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234 235 8. KAPITEL Gespaltene Erinnerung? Die Forschungsstelle Ostsee und der Untergang der Gustloff Bill Niven In den letzten Jahren ist die Arbeit der sogenannten „Schieder-Kommission“, die in den 1950er-Jahren die Geschichte der Flucht und Vertreibung der Deut- schen aus Osteuropa erforschte, wissenschaftlich gut untersucht worden. 1 Das lässt sich von der Arbeit der Forschungsstelle Ostsee, die sich in den 1960er- Jahren die Flucht über die Ostsee zum ema nahm, nicht sagen. Dieses Ka- pitel, das zu einem beträchtlichen Teil auf Akten in den Bundesarchivstand- orten Bayreuth, Freiburg und Koblenz basiert, versucht also, wenig Bekanntes an die Öffentlichkeit zu bringen. Gezeigt wird auch, dass gerade das ema Gustloff zu einem der Streitpunkte innerhalb des Forschungsprojektes wurde – vor allem zwischen dem ehemaligen Korvettenkapitän Wilhelm Zahn und dem Zahlmeisterassistenten Heinz Schön, beide Überlebende des Gustloff- Untergangs. Am Ende scheiterte die Arbeit der Forschungsstelle. Während die „Operation Hannibal“, also die im Grunde erfolgreiche Evakuierung von ein bis anderthalb Millionen Menschen über die Ostsee am Kriegsende, fast in Vergessenheit geraten ist, ist das ema Gustloff – also Schiffsuntergang und Massentod – tief ins öffentliche Bewusstsein gedrungen. 2 Die Forschungsstelle Ostsee wurde 1963/1964 ins Leben gerufen. Ziel des Projekts war es, „Unterlagen für eine Geschichtsschreibung und Dokumenta- tion über die Geschichte der Rückführung der Flüchtlinge, Verwundeten und Soldaten in den letzten hundert Tagen des Krieges mit Hilfe der Kriegsmarine und Handelsschiffahrt“ zusammenzustellen. 3 Das Projekt wurde zwar von der Ostakademie (insbesondere von Hanns von Krannhals und Karl Heinz Gehr- mann) in Lüneburg betreut, 4 aber für die Materialsammlung war Konterad- miral a. D. Conrad Engelhardt zuständig, der in den letzten Kriegsmonaten Seetransportchef der Wehrmacht und als solcher für die Schiffseinsätze bei der Rettung der deutschen Ostflüchtlinge 1944/1945 verantwortlich war. Ehren- amtlich beteiligt waren außer Engelhardt, der sich im Rahmen des Projektes mit den Leistungen der Handelsschiffe bei der Rettung über See beschäftigte, der Bonner Professor Walther Hubatsch (militärische und politische Vorge- schichte der Rettungsaktion), Flottillenadmiral Adalbert von Blanc (Leistun- gen der Kriegsschiffe) und Heinz Schön (Untergänge der Handelsschiffe). Bis September 1966 wurde die Tätigkeit des „Büros Engelhardt“ finanziell vom Ministerium für Gesamtdeutsche Fragen unterstützt. Bis dahin aber war die Materialsammlung keineswegs abgeschlossen – nicht zuletzt, weil wichtige Ak- ten der deutschen Kriegsmarine erst Mitte der 1960er-Jahre von der Londoner Admiralität in das Militärarchiv in Freiburg überführt werden konnten. 5 Es konnten aber für die Mitarbeit von Engelhardts Team keine weiteren Mittel aufgebracht werden. 6 Die Federführung ging also ab 1967 ganz an die Ost- deutsche Akademie über, wo sich der Historiker Hanns von Krannhals auf Grundlage der vorhandenen Dokumentation – von Engelhardt aufbereitet – an die Aufgabe machte, eine Buchveröffentlichung vorzubereiten. 7 Doch bald versandete das Projekt. Krannhals und Engelhardt, der sich ohne finanzielle Hilfe trotzdem weiter engagierte, konnten nicht gut mitein- ander arbeiten. Krannhals, für den die Zusammenarbeit mit Engelhardt „kei- ne reine Freude“ war, 8 bezeichnete die Mehrzahl von Engelhardts vorgelegten Manuskripten als „stilistisch und inhaltlich unverwendbar“, sie enthielten „so zahlreiche schiefe Darstellungsmomente, z. T. Unrichtigkeiten des histo- rischen, militärischen, rechtlichen Elementarwissens, daß […] faktisch nicht ein Satz stehen bleiben konnte“. 9 Laut Krannhals bestanden auch Spannungen zwischen Engelhardt und von Blanc, die nicht auf „sachliche Meinungsver- schiedenheiten“, sondern eher auf eine „tiefgehende persönliche Abneigung“ zurückzuführen wären. 10 Engelhardt seinerseits hegte den Verdacht, die Aka- demie – die er beschuldigte, die Einstellung der Mittel im Jahre 1966 durch „unzutreffende Angaben über die Termine der Fertigstellung“ mitverursacht zu haben 11 – versuche, ihn und Schön als Mitarbeiter auszuschalten. 12 Geholfen hat es sicherlich nicht, dass Dr. Krannhals, der sich bis dahin „von Krann- hals“ genannt hat, im Herbst 1966 gerichtlich verboten wurde, das Adelsprä- dikat „von“ zu führen. Laut dem Gesamtdeutschen Ministerium hat dieses
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Gespaltene Erinnerung: Die Forschungsstelle Ostsee und der Untergang der Gustloff

Mar 12, 2023

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8. KAPITEL

Gespaltene Erinnerung? Die Forschungsstelle Ostsee und der Untergang der GustloffBill Niven

In den letzten Jahren ist die Arbeit der sogenannten „Schieder-Kommission“, die in den 1950er-Jahren die Geschichte der Flucht und Vertreibung der Deut-schen aus Osteuropa erforschte, wissenschaftlich gut untersucht worden.1 Das lässt sich von der Arbeit der Forschungsstelle Ostsee, die sich in den 1960er-Jahren die Flucht über die Ostsee zum Thema nahm, nicht sagen. Dieses Ka-pitel, das zu einem beträchtlichen Teil auf Akten in den Bundesarchivstand-orten Bayreuth, Freiburg und Koblenz basiert, versucht also, wenig Bekanntes an die Öffentlichkeit zu bringen. Gezeigt wird auch, dass gerade das Thema Gustloff zu einem der Streitpunkte innerhalb des Forschungsprojektes wurde – vor allem zwischen dem ehemaligen Korvettenkapitän Wilhelm Zahn und dem Zahlmeisterassistenten Heinz Schön, beide Überlebende des Gustloff-Untergangs. Am Ende scheiterte die Arbeit der Forschungsstelle. Während die „Operation Hannibal“, also die im Grunde erfolgreiche Evakuierung von ein bis anderthalb Millionen Menschen über die Ostsee am Kriegsende, fast in Vergessenheit geraten ist, ist das Thema Gustloff – also Schiffsuntergang und Massentod – tief ins öffentliche Bewusstsein gedrungen.2

Die Forschungsstelle Ostsee wurde 1963/1964 ins Leben gerufen. Ziel des Projekts war es, „Unterlagen für eine Geschichtsschreibung und Dokumenta-tion über die Geschichte der Rückführung der Flüchtlinge, Verwundeten und Soldaten in den letzten hundert Tagen des Krieges mit Hilfe der Kriegsmarine und Handelsschiffahrt“ zusammenzustellen.3 Das Projekt wurde zwar von der Ostakademie (insbesondere von Hanns von Krannhals und Karl Heinz Gehr-mann) in Lüneburg betreut,4 aber für die Materialsammlung war Konterad-miral a. D. Conrad Engelhardt zuständig, der in den letzten Kriegsmonaten Seetransportchef der Wehrmacht und als solcher für die Schiffseinsätze bei der

Rettung der deutschen Ostflüchtlinge 1944/1945 verantwortlich war. Ehren-amtlich beteiligt waren außer Engelhardt, der sich im Rahmen des Projektes mit den Leistungen der Handelsschiffe bei der Rettung über See beschäftigte, der Bonner Professor Walther Hubatsch (militärische und politische Vorge-schichte der Rettungsaktion), Flottillenadmiral Adalbert von Blanc (Leistun-gen der Kriegsschiffe) und Heinz Schön (Untergänge der Handelsschiffe). Bis September 1966 wurde die Tätigkeit des „Büros Engelhardt“ finanziell vom Ministerium für Gesamtdeutsche Fragen unterstützt. Bis dahin aber war die Materialsammlung keineswegs abgeschlossen – nicht zuletzt, weil wichtige Ak-ten der deutschen Kriegsmarine erst Mitte der 1960er-Jahre von der Londoner Admiralität in das Militärarchiv in Freiburg überführt werden konnten.5 Es konnten aber für die Mitarbeit von Engelhardts Team keine weiteren Mittel aufgebracht werden.6 Die Federführung ging also ab 1967 ganz an die Ost-deutsche Akademie über, wo sich der Historiker Hanns von Krannhals auf Grundlage der vorhandenen Dokumentation – von Engelhardt aufbereitet – an die Aufgabe machte, eine Buchveröffentlichung vorzubereiten.7

Doch bald versandete das Projekt. Krannhals und Engelhardt, der sich ohne finanzielle Hilfe trotzdem weiter engagierte, konnten nicht gut mitein-ander arbeiten. Krannhals, für den die Zusammenarbeit mit Engelhardt „kei-ne reine Freude“ war,8 bezeichnete die Mehrzahl von Engelhardts vorgelegten Manuskripten als „stilistisch und inhaltlich unverwendbar“, sie enthielten „so zahlreiche schiefe Darstellungsmomente, z. T. Unrichtigkeiten des histo-rischen, militärischen, rechtlichen Elementarwissens, daß […] faktisch nicht ein Satz stehen bleiben konnte“.9 Laut Krannhals bestanden auch Spannungen zwischen Engelhardt und von Blanc, die nicht auf „sachliche Meinungsver-schiedenheiten“, sondern eher auf eine „tiefgehende persönliche Abneigung“ zurückzuführen wären.10 Engelhardt seinerseits hegte den Verdacht, die Aka-demie – die er beschuldigte, die Einstellung der Mittel im Jahre 1966 durch „unzutreffende Angaben über die Termine der Fertigstellung“ mitverursacht zu haben11 – versuche, ihn und Schön als Mitarbeiter auszuschalten.12 Geholfen hat es sicherlich nicht, dass Dr. Krannhals, der sich bis dahin „von Krann-hals“ genannt hat, im Herbst 1966 gerichtlich verboten wurde, das Adelsprä-dikat „von“ zu führen. Laut dem Gesamtdeutschen Ministerium hat dieses

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Gerichtsurteil Krannhals’ Ansehen „in wissenschaftlichen und Kollegenkreisen beeinträchtigt“.13 1968 erkrankte Krannhals, was sicherlich die Weiterführung des Projekts ebenfalls verlangsamte.14 Als er 1970 starb, erlahmte das Inter-esse der Ostdeutschen Akademie an der Veröffentlichung. Hinzu kam, dass 1969 aus dem Ministerium für Gesamtdeutsche Fragen das Ministerium für innerdeutsche Beziehungen wurde. Das war mehr als eine Umbenennung; die Geschichte des deutschen Ostens jenseits der DDR geriet ab 1970 politisch immer mehr aus dem Blickfeld. Engelhardt hat auch 1972 gegenüber Schön den Verdacht geäußert, dass die neue SPD-FDP-Regierung (ab 1969) „mit ei-ner neu-orientierten Ostpolitik […] die geplante Dokumentation nicht mehr für wünschenswert“ halte.15

In den frühen 1960er-Jahren, als das Projekt ins Leben gerufen wurde, erhofften sich die Beteiligten vieles davon. Zuerst galt es, eine Lücke zu füllen. Denn obwohl unter Theodor Schieder bereits eine breit angelegte Dokumen-tation zur Flucht und Vertreibung erstellt worden war,16 waren die Beteiligten der Forschungsstelle der Meinung, es sei darin nicht ausführlich genug über die „Operation Hannibal” berichtet worden; die Schieder-Dokumentation führe „sozusagen nur bis an das Ufer der Ostsee, bis an die Verladekais – und bricht dann ab“.17 Es ging aber um viel mehr. Einer der wichtigsten Befürwor-ter des Projektes, Ministerialdirigent Friedrich von Zahn vom Ministerium für Gesamtdeutsche Fragen, erklärte sich 1964 „finster entschlossen, alles zu tun, das [sic] Dokumentationen dieser Art in Zukunft eine [sic] viel breite-ren Raum einnehmen, aus denen hervorginge, daß die jüngste deutsche Ge-schichte eben nicht nur Materialien zu Eichmann- und Auschwitz-Prozessen liefere“.18 Die Rettung der Flüchtlinge über See am Kriegsende sollte also do-kumentiert werden, um das vermeintliche Bild der Deutschen als „Täter“ zu relativieren. Der Entwurf eines Vorwortes zur geplanten Dokumentation aus dem Jahre 1968 bezeichnete die Rettung von zwei Millionen Menschen durch die Handels- und Kriegsmarine als „eine humanitäre Tat“; gegen Kriegsende sei „das Handeln einer überpolitischen Vernunft, einer menschlichen Anteil-nahme, einer Barmherzigkeit um ihrer selbst willen“ auf den Plan getreten. Die Rettung der Flüchtlinge verdiene es sogar, „zu den humanitären Großtaten der Menschheit gezählt zu werden“.19 Sicherlich war es auch der Zweck des For-

schungsprojektes, die Kriegsmarine und damit auch die Wehrmacht als Ganzes in ein positives Licht zu rücken. So konnte die neu aufgebaute Bundeswehr auf eine Geschichte humanitärer Einsätze im Krieg zurückblicken. Die positive Darstellung der historischen Rolle der Kriegsmarine als „Retter vor den Sow-jets“ sollte wohl auch die Eignung der seit 1956 bestehenden Bundesmarine unterstreichen, an der Ostsee für den Fall eines NATO-Krieges mit der Sowje-tunion Abwehrmaßnahmen zu treffen.20 Vor allem aber war es der Wunsch der Projektbeteiligten, die Rolle der Handelsschifffahrt bei der Rettung herauszu-streichen, wie auch die erfolgreiche Zusammenarbeit zwischen Handels- und Kriegsmarine bei der Evakuierung von Flüchtlingen und verwundeten Solda-ten.21 Obwohl das Forschungsprojekt auch den Transport von KZ-Häftlingen und von deutschen Soldaten per Schiff untersuchen wollte, lag die Betonung auf den Flüchtlingstransport. Damit verbunden war aber sicherlich eine ge-wisse Gefahr der Einseitigkeit in der Perspektive; Soldaten wurden schließlich abtransportiert, um anderswo eingesetzt zu werden, und für KZ-Häftlinge, die vor, während und nach der Fahrt Gefangene waren, bedeutete der Transport über See alles andere als „Rettung“. Die Vorstellung einer human handeln-den Marine und einer zum Opfer gewordenen Volksgemeinschaft flüchtender Deutscher – Opfer nicht nur der Russen, sondern auch der Nazipartei, die viel zu spät evakuieren ließ – übersieht solche Unterschiede.

Dass es bei dem Forschungsprojekt zu keiner offiziell unterstützten Veröf-fentlichung kam – im Gegensatz zu der Schieder-Dokumentation –, lag nicht nur an den oben genannten Gründen. Von vornherein begleiteten Rivalitäten die Arbeit am Projekt. Die ursprüngliche Idee war, dass das Kulturreferat des Bundes der Vertriebenen mit Engelhardt und der Ostakademie zusammenar-beiten würde, wobei feststand, dass alle Materialien der Ostakademie zur Aus-wertung vorgelegt werden sollen. BDV-Referent und Marinehistoriker Jochen Brennecke aber arbeitete an seinem eigenen Buch zum Thema (unter der Mit-arbeit von Fregattenkapitän Schmalenbach)22 und schien nicht bereit, von ihm im Rahmen des Projektes gesammeltes Material an die Akademie weiterzurei-chen.23 Schließlich behauptete er gegenüber dem Bund der Vertriebenen, die-ses Material sei leider bei einem Einbruch in seinem geparkten Auto gestohlen worden – eine für Engelhardt zumindest wenig glaubwürdige Behauptung.24

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Im Juni 1965 entließ der BDV Brennecke fristlos; falls er versuchen sollte, ein Buch herauszugeben, das teilweise auf Material basierte, welches mit Bundes-mitteln beschafft worden war, würden laut Engelhardt sicherlich sowohl der BDV, die Ostakademie wie auch das Ministerium für Gesamtdeutsche Fragen eine einstweilige Verfügung gegen das Werk erwirken.25 Hinderlich war ja auch die Tatsache, dass keine wirksame Zusammenarbeit zwischen der Forschungs-stelle und anderen, die zum Thema forschten, zustande kam. Das Gegenteil war manchmal der Fall. So beschwerte sich Großadmiral Dönitz in einem Brief an Engelhardt darüber, dass weder der Marineschriftsteller Hans Dieter Be-renbrok (Cajus Bekker) noch Frank Wisbar ihm davon berichtet hätten, dass sie an einem Film zum Thema „Flucht über die Ostsee“ arbeiten. Engelhardt versuchte, Berenbrok dazu zu bewegen, zumindest einen Hinweis auf die Ar-beit der Forschungsstelle in den Film aufzunehmen, befürchtete aber, dass er dies „aus Konkurrenzneid unterlassen“ würde.26 Laut Berenbrok war es aber für einen solchen Hinweis einfach zu spät.27 In der Zwischenzeit hatte Engel-hardt – dessen Kontakt zu Schön und von Blanc auch brüchig geworden war und der sich von der Ostakademie übersehen fühlte – sich entschlossen, selber ein Buch zum Thema Ostsee-Rettung herauszubringen. Auch Schön arbeitete an eigenen Büchern. Es arbeiteten also drei Mitglieder der Forschungsstelle Ostsee nur teilweise miteinander.

Auch in Sachen Gustloff hatte die Forschungsstelle Probleme bei der Arbeit. Wie oben angedeutet, war Heinz Schön innerhalb der Forschungsstelle für die Dokumentation der Schiffsuntergänge bei der Räumungsaktion zuständig. Das war nur folgerichtig. Schließlich hatte Schön seit Jahren zu diesem Thema geforscht – sofern ihm seine beruflichen Verpflichtungen als Fremdenverkehrs-direktor der Stadt Herford die Zeit dazu ließen. Schön hatte als Zahlmeisteras-sistent den Untergang der Wilhelm Gustloff erlebt. Schon vor Kriegsende fing der durch den Untergang gesundheitlich angeschlagene Schön an, vor allem über die Versenkung der Gustloff Informationen zu sammeln – nicht zuletzt, um seine eigenen traumatischen Erlebnisse auf dem Schiff aufzuarbeiten. Auf eigene Kosten baute er nach dem Krieg ein eigenes Gustloff-Archiv auf und veröffentlichte Artikel zur in Zeitungen und Zeitschriften. Auf Wunsch der Wochenzeitschrift Heim und Welt verfasste er 1949 einen dreiteiligen Bericht

über den Untergang der Gustloff – und erhöhte damit nach eigenen Angaben auf einen Schlag die Auflage der Zeitschrift von 80.000 auf 150.000 und dann 200.000. Er bekam 1.500 Leserbriefe, zum Teil von Überlebenden, startete sodann eine Fragebogenaktion, um seine Kenntnisse noch weiter zu vertie-fen, publizierte eine zweite Serie in Heim und Welt über die Geschichte des Gustloff-Findlings Frank-Michael Freymüller,28 bekam noch mehr Leserbriefe und veröffentlichte 1952 ein Buch zum Gustloff-Untergang.29 Es folgten seine Mitarbeit an dem Drehbuch zu Frank Wisbars Film Nacht fiel über Gotenhafen und 1960 eine erneute Buchveröffentlichung zum Untergang der Gustloff.30 Auf diese Weise versuchte Schön, den vielen Toten der Gustloff-Tragödie ein Denkmal zu setzen. Weil aber viele Fragen zum Gustloff-Untergang und auch zum Untergang anderer Schiffe noch nicht eindeutig geklärt waren, gingen seine Forschungen weiter. Relativ schnell aber begriff er, dass die Ergebnisse dieser Arbeit nur bedingt in die geplante Dokumentation der Forschungsstelle würden einfließen können.31 Aus diesem Grund trug er sich mit Plänen, weite-re Bücher zur Untergangsthematik in eigener Regie zu veröffentlichen – Pläne, die er allerdings erst in den 1980er-Jahren realisieren konnte.

Die Zusammenarbeit zwischen Engelhardt und Schön wurde nicht zuletzt durch das schwierige Verhältnis zwischen Kapitän Wilhelm Zahn – der mili-tärischer Transportleiter auf der Gustloff gewesen war – und Schön erschwert. Spannungen zwischen den beiden bestanden schon lange. Laut Schön war Zahn mit dessen Buch Der Untergang der „Wilhelm Gustloff“ (1952) gar nicht zufrieden. Zahn meldete sich daraufhin per Brief bei Schön und kritisierte dessen Schilderung der Ereignisse, die nach Meinung Zahns insbesondere in der „Schuldfrage“ unrichtig sei.32 Als die Forschungsstelle 1964 ihre Arbeit aufnahm, schrieb Zahn an Engelhardt und beschwerte sich über Schön. Lei-der ließ sich dieser Brief von Zahn (vom 9. Oktober 1964) nicht auffinden. Erhalten aber ist ein Brief von Schön an Zahn, in dem er zu diesen Beschwer-den Stellung nimmt. Schön wehrt sich energisch gegen Zahns Behauptung, er würde versuchen, „die alleinige Schuld am Untergang nur der Kriegsmarine (militärische Transportleitung) zuzuschieben“. Auch Zahns Vorwurf der Ge-winnsucht wies Schön von sich.33 Irritiert durch die Tatsache, dass Engelhardt offensichtlich Zahns an ihn persönlich adressierten Brief an Schön weiterge-

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geben hatte, meldete sich Zahn bei Engelhardt und beklagte sich über Ver-trauensbruch – und wiederum über Schön, den er „als Angehörige[n] der zivi-len Besatzung“, der „zur Gegenseite der militärischen Gruppe auf dem Schiff gehörte“, für „befangen“ erklärte.34 Auch weigerte sich Zahn, seine Antwor-ten auf Fragen, die Schön ihm am 13. Januar 1966 zum Gustloff-Untergang schriftlich stellte, an Schön zu schicken; stattdessen leitete er sie an Engelhardt weiter.35 Diesem Streit vorausgegangen war der Versuch Engelhardts, Schön von der Idee abzubringen, Fragen an Zahn direkt zu stellen, und stattdessen die Fragen indirekt über den ehemaligen Kommandeur der 9. Sicherheitsdivi-sion von Blanc zu lenken. Engelhardt schrieb auch an Schön, dass von Blanc mit Nachforschungen zur Gustloff-Thematik beauftragt sei, worüber Schön sich sehr wunderte. Schließlich war vereinbart worden, dass Schön das Thema Gustloff alleine bearbeiten soll.36 Auf welcher Seite Engelhardt beim Streit zwi-schen Zahn und Schön stand, ist unklar. Anderen gegenüber jedenfalls ließ er Bemerkungen fallen, die auf eine zumindest hochnäsige Einstellung zu Schön schließen lassen. In einem Brief an Robert Hering – Kapitän eines der Schiffe, das Gustloff-Überlebende rettete – bezeichnete er „die Person Schön“, obwohl er seine Mitarbeit sicherlich schätzte, als „mir […] auch nicht so sonderlich sympathisch“. Engelhardt weist darauf hin, dass Schön beim Untergang der Gustloff gesundheitliche Schäden erlitten hat, und betont, dass man ihn daher anders einschätzen solle, als er in seinem Schriftwechsel erscheint. Gerade in seinen Briefen aber sei Schön „eben ein ‚kleiner Mann‘“, der wahrscheinlich „furchtbar stolz“ ist, jetzt „städt. Verkehrsdirektor und Theaterbearbeiter der Stadt Herford“ zu sein.37 Im selben Brief warf er Schön vor, in der Nachkriegs-zeit die Presse mit Artikeln „bombardiert“ zu haben, „nur um Geld zu ma-chen“. Engelhardt ließ auch Schöns Gustloff-Bücher von anderen evaluieren,38 bemängelte die „vielen Fehler“, vor allem im ersten Buch, und beschrieb eines von diesen in einem Brief an Zahn als „sowieso tendenziös“.39

Die etwas arrogante Einstellung von Kapitän Zahn und Konteradmiral a. D. Engelhardt dem ehemaligen Zahlmeisterassistenten Schön gegenüber lässt vielleicht darauf schließen, dass sie ihn als „rangniedrig“ betrachteten; hier spielte ein militärisches Hierarchiedenken eine gewisse Rolle. Dazu kam, dass Engelhardt als Seetransportchef und Zahn als Korvettenkapitän

einer U-Boot-Lehrdivision zur Wehrmacht gehörten – Schön dagegen zur Handelsmarine. Er gehörte eben „zur Gegenseite“, wie Zahn es formuliert hat. Was an diesen zwischenmenschlichen Spannungen und der damit ver-bundenen Diskussion über die „Schuldfrage“ deutlich wird, ist die Tatsache, dass (ehemalige) Vertreter der Handels- und Kriegsmarine eben nicht immer solidarisch miteinander umgingen. Die Ereignisse, die dem Untergang der Gustloff vorausgingen, liefern auch ein gutes Beispiel dafür, dass bei der Ret-tungsaktion gegen Kriegsende die Zusammenarbeit zwischen Kriegsmarine und Handelsmarine, ja auch die Zusammenarbeit innerhalb der Kriegsmarine selbst, keineswegs reibungslos und effizient ablief. Das wird an allen „Schuld-fragen“, die in der einen „Schuldfrage“ gebündelt waren, deutlich. Zum ei-nen war es so, dass der Kommandeur der 2. U-Boot-Lehrdivision, Kapitän zur See Neitzel, die Gustloff am 30. Januar 1945 auslaufen ließ, ohne auf das Geleit zu warten, welches eigentlich von der 9. Sicherungsdivision hätte gestellt werden müssen; der (von manchen später als zu dürftig bezeichnete) Geleitschutz bestand aus zwei von der U-Boot-Waffe selbst zur Verfügung gestellten Schiffen, von denen schließlich nur eines, das Torpedoboot Löwe, die Gustloff begleitete. Auf der Gustloff selbst schienen die Kompetenzen un-klar. Zahn war militärischer Transportleiter, wohingegen Petersen von der Handelsmarine der Schiffskapitän war. Aber wo hörte die Verantwortung von Zahn auf dem Schiff – der schließlich seine U-Boot-Männer nach Westen bringen musste – eigentlich auf? War Petersen wirklich befugt, das Schiff zu fahren, wenn er, wie oft vermutet, von den Briten nur unter der Bedingung aus der Kriegsgefangenschaft entlassen worden war, dass er kein Komman-do mehr übernimmt?40 Zahn selber hat bestritten, dass es jemals zu einem Kompetenzgerangel zwischen ihm und Petersen gekommen ist, wohl aber be-stünde immer ein „latenter Spannungszustand“ zwischen „Zivilbesatzung und meinen Offizieren“.41 Wie kam es zu der Entscheidung über die Route, über die Fahrtgeschwindigkeit? Warum wurde kein Zickzackkurs gefahren? War es notwendig, nach Empfang eines Funkspruchs über einen entgegenkommen-den Minensuchverband Positionslichter zu setzen? Vor allem aber: Wurden diese Entscheidungen von Petersen getroffen oder von Zahn oder gemeinsam? Wurden die Handelsschifffahrtskapitäne Heinz Weller und Karl-Heinz Köh-

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ler in den Entscheidungsprozess mit einbezogen oder wurden sie übergangen? Gab es widersprüchliche Befehle?

Schön ging diesen und auch anderen mit dem Untergang verbundenen Fragen akribisch nach. In seinem ersten Buch zur Gustloff-Versenkung spielt die Frage der Verantwortung eine relativ kleine Rolle; lediglich die Entschei-dung, die Gustloff ohne die Hansa auslaufen zu lassen, wird angesprochen.42 Schon im zweiten Buch aber nimmt die Frage des Geleits einen viel größeren Raum ein;43 auf die Frage der Fahrtroute und auf die Entscheidung, Positi-onslichter zu setzen, wird auch im zweiten Buch eingegangen.44 Bei den Fra-gen, die Schön schon Anfang 1965 zusammenstellte aber erst 1966 an Zahn zur Beantwortung schickte, handele es sich aber Schöns Meinung nach kei-neswegs um ein „Verhör“ zur Schuldfrage, „obwohl sie gerade diesen Fragen-komplex besonders eingehend berühren“.45 Ja, es ginge laut Schön nicht um eine Klärung der Schuld, sondern „einzig und allein“ darum, „den Opfern der Gustlofftragödie bezw. deren Angehörigen und auch der Öffentlichkeit klarzumachen, dass alles Menschenmögliche getan worden ist, die Gustloff-Tragödie zu verhindern“.46 Wer Schöns Gustloff-Bücher kennt, auch die späte-ren aus den 1980er- und 1990er- Jahren, wird ihm auf jeden Fall bescheinigen, dass er sich Mühe gibt, den Hergang der Ereignisse genau zu rekonstruieren und voreilige Schuldzuweisungen zu vermeiden. Er war auch – ganz anders als Zahn – nicht bereit, den sowjetischen U-Boot-Kommandanten zu verurteilen, denn „die ‚Gustloff‘ befand sich bei der letzten Fahrt eindeutig in Seekriegsge-wässern“ und „fuhr nicht unter der Flagge des Roten Kreuzes und war somit ein ‚Kriegsschiff‘“. Schöns Fazit: „Der Abschuss war, so hart das auch klingt, völlig legal.“47 Allerdings bringt er manchmal in seinen Briefen die Meinung zum Ausdruck, die zweite U-Boot-Lehrdivision und insbesondere Zahn seien zum beträchtlichen Teil schuld am Untergang der Gustloff. In einem Brief an Engelhardt betont Schön, er habe Zahn in seinen Veröffentlichungen nie als den „Schuldigen“ genannt, setzt aber gleich hinzu: „Meine persönliche Mei-nung, die viele Überlebende und Augenzeugen mit mir teilen, ist allerdings eine andere!“48 In einem anderen Brief an Engelhardt schrieb Schön, er habe in Hamburg lange Gespräche mit anderen Offizieren geführt – einschließlich Petersen und Reese –, die laut Schön „in der ‚Schuldfrage‘ allerdings anderer

Auffassung als Herr Zahn“ waren.49 Schöns Briefwechsel mit Schiffsoffizieren der Gustloff, z. B. die Aussagen von Kapitän Paul Vollrath, der während der Untergangsfahrt auf der Schiffsbrücke die Diskussionen zwischen Petersen und Zahn mit angehört hat, führten ihn zu dem Schluss, dass Zahn den ver-ständlichen Wunsch hatte, „den ganzen Fall ‚Gustloff‘ ins Grab zu senken“,50 dass Schöns Fragen ihm „peinlich“ waren51 und dass er ein schlechtes Gewissen hatte.52 1965 war Schön laut eigener Aussage durchaus in der Lage, nachzuwei-sen, „wer tatsächlich ‚versagt‘ hat“ und dass „die Katastrophe nicht unbedingt erforderlich war und hätte verhindert werden können“.53 Solche Bemerkungen legen den Schluss nahe, dass Schön letztendlich eben nicht der Meinung war, es sei alles Menschenmögliche getan worden.

Nach Empfang eines wohl hitzigen Briefes von Zahn im Januar 1966, schrieb Schön deutliche Worte an Engelhardt. Er warf Zahn vor, alle wich-tigen Fragen (z. B. Rettungsmittel, Geleitsicherung) vor dem Auslaufen des Schiffes selber geregelt zu haben. Zahn habe ferner die Entscheidung getrof-fen, vor Hela die Gustloff allein weiterfahren zu lassen, habe den Funkverkehr geregelt54 und die Positionslaternen setzen lassen.55 Zahns Verantwortung wäre demnach tatsächlich umfangreich gewesen. Aber Zahn handelte nicht so autonom, wie Schön ihm vorwarf. Schließlich hatte er, wie er in einem Be-richt an das Marine-Oberkommando vom 4. Februar 1945 schreibt, von der Führung der U-Boot-Ausbildung die Anweisung erhalten, nur mit Löwe und TF1 als Geleit weiterzufahren.56 In seinem Buch zur Gustloff-Versenkung von 1960 informiert Schön den Leser, dass Zahn das Schiff auch deswegen alleine auslaufen ließ, weil er die Menschen an Bord, für die er sich verantwortlich fühlte, „den erhöhten Gefahren des Stillliegens“ nicht mehr aussetzen woll-te – die Entscheidung war also keineswegs willkürlich.57 Zahn war auch für die Rettungsmittel nicht alleine zuständig. Zahn schreibt in seiner Antwort auf Schöns Fragen, dass die Bedienung der schiffseigenen Rettungsboote auf ausdrücklichen Wunsch des Ersten Offiziers Reese „in den Händen der zi-vilen Schiffsführung“ blieb. Hier schreibt er auch, dass er sich von Petersen erst „nach langem Drängen“ von der Notwendigkeit habe überzeugen lassen, Positionslichter zu zeigen.58 Dass das Schiff auf Wunsch von Petersen nicht auf Zickzackkurs und nicht über zwölf Seemeilen fuhr – was Zahn eigentlich

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wollte – hat eventuell bei dem Untergang auch eine Rolle gespielt. In den 1950er- und 1960er-Jahren bemühte sich Schön, herauszufinden, wer der ei-gentliche Kapitän auf dem Schiff war. Er ließ 1965 die Forschungsstelle für Völkerrecht und ausländisches öffentliches Recht an der Universität Hamburg ein Gutachten zu dieser Frage erstellen. Ohne dem Gutachten vorgreifen zu wollen, schrieb Schön an Engelhardt, werde die Forschungsstelle feststellen, dass die Gustloff als Handelsschiff unter der alleinigen Verantwortung von Pe-tersen fuhr.59 1966 schrieb er an Zahn, „die Frage wer war zuständig [sic] für die Schiffsführung“ sei „eindeutig geklärt“, nämlich Petersen.60 Daraus müsste man folgern, dass Petersen für alle auf dem Schiff getroffenen Entscheidungen letztendlich verantwortlich war, nicht Zahn.61 In späteren Büchern zog Schön die Konsequenz aus dieser Einsicht, indem er das letztendliche Treffen der Ent-scheidung, das Schiff alleine auslaufen zu lassen, nicht mehr wie in seinen Büchern von 1952 und 1960 Zahn zuschrieb, sondern Petersen.62

Während Zahn nicht bereit schien, mit Schön zusammenarbeiten zu wol-len, so war er – laut Schön – durchaus gewillt, Joachim Brock bei seinen Gust-loff-Recherchen zu helfen,63 „da er [Brock] Lt. z. S. war – und nicht ein ‚Zahl-meisteraspirant‘ der Handelsschiffahrt, der nicht ernst zu nehmen war“.64 Es deutet einiges darauf hin, dass Schön Zahns Arroganz ihm gegenüber durchaus spürte. In seinen Briefen war seine Meinung von Zahn auch recht kritisch. In einem Brief an Schön hatte Zahn die „Sonderstellung“ der U-Boot-Waffe und ihrer Berechtigung betont, Auszubildende zu verlegen. Schön reagierte em-pört: „Herr Zahn schreibt nichts davon, daß neben den 1000 Soldaten 5500 Flüchtlinge an Bord waren! Waren diese nur lästiges Beigepäck für die 1000 Angehörigen de[r] 2. ULD? Von einer Verantwortung diesen Menschen ge-genüber spricht Herr Zahn überhaupt nicht.“65 Hier entsteht also das Bild eines überheblichen U-Boot-Kapitäns, der den Flüchtlingen gegenüber ohne die nötige Rücksicht handelte. Man hat den Eindruck, Schön könne selber nicht entscheiden, ob die Zuständigkeit Petersens Zahn eher belastet als entlas-tet – ein unzuständiger Zahn hätte demnach überhaupt nicht das Recht, sich in Entscheidungsprozesse einzumischen.

Bei allem Verständnis für den Ärger Schöns übersieht er wohl manchmal die Tatsache, dass Zahn auf der Gustloff eine ganz bestimmte militärische Funk-

tion hatte. Die Gustloff war nicht nur ein Flüchtlingsschiff; sie war ja lange von der U-Boot-Waffe als Wohnschiff benutzt worden und diente am 30. Januar 1945 teilweise auch als militärisches Transportschiff. Dass Zahn dabei vor-nehmlich an die Überführung seiner eigenen Männer dachte, war nicht über-raschend. Am Ende wird man die Zwiespältigkeit dieser letzten Gustloff-Reise nicht auflösen können: Hier fuhr ein von der Hamburg-Südamerikanischen Dampfschiffahrts-Gesellschaft bereedertes, aber der Kriegsmarine unterstell-tes ehemaliges KdF-Schiff mit Zivilisten und militärischem Personal an Bord, während die Besatzung aus Kriegs- und Handelsmarine bestand. Die Gustloff war laut Kapitän zur See Neitzel, Chef der 2. ULD, ein „Kriegsschiff“, ihre letzte Fahrt ein „Kriegsmarsch“.66 Sie fuhr auch nicht unter der Flagge des Ro-ten Kreuzes und befand sich zudem in Seekriegsgewässern. Und doch war sie auch ein „Flüchtlingsschiff“ mit einem Handelsschiffskapitän – der allerdings, laut Zahn zumindest, „das Schiff im Rahmen der militärischen Anweisungen“ fuhr.67 Ein Wirrwarr, der wohl auch die Spannungen zwischen Handels- und Kriegsmarine an Bord erklärt,68 wie auch die Unsicherheit darüber, wer eigent-lich auf dem Schiff das Sagen hatte.

Dass Schön und Zahn nicht zusammenarbeiten konnten, war also ein wei-teres Problem für das Projekt „Forschungsstelle Ostsee“. Man kann sich aber auch vorstellen, dass der Fall Gustloff nicht gerade geeignet war, die erfolgrei-che Zusammenarbeit von Kriegs- und Handelsmarine im letzten Kriegsjahr darzustellen. Dazu kommt, dass die Gustloff eben unterging; die Geschichte des Schiffes war nicht die Geschichte einer Rettung (abgesehen von den ge-retteten Überlebenden), gerade die Rettung per Schiff war aber das zentra-le Thema des Forschungsprojektes. Obwohl Schön mit der Bearbeitung des Themas „Schiffsuntergänge“ für die Forschungsstelle beauftragt war, wurde es ihm, wie schon angedeutet, bald klar, dass er die Ergebnisse dieser Arbeit nur stichwortartig in die geplante Dokumentation würde einbringen können. Während er die Betonung auf die Rettung der Flüchtlinge bei der anvisierten Dokumentation akzeptierte, verdienten es die Toten der Gustloff und anderer Schiffe seiner Meinung nach nicht, in einer Dokumentation „nur am Rande behandelt zu werden. Ihr Leiden und Sterben verdient – den Lebenden zur Mahnung – genauso festgehalten zu werden, wie die großen Taten der Kriegs-

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und Handelsmarine“.69 Deswegen plante er eigene Veröffentlichungen zum Thema. Engelhardt dagegen schien eher der Meinung zu sein, es sei inzwischen genug über Schiffsuntergänge in der Ostsee berichtet worden, und viel zu we-nig über den erfolgreichen Transport von „annähernd 3 Millionen“ Menschen, wie er die Gesamtzahl einschätzte.70 Als er 1966 davon erfuhr, dass Joachim Brock ein Buch über die Gustloff herausbringen wollte, schrieb er an Heinz Schröter – der für die „militärische Bearbeitung“ von Brocks Buch verantwort-lich war – und monierte, dass sich mehrere andere Verfasser schon mit diesem Thema befasst hatten (einschließlich Schön): „Eigentlich müßte das doch der armen Menschheit genügen!“71

Engelhardts Einstellung zum Forschungsprojekt wurde durch Pressemel-dungen der Forschungsstelle unterstrichen. „Nur wenige Schiffe sanken“, be-hauptet eine Pressemeldung im Jahre 1964: „Bisheriges Forschungsergebnis: Über zwei Millionen gerettet!“ Natürlich solle auch über Schiffsuntergänge berichtet werden, aber nicht primär, und dann keineswegs nur in Bezug auf die Gustloff: „Über die Untergänge der ‚Wilhelm Gustloff‘ und des ‚General von Steuben‘ ist bereits vielfach berichtet worden, aber wer überlebte den Un-tergang des Zielschiffes ‚Goya‘, der ‚Cap Arcona‘ oder der kleineren Schiffe ‚Meteor‘, ‚Posen‘, ‚Moltkefels‘, ‚Androß‘, ‚Karlsruhe‘, ‚Emilly [sic] Sauber‘, ‚Graudenz‘, ‚Hektor‘ […] um nur einige zu nennen?“72 Ein Artikel aus der Lü-neburger Zeitung, in dem über die Arbeit der Forschungsstelle berichtet wird, formuliert es noch direkter. Laut dem Journalisten Helmut Pleß haben weder die zeitgeschichtliche Forschung noch die Öffentlichkeit eine der „großartigs-ten humanitären Taten des zweiten Weltkriegs“ bisher beachtet, „die improvi-sierte, aber trotz ‚Gustloff‘ und ‚Goya‘ erfolgreiche Evakuierung von zwei bis drei Millionen Menschen aus den Ostseeländern und aus Ostpreußen, Frauen, Kinder, Kranke, aber auch Kriegsgefangene, Gefängnisinsassen, KZ-Häftlinge, denn die 159 bis an den Schornsteinrand überladenen Schiffe der Handelsma-rine fuhren unter der ‚unsichtbaren Flagge‘ der Menschlichkeit“.73 Das geplan-te Vorwort zur Dokumentation aus dem Jahr 1968 befand sogar, es sei für die Wahrheitsfindung „ausgesprochen hinderlich“, dass eine „Zahl von mehr po-pulären, publizistisch angelegten Darstellungen […] einzelne Transportkatas-trophen (Untergang der ‚Wilhelm Gustloff‘, ‚Steuben‘ usw.) zum Mittelpunkt

nahmen“. Vor allem der Untergang der Gustloff symbolisiert „gleichsam in der Vorstellung, die die Deutschen von der Rettung über die Ostsee haben, den Fluchtvorgang an sich“. Dadurch sei (auch vertieft durch Nacht fiel über Go-tenhafen) in der Öffentlichkeit der Eindruck entstanden, der Seetransport über die Ostsee sei „mit ungeheuren Verlusten verbunden“. Bei der Nachprüfung durch die Forschungsstelle habe sich aber ergeben, „daß im ganzen gesehen, die Verluste bei den Seetransporten erheblich niedriger gewesen sind als bei den gleichzeitigen Landtrecks“.74 Laut Helmut Pleß war es das Ziel Conrad Engelhardts, „das auf der See spielende Gegenstück zur großen Vertreibung der Deutschen auf dem Landweg“ zu markieren und beschreiben.75

Die „Operation Hannibal“ sollte also in erster Linie mit Leistung und Er-folg assoziiert werden. Das war auch der Grundtenor von Fritz Brustat-Navals Buch Unternehmen Rettung. Nach seiner Erstveröffentlichung im Jahre 1970 erreichte das Buch bis 2001 die fünfte Auflage.76 Im Krieg zur Marine einge-zogen, diente Brustat-Naval unter Engelhardt als Seetransportoffizier. Brus-tat-Navals Buch basierte zu einem beträchtlichen Teil auf den Forschungser-

Abb. 48 Die Steuben. Sie wurde 1939 zur Umsiedlung der Deutschbalten eingesetzt. 1945 wurde sie wie die Gustloff von dem sowjetischen U-Boot S-13 versenkt.

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gebnissen Engelhardts – die Arbeit, die Engelhardt für die Forschungsstelle Ostsee leistete, war also nicht ganz umsonst. Unternehmen Rettung wurde po-sitiv aufgenommen, nicht zuletzt in der Zeit, die das Buch als „ein grundehr-liches Panorama“ beschrieb.77 Brustat-Naval beschreibt sehr genau das Elend der Flüchtlinge in Ostpreußen, legt aber die Betonung auch auf die positiven Leistungen der Marine, vor allem der Handelsmarine. Er beschreibt auch (re-lativ kurz) den Untergang der Gustloff, hebt aber in einer Vorbemerkung zum Buch hervor, dass „nur“ etwa 20.000 der über See Evakuierten ums Leben kamen, „trotz einiger spektakulärer Schiffsuntergänge, die hochgespielt wur-den und das Gesamtbild zu überschatten drohen“.78 Hier wird also keineswegs davon ausgegangen, dass das Thema Gustloff im Nachkriegsdeutschland mit einem Tabu belegt war. Im Gegenteil: Brustat-Naval wie auch Engelhardt sind der Meinung, die Geschichte spektakulärer Schiffsuntergänge (vor allem der Gustloff) sei sehr wohl beschrieben worden, nicht aber die der erfolgreichen Seetransporte. Vor allem nicht die, an denen die Handelsmarine beteiligt war. An dem Film Flucht über die Ostsee bemängelte Engelhardt vor allem, dass die „Leistung der Handelsschiffsbesatzungen kaum erwähnt“ werde, wohingegen

die Kriegsmarine „immer wieder“ zu Wort komme.79 Dieselbe Kritik richtete er gegen Cajus Bekkers Buch Flucht übers Meer.80 Es galt also, die Rolle beider Marinen darzustellen.

Hier wird eine Erinnerungskonkurrenz deutlich: Durch die Betonung der Rettung sollte versucht werden, ein vermeintlich einseitiges Bild zu korrigieren und im öffentlichen Bewusstsein das “Katastrophengedächtnis” durch ein „Er-folgsgedächtnis“ zu relativieren. Die Chancen dafür aber waren nicht gut. Der Verlust des deutschen Ostens – damit verbunden auch das Ende einer jahrhun-dertelangen deutschen Kulturgeschichte in Osteuropa – war zweifelsohne für viele Deutsche eine Katastrophe enormen Ausmaßes. Der Untergang der Gust-loff war gleichzeitig Manifestation und Sinnbild dieses viel größeren Untergangs. Dazu kommt die Tendenz in der bundesrepublikanischen Erinnerung, die Ge-schichte des Zweiten Weltkrieges als eine Reihe von katastrophalen Untergän-gen zu evozieren: Zum Untergang der 6. Armee bei Stalingrad, dem Untergang Dresdens, ja sogar dem Untergang Hitlers und des Dritten Reiches insgesamt, Abb. 49 Die Gustloff in Gotenhafen

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Abb. 50 Ostpreußen, Pillau: Angehörige der Marine am Bug eines vereisten Schiffes, Flüchtlinge am Kai im vereisten Hafen, 26. Januar 1945

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reiht sich auch der Untergang der Gustloff. Jedem dieser Untergänge ging ver-meintlich eine Zeit des Aufschwungs oder Erfolges voraus, die den Untergang umso furchtbarer erscheinen lässt. Die Zerstörung Dresdens ist umso schmerz-hafter, weil damit das „Elbflorenz“ zerstört wurde. Der Untergang der Gustloff erscheint umso schrecklicher, weil auf diesem Schiff vor dem Krieg Zehntausen-de von Deutschen traumhafte Urlaubsreisen gemacht hatten. In seinem ersten Gustloff-Buch beschreibt Schön kurz die KdF-Geschichte der Gustloff in Bildern wie etwa „majestätisch durchschneidet der Bug eines schlanken, weißen Schiffes die endlose Weite des Atlantik“.81 Dann wechselt die Perspektive abrupt zum „letzten Akt des Krieges“, als die Gustloff, einst ein „Schiff der Lebensfreude“,82 zum Todesschiff wird. Peripetie, Schicksalswendungen, auch Hybris sind ein Kennzeichen der griechischen Tragödie, wie auch die dramatische Ironie. Bei der Lektüre von Schöns Buch erfährt der Leser, was die Flüchtlinge auf der Gustloff noch nicht wissen: der Tod liegt „seit Stunden schon auf der Lauer… Er hat einen schlanken, stählernen Leib und verhält gespannt auf dem Grund der auf-gewühlten See. Ahnungslos fährt ihm die Beute in den Rachen“.83

Das „Katastrophengedächtnis“ spielte in der westdeutschen Erinnerung nicht zuletzt deswegen eine große Rolle, weil es die Deutschen als Opfer plötz-licher Schicksalsschläge verstand; Fragen der deutschen Verantwortung für den Krieg wurden dadurch ausgeblendet. Schiffsuntergänge wie der der Gustloff sind übrigens nicht nur von tragischer Dramatik, sie können auch dem Zeit-geist angepasst werden, um als apokalyptische Warnungen in der Gegenwart zu dienen: Frank Wisbars Nacht fiel über Gotenhafen endet mit den Worten der Generalin von Reuth (Brigitte Horney), die die Befürchtung zum Aus-druck bringt, die Geschichte der Gustloff werde in Vergessenheit geraten, bis wieder ein Schiff unterginge, „vielleicht eines so groß wie die ganze Welt“. Im Zeitalter der Angst vor einem nuklearen Krieg mit Weltuntergang wird die Geschichte der Gustloff – ein Symbol der technischen Moderne – zur Warnung gegen technologischen Fortschrittswahn und männliche Hybris (die Generalin äußert auch ihren Unmut darüber, dass die Frauen nicht in der Lage seien, die Kriege der Männer zu verhindern). Gleichzeitig aber verknüpfen einige Darstellungen den Gustloff-Untergang mit der Hoffnung auf Wiedergeburt: Immer wieder beschreibt Schön in seinen Büchern die Entdeckung des andert-halbjährigen Frank-Michael Freymüller auf einem der Rettungsboote, dessen Nachkriegsleben allerdings in den Strudel des Ost-West-Konfliktes geriet.84 In Vilsmaiers Film Die Gustloff (2008) kommt in einem der Rettungsboote ein Kind zur Welt, das dann von Kapitän Kehding und seiner Freundin (Marin-ehelferin Erika Galetschky) quasi adoptiert wird: Auf Katastrophe folgt Erneu-erung.

Die moderne und postmoderne Faszination mit Untergangsszenarien be-günstigt eine Fokussierung auf Geschichten wie die der Gustloff. Geschichten aber von Schiffen, die mit Tausenden von Flüchtlingen ihre Zielhäfen erreich-ten, stoßen auf weniger Interesse – auch wenn Bücher wie die von Brustat-Naval durchaus gelesen wurden.85 1986 hat der Historiker Andreas Hillgruber die Flucht über die Ostsee im Grunde als Heldentat der Wehrmacht darge-stellt und unterstrichen, dass nur ein Prozent der über die Ostsee nach Wes-ten flüchtenden Menschen durch Schiffsuntergänge wie den der Gustloff – „so entsetzlich sie auch waren“ – ums Leben kamen.86 Diese Anerkennung einer positiven Leistung findet man aber in einem Buch, das den Titel Zweierlei Un-

Abb. 51 Siebelfähre: Flucht über die Ostsee, 7. bis 8. Mai 1945, letzte Fahrt von Win-schau nach Schleswig-Holstein

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tergang trägt: Hier geht es Hillgruber hauptsächlich um „zwei nationale[n] Ka-tastrophen“, nämlich den Mord an den europäischen Juden einerseits und die „Vertreibung der Deutschen aus Ostmitteleuropa und [der] Zertrümmerung des preußisch-deutschen Reiches 1944/45“ andererseits.87 Bei der negativen Grundstimmung von Hillgrubers Buch hinterlässt der Hinweis auf die erfolg-reiche Rettungsaktion kaum einen Eindruck. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass auch einer positiven Beschreibung der Ostsee-Rettungsaktion et-was Deprimierendes anhaften kann. Brustat-Naval wollte sein Buch ursprüng-lich beim Ullstein-Verlag veröffentlichen, der laut Brustat-Naval genauso wie er und Engelhardt „weniger die Flucht als vielmehr ‚Die Rettung‘“ dargestellt sehen wollte.88 Nachdem er das Manuskript gelesen hatte, winkte der Verleger Wolf Jobst Siedler aber ab: „Sie haben es […] mit sozusagen ereignislosem Elend zu tun, das bis auf Schiffsuntergänge keine dramatischen Zuspitzungen und Schicksalswenden mehr kennt.“ Es war also eher das Elend der abtrans-portierten Flüchtlinge, nicht so sehr der Erfolg der Rettungsaktion, das Siedler beim Lesen auffiel. „Wie läßt sich das Elend dramaturgisch bewältigen?“, fragt Siedler, „wo finden die Ereignisse ihre Mitte, da die Personen immer wechseln […] es fehlt der durchlaufende Held.“89 Dass das „Katastrophengedächtnis“ eine stärkere Faszination als das „Leistungsgedächtnis“ ausübte, hat vielleicht auch mit solchen erzähltechnischen Gesichtspunkten zu tun. Bei der Fokus-sierung auf ein Schiff – die Gustloff – finden die Ereignisse automatisch eine Mitte, es tritt eine begrenzte Anzahl von handelnden Personen auf (z. B. Zahn, Petersen) und es gibt einen durchlaufenden, allerdings tragischen, dem Unter-gang geweihten Helden: das Schiff selbst.

In den 1980er- und vor allem in den 1990er-Jahren verfestigte sich im kul-turellen Gedächtnis das Bild von der Ostsee-Flucht als Katastrophe. Das wird deutlich an der immer intensiver werdenden Gustloff-Rezeption, zu der Heinz Schön mit seinen Gustloff-Büchern,90 Günter Grass mit Im Krebsgang (2002), Guido Knopp mit seinen Gustloff-Fernsehdokumentationen und Josef Vilsmai-er mit seinem Film Die Gustloff (2008) wesentlich beigetragen haben; auch über andere Schiffsuntergänge, wie über den der Goya, sind in den letzten Jahren ge-legentlich Fernsehreportagen gedreht worden.91 Wie schon angedeutet, prägt al-lerdings der jeweilige Zeitgeist die Sicht auf die Katastrophe: Die Gustloff steigt

sozusagen aus den Wellen, um wieder unterzugehen, aber sie geht immer etwas anders unter. Als Josef Vilsmaiers Fernsehdrama entstand, hatten soeben zwei „Wehrmachtsausstellungen“ (1995–1999; 2001–2004) das Bild der „sauberen Wehrmacht“ in Deutschland nachhaltig erschüttert. Es verwundert also kaum, dass Vilsmaiers Die Gustloff die Schuld für die Versenkung des Schiffes zum gro-0en Teil Korvettenkapitän Zahn zuschiebt, der als strammer, aufgeblasener und manchmal etwas lächerlicher Militarist auftritt, der für seinen Hund mehr Zeit hat als für die Flüchtlinge. Kapitän Petersen, im Film seltsam träge, verblasst gegenüber dem jungen, dynamischen, sympathischen und selbstlos handelnden Handelskapitän Kehding, der sich für die Flüchtlinge einsetzt. Interessanter-weise entspricht das Bild von Zahn im Film als unverantwortlich handelnder Kriegsmarinekapitän durchaus der Meinung Schöns, aber nur der, die in den in diesem Kapitel zitierten Briefen aus den 1950er- und 1960er-Jahren zum Ausdruck kommt. In seinen Veröffentlichungen aber war Schön – trotz erkenn-barem Ärger gegenüber der 2. ULD – Zahn gegenüber viel weniger kritisch. Ob Schön, der Rainer Berg beim Verfassen des Drehbuches für Die Gustloff unterstützte, für die im Grunde negative Darstellung von Zahn verantwort-lich war oder diese zumindest billigte, lässt sich nur vermuten. Jedenfalls ist die Erinnerung an die eigentlich erfolgreiche Zusammenarbeit von Kriegs- und Handelsmarine bei der Rettung über die Ostsee – eine Erinnerung, die die For-schungsstelle Ostsee stärken wollte – mit dem Film Die Gustloff wahrscheinlich so gut wie erloschen. Geblieben ist dank Vilsmaiers Film das Bild einer von der Naziideologie nicht kontaminierten Handelsmarine, die versucht, sich gegen Nazis und verbissene Vertreter einer uneinsichtigen Kriegsmarine wie Kapitän Zahn durchzusetzen und Flüchtlinge zu retten – letztendlich vergeblich.

Anmerkungen

1 Siehe z. B. Matthias Beer, „Im Spannungsfeld von Politik und Zeitgeschichte. Das Groß-forschungsprojekt ‚Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuro-pa‘“, Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 46:3 (Juli 1998), S. 345–391; und auch Robert G. Moeller, War Stories: The Search for a Usable Past in the Federal Republic of Germany (Ber-keley, Los Angeles, London: University of California Press, 2003), vor allem S. 51–87.

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2 Wie hoch die tatsächliche Zahl der Geretteten ist, bleibt unsicher. In den 1960er-Jah-ren ging die Forschungsstelle von einer Gesamtzahl zwischen zwei und drei Millionen aus; diese Zahl erscheint aber aus heutiger Sicht zu hoch, sodass normalerweise von etwa ein bis anderthalb Millionen Flüchtlingen und verwundeten Soldaten ausgegan-gen wird (siehe das Kapitel 3: „Die Wilhelm Gustloff im Zweiten Weltkrieg“ von Jann M. Witt in diesem Band).

3 Siehe den Brief von Conrad Engelhardt an Wolfgang Frank, 11. Oktober 1967, Bun-desarchiv Bayreuth, Ost-Dok. 4/48, S. 188.

4 Im Februar 1964 stellte die Ostakademie einen entsprechenden Forschungsantrag an das Ministerium für Vertriebene, den Bund der Vertriebenen und das Gesamtdeut-sche Ministerium. Der Bund der Vertriebenen und das Ministerium für Vertriebene sahen sich aber „wegen Mangel an Mitteln“ nicht in der Lage, das Projekt zu unter-stützen. Nicht zuletzt dank der Initiative von Ministerialdirigent Friedrich von Zahn erklärte sich dann das Gesamtdeutsche Ministerium bereit, das Projekt zu unterstüt-zen.

5 Auch dann gab es Probleme, weil die Freiburger Akten erst einmal für die Benutzung aufbereitet werden mussten, bevor sie überhaupt (an das Stadtarchiv Lüneburg) ausge-liehen werden konnten; „unaufbereitete Akten“ konnten nur in Freiburg eingesehen werden, was kosten- und zeitintensiv war. Siehe den Brief von Karl Heinz Gehrmann an das Bundesministerium für Gesamtdeutsche Fragen (Chyla), 1. August 1968, Bun-desarchiv Bayreuth, Ost-Dok. 4/4, S. 92–95.

6 Bis zum Herbst 1966 waren allerdings lediglich 48.000 DM vom Ministerium bezahlt worden. Siehe den Brief von Engelhardt an Karl Dönitz, 29. Juni 1967, Bundesarchiv Bayreuth, Ost-Dok. 4/48, S. 147.

7 Krannhals war z. B. mit dem Bernard & Graefe Verlag im Gespräch, der das Buch auch herausbringen wollte (Brief von Bernard & Graefe an Hanns von Krannhals, 8. April 1968, Bundesarchiv Bayreuth, Ost-Dok. 4/4, S. 204).

8 Brief von Krannhals an Gerhard Hümmelchen, 21. Juni 1966, Bundesarchiv Bay-reuth, Ost-Dok. 4/3, S. 75.

9 AN [Anmerkung?] für Ge[hrmann?], 23. April 1968, Bundesarchiv Bayreuth, Ost-Dok. 4/4, S. 124.

10 Brief von Krannhals an Gerhard Hümmelchen, 21. Juni 1966, Bundesarchiv Bay-reuth, Ost-Dok. 4/3, S. 76. Aus diesem Brief gehr auch hervor, dass Krannhals den ehemaligen Inspekteur der Bundeswehr Friedrich Ruge für einen Vermittlungsversuch zwischen Blanc und Engelhardt gewinnen wollte.

11 Brief von Engelhardt an Frank, 11. Oktober 1967, Bundesarchiv Bayreuth, Ost-Dok. 4/48, S. 188.

12 Brief von Engelhardt an Heinz Schön, 22. September 1966, Bundesarchiv Bayreuth, Ost-Dok. 4/73, S. 223–224.

13 Brief von RA Koch an den Herrn Referenten des Ref. II 7, 20. September 1966, Bun-desarchiv Koblenz, B137/7297.

14 Siehe den Brief von Engelhardt an Dönitz, 26. Juni 1969, Bundesarchiv Bayreuth, Ost-Dok. 4/48, S. 129.

15 Für diesen Hinweis danke ich Heinz Schön (Brief von Schön an den Verfasser vom 23. März 2008).

16 Theodor Schieder (Bearbeiter), Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa (Bonn: Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsge-schädigte, 1954–1961).

17 „Rettung über die Ostsee 1944/1945“ (Entwurf einer Einführung zur geplanten Ver-öffentlichung der Ergebnisse des Forschungsprojektes), Bundesarchiv Bayreuth, Ost-Dok. 4/6, S. 2.

18 Zitiert nach einem Brief von Gehrmann an Engelhardt, 18. Juni 1964, Bundesarchiv-Militärarchiv Freiburg, MSG1/2629 (Nachlaß Engelhardt).

19 „Vorwort (Entwurf )“ (wahrscheinlich von Krannhals), Bundesarchiv Bayreuth, Ost-Dok. 4/5, S. 5.

20 Die Betonung auf humanitäre Traditionen innerhalb der Marine war auch ein wichti-ges historisches Argument gegen die Behauptung der SED, die deutsche Bundeswehr plane einen Aggressionskrieg an der Ostsee. Die Funktion der in der DDR organisier-ten „Ostseewochen“ war es, wie es 1961 hieß, „auf die Anstrengungen der Adenauer-Regierung hinzuweisen, den westlichen Teil der Ostsee zu einer Kriegsbasis für den Überfall auf die DDR und die anderen sozialistischen Länder auszubauen“ (siehe Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, Berlin, Bestand MfAA A3733: Brief vom Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten an die DDR-Botschaft, Polen, 2. Mai 1961).

21 „Vorwort (Entwurf )“,.Bundesarchiv Bayreuth, Ost-Dok. 4/5.22 Brennecke veröffentlichte 1963 ein Buch zur Geschichte des Schweren Kreuzers Ad-

miral Hipper. Dieser hatte kurz nach dem Angriff auf die Gustloff die Unfallstelle pas-siert, sich aber wegen fortbestehender U-Boot-Gefahr sogleich entfernt, ohne Schiff-brüchige aufnehmen zu können. Brennecke berichtet in seinem Buch auch über die Versenkung der Gustloff, siehe Jochen Brennecke, Eismeer Atlantik Ostsee, 2. Auflage (München: Wilhelm Heyne, 1973), S. 265–278. 1992 brachte der Heyne-Verlag die 15. Auflage von Brenneckes Buch heraus.

23 Siehe den Brief von Engelhardt an Schön, 24. Oktober 1966, Bundesarchiv Bayreuth, Ost-Dok. 4/73, S. 185–187.

24 Ebd.25 Ebd.26 Siehe Bundesarchiv Bayreuth, Ost-Dok. 4/48, S. 163: Brief von Engelhardt an Dö-

nitz, 2. Januar 1967.

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27 Berenbrok schrieb Engelhardt, es sei nicht möglich, einen Hinweis auf die Forschungs-stelle im Vor- oder Abspann unterzubringen, weil der Film schon „unter Verschluß“ stünde und „nur zur Sendung hervorgeholt“ werde (siehe den Brief von Berenbrok an Engelhardt, 5. Januar 1967, Bundesarchiv Bayreuth, Ost-Dok. 4/48, S. 47). Die Sendung erfolgte im ZDF im Januar 1967.

28 Brief von Schön an Engelhardt, 10. Februar 1965, Bundesarchiv Bayreuth, Ost-Dok. 4/76, S. 57–70.

29 Heinz Schön, Der Untergang der „Wilhelm Gustloff“ (Göttingen: Karina-Goltze-Ver-lag, 1952).

30 Heinz Schön, Untergang der „Wilhelm Gustloff“ (Rastatt in Baden: Erich Pabel Verlag, 1960). Für eine Analyse des Filmes siehe Kapitel 7: „Opfer und Täter in den Gustloff-Filmen von Frank Wisbar“ von Michael Ennis in diesem Band.

31 Brief von Schön an Engelhardt, 22. Mai 1965, Bundesarchiv Bayreuth, Ost-Dok. 4/77, S. 16–18.

32 So Schön in einem Brief vom 10. Februar 1965 an Engelhardt, siehe Bundesarchiv Bayreuth, Ost-Dok. 4/76, S. 62. In diesem Brief weist Schön auf einen Bericht über den Gustloff-Untergang hin, der in der Frankfurter Illustrierten erschien und dessen Autor teilweise „aus meinen Veröffentlichungen wörtlich abgeschrieben“ hatte; „nur in der ‚Schuldfrage‘ war er anderer Auffassung als ich“. Schön beschwerte sich bei der Zeitung wegen Plagiats, woraufhin die Zeitung die Serie zur Gustloff abbrach. Kurze Zeit danach meldete sich Zahn bei Schön. Möglicherweise also war Zahn der Schrei-ber des Berichtes in der Frankfurter Illustrierten.

33 Brief von Schön an Zahn, 12. Januar 1966, Bundesarchiv Bayreuth, Ost-Dok. 4/64, S. 87. U. a. hat Zahn Schön vorgeworfen, aus finanziellen Gründen die Hebung des Gustloff-Wracks zu betreiben.

34 Brief von Zahn an Engelhardt, 15. Januar 1966, Bundesarchiv Bayreuth, Ost-Dok. 4/64, S. 75–76.

35 Ebd.36 Brief von Schön an Engelhardt, 15. Mai 1965, Bundesarchiv Bayreuth, Ost-Dok. 4/7,

S. 161.37 Brief von Engelhardt an Robert Hering, 24. November 1965, Bundesarchiv Bayreuth,

Ost-Dok. 4/64, S. 120.38 Siehe z. B. den Brief von Engelhardt an Helmut Richter, 22. Februar 1965, Bundesar-

chiv Bayreuth, Ost-Dok. 4/85, S. 54.39 Brief von Engelhardt an Zahn, 13. Oktober 1964, Bundesarchiv Bayreuth, Ost-Dok.

4/87, S. 217.40 Vom Ersten Offizier an Bord der Gustloff, Louis Reese, wurde dies ebenfalls vermutet.41 Brief von Zahn an Engelhardt, 15. Januar 1966, Bundesarchiv Bayreuth, Ost-Dok.

4/64, S. 76.

42 Schön, Der Untergang der „Wilhelm Gustloff“, S. 37–39.43 Schön, Untergang der „Wilhelm Gustloff“, S. 65–68, 77, 83–91.44 Ebd., S. 96–98.45 Brief von Schön an Engelhardt, 18. April 1965, Bundesarchiv Bayreuth, Ost-Dok.

4/76, S. 38.46 Brief von Schön an Engelhardt, 19. Mai 1966, Bundesarchiv Bayreuth, Ost-Dok.

4/64, S. 81.47 Brief von Schön an Zahn, 12. Januar 1966, Bundesarchiv Bayreuth, Ost-Dok. 4/64,

S. 87. Aus diesem Brief geht hervor, dass Zahn am 30. März 1949 an Schön geschrie-ben hatte: „Welches Recht in der Welt erlaubt den Abschuß eines Fahrzeuges mit 4000 Frauen, Kindern und alten Männern?“

48 Brief von Schön an Engelhardt, 20. Februar 1965, Bundesarchiv Bayreuth, Ost-Dok. 4/77, S. 70.

49 Brief von Schön an Engelhardt, 10. Februar 1965, Bundesarchiv Bayreuth, Ost-Dok. 4/76, S. 63.

50 Brief von Schön an Engelhardt, 19. Mai 1966, Bundesarchiv Bayreuth, Ost-Dok. 4/64, S. 81.

51 Brief von Schön an Engelhardt, 23. Januar 1966, Bundesarchiv Bayreuth, Ost-Dok. 4/64, S. 99.

52 Brief von Schön an Engelhardt, 19. Mai 1966, Bundesarchiv Bayreuth, Ost-Dok. 4/64, S. 81.

53 Brief von Schön an Engelhardt, 20. Februar 1965, Bundesarchiv Bayreuth, Ost-Dok. 4/77, S.  69. Aus dem Brief, der sich mit dem Thema Zahn auseinandersetzt, geht hervor, dass Zahn gemeint ist.

54 Weil die Gustloff zur 2. ULD gehörte, wurden nicht die Wellen der 9. Sicherungsdi-vision geschaltet; deshalb, so Schön in einem späteren Buch, konnten auf der Gustloff die U-Boot-Warnungen nicht empfangen werden. Nach der Torpedierung des Schiffes fiel der Strom aus; es konnte aber zuerst kein Notruf gesendet werden, da die Akkus nicht geladen waren (siehe Schön, SOS „Wilhelm Gustloff“: Die größte Schiffskatast-rophe der Geschichte (Stuttgart: Motorbuch Verlag, 1998)), S. 238. Schöns Meinung wird allerdings nicht von allen geteilt, siehe http://www.seefunknetz.de/divz_2.html (Stand: 2. September 2010).

55 Brief von Schön an Engelhardt, 23. Januar 1966, Bundesarchiv Bayreuth, Ost-Dok. 4/64, S. 102.

56 „Bericht des Korv. Kapt. Zahn über den Untergang des M/S ‚Wilhelm Gustloff‘ am 30.1.45“, Bundesarchiv Bayreuth, Ost-Dok. 4/64, S. 55.

57 Schön, Untergang der „Wilhelm Gustloff“, S. 91.58 „Anlage zum Schreiben an Herrn Konteradmiral a. D. Engelhardt vom 15.1.1966“,

Bundesarchiv Bayreuth, Ost-Dok. 4/64, S. 77–78.

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59 Brief von Schön an Engelhardt, 1. Juli 1965, Bundesarchiv Bayreuth, Ost-Dok. 4/76, S. 102–103.

60 Brief von Schön an Engelhardt, 12. Januar 1966 [Ostdoc 3], Bundesarchiv Bayreuth, Ost-Dok. 4/64, S. 87.

61 Das war wohl auch Zahns Meinung. In seiner Antwort auf Fragen, die ihm das Oberkommando der Marine nach dem Gustloff-Untergang stellte, machte Zahn deutlich, dass Petersen letztendlich die Befehlsgewalt ausübte: „Den Befehl, als Vorgesetzter der Schiffsführung mit Geleit zu fahren, hatte ich nicht erhalten. Es ist naturgemäß schwierig, ohne höhere Weisung einem 63-jährigen Kapitän […] Befehle zu erteilen. Da mir aus vielen Geleiten von Riga, Memel, Libau usw. nach Gotenhafen bekannt ist, daß die Kapitäne allein verantwortlich die Schiffe geführt haben, glaubte ich, auch in diesem Falle, daß der Kapitän des Schiffes für die Über-führung allein verantwortlich ist.“ Zahn also hat sehr wohl gewusst, wer auf dem Schiff der eigentliche Kapitän war – und hat es respektiert (siehe „Zu den vom Ob. d. M. Gestellten Fragen wird gemeldet“, kein Datum, Bundesarchiv Bayreuth, Ost-Dok. 4/64, S. 58).

62 Siehe Schön, Untergang der „Wilhelm Gustloff“, S. 91; und im Kontrast dazu Heinz Schön, Die „Gustloff“-Katastrophe: Bericht eines Überlebenden (Stuttgart: Motorbuch Verlag, 1984 [und spätere Auflagen]), S. 252. Im früheren Buch heißt es hierzu, „der militärische Kommandant, Korvettenkapitän Zahn, hat vor seiner Entscheidung, wohl der schwersten seines Lebens, nach Rücksprache mit den Landdienststellen, den Handelsschiffskapitänen und Offizieren noch einmal eingehend das Für und Wider des Allein-Auslaufens erwogen“. Im späteren heißt es: „Kapitän Friedrich Petersen hat vor seiner Entscheidung, daß sein Schiff allein weiterläuft und nicht auf die Hansa wartet, das Für und Wider des Alleinauslaufens noch einmal gründlich mit den Of-fizieren auf der Brücke erörtert.“ In seinem Buch SOS „Wilhelm Gustloff“ allerdings beschreibt Schön die Entscheidung als eine von Petersen und Zahn gemeinsam getrof-fene (S. 90).

63 Brocks Recherchen führten 1968 zu einer Buchveröffentlichung. Siehe Joachim Brock, Nackt in den Tod: Der Untergang der „Wilhelm Gustloff“ (Wien: Eduard Kaiser Verlag, 1968).

64 So Schöns eigene Einschätzung der Einstellung Zahns ihm gegenüber. Siehe den Brief von Schön an Engelhardt, 20. Februar 1965, Bundesarchiv Bayreuth, Ost-Dok. 4/77, S. 71.

65 Brief von Schön an Engelhardt, 23. Januar 1966, Bundesarchiv Bayreuth, Ost-Dok. 4/64, S. 102.

66 Brief von Schön an Engelhardt, 22. Mai 1965, Bundesarchiv Bayreuth, Ost-Dok. 4/77, S. 27.

67 Brief von Zahn an Engelhardt, 13. März 1964, Militärarchiv Freiburg, MSG 1/2629.

68 In seinen späteren Büchern geht Schön mehr auf diese Spannungen ein, beschreibt auch Spannungen innerhalb der Handelsmarinebesatzung. Siehe z. B. Heinz Schön, Die letzte Fahrt der „Wilhelm Gustloff“ (Stuttgart: Motorbuch Verlag, 2008), S. 91, 96.

69 Brief von Schön an Engelhardt, 22. Mai 1965, Bundesarchiv Bayreuth, Ost-Dok. 4/77, S. 10.

70 Siehe den Brief von Engelhardt an Heinz Schröter, 22. August 1966, Bundesarchiv Bayreuth, Ost-Dok. 4/73, S. 283.

71 Ebd.72 Forschungsstelle Ostsee an der Ostakademie: Presse-Information: „Wer überlebte die

‚Flucht über die Ostsee‘ 1944/45?“, Bundesarchiv Bayreuth, Ost-Dok. 4/77, S. 64–66.

73 Helmut Pleß, „Drei Millionen Menschen über die Ostsee gerettet“, Lüneburger Zei-tung, 3. März 1965 (Bundesarchiv Bayreuth, Ost-Dok. 4/74, S. 122).

74 „Einleitung (Entwurf )“, Bundesarchiv Bayreuth, Ost-Dok. 4/5, S. 7, 13.75 Pleß, „Drei Millionen Menschen“.76 Fritz Brustat-Naval, Unternehmen Rettung (Herford: Koehlers Verlagsgesellschaft,

1970). Weitere Auflagen erschienen 1970, 1976, 1985 und 2001. Das Buch erschien zudem 1970 und 1987 bei Bastei-Lubbe und 1998 bei Ullstein.

77 Siehe den hinteren Klappentext von Unternehmen Rettung, 4. Auflage (Herford: Koeh-lers Verlagsgesellschaft, 1985).

78 Ebd., S. 234.79 Brief von Engelhardt an Heinrich Schuldt, 20. Februar 1967, Bundesarchiv Bayreuth,

Ost-Dok. 4/49, S. 259.80 Siehe den Brief von Engelhardt an Frank, 11. Oktober 1967, Bundesarchiv Bayreuth,

Ost-Dok. 4/48, S. 190.81 Schön, Der Untergang der „Wilhelm Gustloff“, S. 9.82 Ebd., siehe Abbildung im Vorsatz des Buches.83 Ebd., S. 49.84 Sein wirklicher Vater lebte in Westdeutschland, der Adoptivvater in Rostock, was zu

einem längeren, auch politisch-juristischen Tauziehen führte. Siehe Schön, Der Unter-gang der „Wilhelm Gustloff“, S. 105–135; und Peter Weise, Hürdenlauf: Erinnerungen eines Findlings (Rostock: Peter Weise, 2006).

85 Als weiteres Beispiel für das Erfolgsnarrativ siehe Ernst Fredman, Sie kamen übers Meer: Die größte Rettungsaktion der Geschichte (Köln: Staats- und Wirtschaftspolitische Gesellschaft, 1971). Heinz Schöns Flucht über die Ostsee 1944/45 (Stuttgart: Motor-buch Verlag, 1985) stellt auch den Erfolg der meisten Schiffstransporte dar – aber in den meisten seiner Bücher geht es um die Gustloff.

86 Andreas Hillgruber, Zweierlei Untergang: Die Zerschlagung des Deutschen Reiches und das Ende des europäischen Judentums (Berlin: Corso bei Siedler, 1986), S. 37. Hillgru-

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bers Buch war nicht zuletzt wegen der problematischen Parallelisierung von Holocaust mit Flucht und Vertreibung höchst umstritten.

87 Ebd., S. 9.88 Brief von Brustat-Naval an Engelhardt, 8. November 1968, Bundesarchiv Militärar-

chiv Freiburg, MSg 1/2632.89 Brief von Wolf Jobst Siedler an Engelhardt, 21. Januar 1969 (mit beigefügter Kopie

eines Briefes vom 20. Januar 1969 von Siedler an Brustat-Naval, aus dem hier zitiert wird), Bundesarchiv Militärarchiv Freiburg, MSg 1/2632.

90 Zu Schöns Veröffentlichungen aus den 1980er-Jahren gehören Die „Gustloff“-Katast-rophe: Bericht eines Überlebenden und SOS „Wilhelm Gustloff“: Die größte Schiffskatas-trophe der Geschichte. Die „Gustloff“-Katastrophe wurde mehrmals neu aufgelegt (1985 [2. Aufl.]; 1994 [3. Aufl.]; 1995 [4. Aufl.]; 1999 [5. Aufl.]; 2002 [6. Aufl.]). 2008 wurde SOS Wilhelm Gustloff (mit einem zusätzlichen Kapitel über die Verfilmung des Stoffes durch Vilsmaier) als Die Letzte Fahrt der „Wilhelm Gustloff“: Dokumentation eines Überlebenden neu aufgelegt.

91 Z. B. der 45-minütige Fernsehfilm Die Todesfahrt der Goya, der im Juni 2003 in der ARD ausgestrahlt wurde.

9. KAPITEL

„Und es gab einen Bums, und das Schiff legte sich auf die Seite“: Die Darstellung des Untergangs der Wilhelm Gustloff im Werk Walter Kempowskis

Karina Berger

In der jüngsten Debatte über „Deutsche als Opfer“ bildet die Frage nach der adäquaten Darstellung des Themas in der Literatur einen der Kernpunkte. Ins-besondere die Repräsentation von Bombardierungen deutscher Städte und von Flucht und Vertreibung stellt dabei Autoren vor beträchtliche Herausforderun-gen. Geht es dabei doch vornehmlich auch darum, die Leiden der Opfer des Holocaust nicht zu relativieren oder die Opferrolle der Deutschen zu sehr zu sentimentalisieren. Bill Niven z. B. hat auf die problematischen entlastenden Strategien hingewiesen, die in manchen kürzlich erschienenen Werken zu finden sind, wo deutsches und jüdisches Leid oder die Verbrechen der Nazis und die Kriegsführung der Alliierten miteinander verglichen und dadurch jüdisches Leid relativiert und deutsche Schuld vermindert werden.1 Auch Helmut Schmitz hat bemerkt, dass die Darstellung von „Deutschen als Opfern“ zu einem „Minenfeld der Empathie“ führen kann, und deutet zusätzlich auf die fragwürdige Tendenz mancher Texte hin, sich Bilder und Darstellungsweisen zu bedienen, die übli-cherweise mit dem Holocaust in Verbindung gebracht werden.2 Aleida Assmann warnt, dass Darstellungen deutscher Opferschaft das Risiko eines „Freispruchs für die Täter“ tragen können, was vornehmlich auf die „Unvereinbarkeit von Leid und Schuld“ in der deutschen Erinnerungskultur, in der die Deutschen entweder ausschließlich als „Opfer“ oder als „Täter“ erinnert werden, zurückzu-führen sei.3 Assmann behauptet jedoch, dass die divergierenden Erinnerungen nebeneinander bestehen können, solange sie in einen allgemein verbindlichen Gesamtrahmen integriert werden – d. h, solange sie dem Holocaust, der Ausein-