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AbenteuerDen Alltagstrott hinter sich lassen und irgendwo anders
noch mal
von vorne anfangen. Davon träumen viele. Woher kommt diese
Sehnsucht? Und was tun, wenn sie einen nicht mehr loslässt?
Text: Frank Brunner und Andrea Ehlgen
nfang Juni räumte Peter Rist sein Büro,gab den Dienstwagen ab,
verabschie-dete sich von seiner Sekretärin undfuhr nach Isny, einem
kleinen Ort imAllgäuer Voralpenland. Zurück ließ eralles, was bis
dato Sicherheit versprach:Beamtenstatus, Pensionsanspruch undein
sechsstelliges Jahresgehalt. Rist
war Finanzbürgermeister im baden-württembergi-schen Reutlingen,
leitete eine Behörde mit 1.000 Mit-arbeitern und verwaltete einen
Etat von 325 MillionenEuro. Heute tourt der 44-Jährige durch die
Republikund singt: „Was kostet die Welt?“.
Sehnsucht nach Freiheit
So mancher Kollege im Rathaus glaubte zunächst aneinen Scherz.
Dem parteilosen Politiker wurden besteChancen für eine zweite
Amtszeit eingeräumt undsogar Ambitionen auf den Posten des Ersten
Bürger-meisters nachgesagt. Doch als seine Frau ihren 40.
Geburtstag feiert und er dafür einen Song kom-poniert, wird ihm
klar, dass er die politische Bühnegegen das Showgeschäft
eintauschen muss. Nachdem Ende der Legislaturperiode kehrt Rist
dahin zu-rück, wo er aufgewachsen ist, nach Isny, und produ-ziert
seine erste CD. „Ich genieße meine Freiheit und
obwohl ich oft unterwegs bin,bleibt mehr Zeit mit meinerFrau und
den Kindern.“
Vom Hüter der Bilanzenzum Meister der Emotionenmag es ein
spektakulärerSchritt sein – eine Ausnahmeist Peter Rist nicht. Etwa
einViertel der Deutschen träumtlaut einer Umfrage des Maga-zins
„Stern“ davon, das Lebenvöllig umzukrempeln. Von denBefragten im
Alter zwischen30 bis 44 Jahren kann sich so-gar ein Drittel
vorstellen, ausdem täglichen Trott auszustei-gen. Und die Zahl
derer, dietatsächlich einen Neuanfangwagen, nimmt zu.
Das beobachtet auch Mi-chael Kastner, Leiter des Insti-tuts für
Arbeitspsychologie
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Ausstiegvermeintlich alles nicht geht,und nimmt dann den
Beruf,der übrig bleibt.“
Berufsberaterin Uta Glau-bitz kennt dieses Phänomenaus ihrer
Praxis. Seit 18 Jahrenarbeitet sie als Coach für Men-schen, die das
Gefühl haben,noch einmal ganz von vorneanfangen zu müssen.
„Diemeisten Jugendlichen habengenaue Vorstellungen von ih-rer
Zukunft, aber wenn sie da-von sprechen, errichten Elternoder
Verwandte einen Bergvon Bedenken, hinter dem jede Freude an der
Berufsfin-dung verschwindet“, sagt dieExpertin. „Irgendwann kom-men
diese Menschen dann zumir, klagen, dass sie den gan-zen Tag Ex
cel-Tabellen zusam-menstellen oder sich stunden-lang in
ergebnislosen Mee-tings langweilen. Und dannfragen sie sich: Was
mache icheigentlich hier?“
und Arbeitsmedizin Herdecke und Professor an derUniversität
Heidelberg: „Unsere Arbeitswelt wird im-mer komplexer und schneller
– das überfordert vieleMenschen. Deshalb versuchen sie, sich dieser
zuneh-menden Unübersichtlichkeit zu entziehen.“ DerMensch sei nun
mal ein „Rhythmustier“, er könne nichtständig Vollgas geben,
sondern brauche den Wechselvon Anspannung und Entspannung, erklärt
Kastner.
Falsche Entscheidungen
Das andere Motiv: VieleArbeitnehmer merkenirgendwann, dass
sieden falschen Job ha-
ben. Solche Fehlent-scheidungen resultieren
für den Psychologen undMediziner daraus, dass die Be-
rufswahl selten eine Entscheidungzwischen mehreren Alternativen
ist. „Oft
rutscht man in eine Aufgabe hinein oder fällteine
Negativentscheidung – also man schaut, was
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Einige ihrer Kunden zieht es aber auch einfach so indie Ferne.
Beate Stelzer beispielsweise. Die Kran-kenschwester drückte mit 35
Jahren noch mal dieSchulbank, paukte Schiffbau, Meteorologie und
Na-vigation. Heute ist sie Kapitänin auf einem großenFrachter
zwischen Bremen, Südafrika und Singapur.
Die weite Welt ruft
Mehr als 100.000 Bundesbürger gehen Jahr fürJahr noch einen
Schritt weiter und kehren Deutsch-land ganz den Rücken. 70 Prozent
der Auswandererzieht es ins europäische Ausland. AußerhalbEuropas
gehören die USA, Kanada und Australiennach wie vor zu den
bevorzugten Zielen. „Die meis-ten nennen persönliche und familiäre
Gründe für dieAuswanderung, aber auch die Hoffnung auf
bessereBerufs- und Karrierechancen. Hinzu kommt die
Sehnsucht nach mehr Le-bensqualität“, sagt Uta Koch,Referentin
für Öffentlichkeits-arbeit beim Raphaelswerk inHamburg. Der
selbstständigeFachverband der Caritas be-rät seit 1871 Menschen auf
ihrem Weg in die neue Hei-mat und koordiniert bundes-weit 14
Beratungsstellen.
„Neben den Informatio-nen, etwa zu Aufenthaltsbe-stimmungen, zur
Sozialversi-cherung oder zur Anerken-nung von Abschlüssen, spie-len
psychosoziale Aspekte beider Beratung eine große Rol-le“, sagt
Koch. Schließlich hatso ein Ausstieg Konsequen-zen, nicht zuletzt
im Porte-monnaie. Doch das Geld oderein schlechter bezahlter Jobist
oft gar nicht die größteSchwierigkeit. Vielmehr muss
Alles zur Gesundheit auf Reisenund zum Versicherungsschutz im
Ausland:
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man sich fragen: Bin ich wirklich bereit, alles hintermir zu
lassen? Was ist, wenn die Kinder in der neuenUmgebung nicht
zurechtkommen? Oder die Eltern,die zurückbleiben, plötzlich krank
werden?
Wichtig sei, so Koch, schon beim Auswanderneine mögliche
Rückkehr mitzudenken. Denn selbstdie beste Vorbereitung ist keine
Garantie dafür, dassder Ausstieg dauerhaft glückt. So treibt die
Wirt-schafts- und Finanzkrise immer mehr Auswandererzurück nach
Deutschland. Auch beim Raphaelswerkgehen täglich Anfragen von
Menschen ein, die ihrenJob im Ausland verloren haben. Darunter auch
dieeiner jungen Deutschen, die zusammen mit ihremzwei Monate alten
Sohn und ihrem Freund in Mala-ga lebt. In Spanien hat die kleine
Familie keine Per-spektive. Auch fehlt das Geld für den Umzug
nachHessen – und die Aufenthaltsgenehmigung für denFreund, der aus
Venezuela kommt.
„An erster Stelle stehen auch bei den Rückwan-derern familiäre
oder berufliche Gründe“, sagt dieSprecherin des Raphaelswerks. Das
kann eineKrankheit, ein pflegebedürftiger Angehöriger, Heim-weh
oder die Trennung vom Partner sein. Wie imFall der Betriebswirtin,
die nach dem Studium in dieUSA ging und einen dort lebenden
Deutschen hei-ratete. Inzwischen ist sie geschieden, plant
nachHeilbronn zurückzukehren, um in der Nähe der El-tern zu sein.
An das Raphaelswerk hat sie sich ge-wandt, um ihre Chancen auf dem
deutschen Arbeits-markt auszuloten. Am liebsten wäre ihr ein
Bürojob,bei dem man Englischkenntnisse braucht.
Hauptsache glücklich
Der Weg des schwäbischen Bürgermeisters PeterRist führte aus der
Amtsstube hinaus. Natürlich ha-be es neben Erfolgen auch manchen
Rückschlag ge-geben, dennoch bereue er seine Entscheidung
keineSekunde, sagt List. Nur manchmal hört man zwi-schen den Zeilen
noch den Politiker heraus: „Mitmeiner Musik mache ich Menschen
zumindest zeit-weise glücklich und glückliche Menschen, die
dasMiteinander schätzen, sind das Rückgrat einer funk-tionierenden
Gesellschaft.“ Aber dann will Rist dochlieber über seinen neuen Hit
sprechen. Er heißt:„Willkommen im Leben“.
Uta Koch vom Raphaelswerk rät Auswanderwilligen, sich
ausführlich beraten zu lassen – erst recht, wenn maneine der
folgenden fünf Fragen mit Nein beantwortet.
Beherrschen Sie die Landes sprache so gut, dass Sie sich
problemlos verstän digen können?
Haben Sie einen Job in Aussicht oder gibt es einernstzunehmendes
Stellenangebot?
Sind Sie vor Ort kranken- und sozialversichert?
Verfügen Sie über finanzielle Reserven, falls Sie Engpässe
überbrücken müssen oder Sie das Heim-weh packt?
Haben Sie sich überlegt, was passiert, wenn Sie krank werden
oder einem Ihrer Angehörigen etwaszustößt?
� Weitere Informationen sowie die Adressen von Beratungsstellen
gibt es hier: www.raphaelswerk.deOder über das Bundesverwaltungsamt
unterwww.bva.bund.de
Nicht jeder hat den Mut oder die Möglichkeit, sein gewohntes
Leben aufzugeben und neu anzufangen.Drei Tipps für mehr
Zufriedenheit trotz Alltag:
�Beugen Sie Stress vor und versuchen Sie IhrenJob so anzugehen,
dass er sich nicht nur nach Ar-beit anfühlt. Der Weg dahin führt
über eine sinnvol-le Einteilung von Arbeitszeit und Freizeit. Und
är-gern Sie sich nicht zu lange, wenn etwas danebengeht.
Konsequenzen ziehen und abhaken.
�Reservieren Sie sich regelmäßig Zeit für sichselbst. Ob Lesen,
Musik hören, Joggen oder Yoga:Hauptsache Sie vergessen alle Termine
und Proble-me.
�Denken Sie über einen Ausstieg auf Zeit nach.Wer Ruhe und
Besinnung sucht, findet diese viel-leicht in einem Kloster. Einen
größeren räumlichenAbstand zum Alltag gewinnt man auf Reisen.
Men-schen, die mit dem Gedanken spielen, sich beruflichneu zu
orientieren, können sich weiterbilden oderFreiwilligenarbeit
leisten.