung, zunachst creates new risks. The extent to which Umstkden aufrechtzuerhalten. Gleichzeitig schafft die Nutzung von Technik aber auch neue Risiken. Inwieweit die entstehenden Risiken durch den e d n s c h t e n Nutzen die potentiellen Folgen positiver wit? negativer Art nach methodisch bestem Wissen zu erschliefien und auf der Basis dieser Kenntnisse die Moglichkeiten von Modifikationen the risks arising are balanced by the desired benefits often evades predic- tion since many consequences of the application of technology are uncertain and are also judged ambivalently by the PerSOnS affected. Forecasts Can only predict probable or possible developments, but cannot overcome the genuine uncertainty surrounding ausgeglichen werden, last sich oft im voraus nicht bestimmen, da viele und Einfiihrungsbedingungen mit den Technikentwicklern und Folgen des technischen Einsatzes unsicher sind und bei der Bewertung durch die betroffenen Menschen auch ambivalent beurteilt werden. Prognosen konnen nur wahrschein- liche oder mogliche Entwicklungen voraussagen, aber die genuine UngewiRheit der Zukunft nicht Techniknutzern abzustimmen. Dazu sind im wesentlichen diskursive Verfahren geeignet, bei denen Wissenschaftler, Hersteller, Nutzer und andere Betroffene gemeinsam die Aufgabe der Bewertung von moglichen Folgen vornehmen miissen. the future. For this reason assessment of the consequences of technology cannot reveal all negative effects, or even promise the certainty of a positive cost-benefit balance. Instead, it is the task of assessment of the consequences of technology to initially establish the potential positive and negative consequences according to the best available knowledge and on the basis thereof to harmonize the possibilities of modifications and conditions of introduction with the developers and users of technology. The most suitable approach utilizes discursive procedures in which scien- tists, manufactures, users, and other affected persons together have to assess the possible consequences. 1 Einleitunn handeln wir uns ein, wenn wir Technik einsetzen? Wo be- - freit uns die Technik von Zwangen des Alltags und wo spannt sie uns in ein neues Korsett von Abhangigkeiten und Lebensrisiken ein? Wie sollte eine Technik aussehen, die wirtschaftlich vorteilhaft, risikoarm und okologisch ver- traglich ist? Gibt es so etwas iiberhaupt? Auf all diese Fragen Unser heutiges Leben ist weitgehend durch Technik be- stimmt. Vom Klingeln des Weckers bis zum Einschlafen vor dem Fernseher, vom Fahrradausflug bis zur Auto- oder S-Bahn- Fahrt zur Arbeit, von der Bereitung von Spei- sen bis zur Produktion von Giitern und Dienstleistungen, von Sportdarbietungen bis zur vollautomatischen Kegel- ... . ,___. _. .. ..__, . . .. . ,.__, __. , . , .. ,, ,,. . ,, .. .. ... . .. .. . . .. . . ..... ... . , _._. . .. ..... . . ... .. .. . . ... . .. .. . .. .. . . bahn, es gibt keinen Lebensbereich des Menschen, in * Vortrag auf der Sonderveranstaltung des Jahrestreffens der Verfahrensingenieure dem die Technik keine Rolle spielt. Der Mensch ist notge- am 25. Sept. 1996 in Dortmund. drungen auf Technik angewiesen. Aber die Frage bleibt: * * Prof. Dr. 0. RE". Akademie fur Technik- folgenabschatzung in Baden-Wiirttemberg, Wieviel Technik mu13 es sein und welche Vor- und Nachteile IndustriestraRe 5, D-70565 Stuttgart
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Glanz und Elend technischer Prognosen

Apr 08, 2023

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Page 1: Glanz und Elend technischer Prognosen

Chemie lngenieur Technik (69) 1 + 2 I 9 7 5. 44-54 0 VCH Verlagrgerellrchaft rnbH, 0-69469 Weinheim, 1997

0009-286W970102-0044 $10.00+.25/0

Glanz und Elend technischer Prognosen* O R T W I N R E " * *

Im Berufs- wie im Alltagsleben sind

Menschen auf Technik angewiesen.

Ohne Eingriffe in die Natur auf der

auRer Kraft setzen. Aus diesem

Grunde kann eine Abschatzung der

Folgen von Technik auch nicht eine

The Bright and the Dark Sides of Technological Forecasting

People depend upon technology, at work and in everyday life. Without

Basis von Organisation und Technik Vorwegnahme aller negativer organisational and technological inter-

ware es der Menschheit unmoglich,

die bis heute erzielte Siedlungs-

dichte sowie den ethischen

Auswirkungen, nicht einmal die

Sicherheit einer positiven Kosten- Nutzen-Bilanz versprechen.

vention in nature humankind never have been able to maintain the population densities encountered today or uphold an ethical claim t o an individual livelihood in dignity. At the same time, however, technology

Anspruch auf individuellen Lebens- Vielmehr ist es die Aufgabe der

erhalt in menschendrdigen Technikfolgenabschatzung, zunachst creates new risks. The extent to which Umstkden aufrechtzuerhalten.

Gleichzeitig schafft die Nutzung von

Technik aber auch neue Risiken.

Inwieweit die entstehenden Risiken

durch den ednsch ten Nutzen

die potentiellen Folgen positiver wit?

negativer Art nach methodisch

bestem Wissen zu erschliefien und

auf der Basis dieser Kenntnisse die

Moglichkeiten von Modifikationen

the risks arising are balanced by the desired benefits often evades predic- tion since many consequences of the application of technology are uncertain and are also judged ambivalently by the PerSOnS affected. Forecasts Can only predict probable or possible developments, but cannot overcome the genuine uncertainty surrounding

ausgeglichen werden, last sich oft

im voraus nicht bestimmen, da viele

und Einfiihrungsbedingungen mit

den Technikentwicklern und

Folgen des technischen Einsatzes

unsicher sind und bei der Bewertung

durch die betroffenen Menschen

auch ambivalent beurteilt werden.

Prognosen konnen nur wahrschein-

liche oder mogliche Entwicklungen

voraussagen, aber die genuine

UngewiRheit der Zukunft nicht

Techniknutzern abzustimmen. Dazu

sind im wesentlichen diskursive

Verfahren geeignet, bei denen

Wissenschaftler, Hersteller, Nutzer

und andere Betroffene gemeinsam

die Aufgabe der Bewertung von

moglichen Folgen vornehmen

miissen.

the future. For this reason assessment of the consequences of technology cannot reveal all negative effects, or even promise the certainty of a positive cost-benefit balance. Instead, it is the task of assessment of the consequences of technology t o initially establish the potential positive and negative consequences according to the best available knowledge and on the basis thereof t o harmonize the possibilities of modifications and conditions of introduction with the developers and users of technology. The most suitable approach utilizes discursive procedures in which scien- tists, manufactures, users, and other affected persons together have t o assess the possible consequences.

1 Einleitunn handeln wir uns ein, wenn wir Technik einsetzen? Wo be- - freit uns die Technik von Zwangen des Alltags und wo spannt sie uns in ein neues Korsett von Abhangigkeiten und Lebensrisiken ein? Wie sollte eine Technik aussehen, die wirtschaftlich vorteilhaft, risikoarm und okologisch ver- traglich ist? Gibt es so etwas iiberhaupt? Auf all diese Fragen

Unser heutiges Leben ist weitgehend durch Technik be- stimmt. Vom Klingeln des Weckers bis zum Einschlafen vor dem Fernseher, vom Fahrradausflug bis zur Auto- oder S-Bahn- Fahrt zur Arbeit, von der Bereitung von Spei- sen bis zur Produktion von Giitern und Dienstleistungen, von Sportdarbietungen bis zur vollautomatischen Kegel- . . . . , _ _ _ . _. . . . . _ _ , . . . . . , . _ _ , _ _ . , . , .. , , , , . . , , .. . . . . . . . . .. . . . . . . .... . . . . . , _._. . . . .. ... . . . . . . . .. . . . . . . . . .. . .. . . . . bahn, es gibt keinen Lebensbereich des Menschen, in * Vortrag auf der Sonderveranstaltung des

Jahrestreffens der Verfahrensingenieure dem die Technik keine Rolle spielt. Der Mensch ist notge- am 25. Sept. 1996 in Dortmund. drungen auf Technik angewiesen. Aber die Frage bleibt: * * Prof. Dr. 0. RE". Akademie fur Technik-

folgenabschatzung in Baden-Wiirttemberg, Wieviel Technik mu13 es sein und welche Vor- und Nachteile IndustriestraRe 5, D-70565 Stuttgart

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versucht die Technikfolgenabschatzung eine Antwort zu geben. Was versteht man unter Technikfolgenabschatzung?

Hinter dem Wortungetiim verbirgt sich eine ein- fache Aufgabe: Technikfolgenabschatzung oder kurz TA genannt dient dem Ziel, durch wissenschaftliche Analysen die Konsequenzen, die mit dem Einsatz von Technik fur die Gesellschaft verbunden sind, zu identifizieren und zu bewerten. TA beruht auf dem Versuch einer systematischen Identifizierung und Bewertung von technischen, umwelt- bezogenen, okonomischen, sozialen, kulturellen und psychischen Wirkungen, die mit der Entwicklung, Produk- tion, Nutzung und Verwertung von Techniken einhergehen [l]. Damit ist letztlich alles angesprochen, was durch Tech- nik beeinflufit werden kann. Zu den Aufgaben der TA geho- ren: - Erforschung der Genese und Entwicklung von Technik - Erforschung der sozialen und okonomischen Kontext-

bedingungen fur Technikentwicklung Erforschung der rnit dem Technikeinsatz verbundenen Risiken fur Gesundheit und Umwelt Abschatzung der zu erwartenden Folgen des Einsatzes von Technik fur Gesellschaft und Wirtschaft Erforschung der Modifikationen, die negative Folgen verhindern oder abmildern konnen

- Gestaltung von gesellschaftlichen Diskursen uber Technikfolgen

- Bewertung von Techniken und Handlungsempfehlun- gen.

Die Griindung des Amerikanischen Office of Technology Assessment (OTA) lautete Anfang der 70er Jahre die &a der systematischen, von unabhangigen Fach- leuten durchgefuhrten Folgestudien mit dem Ziel der Poli- tikberatung ein [Z]. In den USA sind es die Parlamentarier, die beraten werden, in anderen Landern die Exekutive oder die Offentlichkeit als Ganzes. Die ijbertragung der Folgen- abschatzung auf eine staatlich betriebene Institution ist ei- nerseits eine Antwort auf die Forderung nach unabhangiger und systematischer Folgenabschatzung, gleichzeitig erfullt die Institutionalisierung aber auch die Funktion, Technik- entwickler und Techniknutzer zu entlasten. Denn auf diese Weise konnen sie einen Teil der Verantwortung an die professionellen Experten fiir Technikfolgenabschatzung abgeben in der Hoffnung, daR noch unbekannte Folgen durch systematische Analysen aufgedeckt werden. Die Idee der TA besteht folglich darin, im voraus die Konse- quenzen technischer Handlungen antizipieren zu konnen und dadurch den dornenreichen Weg von Versuch und Irrtum zumindest weniger schmerzhaft zu gestalten, wenn nicht sogar vollstandig zu vermeiden. 1st eine solche Erwar- tung realistisch? Konnen wir von Versuch und Irrtum auf Si- mulation und Vermeidung umschalten?

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2 Ambivalenz und UngewiBheit: Begleitumstande der Technikfolgenforschung

Das Umschalten auf Simulation und antizipatives Risikoma- nagement ware sicherlich erfolgreich, wennwir nicht in die- sem Bestreben durch zwei Probleme der Zukunftsgestal-

tung erheblich gebremst wiirden. Die beiden Probleme hei- Ren: Ambivalenz und Unsicherheit. Beginnen wir mit dem ersten Stichwort: Ambivalenz. Die Hoffnung auf Vermei- dung von negativen Technikfolgen ist triigerisch, weil es keine Technik gibt, nicht einmal geben kann, bei der nur po- sitive Auswirkungen zu erwarten waren. Dies klingt trivial. 1st es nicht offensichtlich, daR jede Technik ihre guten und schlechten Seiten hat? Die Anerkennung der Ambivalenz besagt aber mehr, als daB wir uns mit Technik weder das Paradies noch die Holle erkaufen. Es ist eine Absage an alle kategorischen Imperative und Handlungsvorschriften, die darauf abzielen, Techniken in moralisch gerechtfertigte und moralisch ungerechtfertigte aufzuteilen [3]. Es gibt keine Technik rnit lauter positiven oder lauter negativen Technikfolgen. gleichgultig welche Technik wir im einzel- nen betrachten. Bei jeder neuen technischen Entscheidung sind wir angehalten, immer wieder von neuem die positiven und negativen Folgepotentiale miteinander abzuwagen. Auch die Solarenergie hat ihre Umweltrisiken, wie auch die Kernenergie ihre unbestreitbaren Vorteile aufweist. Am- bivalenz ist das Wesensmerkmal jeder Technik. Folgt man dieser Gedankenkette weiter, dann bedeutet institutioneller Umgang mit Ambivalenz. daR Techniken weder ungefragt entwickelt und eingesetzt werden durfen, noch daB wir jede Technik verbannen mussen, bei der negative Auswir- kungen moglich sind.

Aus diesem Grund ist auch der wohlgemeinte Imperativ von H A N S 10 N A S wenig hilfreich. J 0 N AS forderte die Gesellschaft auf, auf jede Technik zu verzichten, deren Folgen zu katastrophalen negativen Folgen fuhren konnten [4]. Mit ausreichend Phantasie und bei entsprechender Aus- breitung der infragestehenden Technik lassen sich aber im- mer katastrophale Folgen ausdenken, die mit einer Wahr- scheinlichkeit groBer Null zu erwarten sind. Die Moglichkeit von Katastrophen ist immer gegeben, sobald eine techni- sche Linie in groRem Umfang genutzt wird - unabhangig davon, ob die Technik zentral oder dezentral eingesetzt wird. Die kleine Einmann-Kettensage ist in millionenhafter Ausfuhmng mindestens so gefahrlich fur den tropischen Regenwald wie groRe Holzerntemaschinen. Die Moglichkeit von Katastrophen fallen bei GroBtechnologien nur schneller ins Auge [51. Prinzipiell ist die Moglichkeit von irreversiblen und schwerwiegenden Katastrophen bei allen menschli- chen Handlungen gegeben. Ohne Betrachtung von Wahr- scheinlichkeiten und von moglichen Nutzeffekten 1aRt sich eine sinnvolle Abwagung uber Technikfolgen nicht tref- fen.

Gefragt ist also eine Kultur der Abwagung. Zur Abwagung gehoren immer zwei Elemente: Wissen und Bewertung. Wissen sammelt man durch die systematische, methodisch gesicherte Erfassung der zu erwartenden Folgen eines Technikeinsatzes (Technikfolgenforschung). Bewertung erfolgt durch eine umfassende Beurteilung von Handlungsoptionen aufgrund der Wunschbarkeit der mit jeder Option verbundenen Folgen, einschlieBlich der Folgen des Nichtstun, der sogenannten Nulloption (Technikfolgen- bewertung). Eine Entscheidung uber Technikeinsatz kann nicht allein aus den Ergebnissen der Folgenforschung abge- leitet werden, sondern sie ist auf eine verantwortliche

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Abwagung der zu emartenden Vor- und Nachteile auf der Basis nachvollziehbarer und politisch legitimierter Kriterien angewiesen [ 6 ] . Fur das erste Element, die Technikfolgen- forschung, brauchen wir ein wissenschaftliches Instrumen- tarium, das uns erlaubt, so vollstandig, exakt und objektiv wie moglich Prognosen uber die zu emartenden Auswir- kungen zu erstellen. Fur das zweite Element benotigen wir Kriterien, nach denen wir diese Folgen intersubjektiv verbindlich beurteilen konnen. Solche Kriterien sind nicht aus der Wissenschaft abzuleiten: sie mussen in einem poli- tischen ProzeB durch die Gesellschaft identifiziert und ent- wickelt werden.

Beide Aufgaben waren weniger problematisch, gabe es nicht das zweite Problem aller Prognostik die unvermeidbare UngewiBheit uber Inhalt und Richtung der zukunftigen Entwicklung. Wenn wir in der Tat im voraus wiiBten, welche Folgen sich mit bestimmten Technologien einstellen, fiele es uns leichter, eine Abwagung zu treffen und auch einen Konsens uber Kriterien zur Beurteilung von Folgen zu erzielen. Doch die Wirklichkeit ist kompli- zierter. Technikeinsatz ist immer mit unterschiedlichen Zukunftsmoglichkeiten verbunden, deren jeweilige Reali- sierungschance sich uberwiegend unserer Kontrolle ent- zieht. Die Frage ist, inwieweit wir uns auf die Gestaltung von riskanten Zukunftsenhviirfen einlassen und uns von den nicht auszuschlieRenden Moglichkeiten negativer Zu- kunftsfolgen abschrecken lassen wollen. Wieviel Moglich- keit eines Nutzens ist uns wieviel Moglichkeiten eines Schadens wert? Fur diese Abwagung gibt es keine Patentlo- sung.

Die erste und einfachste Losung bestunde darin, erst gar keine Risiken zu ubernehmen. Auf Risiken ganz zu verzichten, wiirde bedeuten, auf Technikeinsatz zu verzich- ten. Auf Technik zu verzichten, wiirde wiederum bedeuten, uns den naturgegebenen Gefahren schutzlos auszusetzen. Diese Aussicht mag manche Nostalgiker in Verzuckung bringen, aber der Preis ware eine Duldung von Leiderfah- rungen, von denen wir wiisten, daB sie im Prinzip vermeid- bar sind. Wer ware schon bereit, freiwillig auf Penizillin oder Antibiotika zu verzichten, wohl wissend, daB sie ihm das Leben retten konnten? Angesichts einer wachsenden Bevol- kerung von heute rund 6 Milliarden Menschen ist ein Wei- terleben ohne Technik ethisch nicht zu rechtfertigen, selbst ein auf den heutigen Stand eingefrorener Technikstandard ist angesichts der globalen Probleme kaum verantwortbar. 1st es schon heute fast unmoglich, Hunger, Krankheit und blutige Verteilungskampfe zu vermeiden, so ware die Ver- hinderung des technischen Wandels erst recht mit be- schleunigter Verelendung verbunden.

Gleichzeitig ist uns aber auch bewuRt, daR die Risiken der Technik eigene globale Gefahrdungen auslosen. Die Folgen des weltweiten Technikeinsatzes bedrohen die okologische Stabilitat, also die Voraussetzungen fur das Weiterleben unter menschenwiirdigen Umstanden [7].

Pauschal auf Technik und damit auf Risiken zu verzichten ist wohl kaum der gesuchte Ausweg aus dem Abwagungsdilemma unter UngewiBheit. Nach vor ste- hen wir vOr der Nomendigkeit, die emartbaren positiven und negativen KonsequenZen des Technikeinsatzes mitein-

ander zu vergleichen und abzuwagen. Dies mussen wir tun, obwohl wir uns unsere prinzipiellen Unfahigkeit bewul3t sind, die wahren AusmaBe der Folgen jemals in voller Breite und Tiefe abschatzen zu konnen. Bestenfalls konnen wir Technikfolgen in ihrer Potentialitat erfassen, aber nicht die reale Zukunft vorhersagen.

Technikfolgenabschatzung kann uns demgemaB helfen, die Dimensionen und die Tragweite unseres Han- delns wie unseres Unterlassens zu verdeutlichen. Sie kann aber weder die Ambivalenz der Technik auflosen noch die zwingende UngewiBheit uber die Zukunft auBer Kraft setzen. Sie kann bestenfalls dazu beitragen, Modifika- tionen des technischen Handelns vorzuschlagen, die besse- re Entscheidungen nach MaBgabe des verfiigbaren Wissens und unter Reflexion des erwiinschten Zweckes wahrschein- licher machen.

3 Methodische Verfahren der Bewaltigung von UngewiSheit

Der erste Schritt jeder Technikfolgenabschatzung besteht in einer moglichst genauen und unparteiischen Analyse der Folgepotentiale, die mit der Venvirklichung einer techni- schen Systemlosung (inklusive der organisatorischen und sozialen Begleiterscheinungen) zu erwarten sind. Mehr als Potentiale kann keine Folgenforschung aufzeigen, denn es liegt ja an den Akteuren und an den jeweiligen Randbedingungen, welche Moglichkeiten sich letztendlich in der Realitat durchsetzen werden. Aber selbst wenn sich TA auf die Analyse von Potentialen im Sinne der Begren- zung von Zukunftsmoglichkeiten beschrankt, ist sie auf eine Fulle von neueren methodischen Werkzeugen ange- wiesen, um mit dem Problem der UngewiBheit fertig zu wer- den. Diese UngewiBheit driickt sich in den folgenden Pro- blemen von Prognosen aus: - Nicht uberschaubare Komplexitat bei den vermuteten

Ursache- Wirkungsketten die Existenz genuin stochastischer Prozesse in Natur, Wirtschaft und Sozialwesen

- Nicht-Linearitaten (chaotische Systeme) bei physi- schen Wirkungszusammenhangen, vor allem im Be- reich der Okologie die Existenz von ijberraschungen (nicht vorhersehbare singulare Ereignisse)

- die prinzipielle Unfahigkeit des Prognostikers, den Wandel des wissenschaftlichen und technischen Wis- sens vorherzusehen die Schwierigkeit, ja Unmoglichkeit, iiber langere Zeit- raume Wertewandel und Zeitgeistveranderungen in einer Gesellschaft zu prognostizieren

Im folgenden geht es mir nicht um eine vollstan- dige Diskussion der Methoden und Instrumente der TA. Dies ist an anderer Stelle bereits zur Genuge geleistet wor- den [8]. Hier mochte ich vielmehr auf drei wichtige metho- dische Enhvicklungen aufmerksam machen, die uns den wissenschaftlichen Umgang mit UngewiRheit und Ambiva- knz erleichtert haben. Diese drei Enhvicklungen sin& die Instmmente der probabilistischen Vorhersage, die Verbin- dung makroskopischen Trends mit dkroskopischen

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Einzelfallanalysen und die Betrachtung von nichtlinearen Funktionsablaufen.

Der erste bedeutsame methodische Kunstgriff der TA ist die Uberfuhrung von UngewiBheit in Unsicherheiten [9 ] . So wie exogene Gefahren in endogene Risiken transfor- miert werden, so wird das Ungewisse in Szenarien ubersetzt, die aufgrund der Analyse vergangener Trends als mehr oder weniger wahrscheinlich eingestuft werden konnen. Wie bei jeder aersetzung geht auch hier ein Teil des urspriingli- chen Konzeptes verloren, denn nicht alle Arten von Unge- widheit, vor allem uberraschende singulare Ereignisse las- sen sich in Wahrscheinlichkeitsaussagen iiberfiihren. Die Berechnung von Unsicherheiten hat jedoch die Prognose- technik einen Riesenschritt nach vorne gebracht und letzt- endlich erst eine intersubjektiv uberpriifbare Vorgehens- weise geschaffen, mit deren Hilfe Potentialabschatzungen vorgenommen werden konnen. Gleichgiiltig ob man die Wahrscheinlichkeiten auf der Basis statistischer Erwar- tungswerte oder als erfahrungsbezogene Schatzwerte (Bay- es Statistik) bestimmt, Wahrscheinlichkeitsaussagen kon- nen dazu beitragen, den unendlichen Raum aller denlibarer Folgenszenarien nach bestimmten Prioritaten zu ordnen und wesentliche Strange von unwesentlichen Strangen zu trennen.

Bei aller mathematischer Eleganz der a e r f u h - rung von UngewiBheit in Unsicherheit darf jedoch nie ver- gessen werden, daB Wahrscheinlichkeitsaussagen keine Prognose iiber Einzelerscheinungen oder einzelne Ereig-

nisse erlauben. Es sind Trendaussagen, die fur eine in der Theorie unendliche Menge der prognostizierten Systeme gelten. Dies wird gerade in der Debatte um GroBtechnik haufig ubersehen. In der Regel sind weder Aussagen uber die zeitliche, noch uber die ortliche Verteilung von Ereignis- sen mit Hilfe der Wahrscheinlichkeitstheorie moglich. Trotz dieser Begrenzungen konnen Wahrscheinlichkeitsaussagen zur Potentialanalyse und auch zur Folgenbewertung einen wichtigen Beitrag leisten.

Der zweite wichtige methodische Schritt bei der Analyse von Folgepotentialen ist die Verknupfung von de- duktiven (top-down) und induktiven (bottom-up) For- schungsstrategien. Viele technische, okonomische und so- ziale Folgeerscheinungen zeigen Mare RegelmaBigkeiten, wenn man sie auf einem hoch-aggregierten Niveau betrach- tet [ 101. Die technische Diffusionsforschung ist dafiir ein gu- tes Beispiel. Wie CESARE M A R C H E T T I und andere nachgewie- sen haben, verlauft der Siegeszug von Techniken in Markt- wirtschaften nach einem bestimmten Ablaufschema [ 111. Sobald eine Technik einen Marktanteil von 3 bis 5 Prozent des entsprechenden Marktvolumens gewonnen hat, setzt sie sich quasi naturwiichsig auf dem entsprechenden Markt durch, wobei die Diffusionsrate durch eine logistische Funk- tion (oder Evolon-Kurve) recht genau beschrieben werden kann. Diese RegelmaRigkeit ist bis heute nicht kausal erklart worden, ebensowenig wie viele andere Trends in Wirtschaft und Gesellschaft. Man denke nur an die bekannten Lang- zeitzyklen der Konjunktur, die erstmalig von dem russischen

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Okonomen Kontradiev beschrieben wurden [12]. Diese ge- nerellen Trends, die man mit Hilfe von Regressionsrechnun- gen aus vergangenen Ereignissen ableiten kann, sind offen- kundig deshalb so regelmaRig anzutreffen, weil sich positive und negative EinfluRvariable die Waage halten. Betrachtet man die gleichen Ereignisse auf der lokalen oder regionalen Ebene, sind diese Trends uberhaupt nicht oder nur in schwa- chem MaRe nachzuweisen. Sie gehen im Hintergrundrau- schen anderer EinfluRfaktoren unter. lihnlich wie bei den Wahrscheinlichkeitsaussagen sind statistisch nachweisbare Trends nur bei groRen Fallzahlen zu beobachten.

Aber auch bei allgemeinen Trends gibt es Aus- nahmen von der Regel. Nimmt man wiederum als Beispiel die Diffusionsforschung, so zeigt sich bei der Analyse der Textilindustrie, daR synthetische Stoffe bereits in den 50iger Jahren die kritische Grenze von 5 Prozent Marktanteil uberschritten und sie es dennoch nie geschafft haben, den Markt der Oberbekleidung zu beherrschen. Zur Erklarung dieses Phanomens kann man auf induktiv aufgebaute Stu- dien zuriickgreifen, die deutlich machen, daB sich in den 60iger Jahren eine Praferenzverschiebung hin zu natiirli- chen Produkten in den Hauptverbrauchergebieten durchge- setzt hat [ 131. Nimmt man die Ergebnisse beider Perspekti- ven, also der deduktiven und der induktiven Vorgehenswei- se zusammen, dann kommt man zu der generellen Einsicht, daR Diffusionsraten nur dann einer logistischen Kurve fol- gen, wenn es im Verlauf der Markteinfiihrung keine Ver- schiebungen im Praferenzverhalten und in den bevorzugten Lebensstilen der Nachfrager gegeben hat [ 141. Dies ist bei Investitionsgutern am wenigsten, bei Luxusgutern am hau- figsten zu erwarten. Fur Potentialabschatzungen ist diese Einsicht wesentlich, weil man dann Trendszenarien unter Einbeziehung des sich abzeichnenden Wertwandels erstel- len kann.

Der dritte wichtige Fortschritt in der methodi- schen Enhvicklung der Prognostik ist die mathematische Einbindung von nichtlinearen Ursache- Wirkungsbeziehun- gen und chaotischen Zustanden in die Potentialabschatzun- gen [15]. Eine besondere Schwache bei den Prognosen der Vergangenheit bestand in der Annahme stationarer Gleich- gewichtsmodelle, vor allem bei der Abschatzung von okolo- gischen und okonomischen Folgen. Technische Interventio- nen wurden meist als potentielle Storungen des gerade gegebenen Gleichgewichts interpretiert. Aufgabe der Tech- nikfolgenabschatzung war es demgemah die Toleranz von okologischen oder okonomischen Systemen gegenuber den technisch induzierten Storungen ausfindig zu machen. Dabei wurden in der Regel die in der Vergangenheit beob- achteten Dosis-Wirkungsbeziehungen auf die zukunftige Belastung hochgerechnet, wobei meist lineare, zumindest aber stetig wachsende oder fallende Funktionsverlaufe an- genommen wurden.

Mehr und mehr wird uns aber bewuRt, daR die Vorstellung von Gleichgewichtszustanden, die durch auRere Einwirkungen ins Wanken gebracht werden und dann einem neuen Gleichgewicht zustreben, den komplexen Wirkungszusammenhangen in Umwelt und Wirtschaft nicht gerecht werden. Natur und Wirtschaft sind beides Netzwer- ke von sich gegenseitig beeinflussenden Wirkungsketten,

die permanent einen dynamischen Wandel durchlaufen, so daR Gleichgewichtszustande bestenfalls Atempausen in der standigen Anpassung an veranderte Rahmenbedingun- gen darstellen. In solchen sogenannten dissipativen Syste- men entstehen standig neue FlieRgleichgewichte, bei denen sich die Phasenubergange als eine Kombination von linea- ren Enhvicklungsprozessen mit nicht-linear wirkenden Ruckkopplungen (Synergetik) beschreiben lassen. Diese neue Sichtweise lehrt uns, daR Einwirkungen durch techni- sche Handlungen unterschiedliche Auswirkungen und Storungen verursachen, je nachdem zu welchem Zeitpunkt, an welchem Ort oder unter welchen zusatzlichen Bedingun- gen diese erfolgen. Identische Handlungen konnen also zeitphasen- und kontextabhangig hochst unterschiedliche Wirkungen haben [16]. Vor allem hat sich das Augenmerk der Analytiker auf drei Handlungsbezuge gerichtet: - Dem Studium und der Beobachtung von selbstverstar-

kenden Prozessen, bei denen kleine Veranderungen uber viele Ruckkopplungsschleifen zu groRen Wirkun- gen fuhren. Der beriihmt gewordene Schmetterlingsef- fekt fur die Beeinflussung des Wetters ist hierfur ein be- redtes Beispiel. Der Analyse von dynamischen, interaktivwirkenden Ef- fekten, bei denen mehrere scheinbar unabhangige Ent- wicklungen zu einem, uber die Summe der Einzeleffekte hinausgehende Gesamtwirkung fuhren. Synergistische Effekte von Umweltnoxen im Bereich der Okologie oder die psychologische Wirkung verschiedener Steuerge- setze auf die Steuermoral konnen hier als Beispiele an- gefuhrt werden. Der Bestimmung und Identifizierung von systemeige- nen Kreislaufen und Selbstorganisationspotentialen, deren Storung bestehende Funktionsablaufe uber Jahre und moglichenveise Jahrzehnte und Jahrhunderte dra- matisch verandern konnen. Die heutige Sorge um die Auswirkungen der anthropogenen Beeinflussung von globalen Stoffkreislaufen (etwa Kohlenstoff oder Stick- stoff) 1aRt sich in diese Kategorie einordnen.

Auch wenn die theoretische Okologie und die evolutive Okonomie in der Behandlung dieser drei Bezuge bereits groRe Fortschritte gemacht haben, stehen wir erst am Anfang einer groden methodischen Erneuerung der Folgenforschung [ 171. Die neuen mathematischen Werk- zeuge erlauben zwar die Darstellung deterministisch chao- tischer Systeme, wie sie fur viele Naturprozesse charakteri- stisch sind, es fehlen aber noch zuverlassige Instrumente zur Erfassung probabilistisch-chaotischer Zusammenhan- ge, wie sie fur komplexe soziale Phanomene typisch sind. Gleichzeitig mug man bei aller Zuversicht uber die neu ent- wickelten Methoden die prinzipielle Begrenztheit der Pro- gnosen auf der Basis nichtlinearer Gleichungssysteme be- achten. Anders als lineare Trends sind nichtlineare Wir- kungsketten ergebnisoffen; das Auftreten von Funktions- spriingen ist auf singulare Tatbestande oder eine kleine An- zahl von gleichartigen Phanomenen begrenzt. Das Umkip- Pen eines Sees lafit sich sehr gut mit einer nichtlinearen Gleichung abbilden. Daraus aber eine Prognose fur einen anderen See ableiten zu wollen, ist dagegen ausgesprochen schwiefig. wenn nicht sogar unzulassig, da die Kontextbe-

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dingungen neu erfaRt werden miissen. Der Anspruch auf Universalitat von erkannten RegelmaBigkeiten ist zumin- dest bei dem heutigen Wissen uber Phasenubergange und dynamischen Systemen nicht einlosbar. Prognosen werden im Einzelfall genauer, aber immer weniger auf ahnliche Phanomene iibertragbar.

Die hier beschriebenen Umbriiche in der Metho- dik der TA sollten aufzeigen, daR die Wissenschaften bei der systematischen Erforschung von Folgepotentialen durchaus Fortschritte machen und viele der Probleme der Ungewil3- heit zumindest ansatzweise in den Griff bekommen. Dies sollte uns aber nicht zur Hybris verfiihren, wir seien in der Lage, mit Hilfe einer nach bestem Wissen ausgefiihrten TA UngewiBheit soweit reduzieren zu konnen, daB wir eindeutige Anhvorten iiber Gestalt und Verlauf moglicher Zukiinfte geben konnten. Dazu kommt noch das Problem der Zeit. Technikfolgen stellen sich in der Regel friiher ein, als Zeit verbleibt, sie zu prognostizieren. Die Schaffung von Handlungsstrangen durch neue Techniken bleibt immer einen Schritt der moglichen Analyse der Folgenpotentiale voraus.

4 Ruckschlusse fur die Technikfolgenbewertung

Technikfolgenforschung ist kein Selbstzweck. Sie ist der er- ste Schritt zur Verbesserung von Entscheidungen iiber Techniknutzung und deren Organisation. Die Ergebnisse der Technikfolgenforschung bilden die faktische Grundlage und kognitive Unterfiitterung fiir die sich der Folgenfor- schung anschlieflenden Technikbewertung. Eine solche Be- wertung ist nohvendig, um anstehende Entscheidungen zu uberdenken, negativ erkannte Folgen zu mindern und mog- liche Modifikationen der untersuchten Technik vorzuneh- men. Die Einbindung faktischen Wissens in Entscheidun- gen wie auch die umfassende Bewertung von Handlungsop- tionen (technische und organisatorische) konnen beide im ProzeB der Technikbewertung nach rationalen und nach- vollziehbaren Kriterien gestaltet werden, so wie es in den einschlagigen Arbeiten zur Entscheidungslogik dargelegt wird [18]. Das Prinzip der Entscheidungslogik ist einfach: Kennt man die moglichen Folgen und die Wahrscheinlich- keiten ihres Eintreffens (oder besser gesagt: glaubt man sie zu kennen), dann beurteilt man die Wiinschbarkeit der jeweiligen Folgen auf der Basis der eigenen Wertorientie- rungen. Man wahlt diejenige Variante aus der Vielzahl der Entscheidungsoptionen aus, von der man envartet, daB sie das hochste Mag an Wiinschbarkeit fiir den jeweiligen Ent- scheider verspricht. Die Entscheidung erfolgt auf der Basis von Erwartungswerten, wohl wissend, daR diese envarteten Folgen aller Voraussicht nach so nicht eintreffen werden.

Die envartbare Diskrepanz zwischen Erwar- tungswerten und tatsachlich eintretenden Folgen ist aber kein Gegenargument gegen das Verfahren der rationalen Entscheidungsanalyse: Jeder rationale Mensch wiirde, sollte er gezwungen sein, russisch Roulette zu spielen, einen Re- volver mit einer Kugel in der Pommel einem Revolver mit zwei Kugeln vorziehen, selbst wenn er beobachtet hatte, daR sein Vorganger beim Versuch mit dem doppelt geladenen

Revolver uberlebte, wahrend ein anderer beim Versuch mit dem einfach geladenen Revolver todlich getroffen wur- de. Zu einem gegebenen Zeitpunkt kann man sich nur auf die Envartungswerte verlassen, sie sind die einzigen Hilfs- mittel, eine handlungsleitende Ordnung in die Vielzahl von unsicheren Folgen zu bringen.

So intuitiv einsichtig das Verfahren der Entschei- dungslogik ist, eindeutige Ergebnisse sind auch bei rigoro- ser Anwendung nicht zu erwarten. Das liegt zum ersten dar- an, daB wir selber unsicher sind iiber die Wiinschbarkeit von einzelnen Folgen, zum zweiten daran, daB diese Folgen auch andere betreffen, die wiederum ihre eigenen Wertorientie- rungen besitzen und deshalb zu anderen Entscheidungen kommen, und schlieRlich daran, daB sich Menschen in unterschiedlichem MaBe risikoaversiv verhalten [ 191. Hazardeure werden auf die Folgen fixiert sein, die ihnen den groRten Gewinn versprechen, selbst wenn die Wahr- scheinlichkeit fur deren Eintreten gering ist. Angstliche Na- turen werden wie gebannt auf die Folgen starren, die beson- ders groBe Verluste mit sich bringen konnen, auch wenn de- ren Eintreffen hochst unwahrscheinlich ist. Kuhle Rechner werden die Wahrscheinlichkeiten mit den Verlust- und Ge- winnzahlen multiplizieren und diejenige Option auswahlen, die ihnen den groRten Envartungsnutzen versprechen. Alle a e i Charaktere konnen gute Griinde fur ihr Verhalten anfiihren, und niemand kann ihnen das Recht streitig machen, eine unterschiedliche Risikopraferenz zu haben. Wie aber sollten wir uns als Kollektiv verhalten? Welche Strategie miissen wir wahlen, wenn die Folgen viele Men- schen mit unterschiedlichen Praferenzen betreffen?

Philosophen und Entscheidungstheoretiker sind an dieser Stelle zu recht unterschiedlichen SchluRfolgerun- gen gekommen [20]. Der schon envahnte HANS JONAS war klar im Lager der Vorsichtigen. Sein Minimax Prinzip lautet: Minimiere den maximal envartbaren Schaden. Das Problem mit dieser Losung wurde bereits angesprochen: Mit ehvas Phantasie gibt es zu jeder Technik ein mogliches, wenn auch im Einzelfall wenig wahrscheinliches Katastrophen- szenario, sofern die Technik einen nennenswerten Markt- anteil erreicht hat. Wir waren folglich zur Immobilitat ver- urteilt. Weniger apodiktisch argumentiert JOHN RAWLS [Zl]. Seine Losung des Problems richtet sich nach den subjekti- ven Envartungen unterschiedlicher Gruppen. Wahle die Variante aus, bei der auch die von der Entscheidung am meisten Benachteiligten in einer Gesellschaft zustimmen konnen. BewuRt klammert R A w L S auch die Moglichkeit einer Kompensation der Benachteiligten in sein Kalkiil ein, so daB die okonomische Rationalitat des Pareto-Kriteriums, nach- dem jedes Individuum nach einer Entscheidung mindestens ebenso gut dastehen mu13 wie vor der Entscheidung, ge- wahrt bleibt. Ebenso wie J 0 N A S hat auch RAW 15 die denkbar negativen Auswirkungen im Auge, er betrachtet sie jedoch mit der Brille der Betroffenen.

Die meisten Entscheidungstheoretiker sind im Lager der kuhlen Rechner. W A R D E D W A R D 5 , der Entwickler der multiattributiven Entscheidungsanalyse, argumentiert mit der Mittelstellung dieser Auffassung [ZZ]. Wenn es in einer Gesellschaft offenkundig risikoaversive und risiko- freudige Personen gibt, dann sollte sich die Gesellschaft

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neutral verhalten und die jeweiligen statistischen Erwar- tungswerte als Orientierungsmarken wahlen. Damit wiirde man beiden Seiten, den Risikofreudigen und Risikoaversi- ven in gleicher Weise gerecht. Einen goldenen Mittelweg verspricht die Arrow-Hunvicz-Regel. Sie lautet: Wahle die- jenige Handlungsoption, die in der Kombination von best- moglichen und schlechtestmoglichen Folgen die hochsten Werte aufweist [23]. Andere wiederum vertreten die Auffas- sung, daB die Gesellschaft die Pflicht habe, negative Folgen, die mit einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit eintreffen wer- den, und Katastrophen, die mit einer sehr geringen Wahr- scheinlichkeit eintreffen werden, jeweils negativer zu bewerten als die Falle dazwischen [24]. Vorsicht bei den Extremen - so konnte man diese Devise interpretieren.

Warum lasse ich diese Kontroverse der Risikofor- scher hier Revue passieren? h n l i c h wie ich bei der Darstel- lung der Folgenforschung auf Ambivalenz und UngewiRheit hingewiesen habe, geht es mir auch bei der Behandlung der Bewertungslogik um die Einsicht, daR selbst bei identischen Wertorientierungen, also einem Konsens uber Wunschbar- keiten, die Losung nicht eindeutig bestimmbar ist. Das Den- ken in Risiken zwingt uns, rnit der legitimen Vielfalt von Lo- sungen zu leben. Weder der eine, noch der andere hat Recht. Es gibt keinen hinreichenden, intersubjektiv zwingenden Grund, sich fur eine risikoaversive oder eine risikoneutrale Entscheidungslogik zu entscheiden. Beides ist moglich und mit guten Griinden zu belegen. Diese Ambivalenz beruht also auf normativen Festlegungen, wie ein Individuum oder eine Gruppe mit einem Risiko umgehen will und welche Praferenzen (risikofreudig -aversiv oder -neutral) vorherrschen.

Diese Ambivalenz zweiter Ordnung, die sich aus der Entscheidungslogik ergibt, gewinnt natiirlich noch dadurch an Scharfe, daR die Annahme identischer Wert- orientierungen und Interessen in einer pluralistischen Gesellschaft vollig realitatsfremd ist. Naturlich werden ein- zelne Gruppen die jeweiligen Folgen unterschiedlich bewer- ten, je nachdem wie stark sie betroffen sind und welche Fol- gen sie hoch bzw. gering schatzen. Umweltschutzer werden besonderes Gewicht auf die Umwelt und Unternehmer auf die Wettbewerbsfahigkeit legen. Wenn auch beides mit- einander zusammenhangt, so kann niemand ex cathedra behaupten, der eine habe mehr Recht auf seine Wertepriori- taten im Vergleich zu denen anderer Menschen oder Grup- pen.

5 Die Notwendigkeit fur diskursive Verfahren der TA

Festzuhalten bleibt: Technikfolgenforschung bleibt auch bei der Anwendung der bestmoglichen Methodik ein unvoll- standiges Instrument der Zukunftsvorsorge, denn Ambiva- lenz und UngewiBheit bleiben als unauflosliche Merkmale der Zukunft bestehen. Technikfolgenbewertung laRt sich ebensowenig nach intersubjektiv giiltigen und verbindli- chen Kriterien und Vorgehensweisen durchfuhren, weil auch hier Ambivalenz und UngewiRheit iiber normative Onentierungen einer eindeutigen Selektionsregel den Riegel vorschieben. Was also konnen wir tun?

In meinen Augen ist Technikfolgenabschatzung auf einen diskursiven ProzeR der Wissenserfassung und der Wissensbewertung angewiesen [25]. Mir ist bewuRt, daB der Begriff des Diskurses zur Zeit eine Inflation erlebt, die es ratsam erscheinen lafit, mit dem Begriff vorsichtig umzugehen. Diskurse sind keine Allheilmittel f i r alle Probleme unserer Zeit. Ebensowenig konnen Diskurse die Probleme von Unsicherheit und Ambivalenz aus der Welt schaffen. Sie konnen aber dazu beitragen, den Menschen zu helfen, mit diesen Problemen besser fertig zu werden.

Die Tatsache, daR uber einen Gegenstand intensiv geredet wird, macht noch keinen Diskurs aus. Diskurse sind -und darin ist Jiirgen Habermas zuzustimmen- symbolische oder reale Orte der Kommunikation, in denen Sprechakte im gegenseitigen Austausch von Argumenten nach festgelegten Regeln der Gultigkeit auf ihre Geltungsanspriiche hin ohne Ansehen der Person und ihres Status untersucht werden [26]. Diskurse leben von der egalitaren Position der am Dis- kurs beteiligten Personen und vertrauen auf die Kraft der Argumente im gegenseitigen Dialog. Dabei beziehen sich die im Diskurs vorgebrachten Geltungsanspriiche nicht nur auf kognitive Aussagen, sondern umfassen expressive (Affekte und Versprechungen) ebenso wie normative AuBe- rungen. Letztendlich sol1 der Diskurs in der Vielfalt der Sprechakte die Vielfalt der erlebten Welt und ihre Begren- zungen widerspiegeln [27].

Was kann der Diskurs leisten? Meiner Ansicht nach sind im Bereich der TA drei Arten von Diskursen not- wendig [28]. Zunachst mussen in einem diskursiven Verfah- ren die kognitiven Grundlagen fur die Technikfolgenfor- schung gelegt werden. Welche Folgenpotentiale sind zu er- warten und wie ordnen sich diese Potentiale in die unter- schiedlichen Zukunftsenhviirfe der beteiligten Diskursteil- nehmer ein? Welche Unsicherheiten verbleiben und welche unabdingbaren Kopplungen von Vor- und Nachteilen erge- ben sich aus diesen Potentialabschatzungen? Gibt es metho- dische Kriterien oder anerkannte Verfahren, Dissens unter den Fachleuten aufzulosen oder zumindest einen Konsens uber den Dissens zu erzielen? Ein solcher kognitiver Dis- kurs richtet sich in erster Linie an die Experten, wobei bei lebensweltlichen Auswirkungen auch die Erfahrungen der betroffenen Laien eine wichtige Rolle spielen konnen.

Der zweite Diskurs beriihrt die Frage der Wertig- keit der erforschten Technikfolgen (samt Unsicherheiten) f i r die Technikanwendung. Hierzu sind vor allem die Tech- nikgestalter und -anwender aufgerufen. Welche Interessen und welche Werte werden von den jeweiligen Folgemoglich- keiten betroffen? Gibt es Strategien, negative Auswirkun- gen, durch Modifikationen des Anwendungsprozesses abzu- mildern? Gibt es zusatzlichen Regulierungsbedarf? Ziel die- ses zweiten Diskurses ist es also, die moglichen Handlungs- strategien aufzuzeigen und in ihren Folgen abzuwagen, gleichzeitig aber auch die mit den Entscheidungen zwangs- weise verbundenen Zielkonflikte zu verdeutlichen und die dadurch erforderlichen Prioritaten festzulegen.

Zum dritten benotigen wir den Diskurs mit den von Folgen betroffenen Burgern und der allgemeinen Offentlichkeit. Information der Offentlichkeit reicht nicht aus. Was not tut. ist eine diskursive Auseinandersetzung

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mit den Personen, die von den Technikfolgen profitieren rnit denjenigen, die darunter leiden konnen. Werden die Interessen dieser Menschen gewahrt? Konnen sie den von ihnen praferierten Lebensstil weiter pflegen? Fuhlen sie sich bei der Losung der Zielkonflikte ausreichend reprasen- tiert? Alle drei Diskursfonnen mussen im Ergebnis offen gefuhrt werden, auch der Dialog mit der Offentlichkeit mu6 noch Spielraum fur Veranderungen haben, sonst ver- kommt er zum bloRen Ritual.

Selbst diskursive Ansatze einer TA werden an der Problematik von Ambivalenz und Unsicherheit scheitern, wenn diese beiden Aspekte nicht selbst zum Thema ge- macht werden. Technikanwendern wie Technikbetroffenen mu6 deutlich werden, daR mit jeder Technikanwendung Risiken verbunden und Schaden auch bei bester Absicht und grol3ter Vorsorge nicht auszuschlienen sind. Dies darf keine Entschuldigung fur fehlerhaftes Verhalten der fur Sicherheit zustandigen Institutionen sein. Aber es muR allen Beteiligten klar sein, worauf man sich bei neuen Techniken einlal3t und welche Potentiale damit einhergehen - im guten wie im schlechten. Garantien sind nicht zu geben, allenfalls kann man uber Kompensationen im Sinne von Haftungs- recht und Versicherungswesen nachdenken. Erst die Be- wuRtmachung der verbleibenden Risiken eroffnet neue Strategien, kreativ und vorsorgend mit Ambivalenz und UngewiBheit umzugehen.

Wie man im einzelnen diese Diskurse fuhren kann, sol1 nicht Gegenstand dieses Aufsatzes sein. Dariiber

haben viele Autoren und auch ich selbst einiges zusammen- getragen [29]. In meiner Heimatinstitution, der Akademie fur Technikfolgenabschatzung in Baden-Wurttemberg, praktizieren wir bewuRt den Weg der diskursiven Verstan- digung und versuchen, alle drei Arten von Diskursen paral- lel zu fuhren [30]. Dabei befinden wir uns noch in einer intensiven Lernphase, und manche dieser Diskurse sind vorzeitig zusammengebrochen. Dennoch bin ich der festen aerzeugung, daR uns nur der diskursive Ansatz der Technikfolgenabschatzung einen sachlich kompetenten und moralisch vertretbaren Weg fur den angemessenen Umgang mit Ambivalenz und UngewiRheit weist.

Eine so verstandene Technikfolgenabschatzung setzt eine enge Anbindung der Folgenforschung an die Folgenbewertung voraus, ohne jedoch die funktionale und methodische Differenzierung zwischen diesen beiden Auf- gaben (Erkenntnis und Beurteilung) aufzugeben. Eine sol- che Verkoppelung ist notwendig, um im Schritt der Bewer- tung die Probleme der Ambivalenz und der UngewiBheit bei der Folgenforschung und Folgenbewertung angemessen zu beriicksichtigen [31]. Umgekehrt mussen auch schon bei der Identifikation und Messung der Folgepotentiale die letzt- endlichen Bewertungskriterien als Leitlinien der Selektion zugrundegelegt werden. So wichtig es ist, die Methoden der Erkenntnisgewinnung und der Folgenbewertung nicht zu vermischen, so wichtig ist aber auch, die enge Verzah- nung zwischen diesen beiden Bereichen anzuerkennen, weil Technikfolgenforschung ansonsten in einer unsicheren

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Welt nicht mehr leistungsfahig und wirklichkeitsnahe ware. Diese Notwendigkeit der Verzahnung spricht ebenfalls fiir eine diskursive Form der Technikfolgenabschatzung.

6 SchluSbetrachtung Technikfolgenabschatzung umfaRt die wissenschaftliche Abschatzung moglicher Folgepotentiale sowie die nach den Praferenzen der Betroffenen ausgerichtete Bewertung dieser Folgen, wobei beide Aufgaben, die Folgenforschung und -bewertung aufgrund der unvermeidbaren Ambivalenz und UngewiRheit unscharf in den Ergebnissen bleiben wer- den. Prognosen uber die technische Zukunft sind Teil von Technikfolgenabschatzungen und zugleich unverzichtbare Bestandteile fur gegenwartige Entscheidungen, sie durfen uns aber nicht die Sicherheit vortauschen, wir konnten alle gefahrlichen Ereignisse und Entwicklungen vorhersa- gen und damit auch durch praventives Handeln ausschlie- Ren. Prognosen sind bestenfalls in der Lage, unsere Chan- cen einer bewuRten Zukunftsgestaltung zu erweitern. Vor allem kann TA eine Hilfestellung bieten, um auch in Zukunft Handlungsfreiheit zu erhalten, um bei einer moglichen Fehlentwicklung, also der Erfahrung uberwiegend negativer Auswirkungen, flexibel genug zu sein, um auf andere Optio- nen ausweichen zu konnen. Diese herlegung fuhrt zu der Forderung, nicht alles auf eine Karte zu setzen.

Was ergibt sich aus dieser Problemsicht fur die Durchfuhrung von Technikfolgenabschatzungen? Erstens, Technikfolgenabschatzung muR sich immer an der Ambiva- lenz und Folgenunsicherheit der Technik orientieren. Dabei mu13 sie zweitens zwischen der wissenschaftlichen Identifi- zierung der moglichen Folgen und ihrer Bewertung funktio- nal trennen, dabei jedoch beide Schritte diskursiv miteinan- der verzahnen. SchlieRlich sollte sie ein schrithveises, riick- kopplungsreiches und reflexives Vorgehen bei der Abwa- gung von positiven und negativen Folgen durch Experten, Anwender und betroffene Burger vorsehen. Ob dies gelin- gen wird, hat nicht nur EinfluR auf die Zukunft der Technik- folgenabschatzung als Mittel der Zukunftsvorsorge, sondern wird auch mal3geblich unsere Moglichkeiten bestimmen, ob und inwieweit wir in Zeiten schneller technischen Wandels in eigener Veranhvortung und mit Blick auf die fur uns als wesentlich erkannten Werte des Menschseins handlungsfa- hig bleiben konnen. Allerdings sollten wir uns dabei nichts vormachen: Zur Zeit verlauft der Wandel der Technik we- sentlich schneller, als wir Methoden entwickeln konnen, um die Folgenpotentiale wirklich hinreichend genau ab- schatzen zu konnen.

Diese Erkenntnisse haben unmittelbare Konse- quenzen fur die Institutionalisierung von TA. Nicht von un- gefahr ist die erste groRe TA Institution, das OTAvom Kon- grel3 der Vereinigten Staaten aufgelost worden. Die Anlasse dafiir sind vielfaltig und haben mit dem neuen Kraftever- haltnis zwischen Demokraten und Republikanern und dem alten Streit zwischen Prasidenten und dem KongreB zu tun. Die tiefere Ursache ist in meinen Augen aber h e langfristig nicht einlosbare Aufgabenstellung der OTA, namlich wissenschaftliche Politikberatung fiir Parlamenta- rier zeit- und adressatengerecht verfugbar zu machen. Die-

ses Model1 des Zusammenwirkens von Politik und Expertise, wie es auch im deutschen Korporatismus zum Ausdruck kommt, ist ungeeignet, um Entscheider und Betroffene mit den Konsequenzen von Ambivalenz und Unsicherheit vertraut zu machen und aus dieser Erkenntnis heraus robu- ste Strategien der Zukunftsvorsorge zu entwickeln.

Ob der von mir bevorzugte diskursive Ansatz diese Aufgabe besser wird leisten konnen, mu13 sich erst in der Praxis erweisen. Dazu mussen naturlich auch die Kontextbedingungen in einer Gesellschaft stimmen. Ein Diskurs ohne offentliche Wirkung und ohne politische Re- levanz wird die allseits grassierende Politikverdrossenheit eher verstarken als einen Beitrag dazu leisten, sie zu uber- winden. Die Politik moderner Gesellschaften mug deshalb handlungsleitende Formen ihrer eigenen Selbstreflexion entwickeln, in denen diskursive Verfahren der Entschei- dungsfindung eine integrale und politisch wirksame Rolle spielen konnen.

Zur Zeit laufen in unserer Gesellschaft drei Arten von reflexiven Technikdiskursen ab. Der erste baut auf dem Mechanismus der Angst-Kommunikation auf. Am dusteren Horizont der als bedrohlich wahrgenommenen Technikfol- gen lauern lauter Zusammenbriiche, Ruckschlage und Kata- strophen. Im Angst-Diskurs findet man Identitat unter gleichgesinnten Kassandra-Rufern, die sich gegenseitig im Ausmalen der Katastrophen uberbieten und kollektive Wehleidigkeit zum postmodernen Lebensgefuhl erheben. Ein solcher Diskurs lahmt die Beteiligten und verengt die mit Wissen und Ethik verbundenen Handlungsraume. Die Alternative ist die Chancen-Kommunikation. Dabei verfallt der Diskurs dem umgekehrten Extrem. Hier werden die ob- jektiven Grenzen der Handlungsmoglichkeiten ubersehen und alle Risiken und Ambivalenzen als Chancen umgedeu- tet. Okologische Krisen, Grenzen des Sozialstaates, die Ero- sion individueller Sinnfindung und moralische Desorientie- rung, um nur einige zu nennen, sind in dieser Chancen- Kommunikation nichts weiteres als vordergriindige Schein- probleme, die in Wirklichkeit Chancen im Sinne von techni- schen oder politischen Herausforderungen darstellen. Mit aufgekrempelten k m e l n und einem SchuB ,,Standort-Opti- mismus" lassen sich nach dieser Sichtweise alle Grenzen und Ambivalenzen uberwinden. Dieser Diskurs fiihrt zur permanenten Selbsttauschung. Haufig endet er in der Ab- stempelung von Siindenbocken, die angeblich die Chancen der Gesellschaft durch Pessimismus oder Technikfeindlich- keit untergraben.

Beide Kommunikationsformen, die Angst- und auch nicht die Chancen-Kommunikation, werden den kom- plexen Problemen der Technikfolgenabschatzung gerecht. Einzig sinnvoll und erfolgversprechend sind aus meiner Sicht Gestaltungsdiskurse, in denen aus der Kenntnis der immanenten Grenzen und der Wahrnehmung von mogli- chen Chancen Kreativitat frei werden kann. Sowohl die pro- duktive Angst vor dem Ungewissen und die Anerkennung von Grenzen der Gestaltungsmoglichkeiten auf der einen, wie auch die handlungsleitende Kraft von positiven Zu- kunftsbildern und die Verfugbarkeit iiber die dazu notwen- digen technischen und organisatorischen Mitteln auf der anderen Seite schaffen die Voraussetzung dafur, dafi sich

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technisches Handeln a n der richtigen Balance zwischen ,,Geschehen-Lassen" und ,,Geschehen-Machen" orientieren kann. Wir brauchen mehr von solchen Gestaltungs-Diskur- sen, denn nur sie konnen die Probleme, aber auch die Chan- cen zukunftiger Technikentwicklungen angemessen verar- beiten und uns befahigen, mit Ambivalenz und U n g e d h e i t angemessen und weise umzugehen.

Eingegangen am 7. Oktober 1996 [B 59301

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