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Der Schimmelreiter Theodor Storm (1888) Reclam-Zählung,
Erklärungen kursiv von Martin Schlu
(Reclam, S. 3) Was ich zu berichten beabsichtige, ist mir vor
reichlich einem halben Jahrhundert (alsoum 1825/1830) im Hause
meiner Urgroßmutter, der alten Frau Senator Feddersen,
kundgewor-den, während ich, an ihrem Lehnstuhl sitzend, mich mit
dem Lesen eines in blaue Pappe einge-bundenen Zeitschriftenheftes
beschäftigte; ich vermag mich nicht mehr zu entsinnen, ob von
den„Leipziger“ oder von „Pappes Hamburger Lesefrüchten“. Noch fühl
ich es gleich einem Schauer,wie dabei die linde Hand der über
Achtzigjährigen mitunter liebkosend über das Haupthaar
ihresUrenkels hinglitt. Sie selbst und jene Zeit sind längst
begraben; vergebens auch habe ich seit-dem jenen Blättern
nachgeforscht, und ich kann daher um so weniger weder die Wahrheit
derTatsachen verbürgen, als, wenn jemand sie bestreiten wollte,
dafür aufstehen; nur so viel kannich versichern, daß ich sie seit
jener Zeit, obgleich sie durch keinen äußeren Anlaß in mir aufsneue
belebt wurden, niemals aus dem Gedächtnis verloren habe.
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Es war im dritten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts (ca. um 1730),
an einem Oktobernachmittag- so begann der damalige Erzähler -, als
ich bei starkem Unwetter auf einem nordfriesischenDeich
entlangritt. Zur Linken hatte ich jetzt schon seit über einer
Stunde die öde, bereits von al-lem Vieh geleerte Marsch, zur
Rechten, und zwar in unbehaglichster Nähe, das Wattenmeer
derNordsee; zwar sollte man vom Deiche aus auf Halligen und Inseln
sehen können; aber ich sahnichts als die gelbgrauen Wellen, die
unaufhörlich wie mit Wutgebrüll an den Deich hinaufschlu-gen
(Reclam, S. 4) und mitunter mich und das Pferd mit schmutzigem
Schaum bespritzten; dahinter-wüste Dämmerung, die Himmel und Erde
nicht unterscheiden ließ; denn auch der halbe Mond,der jetzt in der
Höhe stand, war meist von treibendem Wolkendunkel überzogen. Es war
eiskalt;meine verklommenen Hände konnten kaum den Zügel halten, und
ich verdachte es nicht denKrähen und Möwen, die sich fortwährend
krächzend und gackernd vom Sturm ins Land hinein-treiben ließen.
Die Nachtdämmerung hatte begonnen, und schon konnte ich nicht mehr
mit Si-cherheit die Hufen meines Pferdes erkennen; keine
Menschenseele war mir begegnet, ich hörtenichts als das Geschrei
der Vögel, wenn sie mich oder meine treue Stute fast mit den
langenFlügeln streiften, und das Toben von Wind und Wasser. Ich
leugne nicht, ich wünschte mich mit-unter in sicheres Quartier.
Das Wetter dauerte jetzt in den dritten Tag, und ich hatte mich
schon über Gebühr von einemmir besonders lieben Verwandten auf
seinem Hofe halten lassen, den er in einer der nördliche-renHarden
besaß. Heute aber ging es nicht länger; ich hatte Geschäfte in der
Stadt, die auchjetzt wohl noch ein paar Stunden weit nach Süden vor
mir lag, und trotz aller Überredungskünstedes Vetters und seiner
lieben Frau, trotz der schönen selbstgezogenen Perinette- und
Grand-Ri-chard-Äpfel, die noch zu probieren waren, am Nachmittag
war ich davongeritten. „Wart nur, bisdu ans Meer kommst“, hatte er
noch an seiner Haustür mir nachgerufen; „du kehrst noch wiederum;
dein Zimmer wird dir vorbehalten!“
Und wirklich, einen Augenblick, als eine schwarze Wolkenschicht
es pechfinster um michmachte und gleichzeitig die heulenden Böen
mich samt meiner Stute vom Deich herabzudrän-gen suchten, fuhr es
(Reclam, S. 5) mir wohl durch den Kopf. „Sei kein Narr! Kehr um und
setz dich zudeinen Freunden ins warme Nest.“ Dann aber fiel's mir
ein, der Weg zurück war wohl noch län-ger als der nach meinem
Reiseziel; und so trabte ich weiter, den Kragen meines Mantels um
dieOhren ziehend.
Jetzt aber kam auf dem Deiche etwas gegen mich heran; ich hörte
nichts; aber immer deutli-
Storm, Schimmelreiter, Seite 1
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cher, wenn der halbe Mond ein karges Licht herabließ, glaubte
ich eine dunkle Gestalt zu erken-nen, und bald, da sie näher kam,
sah ich es, sie saß auf einem Pferde, einem hochbeinigen ha-geren
Schimmel; ein dunkler Mantel flatterte um ihre Schultern, und im
Vorbeifliegen sahen michzwei brennende Augen aus einem bleichen
Antlitz an.
Wer war das? Was wollte der? - Und jetzt fiel mir bei, ich hatte
keinen Hufschlag, kein Keu-chen des Pferdes vernommen; und Roß und
Reiter waren doch hart an mir vorbeigefahren!
In Gedanken darüber ritt ich weiter, aber ich hatte nicht lange
Zeit zum Denken, schon fuhr esvon rückwärts wieder an mir vorbei;
mir war, als streifte mich der fliegende Mantel, und die
Er-scheinung war, wie das erste Mal, lautlos an mir
vorübergestoben. Dann sah ich sie fern und fer-ner vor mir; dann
war's, als säh ich plötzlich ihren Schatten an der Binnenseite des
Deiches hi-nuntergehen.
Etwas zögernd ritt ich hintendrein. Als ich jene Stelle erreicht
hatte, sah ich hart am Deich imKooge unten das Wasser einer großen
Wehle blinken - so nennen sie dort die Brüche, welchevon den
Sturmfluten in das Land gerissen werden und die dann meist als
kleine, aber tiefgründi-ge Teiche stehen bleiben.
Das Wasser war, trotz des schützenden Deiches, auffallend
bewegt; der Reiter konnte es nicht(Reclam, S. 6) getrübt haben; ich
sah nichts weiter von ihm. Aber ein anderes sah ich, das ich
mitFreuden jetzt begrüßte: vor mir, von unten aus dem Kooge,
schimmerten eine Menge zerstreuterLichtscheine zu mir herauf, sie
schienen aus jenen langgestreckten friesischen Häusern zu kom-men,
die vereinzelt auf mehr oder minder hohen Warften lagen, dicht vor
mir aber auf halberHöhe des Binnendeiches lag ein großes Haus
derselben Art; an der Südseite, rechts von derHaustür, sah ich alle
Fenster erleuchtet; dahinter gewahrte ich Menschen und glaubte
trotz desSturmes sie zu hören. Mein Pferd war schon von selbst auf
den Weg am Deich hinabgeschritten,der mich vor die Tür des Hauses
führte. Ich sah wohl, daß es ein Wirtshaus war; denn vor
denFenstern gewahrte ich die sogenannten „Ricks“, das heißt auf
zwei Ständern ruhende Balken mitgroßen eisernen Ringen, zum
Anbinden des Viehes und der Pferde, die hier haltmachten.
Ich band das meine an einen derselben und überwies es dann dem
Knechte, der mir beimEintritt in den Flur entgegenkam: „Ist hier
Versammlung?“ frug ich ihn, da mir jetzt deutlich einGeräusch von
Menschenstimmen und Gläserklirren aus der Stubentür
entgegendrang.
„Is wull so wat“, entgegnete der Knecht auf plattdeutsch - und
ich erfuhr nachher, daß diesesneben dem Friesischen hier schon seit
über hundert Jahren im Schwange gewesen sei -, „Diek-graf und
Gevollmächtigten un wecke von de annern Interessenten! Dat is um 't
hoge Wåter!“
Als ich eintrat, sah ich etwa ein Dutzend Männer an einem Tische
sitzen, der unter den Fens-tern entlanglief, eine Punschbowle stand
darauf, und ein besonders stattlicher Mann schien dieHerrschaft
über sie zu führen.
(Reclam, S. 7) Ich grüßte und bat, mich zu ihnen setzen zu
dürfen, was bereitwillig gestattet wurde.„Sie halten hier die
Wacht!“ sagte ich, mich zu jenem Mann wendend, „es ist bös Wetter
drau-ßen; die Deiche werden ihre Not haben!“
„Gewiß“, erwiderte er; „wir, hier an der Ostseite, aber glauben,
jetzt außer Gefahr zu sein; nurdrüben an der andern Seite ist's
nicht sicher, die Deiche sind dort meist noch mehr nach
altemMuster; unser Hauptdeich ist schon im vorigen Jahrhundert
umgelegt. - Uns ist vorhin da drau-ßen kalt geworden, und Ihnen“,
setzte er hinzu, „wird es ebenso gegangen sein; aber wir müs-sen
hier noch ein paar Stunden aushalten; wir haben sichere Leute
draußen, die uns Bericht er-statten.“
Und ehe ich meine Bestellung bei dem Wirte machen konnte, war
schon ein dampfendes Glasmir hingeschoben.
Ich erfuhr bald, daß mein freundlicher Nachbar der Deichgraf
sei; wir waren ins Gespräch ge-
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kommen, und ich hatte begonnen, ihm meine seltsame Begegnung auf
dem Deiche zu erzählen.Er wurde aufmerksam, und ich bemerkte
plötzlich, daß alles Gespräch umher verstummt war.„Der
Schimmelreiter!“ rief einer aus der Gesellschaft, und eine Bewegung
des Erschreckens gingdurch die übrigen.
Der Deichgraf war aufgestanden. „Ihr braucht nicht zu
erschrecken“, sprach er über den Tischhin; „das ist nicht bloß für
uns; Anno 17 (gemeint ist die Flut von 1717) hat es auch denen
drüben gegol-ten; mögen sie auf alles vorgefaßt sein!“
Mich wollte nachträglich ein Grauen überlaufen. „Verzeiht!“
sprach ich, „was ist das mit demSchimmelreiter?“
Abseits hinter dem Ofen, ein wenig gebückt, saß ein kleiner
hagerer Mann in einem abge-schabten schwarzen Röcklein; die eine
Schulter schien ein (Reclam, S. 8) wenig ausgewachsen. Erhatte mit
keinem Worte an der Unterhaltung der andern teilgenommen, aber
seine bei dem spär-lichen grauen Haupthaar noch immer mit dunklen
Wimpern besäumten Augen zeigten deutlich,daß er nicht zum Schlaf
hier sitze.
Gegen diesen streckte der Deichgraf seine Hand. „Unser
Schulmeister“, sagte er mit erhobe-ner Stimme, „wird von uns hier
Ihnen das am besten erzählen können; freilich nur in seiner Wei-se
und nicht so richtig, wie zu Haus meine alte Wirtschafterin Antje
Vollmers es beschaffen wür-de.“
„Ihr scherzet, Deichgraf!“ kam die etwas kränkliche Stimme des
Schulmeisters hinter demOfen hervor, „daß Ihr mir Euern dummen
Drachen wollt zur Seite stellen!“
„Ja, ja, Schulmeister!“ erwiderte der andere, „aber bei den
Drachen sollen derlei Geschichtenam besten in Verwahrung sein!“
„Freilich!“ sagte der kleine Herr; „wir sind hierin nicht ganz
derselben Meinung“; und ein über-legenes Lächeln glitt über das
feine Gesicht.
„Sie sehen wohl“, raunte der Deichgraf mir ins Ohr; „er ist
immer noch ein wenig hochmütig; erhat in seiner Jugend einmal
Theologie studiert und ist nur einer verfehlten Brautschaft
wegenhier in seiner Heimat als Schulmeister behangen
geblieben.“
Dieser war inzwischen aus seiner Ofenecke hervorgekommen und
hatte sich neben mir anden langen Tisch gesetzt. „Erzählt, erzählt
nur, Schulmeister“, riefen ein paar der jüngeren ausder
Gesellschaft.
„Nun freilich“, sagte der Alte, sich zu mir wendend, „will ich
gern zu Willen sein; aber es ist vielAberglaube dazwischen und eine
Kunst, es ohne diesen zu erzählen.“ (Reclam, S. 9) „Ich muß Euch
bitten, den nicht auszulassen“, erwiderte ich; „traut mir nur zu,
daß ichschon selbst die Spreu vom Weizen sondern werde!“
Der Alte sah mich mit verständnisvollem Lächeln an. „Nun also!“
sagte er. „In der Mitte desvorigen Jahrhunderts, oder vielmehr, um
genauer zu bestimmen, vor und nach derselben, gab eshier einen
Deichgrafen, der von Deich- und Sielsachen mehr verstand, als
Bauern und Hofbesit-zer sonst zu verstehen pflegen; aber es reichte
doch wohl kaum, denn was die studierten Fach-leute darüber
niedergeschrieben, davon hatte er wenig gelesen; sein Wissen hatte
er sich, wennauch von Kindesbeinen an, nur selber ausgesonnen. Ihr
hörtet wohl schon, Herr, die Friesenrechnen gut, und habet auch
wohl schon über unsern Hans Mommsen von Fahretoft reden hö-ren, der
ein Bauer war und doch Bussolen und Seeuhren, Teleskopen und Orgeln
machen konn-te. Nun, ein Stück von solch einem Manne war auch der
Vater des nachherigen Deichgrafen ge-wesen; freilich wohl nur ein
kleines. Er hatte ein paar Fennen, wo er Raps und Bohnen baute,auch
eine Kuh graste, ging unterweilen im Herbst und Frühjahr auch aufs
Landmessen und saßim Winter, wenn der Nordwest von draußen kam und
an seinen Läden rüttelte, zu ritzen und zu
Storm, Schimmelreiter, Seite 3
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prickeln, in seiner Stube. Der Junge saß meist dabei und sah
über seine Fibel oder Bibel wegdem Vater zu, wie er maß und
berechnete, und grub sich mit der Hand in seinen blonden Haa-ren.
Und eines Abends frug er den Alten, warum denn das, was er eben
hingeschrieben hatte,gerade so sein müsse und nicht anders sein
könne, und stellte dann eine eigene Meinung darü-ber auf. Aber der
Vater, der darauf nicht zu antworten wußte, schüttelte den Kopf und
sprach:„Das kann ich dir nicht sagen; genug, es ist so, und du
(Reclam, S. 10) selber irrst dich. Willst du mehrwissen, so suche
morgen aus der Kiste, die auf unserm Boden steht, ein Buch, einer,
der Euklidhieß, hat's geschrieben; das wird's dir sagen!“
- - Der Junge war tags darauf zum Boden gelaufen und hatte auch
bald das Buch gefunden;denn viele Bücher gab es überhaupt nicht in
dem Hause; aber der Vater lachte, als er es vor ihmauf den Tisch
legte. Es war ein holländischer Euklid, und Holländisch, wenngleich
es doch halbDeutsch war, verstanden alle beide nicht. „Ja, ja“,
sagte er, „das Buch ist noch von meinem Va-ter, der verstand es;
ist denn kein deutscher da?“
Der Junge, der von wenig Worten war, sah den Vater ruhig an und
sagte nur: „Darf ich's behal-ten? Ein deutscher ist nicht da.“
Und als der Alte nickte, wies er noch ein zweites, halb
zerrissenes Büchlein vor. „Auch das?“frug er wieder.
„Nimm sie alle beide!“ sagte Tede Haien; „sie werden dir nicht
viel nützen.“
Aber das zweite Buch war eine kleine holländische Grammatik, und
da der Winter noch langenicht vorüber war, so hatte es, als endlich
die Stachelbeeren in ihrem Garten wieder blühten,dem Jungen schon
so weit geholfen, daß er den Euklid, welcher damals stark im
Schwange war,fast überall verstand.
„Es ist mir nicht unbekannt, Herr“, unterbrach sich der
Erzähler, „daß dieser Umstand auchvon Hans Mommsen erzählt wird;
aber vor dessen Geburt ist hier bei uns schon die Sache vonHauke
Haien - so hieß der Knabe - berichtet worden. Ihr wisset auch wohl,
es braucht nur einmalein Größerer zu kommen, so wird ihm alles
aufgeladen, was in Ernst oder Schimpf seine Vorgän-ger einst mögen
verübt haben.
(Reclam, S. 11) Als der Alte sah, daß der Junge weder für Kühe
noch Schafe Sinn hatte und kaumgewahrte, wenn die Bohnen blühten,
was doch die Freude von jedem Marschmann ist, und wei-terhin
bedachte, daß die kleine Stelle wohl mit einem Bauer und einem
Jungen, aber nicht mit ei-nem Halbgelehrten und einem Knecht
bestehen könne, angleichen, daß er auch selber nicht aufeinen
grünen Zweig gekommen sei, so schickte er seinen großen Jungen an
den Deich, wo ermit andern Arbeitern von Ostern bis Martini (11.
November) Erde karren mußte. „Das wird ihn vomEuklid kurieren“,
sprach er bei sich selber.
Und der Junge karrte; aber den Euklid hatte er allzeit in der
Tasche, und wenn die Arbeiter ihrFrühstück oder Vesper aßen, saß er
auf seinem umgestülpten Schubkarren mit dem Buche inder Hand. Und
wenn im Herbst die Fluten höher stiegen und manch ein Mal die
Arbeit eingestelltwerden mußte, dann ging er nicht mit den andern
nach Haus, sondern blieb, die Hände über dieKnie gefaltet, an der
abfallenden Seeseite des Deiches sitzen und sah stundenlang zu, wie
dietrüben Nordseewellen immer höher an die Grasnarbe des Deiches
hinaufschlugen; erst wennihm die Füße überspült waren und der
Schaum ihm ins Gesicht spritzte, rückte er ein paar Fußhöher und
blieb dann wieder sitzen. Er hörte weder das Klatschen des Wassers
noch das Ge-schrei der Möwen und Strandvögel, die um oder über ihm
flogen und ihn fast mit ihren Flügelnstreiften, mit den schwarzen
Augen in die seinen blitzend; er sah auch nicht, wie vor ihm über
dieweite, wilde Wasserwüste sich die Nacht ausbreitete; was er
allein hier sah, war der brandendeSaum des Wassers, der, als die
Flut stand, mit hartem Schlage immer wieder dieselbe Stelle trafund
vor seinen Augen die Grasnarbe des steilen Deiches auswusch.
(Reclam, S. 12) Nach langem Hinstarren nickte er wohl langsam
mit dem Kopfe oder zeichnete,
Storm, Schimmelreiter, Seite 4
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ohne aufzusehen, mit der Hand eine weiche Linie in die Luft, als
ob er dem Deiche damit einensanfteren Abfall geben wollte. Wurde es
so dunkel, daß alle Erdendinge vor seinen Augen ver-schwanden und
nur die Flut ihm in die Ohren donnerte, dann stand er auf und
trabte halbdurchnäßt nach Hause.
Als er so eines Abends zu seinem Vater in die Stube trat, der an
seinen Meßgeräten putzte,fuhr dieser auf: „Was treibst du draußen?
Du hättest ja versaufen können, die Wasser beißenheute in den
Deich.“
Hauke sah ihn trotzig an.
- „Hörst du mich nicht? Ich sag, du hättst versaufen
können.“
„Ja“, sagte Hauke; „ich bin doch nicht versoffen!“
„Nein“, erwiderte nach einer Weile der Alte und sah ihm wie
abwesend ins Gesicht - „diesmalnoch nicht.“
„Aber“, sagte Hauke wieder, „unsere Deiche sind nichts
wert!“
- „Was für was, Junge?“
„Die Deiche, sag ich!“
- „Was sind die Deiche?“
„Sie taugen nichts, Vater!“ erwiderte Hauke.
Der Alte lachte ihm ins Gesicht. „Was denn, Junge? Du bist wohl
das Wunderkind aus Lübeck!“
Aber der Junge ließ sich nicht irren. „Die Wasserseite ist zu
steil“, sagte er; „wenn es einmalkommt, wie es mehr als einmal
schon gekommen ist, so können wir hier auch hinterm Deich
er-saufen!“
Der Alte holte seinen Kautabak aus der Tasche, drehte einen
Schrot ab und schob ihn hinterdie Zähne. „Und wieviel Karren hast
du heut geschoben?“ (Reclam, S. 13) frug er ärgerlich; denn ersah
wohl, daß auch die Deicharbeit bei dem Jungen die Denkarbeit nicht
hatte vertreiben kön-nen.
„Weiß nicht, Vater“, sagte dieser, „so, was die andern machten;
vielleicht ein halbes Dutzendmehr; aber - die Deiche müssen anders
werden!“
„Nun“, meinte der Alte und stieß ein Lachen aus; „du kannst es
ja vielleicht zum Deichgrafbringen; dann mach sie anders!“
„Ja, Vater!“ erwiderte der Junge.
Der Alte sah ihn an und schluckte ein paarmal; dann ging er aus
der Tür; er wußte nicht, waser dem Jungen antworten sollte.
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(Reclam, S. 13, Zeile 14) Auch als zu Ende Oktobers die
Deicharbeit vorbei war, blieb der Gang nord-wärts nach dem Haff
hinaus für Hauke Haien die beste Unterhaltung; den Allerheiligentag
(1.No-vember) , um den herum die Äquinoktialstürme zu tosen
pflegen, von dem wir sagen, daß Fries-land ihn wohl beklagen mag,
erwartete er wie heut die Kinder das Christfest. Stand eine
Spring-flut bevor, so konnte man sicher sein, er lag trotz Sturm
und Wetter weit draußen am Deichemutterseelenallein; und wenn die
Möwen gackerten, wenn die Wasser gegen den Deich tobtenund beim
Zurückrollen ganze Fetzen von der Grasdecke mit ins Meer
hinabrissen, dann hätteman Haukes zorniges Lachen hören können.
„Ihr könnt nichts Rechtes“, schrie er in den Lärm hi-naus, „so wie
die Menschen auch nichts können!“ Und endlich, oft im Finstern,
trabte er aus der
Storm, Schimmelreiter, Seite 5
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weiten Öde den Deich entlang nach Hause, bis seine
aufgeschossene Gestalt die niedrige Türunter seines Vaters Rohrdach
erreicht hatte und darunter durch in das kleine Zimmer
schlüpfte.
(Reclam, S. 14) Manchmal hatte er eine Faust voll Kleierde
mitgebracht; dann setzte er sich nebenden Alten, der ihn jetzt
gewähren ließ, und knetete bei dem Schein der dünnen Unschlittkerze
al-lerlei Deichmodelle, legte sie in ein flaches Gefäß mit Wasser
und suchte darin die Ausspülungder Wellen nachzumachen, oder er
nahm seine Schiefertafel und zeichnete darauf das Profil derDeiche
nach der Seeseite, wie es nach seiner Meinung sein mußte.
Mit denen zu verkehren, die mit ihm auf der Schulbank gesessen
hatten, fiel ihm nicht ein,auch schien es, als ob ihnen an dem
Träumer nichts gelegen sei. Als es wieder Winter gewordenund der
Frost hereingebrochen war, wanderte er noch weiter, wohin er früher
nie gekommen, aufden Deich hinaus, bis die unabsehbare eisbedeckte
Fläche der Watten vor ihm lag.
Im Februar bei dauerndem Frostwetter wurden angetriebene Leichen
aufgefunden; draußenam offenen Haff auf den gefrorenen Watten
hatten sie gelegen. Ein junges Weib, die dabeigewe-sen war, als man
sie in das Dorf geholt hatte, stand redselig vor dem alten Haien.
„Glaubt nicht,daß sie wie Menschen aussahen“, rief sie; „nein, wie
die Seeteufel! So große Köpfe“, und hieltdie ausgespreizten Hände
von weitem gegeneinander, “gnidderschwarz und blank, wie
frischge-backen Brot! Und die Krabben hatten sie angeknabbert; und
die Kinder schrien laut, als sie siesahen!“
Dem alten Haien war so was just nichts Neues. „Sie haben wohl
seit November schon in Seegetrieben!“ sagte er gleichmütig.
Hauke stand schweigend daneben; aber sobald er konnte, schlich
er sich auf den Deich hi-naus; es war nicht zu sagen, wollte er
noch nach weiteren Toten (Reclam, S. 15) suchen, oder zog ihnnur
das Grauen, das noch auf den jetzt verlassenen Stellen brüten
mußte. Er lief weiter und wei-ter, bis er einsam in der Öde stand,
wo nur die Winde über den Deich wehten, wo nichts war alsdie
klagenden Stimmen der großen Vögel, die rasch vorüberschossen; zu
seiner Linken die leereweite Marsch, zur andern Seite der
unabsehbare Strand mit seiner jetzt vom Eise schimmerndenFläche der
Watten; es war, als liege die ganze Welt in weißem Tod.
Hauke blieb oben auf dem Deiche stehen, und seine scharfen Augen
schweiften weit umher;aber von Toten war nichts mehr zu sehen; nur
wo die unsichtbaren Wattströme sich darunterdrängten, hob und
senkte die Eisfläche sich in stromartigen Linien.
Er lief nach Hause; aber an einem der nächsten Abende war er
wiederum da draußen. Auf je-nen Stellen war jetzt das Eis
gespalten; wie Rauchwolken stieg es aus den Rissen, und über
dasganze Watt spann sich ein Netz von Dampf und Nebel, das sich
seltsam mit der Dämmerung desAbends mischte. Hauke sah mit starren
Augen darauf hin; denn in dem Nebel schritten dunkleGestalten auf
und ab, sie schienen ihm so groß wie Menschen. Würdevoll, aber mit
seltsamen,erschreckenden Gebärden; mit langen Nasen und Hälsen sah
er sie fern an den rauchendenSpalten auf und ab spazieren;
plötzlich begannen sie wie Narren unheimlich auf und ab zu
sprin-gen, die großen über die kleinen und die kleinen gegen die
großen; dann breiteten sie sich ausund verloren alle Form.
„Was wollen die? Sind es die Geister der Ertrunkenen?“ dachte
Hauke. „Hoiho!“ schrie er lautin die Nacht hinaus; aber die draußen
kehrten sich nicht an seinen Schrei, sondern trieben
ihrwunderliches Wesen fort.
(Reclam, S. 16) Da kamen ihm die furchtbaren norwegischen
Seegespenster in den Sinn, von denenein alter Kapitän ihm einst
erzählt hatte, die statt des Angesichts einen stumpfen Pull von
See-gras auf dem Nacken tragen; aber er lief nicht fort, sondern
bohrte die Hacken seiner Stiefel festin den Klei des Deiches und
sah starr dem possenhaften Unwesen zu, das in der
einfallendenDämmerung vor seinen Augen fortspielte. „Seid ihr auch
hier bei uns?“ sprach er mit harter Stim-me; „ihr sollt mich nicht
vertreiben!“
Storm, Schimmelreiter, Seite 6
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Erst als die Finsternis alles bedeckte, schritt er steifen,
langsamen Schrittes heimwärts. Aberhinter ihm drein kam es wie
Flügelrauschen und hallendes Geschrei. Er sah nicht um; aber erging
auch nicht schneller und kam erst spät nach Hause; doch niemals
soll er seinem Vater odereinem andern davon erzählt haben. Erst
viele Jahre später hat er sein blödes Mädchen, womitspäter der
Herrgott ihn belastete, um dieselbe Tages- und Jahreszeit mit sich
auf den Deich hi-nausgenommen, und dasselbe Wesen soll sich derzeit
draußen auf den Watten gezeigt haben;aber er hat ihr gesagt, sie
solle sich nicht fürchten, das seien nur die Fischreiher und die
Krähen,die im Nebel so groß und fürchterlich erschienen; die holten
sich die Fische aus den offenenSpalten.
(Reclam, S. 16, Zeile 26) Weiß Gott, Herr!“ unterbrach sich der
Schulmeister, „es gibt auf Erden allerleiDinge, die ein ehrlich
Christenherz verwirren können; aber der Hauke war weder ein Narr
nochein Dummkopf“ Da ich nichts erwiderte, wollte er fortfahren;
aber unter den übrigen Gästen, diebisher lautlos zugehört hatten,
nur mit dichterem Tabaksqualm das niedrige Zimmer füllend,entstand
eine plötzliche Bewegung; erst einzelne, dann fast alle wandten
sich dem Fenster zu.Draußen - man sah es durch die (Reclam, S. 17)
unverhangenen Fenster - trieb der Sturm die Wolken,und Licht und
Dunkel jagten durcheinander; aber auch mir war es, als hätte ich
den hageren Rei-ter auf seinem Schimmel vorbeisausen gesehen.
„Wart Er ein wenig, Schulmeister!“ sagte der Deichgraf
leise.
„Ihr braucht Euch nicht zu fürchten, Deichgraf!“ erwiderte der
kleine Erzähler, „ich habe ihnnicht geschmäht und hab auch dessen
keine Ursach“; und er sah mit seinen kleinen, klugen Au-gen zu ihm
auf.
„Ja, ja“, meinte der andere, „laß Er Sein Glas nur wieder
füllen.“ Und nachdem das geschehenwar und die Zuhörer, meist mit
etwas verdutzten Gesichtern, sich wieder zu ihm gewandt hatten,fuhr
er in seiner Geschichte fort:
„So für sich, und am liebsten nur mit Wind und Wasser und mit
den Bildern der Einsamkeitverkehrend, wuchs Hauke zu einem langen,
hageren Burschen auf. Er war schon über ein Jahrlang eingesegnet,
da wurde es auf einmal anders mit ihm, und das kam von dem alten
weißenAngorakater, welchen der alten Trin' Jans einst ihr später
verunglückter Sohn von seiner spani-schen Seereise mitgebracht
hatte. Trin' wohnte ein gut Stück hinaus auf dem Deiche in
einerkleinen Kate, und wenn die Alte in ihrem Hause herumarbeitete,
so pflegte diese Unform von ei-nem Kater vor der Haustür zu sitzen
und in den Sommertag und nach den vorüberfliegendenKiebitzen
hinauszublinzeln. Ging Hauke vorbei, so mauzte der Kater ihn an,
und Hauke nickteihm zu; die beiden wußten, was sie miteinander
hatten.
Nun aber war's einmal im Frühjahr, und Hauke lag nach seiner
Gewohnheit oft draußen amDeich, schon weiter unten dem Wasser zu,
zwischen Strandnelken und dem duftenden Seewer-mut, und ließ sich
(Reclam, S. 18) von der schon kräftigen Sonne bescheinen. Er hatte
sich tags zuvordroben auf der Geest die Taschen voll von Kieseln
gesammelt, und als in der Ebbezeit die Wat-ten bloßgelegt waren und
die kleinen grauen Strandläufer schreiend darüber hinhuschten,
holteer jählings einen Stein hervor und warf ihn nach den Vögeln.
Er hatte das von Kindesbeinen angeübt, und meistens blieb einer auf
dem Schlicke liegen; aber ebensooft war er dort auch nichtzu holen;
Hauke hatte schon daran gedacht, den Kater mitzunehmen und als
apportierendenJagdhund zu dressieren. Aber es gab auch hier und
dort feste Stellen oder Sandlager; solchen-falls lief er hinaus und
holte sich seine Beute selbst. Saß der Kater bei seiner Rückkehr
noch vorder Haustür, dann schrie das Tier vor nicht zu bergender
Raubgier so lange, bis Hauke ihm ei-nen der erbeuteten Vögel
zuwarf.
Als er heute, seine Jacke auf der Schulter, heimging, trug er
nur einen ihm noch unbekannten,aber wie mit bunter Seide und Metall
gefiederten Vogel mit nach Hause, und der Kater mauztewie
gewöhnlich, als er ihn kommen sah. Aber Hauke wollte seine Beute -
es mag ein Eisvogel
Storm, Schimmelreiter, Seite 7
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gewesen sein - diesmal nicht hergeben und kehrte sich nicht an
die Gier des Tieres. „Um-schicht!“ rief er ihm zu, „heute mir,
morgen dir; das hier ist kein Katerfressen!“ Aber der Katerkam
vorsichtigen Schrittes herangeschlichen; Hauke stand und sah ihn
an, der Vogel hing anseiner Hand, und der Kater blieb mit erhobener
Tatze stehen. Doch der Bursche schien seinenKatzenfreund noch nicht
so ganz zu kennen; denn während er ihm seinen Rücken zugewandthatte
und eben fürbaß (weiter) wollte, fühlte er mit einem Ruck die
Jagdbeute sich entrissen, undzugleich schlug eine scharfe Kralle
ihm ins Fleisch. Ein Grimm, wie gleichfalls eines (Reclam, S.
19)Raubtiers, flog dem jungen Menschen ins Blut; er griff wie
rasend um sich und hatte den Räuberschon am Genicke gepackt. Mit
der Faust hielt er das mächtige Tier empor und würgte es, daßdie
Augen ihm aus den rauhen Haaren vorquollen, nicht achtend, daß die
starken Hintertatzenihm den Arm zerfleischten. „Hoiho!“ schrie er
und packte ihn noch fester; „wollen sehen, wer'svon uns beiden am
längsten aushält!“ Plötzlich fielen die Hinterbeine der großen
Katze schlaffherunter, und Hauke ging ein paar Schritte zurück und
warf sie gegen die Kate der Alten. Da siesich nicht rührte, wandte
er sich und setzte seinen Weg nach Hause fort.
Aber der Angorakater war das Kleinod seiner Herrin; er war ihr
Geselle und das einzige, wasihr Sohn, der Matrose, ihr nachgelassen
hatte, nachdem er hier an der Küste seinen jähen Todgefunden hatte,
da er im Sturm seiner Mutter beim Porrenfangen hatte helfen wollen.
Haukemochte kaum hundert Schritte weiter getan haben, während er
mit einem Tuch das Blut aus sei-nen Wunden auffing, als schon von
der Kate her ihm ein Geheul und Zetern in die Ohren gellte.Da
wandte er sich und sah davor das alte Weib am Boden liegen; das
greise Haar flog ihr imWinde um das rote Kopftuch. „Tot!“ rief sie,
„tot!“ und erhob dräuend ihren mageren Arm gegenihn: „Du sollst
verflucht sein! Du hast ihn totgeschlagen, du nichtsnutziger
Strandläufer, du warstnicht wert, ihm seinen Schwanz zu bürsten!“
Sie warf sich über das Tier und wischte zärtlich mitihrer Schürze
ihm das Blut fort, das noch aus Nas' und Schnauze rann; dann hob
sie aufs neuean zu zetern.
„Bist du bald fertig?“ rief Hauke ihr zu, „dann laß dir sagen:
ich will dir einen Kater schaffen,der mit Maus- und Rattenblut
zufrieden ist!“
(Reclam, S. 20) Darauf ging er, scheinbar auf nichts mehr
achtend, fürbaß weiter . Aber die tote Katzemußte ihm doch im Kopfe
Wirrsal machen, denn er ging, als er zu den Häusern gekommen
war,dem seines Vaters und auch den übrigen vorbei und eine weite
Strecke noch nach Süden aufdem Deich der Stadt zu.
Inmittelst wanderte auch Trin' Jans auf demselben in der
gleichen Richtung; sie trug in einemalten blaukarierten
Kissenüberzug eine Last in ihren Armen, die sie sorgsam, als wär's
ein Kind,umklammerte; ihr greises Haar flatterte in dem leichten
Frühlingswind. „Was schleppt Sie da, Tri-na?“ frug ein Bauer, der
ihr entgegenkam. „Mehr als dein Haus und Hof“, erwiderte die Alte;
dannging sie eifrig weiter. Als sie dem unten liegenden Hause des
alten Haien nahe kam, ging sie denAkt, wie man bei uns die Trift-
und Fußwege nennt, die schräg an der Seite des Deiches hinab-oder
hinaufführen, zu den Häusern hinunter.
Der alte Tede Haien stand eben vor der Tür und sah ins Wetter.
„Na, Trin'!“ sagte er, als siepustend vor ihm stand und ihren
Krückstock in die Erde bohrte, „was bringt Sie Neues in
IhremSack?“
„Erst laß mich in die Stube, Tede Haien! Dann soll Er's sehen!“
Und ihre Augen sahen ihn mitseltsamem Funkeln an. „So kommen Sie!“
sagte der Alte. Was gingen ihn die Augen des dummen Weibes an. Und
als beide eingetreten waren, fuhr sie fort: „Bring Er den alten
Tabakskasten und dasSchreibzeug von dem Tisch - was hat Er denn
immer zu schreiben? - So; und nun wisch Er ihnsauber ab!“ Und der
Alte, der fast neugierig wurde, tat alles, was sie sagte; dann nahm
sie denblauen Überzug bei beiden Zipfeln und schüttete daraus den
großen (Reclam, S. 21) Katerleichnam auf
Storm, Schimmelreiter, Seite 8
-
den Tisch. „Da hat Er ihn!“ rief sie; „Sein Hauke hat ihn
totgeschlagen.“ Hierauf aber begann sieein bitterliches Weinen; sie
streichelte das dicke Fell des toten Tieres, legte ihm die Tatzen
zu-sammen, neigte ihre lange Nase über dessen Kopf und raunte ihm
unverständliche Zärtlichkei-ten in die Ohren.
Tede Haien sah dem zu. „So“, sagte er; „Hauke hat ihn
totgeschlagen?“ Er wußte nicht, was ermit dem heulenden Weibe
machen sollte.
Die Alte nickte ihn grimmig an: „Ja, ja; so Gott, das hat er
getan!“ Und sie wischte sich mit ih-rer von Gicht verkrümmten Hand
das Wasser aus den Augen. „Kein Kind, kein Lebigs mehr!“klagte sie.
„Und Er weiß es ja wohl auch, uns Alten, wenn's nach Allerheiligen
kommt, frierenabends im Bett die Beine, und statt zu schlafen,
hören wir den Nordwest an unseren Fensterlä-den rappeln. Ich hör's
nicht gern, Tede Haien, er kommt daher, wo mein Junge mir im
Schlickversank.“
Tede Haien nickte, und die Alte streichelte das Fell ihres toten
Katers. „Der aber“, begann siewieder, „wenn ich winters am Spinnrad
saß, dann saß er bei mir und spann auch und sah michan mit seinen
grünen Augen! Und kroch ich, wenn's mir kalt wurde, in mein Bett -
es dauertenicht lang, so sprang er zu mir und legte sich auf meine
frierenden Beine, und wir schliefen sowarm mitsammen, als hätte ich
noch meinen jungen Schatz im Bett!“ Die Alte, als suche sie
beidieser Erinnerung nach Zustimmung, sah den neben ihr stehenden
Alten mit ihren funkelndenAugen an.
Tede Haien aber sagte bedächtig: „Ich weiß Ihr einen Rat, Trin'
Jans“, und er ging nach seinerSchatulle und nahm eine Silbermünze
aus der Schublade (Reclam, S. 22) „Sie sagt, daß Hauke Ihr dasTier
vom Leben gebracht hat, und ich weiß, Sie lügt nicht; aber hier ist
ein Krontaler von Christi-an dem Vierten; damit kauf Sie sich ein
gegerbtes Lammfell für Ihre kalten Beine! Und wenn un-sere Katze
nächstens Junge wirft, so mag Sie sich das größte davon aussuchen,
das zusammentut wohl einen altersschwachen Angorakater! Und nun
nehm Sie das Vieh und bring Sie es mei-nethalb an den Racker in der
Stadt, und halt Sie das Maul, daß es hier auf meinem ehrlichenTisch
gelegen hat!“
Während dieser Rede hatte das Weib schon nach dem Taler
gegriffen und ihn in einer kleinenTasche geborgen, die sie unter
ihren Röcken trug; dann stopfte sie den Kater wieder in das
Bett-bühr, wischte mit ihrer Schürze die Blutflecken von dem Tisch
und stakte zur Tür hinaus. „VergißEr mir nur den jungen Kater
nicht!“ rief sie noch zurück. ____________
(Reclam, S. 22, Zeile 19) Eine Weile später, als der alte Haien
in dem engen Stüblein auf und ab schritt,trat Hauke herein und warf
seinen bunten Vogel auf den Tisch; als er aber auf der
weißgescheu-erten Platte den noch kennbaren Blutfleck sah, frug er,
wie beiläufig: „Was ist denn das?“ Der Vater blieb stehen: „Das ist
Blut, was du hast fließen machen!“ Dem Jungen schoß es doch heiß
ins Gesicht: „Ist denn Trin' Jans mit ihrem Kater hier gewe-sen?“
Der Alte nickte: „Weshalb hast du ihr den totgeschlagen?“ Hauke
entblößte seinen blutigen Ann. „Deshalb“, sagte er; „er hatte mir
den Vogel fortgeris-sen!“ Der Alte sagte nichts hierauf, er begann
eine Zeitlang wieder auf und ab zu gehen; dann blieber vor dem
Jungen stehn und sah eine Weile wie abwesend (Reclam, S. 23) auf
ihn hin. „Das mitdem Kater hab ich rein gemacht“, sagte er dann;
„aber, siehst du, Hauke, die Kate ist hier zuklein; zwei Herren
können darauf nicht sitzen - es ist nun Zeit, du mußt dir einen
Dienst besor-gen!“ „Ja, Vater“, entgegnete Hauke; „hab dergleichen
auch gedacht.“ „Warum?“ frug der Alte. - „Ja, man wird grimmig in
sich, wenn man's nicht an einem ordentlichen Stück Arbeit
auslas-
Storm, Schimmelreiter, Seite 9
-
sen kann.“ „So?“ sagte der Alte, „und darum hast du den Angorer
totgeschlagen? Das könnte leicht nochschlimmer werden!“ - „Er mag
wohl recht haben, Vater; aber der Deichgraf hat seinen Kleinknecht
fortgejagt; daskönnt ich schon verrichten!“
Der Alte begann wieder auf und ab zu gehen und spritzte dabei
die schwarze Tabaksjauchevon sich. „Der Deichgraf ist ein Dummkopf,
dumm wie 'ne Saatgans! Er ist nur Deichgraf, weilsein Vater und
Großvater es gewesen sind, und wegen seiner neunundzwanzig Fennen.
WennMartini (St. Martin, 11. November) herankommt und hernach die
Deich- und Sielrechnungen abgetanwerden müssen, dann füttert er den
Schulmeister mit Gansbraten und Met und Weizenkringelnund sitzt
dabei und nickt, wenn der mit seiner Feder die Zahlenreihen
hinunterläuft, und sagt:„Ja, ja, Schulmeister, Gott vergönn's Ihm!
Was kann Er rechnen?“ Wenn aber einmal der Schul-meister nicht kann
oder auch nicht will, dann muß er selber dran und sitzt und
schreibt undstreicht wieder aus, und der große dumme Kopf wird ihm
rot und heiß, und die Augen quellenwie Glaskugeln, als wollte das
bißchen Verstand da hinaus.“
Der Junge stand gerade auf vor dem Vater und (Reclam, S. 24)
wunderte sich, was der reden könne;so hatte er's noch nicht von ihm
gehört. „Ja, Gott tröst!“ sagte er, „dumm ist er wohl; aber
seineTochter Elke, die kann rechnen!“ Der Alte sah ihn scharf an.
„Ahoi, Hauke“, rief er; „was weißt du von Elke Volkerts?“ -
„Nichts, Vater; der Schulmeister hat's mir nur erzählt.“ Der Alte
antwortete nicht darauf, er schob nur bedächtig seinen Tabaksknoten
aus einer Ba-cke hinter die andere. „Und du denkst“, sagte er dann,
„du wirst dort auch mitrechnen können.“ „O ja, Vater, das möcht
schon gehen“, erwiderte der Sohn, und ein ernstes Zucken lief um
sei-nen Mund. Der Alte schüttelte den Kopf. „Nun, aber meinethalb;
versuch einmal dein Glück!“ „Dank auch, Vater!“ sagte Hauke und
stieg zu seiner Schlafstatt auf dem Boden; hier setzte ersich auf
die Bettkante und sann, weshalb ihn denn sein Vater um Elke
Volkerts angerufen habe.Er kannte sie freilich, das ranke
achtzehnjährige Mädchen mit dem bräunlichen schmalen Antlitzund den
dunklen Brauen, die über den trotzigen Augen und der schmalen Nase
ineinanderliefen;doch hatte er noch kaum ein Wort mit ihr
gesprochen; nun, wenn er zu dem alten Tede Volkertsging, wollte er
sie doch besser darauf ansehen, was es mit dem Mädchen auf sich
habe. Undgleich jetzt wollte er gehen, damit kein anderer ihm die
Stelle abjage; es war ja kaum nochAbend. Und so zog er seine
Sonntagsjacke und seine besten Stiefel an und machte sich
gutenMutes auf den Weg.
(Reclam, S. 24) - Das langgestreckte Haus des Deichgrafen war
durch seine hohe Werfte, besondersdurch den höchsten Baum des
Dorfes, eine gewaltige Esche, schon (Reclam, S. 25) von weitem
sicht-bar; der Großvater des jetzigen, der erste Deichgraf des
Geschlechtes, hatte in seiner Jugendeine solche osten der Haustür
hier gesetzt; aber die beiden ersten Anpflanzungen waren
vergan-gen, und so hatte er an seinem Hochzeitsmorgen diesen
dritten Baum gepflanzt, der noch jetztmit seiner immer mächtiger
werdenden Blätterkrone in dem hier unablässigen Winde wie von
al-ten Zeiten rauschte.
Als nach einer Weile der lang aufgeschossene Hauke die hohe
Werfte hinaufstieg, welche anden Seiten mit Rüben und Kohl
bepflanzt war, sah er droben die Tochter des Hauswirts nebender
niedrigen Haustür stehen. Ihr einer etwas hagerer Arm hing schlaff
herab, die andere Handschien im Rücken nach dem Eisenring zu
greifen, von denen je einer zu beiden Seiten der Tür inder Mauer
war, damit, wer vor das Haus ritt, sein Pferd daran befestigen
könne. Die Dirne (dasMädchen) schien von dort ihre Augen über den
Deich hinaus nach dem Meer zu haben, wo andem stillen Abend die
Sonne eben in das Wasser hinabsank und zugleich das bräunliche
Mäd-chen mit ihrem letzten Schein vergoldete.
Storm, Schimmelreiter, Seite 10
-
Hauke stieg etwas langsamer an der Werfte hinan und dachte bei
sich: „So ist sie nicht so dö-sig!“ Dann war er oben. „Guten Abend
auch!“ sagte er, zu ihr tretend; „wonach guckst du dennmit deinen
großen Augen, Jungfer Elke?“ „Nach dem“, erwiderte sie, „was hier
alle Abend vor sich geht, aber hier nicht alle Abend justzu sehen
ist.“ Sie ließ den Ring aus der Hand fallen, daß er klingend gegen
die Mauer schlug.„Was willst du, Hauke Haien?“ frug sie. „Was dir
hoffentlich nicht zuwider ist“, sagte er. „Dein Vater hat seinen
Kleinknecht fortgejagt,da dachte ich bei euch in Dienst.“ (Reclam,
S. 26) Sie ließ ihre Blicke an ihm herunterlaufen. „Du bist noch so
was schlanterig, Hauke!“sagte sie; „aber uns dienen zwei feste
Augen besser als zwei feste Arme!“ Sie sah ihn dabei fastdüster an,
aber Hauke hielt ihr tapfer stand. „So komm“, fuhr sie fort; „der
Wirt ist in der Stube,laß uns hineingehen!“ ____________
Am andern Tage trat Tede Haien mit seinem Sohne in das geräumige
Zimmer des Deichgra-fen; die Wände waren mit glasurten Kacheln
bekleidet, auf denen hier ein Schiff mit vollen Se-geln oder ein
Angler an einem Uferplatz, dort ein Rind, das kauend vor einem
Bauernhause lag,den Beschauer vergnügen konnte; unterbrochen war
diese dauerhafte Tapete durch ein mächti-ges Wandbett mit jetzt
zugeschobenen Türen und einen Wandschrank, der durch seine
beidenGlastüren allerlei Porzellan- und Silbergeschirr erblicken
ließ; neben der Tür zum anstoßendenPesel war hinter einer
Glasscheibe eine holländische Schlaguhr in die Wand gelassen.
Der starke, etwas schlagflüssige Hauswirt saß am Ende des
blankgescheuerten Tisches imLehnstuhl auf seinem bunten
Wollenpolster. Er hatte seine Hände über dem Bauch gefaltet
undstarrte aus seinen runden Augen befriedigt auf das Gerippe einer
fetten Ente; Gabel und Messerruhten vor ihm auf dem Teller. „Guten
Tag, Deichgraf!“ sagte Haien, und der Angeredete drehte langsam
Kopf und Augen zuihm hin. „Ihr seid es, Tede?“ entgegnete er, und
der Stimme war die verzehrte fette Ente anzuhören,„setzt Euch; es
ist ein gut Stück von Euch zu mir herüber!“ „Ich komme, Deichgraf“,
sagte Tede Haien, indem (Reclam, S. 27) er sich auf die an der Wand
ent-langlaufende Bank dem andern im Winkel gegenübersetzte. „Ihr
habt Verdruß mit Euerem Klein-knecht gehabt und seid mit meinem
Jungen einig geworden, ihn an dessen Stelle zu setzen!“ Der
Deichgraf nickte: „Ja, ja, Tede; aber - was meint Ihr mit Verdruß?
Wir Marschleute haben,Gott tröst uns, was dagegen einzunehmen!“ Und
er nahm das vor ihm liegende Messer undklopfte wie liebkosend auf
das Gerippe der armen Ente. „Das war mein Leibvogel“, setzte er
be-haglich lachend hinzu; „sie fraß mir aus der Hand!“
„Ich dachte“, sagte der alte Haien, das letzte überhörend, „der
Bengel hätte Euch Unheil imStall gemacht.“ „Unheil? Ja, Tede;
freilich Unheil genug! Der dicke Mopsbraten hatte die Kälber nicht
gebörmt(getränkt); aber er lag vollgetrunken auf dem Heuboden, und
das Viehzeug schrie die ganze Nachtvor Durst, daß ich bis Mittag
nachschlafen mußte; dabei kann die Wirtschaft nicht bestehen!“
„Nein, Deichgraf; aber dafür ist keine Gefahr bei meinem Jungen.“
Hauke stand, die Hände in den Seitentaschen, am Türpfosten, hatte
den Kopf im Nacken undstudierte an den Fensterrähmen ihm
gegenüber.
Der Deichgraf hatte die Augen zu ihm gehoben und nickte hinüber:
„Nein, nein, Tede“; und ernickte nun auch dem Alten zu, „Euer Hauke
wird mir die Nachtruh nicht verstören; der Schul-meister hat's mir
schon vordem (eben) gesagt, der sitzt lieber vor der Rechentafel
als vor einemGlas mit Branntwein.“ Hauke hörte nicht auf diesen
Zuspruch, denn Elke war in die Stube getreten und nahm mit ih-rer
leichten Hand die Reste der Speisen von dem Tisch, ihn mit (Reclam,
S, 28) ihren dunkeln Augenflüchtig streifend. Da fielen seine
Blicke auch auf sie. „Bei Gott und Jesus“, sprach er bei
sichselber, „sie sieht auch so nicht dösig (verschlafen) aus!“
Storm, Schimmelreiter, Seite 11
-
Das Mädchen war hinausgegangen. „Ihr wisset, Tede“, begann der
Deichgraf wieder, „unserHerrgott hat mir einen Sohn versagt!“
„Ja, Deichgraf, aber laßt Euch das nicht kränken“, entgegnete
der andere, „denn im drittenGliede soll der Familienverstand ja
verschleißen; Euer Großvater, das wissen wir alle, war einer,der
das Land geschützt hat!“ Der Deichgraf, nach einigem Besinnen, sah
schier verdutzt aus. „Wie meint Ihr das, Tede Hai-en?“ sagte er und
setzte sich in seinem Lehnstuhl auf, „ich bin ja doch im dritten
Gliede!“ „Ja, so! Nicht für ungut, Deichgraf; es geht nur so die
Rede!“ Und der hagere Tede Haien sahden alten Würdenträger mit
etwas boshaften Augen an. Der aber sprach unbekümmert: „Ihr müßt
Euch von alten Weibern dergleichen Torheit nichtaufschwatzen
lassen, Tede Haien; Ihr kennt nur meine Tochter nicht, die rechnet
mich selberdreimal um und um! Ich wollt nur sagen, Euer Hauke wird
außer im Felde auch hier in meinerStube mit Feder oder Rechenstift
so manches profitieren (lernen) können, was ihm nicht schadenwird!“
„Ja, ja, Deichgraf, das wird er; da habt Ihr völlig recht!“ sagte
der alte Haien und begann dannnoch einige Vergünstigungen bei dem
Mietkontrakt (Lehrvertrag) sich auszubedingen, dieabends vorher von
seinem Sohne nicht bedacht waren. So sollte dieser außer seinen
leinenenHemden im Herbst auch noch acht Paar wollene Strümpfe als
Zugabe seines Lohnes genießen;so wollte er selbst ihn im Frühling
acht Tage bei der eigenen Arbeit haben, und was dergleichenmehr
war.
(Reclam, S. 29) Aber der Deichgraf war zu allem willig; Hauke
Haien schien ihm eben der rechteKleinknecht. - - „Nun, Gott tröst
dich, Junge“, sagte der Alte, da sie eben das Haus verlassen
hatten, „wennder dir die Welt klarmachen soll!“
Aber Hauke erwiderte ruhig: „Laß Er nur, Vater; es wird schon
alles werden.“ ____________ (Reclam, S. 29) Und Hauke hatte so
unrecht nicht gehabt; die Welt, oder was ihm die Welt bedeute-te,
wurde ihm klarer, je länger sein Aufenthalt in diesem Hause
dauerte; vielleicht um so mehr, jeweniger ihm eine überlegene
Einsicht zu Hülfe kam und je mehr er auf seine eigene Kraft
ange-wiesen war, mit der er sich von jeher beholfen hatte. Einer
freilich war im Hause, für den er nichtder Rechte zu sein schien;
das war der Großknecht Ole Peters, ein tüchtiger Arbeiter und
einmaulfertiger Geselle. Ihm war der träge, aber dumme und stämmige
Kleinknecht von vorhin bes-ser nach seinem Sinn gewesen, dem er
ruhig die Tonne Hafer auf den Rücken hatte laden undden er nach
Herzenslust hatte herumstoßen können. Dem noch stilleren, aber ihn
geistig überra-genden Hauke vermochte er in solcher Weise nicht
beizukommen; er hatte eine gar zu eigeneArt, ihn anzublicken.
Trotzdem verstand er es, Arbeiten für ihn auszusuchen, die seinem
nochnicht gefesteten Körper hätten gefährlich werden können, und
Hauke, wenn der Großknecht sag-te: „Da hättest du den dicken Niß
nur sehen sollen, dem ging es von der Hand!“, faßte nach Kräf-ten
an und brachte es, wenn auch mit Mühsal, doch zu Ende. Ein Glück
war es für ihn, daß Elkeselbst oder durch ihren Vater das meistens
abzustellen wußte. Man mag wohl fragen, was mitun-ter (Reclam, S.
30) ganz fremde Menschen aneinander bindet; vielleicht - sie waren
beide geboreneRechner, und das Mädchen konnte ihren Kameraden in
der groben Arbeit nicht verderben sehen. Der Zwiespalt zwischen
Groß- und Kleinknecht wurde auch im Winter nicht besser, als
nachMartini die verschiedenen Deichrechnungen zur Revision
(Überprüfung) eingelaufen waren. Es war an einem Maiabend, aber es
war Novemberwetter; von drinnen im Hause hörte mandraußen hinterm
Deich die Brandung donnern. „He, Hauke“, sagte der Hausherr, „komm
herein;nun magst du weisen, ob du rechnen kannst!“
„Uns' Weert“ (Ehrwürdiger Herr), entgegnete dieser - denn so
nennen hier die Leute ihre Herr-schaft -, „ich soll aber erst das
Jungvieh füttern!“ „Elke!“ rief der Deichgraf; „wo bist du, Elke! -
Geh zu Ole und sag ihm, er sollte das Jungvieh
Storm, Schimmelreiter, Seite 12
-
füttern; Hauke soll rechnen!“
Und Elke eilte in den Stall und machte dem Großknecht die
Bestellung, der eben damit be-schäftigt war, das über Tag
gebrauchte Pferdegeschirr wieder an seinen Platz zu hängen. Ole
Peters schlug mit einer Trense gegen den Ständer, neben dem er sich
beschäftigte, alswolle er sie kurz und klein haben: „Hol der Teufel
den verfluchten Schreiberknecht!“ Sie hörte die Worte noch, bevor
sie die Stalltür wieder geschlossen hatte. „Nun?“ frug der Alte,
als sie in die Stube trat. „Ole wollte es schon besorgen“, sagte
die Tochter, ein wenig sich die Lippen beißend, undsetzte sich
Hauke gegenüber auf einen grobgeschnitzten Holzstuhl, wie sie noch
derzeit hier anWinterabenden im Hause selbst gemacht wurden. Sie
hatte aus einem (Reclam, S. 31) Schub-kasten einen weißen Strumpf
mit rotem Vogelmuster genommen, an dem sie nun weiterstrickte;die
langbeinigen Kreaturen darauf mochten Reiher oder Störche bedeuten
sollen. Hauke saß ihrgegenüber, in seine Rechnerei vertieft, der
Deichgraf selbst ruhte in seinem Lehnstuhl und blin-zelte schläfrig
nach Haukes Feder; auf dem Tisch brannten, wie immer im
Deichgrafenhause,zwei Unschlittkerzen (Talgkerzen) , und vor den
beiden in Blei gefaßten Fenstern waren von außendie Läden
vorgeschlagen und von innen zugeschroben (verriegelt) ; mochte der
Wind nun poltern,wie er wollte. Mitunter hob Hauke seinen Kopf von
der Arbeit und blickte einen Augenblick nachden Vogelstrümpfen oder
nach dem schmalen ruhigen Gesicht des Mädchens.
Da tat es aus dem Lehnstuhl plötzlich einen lauten Schnarcher,
und ein Blick und ein Lächelnflog zwischen den beiden jungen
Menschen hin und wider; dann folgte allmählich ein ruhigeresAtmen;
man konnte wohl ein wenig plaudern; Hauke wußte nur nicht, was. Als
sie aber das Strickzeug in die Höhe zog und die Vögel sich nun in
ihrer ganzen Längezeigten, flüsterte er über den Tisch herüber: „Wo
hast du das gelernt, Elke?“ „Was gelernt?“ frug das Mädchen zurück.
- „Das Vogelstricken“, sagte Hauke. „Das? Von Trin' Jans draußen am
Deich; sie kann allerlei; sie war vorzeiten einmal bei mei-nem
Großvater hier im Dienst.“ „Da warst du aber wohl noch nicht
geboren?“ sagte Hauke. „Ich denk wohl nicht; aber sie ist noch oft
ins Haus gekommen.“ „Hat denn die die Vögel gern?“ frug Hauke; „ich
meint, sie hielt es nur mit Katzen!“ (Reclam, S. 32) Elke
schüttelte den Kopf. „Sie zieht ja Enten und verkauft sie; aber im
vorigen Früh-jahr, als du den Angorer totgeschlagen hattest, sind
ihr hinten im Stall die Ratten dazwischenge-kommen; nun will sie
sich vorn am Hause einen andern bauen.“ „So“, sagte Hauke und zog
einen leisen Pfiff durch die Zähne, „dazu hat sie von der
Geest(sandiger Dünenboden) sich Lehm und Steine hergeschleppt! Aber
dann kommt sie in den Binnen-weg! - Hat sie denn Konzession?“ „Weiß
ich nicht“, meinte Elke. Aber er hatte das letzte Wort so laut
gesprochen, daß der Deich-graf aus seinem Schlummer auffuhr. „Was
Konzession?“ frug er und sah fast wild von einem zuder andern. „Was
soll die Konzession.
Als aber Hauke ihm die Sache vorgetragen hatte, klopfte er ihm
lachend auf die Schulter: „Eiwas, der Binnenweg ist breit genug;
Gott tröst den Deichgrafen, sollt er sich auch noch um
dieEntenställe kümmern!“ Hauke fiel es aufs Herz (hatte ein
schlechtes Gewissen), daß er die Alte mit ihren jungen Enten
denRatten sollte preisgegeben haben, und er ließ sich mit dem
Einwand abfinden. „Aber, uns'Weert“, begann er wieder, „es tät wohl
dem und jenem ein kleiner Zwicker gut, und wollet Ihr ihnnicht
selber greifen, so zwicket den Gevollmächtigten (Beauftragter), der
auf die Deichordnungpassen soll!“ „Wie, was sagt der Junge?“ Und
der Deichgraf setzte sich vollends auf, und Elke ließ
ihrenkünstlichen Strumpf sinken und wandte das Ohr hinüber. „Ja,
uns' Weert“, fuhr Hauke fort, „Ihr habt doch schon die
Frühlingsschau gehalten; aber trotz-dem hat Peter Jansen auf seinem
Stück das Unkraut auch noch heute nicht gebuscht (kurz ge-
Storm, Schimmelreiter, Seite 13
-
schnitten); im Sommer werden die Stieglitzer da wieder lustig um
die roten Distelblumen spielen!Und dicht daneben, ich weiß nicht,
wem's (Reclam, S. 33) gehört, ist an der Außenseite eine ganzeWiege
in dem Deich (Loch im Deich); bei schön Wetter liegt es immer voll
von kleinen Kindern, diesich darin wälzen; aber - Gott bewahr uns
vor Hochwasser!“ Die Augen des alten Deichgrafen waren immer größer
geworden. „Und dann -“, sagte Haukewieder. „Was dann noch, Junge?“
frug der Deichgraf, „bist du noch nicht fertig?“ Und es klang,als
sei der Rede seines Kleinknechts ihm schon zuviel geworden. „Ja,
dann, uns' Weert“, sprach Hauke weiter; „Ihr kennt die dicke
Vollina, die Tochter vom Ge-vollmächtigten Harders, die immer ihres
Vaters Pferde aus der Fenne holt - wenn sie nur ebenmit ihren
runden Waden auf der alten gelben Stute sitzt, hü hopp! so geht's
allemal schräg ander Dossierung den Deich hinan!“ Hauke bemerkte
erst jetzt, daß Elke ihre klugen Augen auf ihn gerichtet hatte und
leise ihrenKopf schüttelte. Er schwieg, aber ein Faustschlag, den
der Alte auf den Tisch tat, dröhnte ihm in die Ohren; „dasoll das
Wetter dreinschlagen!“ rief er, und Hauke erschrak beinahe über die
Bärenstimme, dieplötzlich hier hervorbrach. „Zur Brüche! Notier mir
das dicke Mensch zur Brüche, Hauke! Die Dir-ne hat mir im letzten
Sommer drei junge Enten weggefangen! Ja, ja, notier nur“,
wiederholte er,als Hauke zögerte; „ich glaub sogar, es waren vier!“
„Ei, Vater“, sagte Elke, „war's nicht die Otter, die die Enten
nahm?“ „Eine große Otter“, rief der Alte schnaufend; „werd doch die
dicke Vollina und eine Otter ausei-nanderkennen! Nein, nein, vier
Enten, Hauke - aber was du im übrigen schwatzest, der Herr(Reclam,
S. 34) Oberdeichgraf und ich, nachdem wir zusammen in meinem Hause
hier gefrühstückthatten, sind im Frühjahr an deinem Unkraut und an
deiner Wiege vorbeigefahren und haben'sdoch nicht sehen können. Ihr
beide aber“, und er nickte ein paarmal bedeutsam gegen Haukeund
seine Tochter, „danket Gott, daß ihr nicht Deichgraf seid! Zwei
Augen hat man nur, und mithundert soll man sehen. - - Nimm nur die
Rechnungen über die Bestickungsarbeiten, Hauke, undsieh sie nach;
die Kerls rechnen oft zu liederlich!“ Dann lehnte er sich wieder in
seinem Stuhl zurück, ruckte den schweren Körper ein paarmalund
überließ sich bald dem sorgenlosen Schlummer. ____________
(Reclam, S. 34) Dergleichen wiederholte sich an manchem Abend.
Hauke hatte scharfe Augen undunterließ es nicht, wenn sie
beisammensaßen, das eine oder andre von schädlichem Tun
oderUnterlassen in Deichsachen dem Alten vor die Augen zu rücken;
und da dieser sie nicht immerschließen konnte, so kam unversehens
ein lebhafterer Geschäftsgang in die Verwaltung, unddie, welche
früher im alten Schlendrian fortgesündigt hatten und jetzt
unerwartet ihre frevlen oderfaulen Finger geklopft fühlten, sahen
sich unwillig und verwundert um, woher die Schläge denngekommen
seien. Und Ole, der Großknecht, säumte nicht, möglichst weit die
Offenbarung zuverbreiten und dadurch gegen Hauke und seinen Vater,
der doch die Mitschuld tragen mußte, indiesen Kreisen einen
Widerwillen zu erregen; die andern aber, welche nicht getroffen
waren oderdenen es um die Sache selbst zu tun war, lachten und
hatten ihre Freude, daß der Junge den Al-ten doch einmal etwas in
Trab gebracht habe. „Schad nur“, sagten sie, „daß der (Reclam, S.
35)Bengel nicht den gehörigen Klei unter den Füßen hat; das gäbe
später sonst einmal wieder ei-nen Deichgrafen, wie vordem sie
dagewesen sind; aber die paar Demat seines Alten, die täten'sdenn
doch nicht!“
Als im nächsten Herbst der Herr Amtmann und Oberdeichgraf zur
Schauung kam, sah er sichden alten Tede Volkerts von oben bis unten
an, während dieser ihn zum Frühstück nötigte.„Wahrhaftig,
Deichgraf“, sagte er, „ich dacht's mir schon, Ihr seid in der Tat
um ein Halbstieg Jah-re jünger geworden; Ihr habt mir diesmal mit
all Euern Vorschlägen warm gemacht, wenn wir mitalledem nur heute
fertig werden!“ „Wird schon, wird schon, gestrengerHerr
Oberdeichgraf“, erwiderte der Alte schmunzelnd; „derGansbraten da
wird schon die Kräfte stärken! Ja, Gott sei Dank, ich bin noch
allezeit frisch undmunter!“ Er sah sich in der Stube um, ob auch
nicht etwa Hauke um die Wege sei; dann setzte
Storm, Schimmelreiter, Seite 14
-
er in würdevoller Ruhe noch hinzu: „So hoffe ich zu Gott, noch
meines Amtes ein paar Jahre inSegen warten zu können.“ „Und darauf,
lieber Deichgraf“, erwiderte sein Vorgesetzter, sich erhebend,
„wollen wir diesesGlas zusammen trinken!“
Elke, die das Frühstück bestellt hatte, ging eben, während die
Gläser aneinanderklangen, mitleisem Lachen aus der Stubentür. Dann
holte sie eine Schüssel Abfall aus der Küche und gingdurch den
Stall, um es vor der Außentür dem Federvieh vorzuwerfen. Im Stall
stand Hauke Hai-en und steckte den Kühen, die man der argen
Witterung wegen schon jetzt hatte heraufnehmenmüssen, mit der Furke
Heu in ihre Raufen. Als er aber das Mädchen kommen sah, stieß er
dieFurke auf den Grund. „Nu, Elke!“ sagte er. (Reclam, S. 36) Sie
blieb stehen und nickte ihm zu: „Ja, Hauke; aber eben hättest du
drinnen seinmüssen!“ „Meinst du? Warum denn, Elke?“ „Der Herr
Oberdeichgraf hat den Wirt gelobt!“ „Den Wirt? Was tut das mir?“
„Nein, ich mein, den Deichgrafen hat er gelobt!“ Ein dunkles Rot
flog über das Gesicht des jungen Menschen. „Ich weiß wohl“, sagte
er, „wohindu damit segeln willst! (worauf Du anspielst) “ „Werd nur
nicht rot, Hauke, du warst es ja doch eigentlich, den der
Oberdeichgraf lobte!“ Hauke sah sie mit halbem Lächeln an. „Auch du
doch, Elke!“ sagte er. Aber sie schüttelte den Kopf. „Nein, Hauke;
als ich allein der Helfer war, da wurden wir nichtgelobt. Ich kann
ja auch nur rechnen; du aber siehst draußen alles, was der
Deichgraf doch wohlselber sehen sollte; du hast mich
ausgestochen!“
„Ich hab das nicht gewollt, dich am mindsten“, sagte Hauke
zaghaft, und er stieß den Kopf ei-ner Kuh zur Seite. „Komm,
Rotbunt, friß mir nicht die Furke auf, du sollst ja alles haben!“
„Denk nur nicht, daß mir's leid tut, Hauke“, sagte nach kurzem
Sinnen das Mädchen; „das istja Mannessache!“
Da streckte Hauke ihr den Arm entgegen: „Elke, gib mir die Hand
darauf!“ Ein tiefes Rot schoß unter die dunkeln Brauen des
Mädchens. „Warum? Ich lüg ja nicht!“ riefsie. Hauke wollte
antworten; aber sie war schon zum Stall hinaus, und er stand mit
seiner Furke inder Hand und hörte nur, wie draußen die Enten und
Hühner um sie schnatterten und krähten. ____________
(Reclam, S. 37) Es war im Januar von Haukes drittem Dienstjahr,
als ein Winterfest gehalten werdensollte, „Eisboseln“ nennen sie es
hier. Ein ständiger Frost hatte beim Ruhen der Küstenwindealle
Gräben zwischen den Fennen mit einer festen ebenen Kristallfläche
belegt, so daß die zer-schnittenen Landstücke nun eine weite Bahn
für das Werfen der kleinen, mit Blei ausgegosse-nen Holzkugeln
bildeten, womit das Ziel erreicht werden sollte. Tagaus, tagein
wehte ein leichterNordost: alles war schon in Ordnung; die
Geestleute in dem zu Osten über der Marsch belege-nen Kirchdorf,
die im vorigen Jahre gesiegt hatten, waren zum Wettkampf gefordert
und hattenangenommen, von jeder Seite waren neun Werfer
aufgestellt; auch der Obmann (Schiedsrichter) und die Kretler
(dessen Kollegen) waren gewählt. Zu letzteren, die bei Streitfällen
über einen zwei-felhaften Wurf miteinander zu verhandeln hatten,
wurden allezeit Leute genommen, die ihre Sa-che ins beste Licht zu
rücken verstanden, am liebsten Burschen, die außer gesundem
Men-schenverstand auch noch ein lustig Mundwerk hatten. Dazu
gehörte vor allen Ole Peters, derGroßknecht des Deichgrafen. „Werft
nur wie die Teufel“, sagte er; „das Schwatzen tu ich
schonumsonst!“
Es war gegen Abend vor dem Festtag; in der Nebenstube des
Kirchspielskruges droben aufder Geest war eine Anzahl von den
Werfern erschienen, um über die Aufnahme einiger zuletztnoch
Angemeldeten zu beschließen. Hauke Haien war auch unter diesen; er
hatte erst nicht wol-
Storm, Schimmelreiter, Seite 15
-
len, obschon er seiner wurfgeübten Arme sich wohl bewußt war,
aber er fürchtete, durch Ole Pe-ters, der einen Ehrenposten in dem
Spiel bekleidete, zurückgewiesen zu werden; die Niederlagewollte er
sich sparen. Aber Elke hatte ihm noch in der elften Stunde den Sinn
gewandt. „Er (Reclam,S. 38) wird's nicht wagen, Hauke“, hatte sie
gesagt; „er ist ein Tagelöhnersohn; dein Vater hat Kuhund Pferd und
ist dazu der klügste Mann im Dorf!“ „Aber, wenn er's dennoch
fertigbringt?“ Sie sah ihn halb lächelnd aus ihren dunkeln Augen
an. „Dann“, sagte sie, „soll er sich denMund wischen, wenn er
abends mit seines Wirts Tochter zu tanzen denkt!“ - Da hatte Hauke
ihrmutig zugenickt. Nun standen die jungen Leute, die noch in das
Spiel hineinwollten, frierend und fußtrampelndvor dem
Kirchspielskrug und sahen nach der Spitze des aus Felsblöcken
gebauten Kirchturmshinauf, neben dem das Krughaus lag. Des Pastors
Tauben, die sich im Sommer auf den Felderndes Dorfes nährten, kamen
eben von den Höfen und Scheuern der Bauern zurück, wo sie sichjetzt
ihre Körner gesucht hatten, und verschwanden unter den Schindeln
des Turmes, hinter wel-chen sie ihre Nester hatten; im Westen über
dem Haff stand ein glühendes Abendrot.
„Wird gut Wetter morgen!“ sagte der eine der jungen Burschen und
begann heftig auf und abzu wandern; „aber kalt! kalt!“ Ein zweiter,
als er keine Taube mehr fliegen sah, ging in das Hausund stellte
sich horchend neben die Tür der Stube, aus der jetzt ein lebhaftes
Durcheinanderre-den herausscholl; auch des Deichgrafen Kleinknecht
war neben ihn getreten. „Hör, Hauke“, sag-te er zu diesem; „nun
schreien sie um dich!“ Und deutlich hörte man von drinnen Ole
Peters'knarrende Stimme: „Kleinknechte und Jungens gehören nicht
dazu!“ „Komm“, flüsterte der andre und suchte Hauke am Rockärmel an
die Stubentür zu ziehen,„hier kannst du lernen, wie hoch sie dich
taxieren!“ Aber Hauke riß sich los und ging wieder vor das (Reclam,
S. 39) Haus. „Sie haben uns nicht ausge-sperrt, damit wir's hören
sollen!“ rief er zurück.
Vor dem Hause stand der dritte der Angemeldeten. „Ich fürcht,
mit mir hat's einen Haken“, riefer ihm entgegen; „ich hab kaum
achtzehn Jahre; wenn sie nur den Taufschein nicht verlangen!Dich,
Hauke, wird dein Großknecht schon herauskreteln!“ (ausscheiden
lassen) „Ja, heraus!“ brummte Hauke und schleuderte mit dem Fuße
einen Stein über den Weg; „nurnicht hinein!“ Der Lärm in der Stube
wurde stärker; dann allmählich trat eine Stille ein; die draußen
hörtenwieder den leisen Nordost, der sich oben an der
Kirchturmspitze brach. Der Horcher trat wiederzu ihnen. „Wen hatten
sie da drinnen?“ frug der Achtzehnjährige.
„Den da!“ sagte jener und wies auf Hauke, „Ole Peters wollte ihn
zum Jungen machen; aberalle schrien dagegen. „Und sein Vater hat
Vieh und Land“, sagte Jeß Hansen. „Ja, Land“, rief OlePeters, „das
man auf dreizehn Karren wegfahren kann!“ - Zuletzt kam Ole Hensen.
„Still da!“ schrie er; „ich will's euch lehren: sagt nur, wer ist
der ersteMann im Dorf?“ Da schwiegen sie erst und schienen sich zu
besinnen; dann sagte eine Stimme:„Das ist doch wohl der Deichgraf!“
Und alle anderen riefen: „Nun ja, unserthalb der Deichgraf!“ -„Und
wer ist denn der Deichgraf?“ rief Ole Hensen wieder; „aber nun
bedenkt euch recht!“ - - Dabegann einer leis zu lachen, und dann
wieder einer, bis zuletzt nichts in der Stube war als lauterLachen.
„Nun, so ruft ihn“, sagte Ole Hensen; „ihr wollt doch nicht den
Deichgrafen von der Türstoßen!“ Ich glaub, sie lachen noch; aber
Ole Peters' Stimme war nicht mehr zu hören!“ schloßder Bursche
seinen Bericht.
(Reclam, S. 40) Fast in demselben Augenblicke wurde drinnen im
Hause die Stubentür aufgerissen,und: „Hauke! Hauke Haien!“ rief es
laut und fröhlich in die Nacht hinaus. Da trabte Hauke in das Haus
und hörte nicht mehr, wer denn der Deichgraf sei; was in
seinemKopfe brütete, hat indessen niemand wohl erfahren. - - Als er
nach einer Weile sich dem Hause seiner Herrschaft nahte, sah er
Elke drunten amHeck der Auffahrt stehen, das Mondlicht schimmerte
über die unermeßliche weißbereifte Weide-fläche. „Stehst du hier,
Elke?“ frug er.
Storm, Schimmelreiter, Seite 16
-
Sie nickte nur. „Was ist geworden?“ sagte sie; „hat er's
gewagt?“ - „Was sollt er nicht!“ „Nun, und?“ - „Ja, Elke; ich darf
es morgen doch versuchen!“ „Gute Nacht, Hauke!“ Und sie lief
flüchtig die Werfte hinan und verschwand im Hause. Langsam folgte
er ihr. ____________
(Reclam, S. 01) Auf der weiten Weidefläche, die sich zu Osten an
der Landseite des Deiches ent-langzog, sah man am Nachmittag darauf
eine dunkle Menschenmasse bald unbeweglich stilles-tehen, bald,
nachdem zweimal eine hölzerne Kugel aus derselben über den durch
die Tagesson-ne jetzt von Reif befreiten Boden hingeflogen war,
abwärts von den hinter ihr liegenden langenund niedrigen Häusern
allmählich weiterrücken; die Parteien der Eisbosler in der Mitte,
umgebenvon alt und jung, was mit ihnen, sei es in jenen Häusern
oder in denen droben auf der Geest,Wohnung oder Verbleib hatte; die
älteren Männer in langen Röcken, bedächtig aus kurzen Pfei-fen
rauchend, die Weiber in (Reclam, S. 41) Tüchern und Jacken, auch
wohl Kinder an den Händenziehend oder auf den Armen tragend. Aus
den gefrorenen Gräben, welche allmählich überschrit-ten wurden,
funkelte durch die scharfen Schilfspitzen der bleiche Schein der
Nachmittagssonne;es fror mächtig, aber das Spiel ging unablässig
vorwärts, und aller Augen verfolgten immer wie-der die fliegende
Kugel, denn an ihr hing heute für das ganze Dorf die Ehre des
Tages. Der Kret-ler (Schiedsrichter) der Parteien trug hier einen
weißen, bei den Geestleuten einen schwarzen Stabmit eiserner
Spitze; wo die Kugel ihren Lauf geendet hatte, wurde dieser, je
nachdem, unterschweigender Anerkennung oder dem Hohngelächter der
Gegenpartei in den gefrorenen Bodeneingeschlagen, und wessen Kugel
zuerst das Ziel erreichte, der hatte für seine Partei das
Spielgewonnen.
Gesprochen wurde von all den Menschen wenig; nur wenn ein
Kapitalwurf geschah, hörteman wohl einen Ruf der jungen Männer oder
Weiber; oder von den Alten einer nahm seine Pfeifeaus dem Mund und
klopfte damit unter ein paar guten Worten den Werfer auf die
Schulter: „Daswar ein Wurf, sagte Zacharies und warf sein Weib aus
der Luke!“ oder: „So warf dein Vater auch;Gott tröst ihn in der
Ewigkeit!“ oder was sie sonst für Gutes sagten.
Bei seinem ersten Wurfe war das Glück nicht mit Hauke gewesen:
als er eben den Arm hintenausschwang, um die Kugel
fortzuschleudern, war eine Wolke von der Sonne fortgezogen, die
sievorhin bedeckt hatte, und diese traf mit ihrem vollen Strahl in
seine Augen; der Wurf wurde zukurz, die Kugel fiel auf einen Graben
und blieb im Bummeis (dünnes Eis) stecken.
„Gilt nicht! Gilt nicht! Hauke, noch einmal“, riefen seine
Partner. (Reclam, S. 42) Aber der Kretler der Geestleute sprang
dagegen auf: „Muß wohl gelten; geworfen istgeworfen!“ „Ole! Ole
Peters!“ schrie die Marschjugend. „Wo ist Ole? Wo, zum Teufel,
steckt er?“ Aber er war schon da. „Schreit nur nicht so! Soll Hauke
wo geflickt werden! Ich dacht's mirschon.“ - „Ei was! Hauke muß
noch einmal werfen; nun zeig, daß du das Maul am rechten Fleck
hast!“ „Das hab ich schon!“ rief Ole und trat dem Geestkretler
gegenüber und redete einen HaufenGalimathias (unverständliches
Geschwätz) aufeinander. Aber die Spitzen und Schärfen, die sonst
ausseinen Worten blitzten, waren diesmal nicht dabei. Ihm zur Seite
stand das Mädchen mit denRätselbrauen und sah scharf aus zornigen
Augen auf ihn hin; aber reden durfte sie nicht, denndie Frauen
hatten keine Stimme in dem Spiel. „Du leierst Unsinn“, rief der
andere Kretler, „weil dir der Sinn nicht dienen kann! Sonne,
Mondund Sterne sind für uns alle gleich und allezeit am Himmel; der
Wurf war ungeschickt, und alleungeschickten Würfe gelten!“ So
redeten sie noch eine Weile gegeneinander; aber das Ende war, daß
nach Bescheid desObmanns Hauke seinen Wurf nicht wiederholen
durfte.
Storm, Schimmelreiter, Seite 17
-
„Vorwärts!“ riefen die Geestleute, und ihr Kretler zog den
schwarzen Stab aus dem Boden,und der Werfer trat auf seinen
Nummerruf dort an und schleuderte die Kugel vorwärts. Als
derGroßknecht des Deichgrafen dem Wurfe zusehen wollte, hatte er an
Elke Volkerts vorbeimüs-sen. „Wem zuliebe ließest du heut deinen
Verstand zu Hause?“ raunte sie ihm zu.
Da sah er sie fast grimmig an, und aller Spaß war aus seinem
breiten Gesichte verschwun-den. „Dir zulieb!“ sagte er, „denn du
hast deinen auch vergessen!“ (Reclam, S. 43) „Geh nur; ich kenne
dich, Ole Peters!“ erwiderte das Mädchen, sich hoch aufrich-tend;
er aber kehrte den Kopf ab und tat, als habe er das nicht
gehört.
Und das Spiel und der schwarze und weiße Stab gingen weiter. Als
Hauke wieder am Wurfwar, flog seine Kugel schon so weit, daß das
Ziel, die große weißgekalkte Tonne, klar in Sichtkam. Er war jetzt
ein fester junger Kerl, und Mathematik und Wurfkunst hatte er
täglich währendseiner Knabenzeit getrieben. „Oho, Hauke!“ rief es
aus dem Haufen; „das war ja, als habe derErzengel Michael selbst
geworfen!“ Eine alte Frau mit Kuchen und Branntwein drängte
sichdurch den Haufen zu ihm; sie schenkte ein Glas voll und bot es
ihm. „Komm“, sagte sie, „wir wol-len uns vertragen: das heut ist
besser, als da du mir die Katze totschlugst!“ Als er sie ansah,
er-kannte er, daß es Trin' Jans war. „Ich dank dir, Alte“, sagte
er; „aber ich trink das nicht.“ Er griff inseine Tasche und drückte
ihr ein frischgeprägtes Markstück in die Hand. „Nimm das und
trinkselber das Glas aus, Trin'; so haben wir uns vertragen!“ „Hast
recht, Hauke!“ erwiderte die Alte, indem sie seiner Anweisung
folgte; „hast recht; das istauch besser für ein altes Weib wie
ich!“ „Wie geht's mit deinen Enten?“ rief er ihr noch nach, als sie
sich schon mit ihrem Korbe fort-machte; aber sie schüttelte nur den
Kopf, ohne sich umzuwenden, und patschte mit ihren altenHänden in
die Luft. „Nichts, nichts, Hauke; da sind zu viele Ratten in euren
Gräben; Gott tröstmich; man muß sich anders nähren!“ Und somit
drängte sie sich in den Menschenhaufen und botwieder ihren Schnaps
und ihre Honigkuchen an.
Die Sonne war endlich schon hinter den Deich hinabgesunken;
statt ihrer glimmte ein rotviolet-ter Schimmer empor; mitunter
flogen schwarze Krähen vorüber und waren auf Augenblicke
wievergoldet, es wurde Abend. Auf den Fennen aber rückte der dunkle
Menschentrupp noch immerweiter von den schwarzen schon fern
liegenden Häusern nach der Tonne zu, ein besonderstüchtiger Wurf
mußte sie jetzt erreichen können. Die Marschleute waren an der
Reihe; Haukesollte werfen. Die kreidige Tonne zeichnete sich weiß
in dem breiten Abendschatten, der jetzt von dem Dei-che über die
Fläche fiel. „Die werdet ihr uns diesmal wohl noch lassen!“ rief
einer von den Geest-leuten, denn es ging scharf her; sie waren um
mindestens ein Halbstieg Fuß im Vorteil. Die hagere Gestalt des
Genannten trat eben aus der Menge; die grauen Augen sahen ausdem
langen Friesengesicht vorwärts nach der Tonne; in der
herabhängenden Hand lag die Ku-gel.
„Der Vogel ist dir wohl zu groß“, hörte er in diesem Augenblick
Ole Peters' Knarrstimme dichtvor seinen Ohren; „sollen wir ihn um
einen grauen Topf vertauschen?“ Hauke wandte sich und blickte ihn
mit festen Augen an. „Ich werfe für die Marsch!“ sagte er.„Wohin
gehörst denn du?“ „Ich denke, auch dahin, du wirfst doch wohl für
Elke Volkerts!“ „Beiseit!“ schrie Hauke und stellte sich wieder in
Positur. Aber Ole drängte mit dem Kopf nochnäher auf ihn zu. Da
plötzlich, bevor noch Hauke selber etwas dagegen unternehmen
konnte,packte den Zudringlichen eine Hand und riß ihn rückwärts,
daß der Bursche gegen seine lachen-den Kameraden taumelte. Es war
keine große Hand gewesen, die das getan hatte; denn alsHauke
flüchtig den Kopf wandte, (Reclam S. 45) sah er neben sich Elke
Volkerts ihren Ärmel zurecht-zupfen, und die dunkeln Brauen standen
ihr wie zornig in dem heißen Antlitz.
Da flog es wie eine Stahlkraft in Haukes Arm; er neigte sich ein
wenig, er wiegte die Kugel ein
Storm, Schimmelreiter, Seite 18
-
paarmal in der Hand; dann holte er aus, und eine Todesstille war
auf beiden Seiten; alle Augenfolgten der fliegenden Kugel, man
hörte ihr Sausen, wie sie die Luft durchschnitt; plötzlich,
schonweit vom Wurfplatz, verdeckten sie die Flügel einer
Silbermöwe, die, ihren Schrei ausstoßend,vom Deich herüberkam;
zugleich aber hörte man es in der Ferne an die Tonne klatschen.
„Hurrafür Hauke!“ riefen die Marschleute, und lärmend ging es durch
die Menge: „Hauke! Hauke Haienhat das Spiel gewonnen!“
Der aber, da ihn alle dicht umdrängten, hatte seitwärts nur nach
einer Hand gegriffen; auch dasie wieder riefen: „Was stehst du,
Hauke? Die Kugel liegt ja in der Tonne!“, nickte er nur und
gingnicht von der Stelle; erst als er fühlte, daß sich die kleine
Hand fest an die seine schloß, sagte er:„Ihr mögt schon recht
haben; ich glaube auch, ich hab gewonnen!“
Dann strömte der ganze Trupp zurück, und Elke und Hauke wurden
getrennt und von derMenge auf den Weg zum Kruge fortgerissen, der
an des Deichgrafen Werfte nach der Geest hi-naufbog. Hier aber
entschlüpften beide dem Gedränge, und während Elke auf ihre Kammer
ging,stand Hauke hinten vor der Stalltür auf der Werfte und sah,
wie der dunkle Menschentrupp all-mählich nach dort hinaufwanderte,
wo im Kirchspielskrug ein Raum für die Tanzenden bereits-tand. Das
Dunkel breitete sich allmählich über die weite Gegend; es wurde
immer stiller um ihnher, nur hinter ihm im Stalle regte sich das
Vieh, oben von der Geest her glaubte er schon das(Reclam S. 46)
Pfeifen der Klarinetten aus dem Kruge zu vernehmen. Da hörte er um
die Eckedes Hauses das Rauschen eines Kleides, und kleine feste
Schritte gingen den Fußsteig hinab,der durch die Fennen nach der
Geest hinaufführte. Nun sah er auch im Dämmer die Gestalt
da-hinschreiten und sah, daß es Elke war; sie ging auch zum Tanze
nach dem Krug. Das Blut schoßihm in den Hals hinauf, sollte er ihr
nicht nachlaufen und mit ihr gehen? Aber Hauke war keinHeld den
Frauen gegenüber; mit dieser Frage sich beschäftigend, blieb er
stehen, bis sie imDunkel seinem Blick entschwunden war.
Dann, als die Gefahr, sie einzuholen, vorüber war, ging auch er
denselben Weg, bis er drobenden Krug bei der Kirche erreicht hatte
und das Schwatzen und Schreien der vor dem Hause undauf dem Flur
sich Drängenden und das Schrillen der Geigen und Klarinetten
betäubend ihn um-rauschte. Unbeachtet drückte er sich in den
„Gildesaal“; er war nicht groß und so voll, daß mankaum einen
Schritt weit vor sich hin sehen konnte. Schweigend stellte er sich
an den Türpfostenund blickte in das unruhige Gewimmel; die Menschen
kamen ihm wie Narren vor; er hatte auchnicht zu sorgen, daß jemand
noch an den Kampf des Nachmittags dachte und wer vor einerStunde
erst das Spiel gewonnen hatte; jeder sah nur auf seine Dirne
(Mädchen) und drehte sichmit ihr im Kreis herum. Seine Augen
suchten nur die eine, und endlich - dort! Sie tanzte mit
ihremVetter, dem jungen Deichgevollmächtigten; aber schon sah er
sie nicht mehr, nur andere Dirnenaus Marsch und Geest, die ihn
nicht kümmerten. Dann schnappten Violinen und Klarinettenplötzlich
ab, und der Tanz war zu Ende; aber gleich begann auch schon ein
anderer. Hauke floges durch den Kopf, ob denn Elke ihm (Reclam S.
47) auch Wort halten, ob sie nicht mit Ole Peters ihmvorbeitanzen
werde. Fast hätte er einen Schrei bei dem Gedanken ausgestoßen;
dann - - ja, waswollte er dann? Aber sie schien bei diesem Tanze
gar nicht mitzuhalten, und endlich ging auchder zu Ende, und ein
anderer, ein Zweitritt, der eben erst hier in die Mode gekommen
war, folgte.Wie rasend setzte die Musik ein, die jungen Kerle
stürzten zu den Dirnen, die Lichter an denWänden flirrten. Hauke
reckte sich fast den Hals aus, um die Tanzenden zu erkennen; und
dort,im dritten Paare, das war Ole Peters; aber wer war die
Tänzerin? Ein breiter Marschburschestand vor ihr und deckte ihr
Gesicht! Doch der Tanz raste weiter, und Ole mit seiner
Partnerindrehte sich heraus. „Vollina! Vollina Harders!“ rief Hauke
fast laut und seufzte dann gleich wiedererleichtert auf. Aber wo
blieb Elke? Hatte sie keinen Tänzer, oder hatte sie alle
ausgeschlagen,weil sie nicht mit Ole hatte tanzen wollen? - Und die
Musik setzte wieder ab, und ein neuer Tanzbegann; aber wieder sah
er Elke nicht! Doch dort kam Ole, noch immer die dicke Vollina in
denArmen! „Nun, nun“, sagte Hauke; „da wird Jeß Harders mit seinen
fünfundzwanzig Demat (Flä-chenmaß der Geest, 0,5 ha) auch wohl bald
aufs Altenteil müssen! - Aber wo ist Elke?“
Er verließ seinen Türpfosten und drängte sich weiter in den Saal
hinein; da stand er plötzlich
Storm, Schimmelreiter, Seite 19
-
vor ihr, die mit einer älteren Freundin in einer Ecke saß.
„Hauke!“ rief sie, mit ihrem schmalenAntlitz zu ihm aufblickend;
„bist du hier? Ich sah dich doch nicht tanzen!“ „Ich tanze auch
nicht“, erwiderte er. - „Weshalb nicht, Hauke?“ Und sich halb
erhebend, setzte sie hinzu: „Willst du mit mir tanzen?Ich hab es
Ole Peters nicht gegönnt; der kommt nicht wieder!“ (Reclam S. 48)
Aber Hauke machte keine Anstalt. „Ich danke, Elke“, sagte er; „ich
verstehe das nichtgut genug; sie könnten über dich lachen; und
dann...“Er stockte plötzlich und sah sie nur aus sei-nen grauen
Augen herzlich an, als ob er's ihnen überlassen müsse, das übrige
zu sagen. „Was meinst du, Hauke?“ frug sie leise. - „Ich mein,
Elke, es kann ja doch der Tag nicht schöner für mich ausgehn, als
er's schon ge-tan hat.“ „Ja“, sagte sie, „du hast das Spiel
gewonnen.“ „Elke!“ mahnte er kaum hörbar. Da schlug ihr eine heiße
Lohe in das Angesicht (sie wird rot). „Geh!“ sagte sie; „was willst
du?“und schlug die Augen nieder.
Als aber die Freundin jetzt von einem Burschen zum Tanze
fortgezogen wurde, sagte Haukelauter: „Ich dachte, Elke, ich hätt
was Besseres gewonnen!“ Noch ein paar Augenblicke suchten ihre
Augen auf dem Boden; dann hob sie sie langsam,und ein Blick, mit
der stillen Kraft ihres Wesens, traf in die seinen, der ihn wie
Sommerluft durch-strömte. „Tu, wie dir ums Herz ist, Hauke!“ sprach
sie; „wir sollten uns wohl kennen!“ Elke tanzte an diesem Abend
nicht mehr, und als beide dann nach Hause gingen, hatten siesich
Hand in Hand gefaßt; aus der Himmelshöhe funkelten die Sterne über
der schweigendenMarsch; ein leichter Ostwind wehte und brachte
strenge Kälte; die beiden aber gingen, ohne vielTücher und Umhang,
dahin, als sei es plötzlich Frühling geworden. ______
Hauke hatte sich auf ein Ding besonnen, dessen passende
Verwendung zwar in ungewisserZukunft lag, mit dem er sich aber eine
stille Feier zu bereiten (Reclam S. 49) gedachte. Deshalb ging eram
nächsten Sonntag in die Stadt zum alten Goldschmied Andersen und
bestellte einen starkenGoldring. „Streckt den Finger her, damit wir
messen!“ sagte der Alte und faßte ihm nach demGoldfinger. „Nun“,
meinte er, „der ist nicht gar so dick, wie sie bei euch Leuten
sonst zu sein pfle-gen!“ Aber Hauke sagte: „Messet lieber am
kleinen Finger!“ und hielt ihm den entgegen.
Der Goldschmied sah ihn etwas verdutzt an; aber was kümmerten
ihn die Einfälle der jungenBauernburschen. „Da werden wir schon so
einen unter den Mädchenringen haben!“ sagte er,und Hauke schoß das
Blut durch beide Wangen. Aber der kleine Goldring paßte auf seinen
klei-nen Finger, und er nahm ihn hastig und bezahlte ihn mit
blankem Silber; dann steckte er ihn un-ter lautem Herzklopfen, und
als ob er einen feierlichen Akt begehe, in die Westentasche.
Dorttrug er ihn seitdem an jedem Tage mit Unruhe und doch mit
Stolz, als sei die Westentasche nurdazu da, um einen Ring darin zu
tragen.
Er trug ihn so über Jahr und Tag, ja der Ring mußte sogar aus
dieser noch in eine neue Wes-tentasche wandern; die Gelegenheit zu
seiner Befreiung hatte sich noch immer nicht ergebenwollen. Wohl
war's ihm durch den Kopf geflogen, nur gradenwegs vor seinen Wirt
hinzutreten;sein Vater war ja doch auch ein Eingesessener! Aber
wenn er ruhiger wurde, dann wußte erwohl, der alte Deichgraf würde
seinen Kleinknecht ausgelacht haben. Und so lebten er und
desDeichgrafen Tochter nebeneinander hin; auch sie in mädchenhaftem
Schweigen, und beidedoch, als ob sie allzeit Hand in Hand
gingen.
(Reclam, S. 49) Ein Jahr nach jenem Winterfesttag hatte Ole
Peters seinen Dienst gekündigt und mitVollina Harders Hochzeit
gemacht; Hauke hatte recht gehabt: der (Reclam S. 50) Alte war auf
Altenteilgegangen, und statt der dicken Tochter ritt nun der
muntere Schwiegersohn die gelbe Stute indie Fenne und, wie es hieß,
rückwärts allzeit gegen den Deich hinan. Hauke war Großknecht
ge-worden und ein Jüngerer an seine Stelle getreten; wohl hatte der
Deichgraf ihn erst nicht wollen
Storm, Schimmelreiter, Seite 20
-
aufrücken lassen. „Kleinknecht ist besser!“ hatte er gebrummt;
„Ich brauch ihn hier bei meinenBüchern!“ Aber Elke hatte ihm
vorgehalten: „Dann geht auch Hauke, Vater!“ Da war dem Altenbange
geworden, und Hauke war zum Großknecht aufgerückt, hatte aber trotz
dessen nach wievor auch an der Deichgrafschaft mitgeholfen. Nach
einem andern Jahr aber begann er gegenElke davon zu reden, sein
Vater werde kümmerlich, und die paar Tage, die der Wirt ihn im
Som-mer in dessen Wirtschaft lasse, täten's nun nicht mehr; der
Alte quäle sich er dürfe das nicht län-ger ansehn. - Es war ein
Sommerabend; die beiden standen im Dämmerschein unter der
großenEsche vor der Haustür. Das Mädchen sah eine Weile stumm in
die Zweige des Baumes hinauf;dann entgegnete sie: „Ich hab's nicht
sagen wollen, Hauke; ich dachte, du würdest selber wohldas Rechte
treffen.“
„Ich muß dann fort aus eurem Hause“, sagte er, „und kann nicht
wiederkommen.“ Sie schwiegen eine Weile und sahen in das Abendrot,
das drüben hinteren Deiche in dasMeer versank. „Du mußt es wissen“,
sagte sie; „ich war heut morgen noch bei deinem Vater undfand ihn
in seinem Lehnstuhl eingeschlafen; die Reißfeder in der Hand, das
Reißbrett mit einerhalben Zeichnung lag vor ihm auf dem Tisch; -
und da er erwacht war und mühsam ein Viertel-stündchen mit mir
geplaudert hatte und ich nun gehen wollte, da hielt er mich so
angstvoll an der(Reclam S. 51) Hand zurück, als fürchte er, es sei
zum letzten Mal; aber...“ „Was aber, Elke?“ frug Hauke, da sie
fortzufahren zögerte.
Ein paar Tränen rannen über die Wangen des Mädchens. „Ich dachte
nur an meinen Vater“,sagte sie; „glaub mir, es wird ihm schwer
ankommen, dich zu missen.“ Und als ob sie zu demWorte sich ermannen
müsse, fügte sie hinzu: „Mir ist es oft, als ob er auf seine
Totenkammerrüste.“ Hauke antwortete nicht; ihm war es plötzlich,
als rühre sich der Ring in seiner Tasche; abernoch bevor er seinen
Unmut über diese unwillkürliche Lebensregung unterdrückt hatte,
fuhr Elkefort: „Nein, zürn nicht, Hauke! Ich trau (vertraue Dir),
du wirst auch so uns nicht verlassen!“
Da ergriff er eifrig ihre Hand, und sie entzog sie ihm nicht.
Noch eine Weile standen die jungenMenschen in dem sinkenden Dunkel
beieinander, bis ihre Hände auseinanderglitten und jedesseine Wege
ging. - Ein Windstoß fuhr empor und rauschte durch die
Eschenblätter und machtedie Läden klappern, die an der Vorderseite
des Hauses waren; allmählich aber kam die Nacht,und Stille lag über
der ungeheueren Ebene.
(Reclam, S. 51) Durch Elkes Zutun war Hauke von dem alten
Deichgrafen seines Dienstes ent-lassen worden, obgleich er ihm
rechtzeitig nicht gekündigt hatte, und zwei neue Knechte warenjetzt
im Hause. - Noch ein paar Monate weiter, dann starb Tede Haien;
aber bevor er starb, riefer den Sohn an seine Lagerstatt. „Setz
dich zu mir, mein Kind“, sagte der Alte mit matter Stimme,„dicht zu
mir! Du brauchst dich nicht (Reclam, S. 52) zu fürchten; wer bei
mir ist, das ist nur derdunkle Engel des Herrn, der mich zu rufen
kommt.“
Und der erschütterte Sohn setzte sich dicht an das dunkle
Wandbett. „Sprecht, Vater, was Ihrnoch zu sagen habt!“
„Ja, mein Sohn, noch etwas“, sagte der Alte und streckte seine
Hände über das Deckbett. „Alsdu, noch ein halber Junge, zu dem
Deichgrafen in Dienst gingst, da lag's in deinem Kopf, dasselbst
einmal zu werden. Das hatte mich angesteckt, und ich dachte auch
allmählich, du seiestder rechte Mann dazu. Aber dein Erbe war für
solch ein Amt zu klein - ich habe während deinerDienstzeit knapp
gelebt - ich dacht es zu vermehren.“
Hauke faßte heftig seines Vaters Hände, und der Alte suchte sich
aufzurichten, daß er ihn se-hen könne. „Ja, ja, mein Sohn“, sagte
er, „dort in der obersten Schublade der Schatulle liegt
dasDokument. Du weißt, die alte Antje Wohlers hat eine Fenne von
fünf und einem halben Demat;aber sie konnte mit dem Mietgelde
allein in ihrem krüppelhaften Alter nicht mehr durchfinden; dahabe
ich allzeit um Martini eine bestimmte Summe, und auch mehr, wenn
ich es hatte, dem ar-men Mensch gegeben; und dafür hat sie die
Fenne mir übertragen; es ist alles gerichtlich fertig. -
Storm, Schimmelreiter, Seite 21
-
- Nun liegt auch sie am Tode: die Krankheit unserer Marschen,
der Krebs, hat sie befallen; duwirst nicht mehr zu zahlen
brauchen!“
Eine Weile schloß er die Augen; dann sagte er noch: „Es ist
nicht viel; doch hast du mehrdann, als du bei mir gewohnt warst.
Mög es dir zu deinem Erdenleben dienen!“ Unter den Dan-kesworten
des Sohnes schlief der Alte ein. Er hatte nichts mehr zu besorgen;
und schon nach ei-nigen Tagen hatte der dunkle Engel des (Reclam,
S. 53) Herrn ihm seine Augen für immer zugedrückt,und Hauke trat
sein väterliches Erbe an.
- - Am Tage nach dem Begräbnis kam Elke in dessen Haus. „Dank,
daß du einguckst, Elke!“rief Hauke ihr als Gruß entgegen.
Aber sie erwiderte: „Ich guck nicht ein; ich will bei dir ein
wenig Ordnung schaffen, damit du or-dentlich in deinem Hause wohnen
kannst! Dein Vater hat vor seinen Zahlen und Rissen nicht vielum
sich gesehen, und auch der Tod schafft Wirrsal; ich will's dir
wieder ein wenig lebig machen!“ Er sah aus seinen grauen Augen voll
Vertrauen auf sie hin. „So schaff nur Ordnung!“ sagte er;„ich hab's
auch lieber.“
Und dann begann sie aufzuräumen: das Reißbrett, das noch dalag,
wurde abgestäubt und aufden Boden getragen, Reißfedern und
Bleistift und Kreide sorgfältig in einer
Schatullenschubladeweggeschlossen; dann wurde die junge Dienstmagd
zur Hülfe hereingerufen und mit ihr das Ge-rät der ganzen Stube in
eine andere und bessere Stellung gebracht, so daß es anschien, als
seidieselbe nun heller und größer geworden. Lächelnd sagte Elke:
„Das können nur wir