0 CARL-VON-OSSIETZKY-GYMNASIUM (BERLIN) Gesa Schwartz‘ Erzählung „Das Herz in der Dunkelheit“ – eine Geschichte in der Tradition des romantischen Kunstmärchens? Besondere Lernleistung Swantje Niemann Abgabetermin 10.01.2014 Überarbeitung für die Veröffentlichung abgeschlossen am 19.05.2014
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Gesa Schwartz‘ Erzählung „Das Herz in der Dunkelheit“ · „Das Herz in der Dunkelheit“ – ... auseinandersetzte, war ich verblüfft, wie viel mir doch bekannt vorkam. Thematisiert
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CARL-VON-OSSIETZKY-GYMNASIUM (BERLIN)
Gesa Schwartz‘ Erzählung
„Das Herz in der Dunkelheit“ – eine Geschichte in der Tradition des
romantischen Kunstmärchens?
Besondere Lernleistung
Swantje Niemann
Abgabetermin
10.01.2014
Überarbeitung für die Veröffentlichung abgeschlossen am
19.05.2014
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INHALTSVERZEICHNIS
I. Einleitung 2
II. Die Romantik und das romantische Kunstmärchen 3
II.1 Die Literaturepoche der Romantik und der Anspruch
romantischer Poesie 3
II.2 Das romantische Kunstmärchen 4
III. „Das Herz in der Dunkelheit“ 6
IV. „Das Herz in der Dunkelheit“ im Vergleich zu romantischer
Literatur 8
IV.1 Vergleichsaspekt Handlung 8
IV.2 Vergleichsaspekt Figurenkonzeption 9
IV.3 Vergleichsaspekt Themen und Motive 12
V. Stellungnahme zur Themenfrage 21
VI. Quellen- und Literaturverzeichnis 24
VII. Dokumentation meines Arbeitsweges 26
VIII. Selbstständigkeitserklärung 27
IX. Anhang: Korrespondenz mit Gesa Schwartz
2
I. Einleitung
Derzeit existiert eine bemerkenswerte Fülle und Vielfalt von literarischen Werken,
die das Fantastische in den Mittelpunkt stellen – und eine große Leserschaft, die
darin „consolation, escape and recovery“1 (Tolkien) oder einfach nur gute
Geschichten sucht. Und (zumindest in meinem Fall) dabei gelegentlich
verblüffende Entdeckungen macht.
Seit ich das erste Buch von Gesa Schwartz gelesen habe, war ich zutiefst fasziniert.
Ich begegnete hier Geschichten, in denen aus Fragmenten verschiedenster
literarischer Traditionen und mythischer Überlieferungen etwas vollkommen
Neues entstanden und mit markanten, ambivalenten Charakteren bevölkert worden
war. Und später, als ich mich näher mit der Literaturepoche der Romantik
auseinandersetzte, war ich verblüfft, wie viel mir doch bekannt vorkam.
Thematisiert Schwartz in ihrem Werk doch nicht nur den Kampf ihrer Protagonisten
gegen externe Widerstände, sondern vor allem ihre Auseinandersetzung mit ihrer
eigenen Identität, ihre von Sehnsucht und Einsamkeit bestimmten Gefühlswelten
und ihre Suche nach einem Zuhause.
Immer wieder spielt Kritik an der Entzauberung der Welt durch eine allzu
rationalistische Sicht und die Verdrängung von Fantasie und Emotion eine große
Rolle. Weitere häufig auftretende Themen und Motive sind Nacht, Herzen, blaue
Blumen, der Aufbruch in die Fremde, die Verwandlung von Stein in Fleisch und
umgekehrt, die Auseinandersetzung mit der Bedeutung und den Möglichkeiten von
Kunst sowie der Einbruch von Magie und Märchenhaftem in die Alltagswelt eines
Protagonisten, der in dieser Alltagswelt nie wirklich heimisch werden konnte, und
nun jenseits davon nach Selbstverwirklichung strebt.
Zunächst war ich über diese Parallelen erstaunt. Später jedoch erschien es mir
logisch, dass angesichts einer zunehmend rational erklärten, von rasantem
technischem Fortschritt und nützlichkeitsorientiertem Denken, aber auch
begründeten Zweifeln an der Fähigkeit des menschlichen Verstandes, die
1 Tolkien, J.R.R.: „On Fairy Stories”, veröffentlicht auf http://brainstorm-services.com/wcu-
2004/fairystories-tolkien.pdf (abgerufen am 01.12.2013)
Gerade in der Zeit der Spätromantik entdeckten Schriftsteller und Wissenschaftler
wie Clemens Brentano, Achim von Arnim und vor allem die Gebrüder Grimm die
gemeinsame, erzählerische Tradition des in zahlreiche Fürstentümer zersplitterten,
von der napoleonischen Besatzung gezeichneten Deutschland neu und begannen,
Märchen und Volkslieder zu sammeln – eine nationale Identität stiftende Handlung,
die jedoch nicht ausschließlich politischer Natur war, sondern auch im Einklang mit
einer allgemeinen Affinität der Romantik zu Märchen und Mythen stand.
Beispielsweise sammelten die Brüder Grimm nicht ausschließlich deutsche
Volksmärchen, sondern übersetzten unter anderem die von skandinavischen
Mythen geprägte Edda. „Mythologie und Poesie, beide sind eins und
unzertrennlich“6, verkündete Friedrich Schlegel.
Diese Affinität harmonierte auch mit dem triadischen Geschichtsverständnis der
Romantik; das Märchen war nach Novalis Träger „wahrer Weltgeschichten“7 und
„eine Erinnerung an jene heimatliche Welt, die überall und nirgends ist“ - und somit
ein Schlüssel, um durch Reflektion die Entfremdungsprozesse der Gegenwart zu
überwinden und so den Weg in ein neues Zeitalter zu finden.
Auch abseits von explizit als Kunstmärchen angelegten Texten wirkte dieses Genre
stark auf die Literatur der Romantik ein. So betrachtete Friedrich Schlegel das
Märchen als „Prinzip der Fantasie, das alle Formen, besonders den Roman,
durchdringt“.8
Innerhalb des romantischen Kunstmärchens lassen sich verschiedene Typen
unterscheiden: Zum einen gibt es Kunstmärchen, die sich stark an Volksmärchen
orientieren, wie Clemens Brentano sie verfasste. Sie sind durch eine naive
Erzählweise und die typische „Märchengerechtigkeit“9, welche indirekt der
Wirklichkeit gegenübergestellt wird, gekennzeichnet.
6 Schlegel, Friedrich: „Rede über die Mythologie“ aus „Gespräch über die Poesie“ (1800), zitiert
nach Bohnenkamp, Anne (Hrsg.): „Es geht um Poesie. Die schönsten Texte der deutschen
Romantik“, Frankfurt am Main, Fischer Taschenbuch Verlag, November 2013, S. 61 7 Novalis: „Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren“ (1800), zitiert nach „Es geht im Poesie. Die
schönsten Texte der deutschen Romantik“, S. 76 8 Mayer, Mathias; Tismar, Jens: Kunstmärchen Stuttgart/Weimar: Metzler, 3. Völlig
neuüberarbeitete Auflage 1997, S. 55, zitiert in Diekhans, Johannes (Hrsg.): Anhang zu „Klein
Zaches genannt Zinnober“, Paderborn, Schöningh Verlag, 2012, S.156 9 « Die deutsche Literatur: ein Abriss in Text und Darstellung 9. Romantik II » (Hrsg.: Otto F.
Best, Hans Jürgen Schmitt, Reclam, 1974), S. 24
6
Daneben existierte „das Ideen tragende Kunstmärchen (…) ohne
Wirklichkeitsbezüge“10. Ein Beispiel für Märchen dieses Typs wäre Novalis‘
„Hyazinth und Rosenblüt“.
Im dritten Typus des romantischen Kunstmärchens findet eine Synthese zwischen
gewöhnlichem Leben und Märchenhaftem statt, übernatürliche Ereignisse brechen
in das Leben gewöhnlicher Menschen ein und stellen deren bisherige
Realitätskonzeption in Frage. „Das Wunderbare als Abweichung von der Realität
lässt und und diese erst durch die ironische oder desillusionierende Distanz
erkennen. Als künstlerische Ausdrucksform dient es den Romantikern zur
Überwindung des Bruchs von realer und geträumter Welt.“ (Otto F. Best, Hans
Jürgen Schmitt)11Beispiele wären „Peter Schlemihl“ von Chamisso, die Märchen
Tiecks oder „Der goldene Topf“ und „Klein Zaches, genannt Zinnober“ von E.T.A.
Hoffmann.
Gerade Hoffmann betonte, wie wichtig es sei, die märchenhaften Elemente als im
vertrauten Alltag verwurzelt darzustellen, um somit eine stärkere Identifikation mit
der Geschichte hervorzurufen. „Ich meine, dass die Basis der Himmelsleiter, auf
der man aufsteigt in höhere Regionen, befestigt sein müsse im Leben, so dass jeder
nachzusteigen vermag.“12
Hoffmanns Ziel ist es, der entzauberten, rationalisierten Realität und dem
eintönigen Alltag durch die Befreiung der menschlichen Fantasie ein „fantastisches
Zauberreich“ entgegenzusetzen, das keineswegs im Widerspruch zum realen
Leben steht, sondern vielmehr „der wunderbar herrlichste Teil desselben“13 ist.
III. Das Herz in der Dunkelheit
„Das Herz in der Dunkelheit“ erschien im November 2011 in der von Tanja
Heitmann beim Rowohlt Taschenbuch Verlag herausgegebenen Anthologie „Stille
Nacht. Magische Liebesgeschichten“, einer Sammlung von Fantasyerzählungen,
die die Liebe zwischen Menschen und übernatürlichen Wesen ins Zentrum stellen.
Im Gegensatz zu den Aufklärern, die vom Licht der Vernunft und der „Fackel der
Wahrheit“ sprechen, offenbar also klar ausgeleuchtete, messbare Bereiche
bevorzugen, wenden sich die Romantiker der Nacht und Dunkelheit zu – ähnlich
der Sophie, die nach vergeblicher Suche „im Licht“ und „in der Dämmerung“
schließlich „in den tiefsten Schatten der Welt“30 ihre Heimat findet – und dabei
womöglich in der Tradition der romantischen Absage an „das graue Licht der
Aufklärung“31 (Safranski) steht.
Wie auch in „Das Herz in der Dunkelheit“, wird die Nacht in der romantischen
Literatur zum Raum für Ahnung, Traum und Fantasie, wo alles mehrdeutig und
unendlich ist und das Geheimnisvolle seinen festen Platz hat. Novalis spricht in
seinen berühmten Hymnen an die Nacht von einer „Nachtbegeisterung“32, einer
regelrechten Offenbarung: „Himmlischer als jene blitzenden Sterne/…/ dünken uns
die unendlichen Augen,/ die die Nacht uns geöffnet.“33
Eng damit verwandt ist die bereits erwähnte Bedeutung, die die Romantiker dem
Traum zumaßen – einem Zustand, dem auch in „Das Herz in der Dunkelheit“ ein
längerer Abschnitt gewidmet wird.
Nach dem Angriff der Wehrkatzen, bei welcher Gelegenheit Sophie Askadon zum
ersten Male begegnet, driftet sie zunächst in Bewusstlosigkeit und anschließend in
einen anhaltenden Dämmerzustand über, in welchem Traum und Wirklichkeit
verschwimmen. Die an sprachlichen Bildern reiche Beschreibung dieses Zustands
ist voller Vorausdeutungen über den weiteren Verlauf der Geschichte. „Sie trieb in
einem Meer aus schwarzem Wasser, weit unter der Oberfläche“ – Sophies
Geschichte ist die Geschichte des Abstiegs in die Katakomben und des Blicks hinter
die banalen Oberflächen, die die Welt vielfach präsentiert – „dort, wo Gedanken
nichts als Träume waren und jede Sehnsucht aufging in Schwärmen aus glitzernden
Luftperlen“34.
Ein weiteres zentrales Thema von „Das Herz in der Dunkelheit“ ist das Verhältnis
von rationalem Denken auf der einen und Traum und Fantasie auf der anderem Seite
– und dem Einfluss, den letztere auf die Realität haben können.
30 „Das Herz in der Dunkelheit“ in „Stille Nacht. Magische Liebesgeschichten“ S. 69 31 Safranski, Rüdiger: „Romantik. Eine deutsche Affäre“, S. 193, ff. 32 Novalis: „Hymnen an die Nacht“, zitiert in „Romantik. Eine deutsche Affäre“, S. 121 33 Ebd. 34 „Das Herz in der Dunkelheit“ in „Stille Nacht. Magische Liebesgeschichten“, S. 48
14
Und natürlich Sehnsucht. Es ist die geteilte Sehnsucht nach Akzeptanz, Verständnis
und Poesie – dem „Zauber der Welt“35 –, die Sophie und Askadon zusammenführt
und die für sie überlebensnotwendig zu sein scheint – wie Luftperlen. „Sehnsucht“
ist ein zentraler Begriff in „Das Herz in der Dunkelheit“. In der Erzählung erscheint
Sehnsucht nicht lediglich als Antrieb, um ein Ziel zu erreichen, sondern auch die
Empfindung an sich und die damit einhergehende Sensibilisierung für das
Wunderbare in der Welt werden gefeiert. Sophie will keineswegs, dass ihre
Sehnsüchte gestillt werden, sondern ist entschlossen, „niemals die Sehnsucht zu
verlieren nach Momenten wie diesen“36, was gut zu Friedrich Schlegels Ausspruch
passt: „Nur in der Sehnsucht finden wir Ruhe (…) wenn unser Geist nicht gestört
wird, sich zu sehnen und zu suchen, wo er nichts Höheres finden kann als seine
eigene Sehnsucht.“37 Und E.T.A. Hoffmann nennt die „unendliche Sehnsucht“ das
„Wesen der Romantik“38.
In ihrem traumdurchdrungenen Zustand nimmt Sophie auch Askadons Nähe wahr:
„Sie war nicht allein in der Dunkelheit, das wusste sie. Am Rand des Meeres stand
Askadon und wartete auf sie.“39 Es ist Askadon, der ihr schließlich hilft, ihre
Einsamkeit und Zerrissenheit zu überwinden, was sie in ihrem Traum
vorauszuahnen scheint – einem Zustand, dem die Romantiker die Befreiung der
unbewussten Potenziale des Menschen nachsagten.
Über die Geschichten, die Askadon ihr in dieser Zeit vorliest, heißt es: „sie (…)
hörte, dass er ihr vorlas, Geschichten, die sie vor langer Zeit gekannt und vergessen
hatte und die nun aus den Tiefen des Meeres auftauchten wie blaue Blumen und sie
Stück für Stück mit sich ins Licht hoben.“40
Die Erwähnung von blauen Blumen und dem Treiben im Wasser in Kombination
mit einer Traumsituation erinnert zwangsläufig an den Traum Heinrich von
Ofterdingens in dem gleichnamigen Roman Novalis‘, der für den Protagonisten
zum Initiationserlebnis wird und in dem ihm die „blaue Blume“, Symbol der
unendlichen Sehnsucht und später der Romantik schlechthin, begegnet.
Obwohl das Thema meiner Arbeit „Das Herz in der Dunkelheit“ ist, halte ich es für
erwähnenswert, dass blaue Blumen auch in anderen Werken Gesa Schwartz‘
35 Ebd., S.68 36 Ebd., S. 62 37 Martini, Fritz; Martini-Wonde, Angela: „Deutsche Literaturgeschichte“, S.322 38 Hoffmeister, Gerhart: „Deutsche und Europäische Romantik“, S. 177 39 „Das Herz in der Dunkelheit“ in „Stille Nacht. Magische Liebesgeschichten“, S. 48 40 Ebd.
15
auftauchen. So symbolisiert in „Grim – das Erbe des Lichts“ eine blaue Blume, die
der Gargoylekönig41 aus der Hand eines Menschenkinds empfängt, die vorsichtige
Annäherung von Menschen- und Anderswelt.
Interessant ist auch die Ästhetik von „Das Herz in der Dunkelheit“. Wenn Sophie
fasziniert die Perfektion der versteinerten Dämonengestalt Askadons bewundert,
erinnert dies nicht von ungefähr an Shelleys Gedicht über Leonardo da Vincis
Medusa („Its horror and its beauty are divine“42) oder an Tiecks
Landschaftsschilderungen, in denen „das Gefühl des Schauers und des Erhabenen
(…) gleichermaßen erregt“43 werden.
Aus Schatten formt Sophies Vorstellungskraft Drachen und Chimären –
gleichermaßen gefährliche wie erhabene Geschöpfe. Und so erschreckend
Askadons Äußeres geschildert wird („ein Dämon mit einem zum Schrei verzerrten
Mund, tiefliegenden Augen und einer Nase, die wie mehrfach gebrochen in seinem
Gesicht lag. Narben zogen sich über die Wangen wie frische Schnitte, und aus
seiner Stirn ragten Teufelshörner“44), ist Sophie – genau wie der Leser – trotzdem
fasziniert: „Selten hatte Sophie eine Dämonenstatue in solcher Vollkommenheit
gesehen“45. Und schließlich findet sie in seinem Gesicht „vollendete Schönheit“46.
Ähnlich wie in romantischen Kunstmärchen erfährt die Protagonistin in „Das Herz
in der Dunkelheit“ – widergespiegelt durch die Werkatzen und Askadons
Dämonengestalt auf der einen, seine verborgene Schönheit und sein künstlerisches
Schaffen auf der anderen Seite – die Ambivalenz der mythischen Gegenwelt.
Auch die Art und Weise des Erzählens weist, obwohl Wortwahl und Erzähltempo
dem Geschmack unserer Zeit entsprechen, gewisse Parallelen zur romantischen
Literatur auf. So arbeitet Schwartz mit dem für die Romantik typischen Stilmittel
der Synästhesie („tosende(n) Schatten“47) oder konstruiert Szenen, in denen alle
Wahrnehmung mehrdeutig ist und Realität und Imagination nicht zu trennen sind.
Ein wichtiges Symbol der romantischen Literatur (wenn auch nicht ausschließlich
dieser Literaturepoche) ist das (verlorene) Herz. So stellte Wilhelm Hauff, dessen
literarisches Schaffen zum Teil in der Romantik wurzelte, das Motiv des
41 Anmerkung: Ein Gargoyle ist eine Art belebter, steinerner Skulptur 42 Shelley, Percy Bysshe: „On the Medusa of Leonardo da Vinci in the Florentine gallery“,
http://www.poets.org/viewmedia.php/prmMID/19937, abgerufen am 02.11.2012 43 Pikulik, Lothar : „Frühromantik: Epoche – Werke – Wirkung“, S. 262) 44 „Das Herz in der Dunkelheit“ in „Stille Nacht. Magische Liebesgeschichten“, S. 55 45 Ebd. 46 Ebd., S. 68 47 Ebd., S. 53
verlorenen/ verkauften Herzens ins Zentrum seines Märchens „Das kalte Herz“,
welches, wie „Das Herz in der Dunkelheit“ mit der Rückkehr des symbolträchtigen
Organs in den Körper und der glücklichen Vereinigung des Protagonisten mit seiner
Geliebten endet. Allerdings gibt es hier den gewichtigen Unterschied, dass Askadon
sein Herz verliert, weil er sich rücksichtslos verhält, während der kausale
Zusammenhang im Märchen Hauffs umgekehrt ist. Aber auch E.T.A. Hoffmann
machte in seiner Erzählung „Das steinerne Herz“ das Herz zum zentralen Symbol
für die Verbitterung der Hauptfigur.
Auch das Motiv des Erwachens steinerner Skulpturen ist uns aus der Romantik
vertraut, da Eichendorff es zum Thema seiner märchenhaften Novelle „Das
Marmorbild“ machte (allerdings trägt dieser Prozess dort eher dämonische Züge).
Neben Sehnsucht, Zauber und Verwandlung ist auch „Heimat“ ein Schlüsselbegriff
der Geschichte – und der romantischen Literatur. Sophies Sehnsucht nach einer
Heimat, die sie in der Alltagswelt nicht finden kann, ist entscheidend für die
Geschichte. „Sie hatte sich so sehr nach einer Heimat gesehnt, hatte sie im Licht
gesucht und in der Dämmerung – und nun hatte sie sie gefunden, in den tiefsten
Schatten der Welt.“48 Es ist dieselbe Sehnsucht, mit der sich auch romantische
Dichter wie Eichendorff intensiv auseinandersetzten: „Und meine Seele spannte/
weit ihre Flügel aus/ flog durch die stillen Lande/ als flöge sie nach Haus“49. Diese
Zeilen stammen aus Eichendorffs berühmten Gedicht „Mondnacht“, das,
zusammen mit Novalis‘ „Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren“ gerne genutzt
wird, um Charakteristika und zentrale Inhalte romantischer Literatur aufzuzeigen.
Hier ist vielleicht wieder ein Verweis auf „Grim – das Erbe des Lichts“ angebracht.
Eben diese Gedichte werden dort von zwei sehr positiv gezeichneten Figuren zitiert.
Sie dienen dazu, die Akzeptanz von Geheimnis und Magie, ein Bewusstsein für die
„Poesie der Welt“50 und ein friedliches Zusammenleben mit dem Fremden,
Übernatürlichen als bereichernde (wenn auch schwer zu verwirklichende)
Alternative zur Verbannung von Fantasie und Wunderbarem aus dem Alltag
darzustellen – was übergreifendes Thema aller Werke Gesa‘ Schwartz und damit
auch von „Das Herz in der Dunkelheit“ ist.
48 Ebd., S. 69 49 Von Eichendorff, Joseph: „Gedichte“, (Hrsg. Neumann, Horst Peter & Lorenczuk, Andreas),
Stuttgart, Philipp Reclam, 1997, S. 83
50 Schwartz, Gesa: „Grim – das Erbe des Lichts“, Köln, Egmont Verlagsgesellschaften mbH
(LYX), 2011, S. 148
17
Das Zitat zweier für die Romantik programmatischer Gedichte und die
Verwendung des in unserer Vorstellung typischsten romantischen Symbols, der
blauen Blume, welche fast schon wie ein expliziter Verweis auf diese
Literaturepoche wirken, lassen auf eine Beschäftigung der Autorin mit den Ideen
der Romantik und eine gewisse Affinität zu diesen schließen.
Auch in der Darstellung des bereits unter dem Gesichtspunkt der
Figurenkonzeption erwähnten tiefen Grabens, der zwischen ihren Protagonisten
und den „gewöhnlichen“ Menschen, die für diese wenig Verständnis aufbringen,
verläuft, erinnert Schwartz‘ Erzählung an das typisch romantische Thema des
Gegensatzes zwischen Romantikern und „Philistern“. Letztere ist eine der zwei
Gruppen, in die die Romantiker die Menschen einteilen – fantasielose Menschen,
die gesellschaftliche Konventionen über alles und das Überraschende und
Außergewöhnliche überhaupt nicht schätzen und sich viel auf ihre Vernunft
einbilden. Die Bereitschaft, ihr Realitätskonzept über den Haufen zu werfen, sich
ganz dem Augenblick hinzugeben und sich verzaubern zu lassen, wie Sophie und
viele romantische Helden sie zeigen, ist ihnen völlig fremd – eine Haltung, die in
zahlreichen Kunstmärchen der Romantik, aber auch in „Das Herz in der
Dunkelheit“ hervorgehoben und häufig durch den Handlungsverlauf hinterfragt
wird. So wäre Anselmus in „Der goldene Topf“ sein Zweifel am Wunderbaren
beinahe zum Verhängnis geworden oder wird Fabian in „Klein Zaches genannt
Zinnober“ der Lächerlichkeit preisgegeben. In „Das Herz in der Dunkelheit“ ist von
der „Ignoranz der Menschen“51 die Rede, davon, dass sie verlernt haben, den
Zauber in der Welt zu sehen – und wie sie sich damit selbst beraubt hätten. Es liegt
nahe, eine Parallele zu „Klein Zaches, genannt Zinnober“ zu ziehen, wo der
Versuch, das „heimliche Gift“52 Poesie zu bekämpfen, „die Gesellschaft
verkrüppelt“53 (Fühmann) endet.
Den Philistern stehen romantische Menschen gegenüber, denen keine extreme
Emotion fremd ist und deren sensibles, fantasievolles Wesen sie häufig von der
Gesellschaft isoliert – Menschen wie Sophie und Askadon. Sie sind „tiefsinnig“54
und „melancholisch“55 und fliehen häufig vor der Gesellschaft anderer, deren
51 „Das Herz in der Dunkelheit“ in „Stille Nacht. Magische Liebesgeschichten“., S.43 52 Hoffmann, E.T.A.: „Klein Zaches genannt Zinnober“, Paderborn, Schöningh, 2012, S. 17 53 Fühmann, Franz: „Fräulein Veronika Paulmann aus der Pirnaer Vorstadt oder etwas über das
Schauerliche bei E.T.A. Hoffmann“, Rostock, Hinstorff Verlag 1979, S.141 54 Hoffmann, E.T.A.: „Klein Zaches genannt Zinnober“, S. 27 55 Ebd., S. 25
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Treiben sie als hektisch und einengend betrachten und bei denen sie kein
Verständnis finden. Sophie spricht von einem „Fluch, der Einsamkeit bedeuten
kann, weil er uns ausschließt von der Welt, nach der wir uns doch sehnen.“56
Als Mittel, um ihrem bewegten Inneren und ihrer besonderen Form der Weltsicht
Ausdruck zu verleihen, dient den Protagonisten romantischer Werke oft die Kunst.
So schreibt z.B. Balthasar aus „Klein Zaches, genannt Zinnober“ Gedichte oder
sind die Helden der in „Heinrich von Ofterdingen“ erzählten Kunstmärchen Sänger
und Dichter. Die besondere Bedeutung, die der Kunst zugeschrieben wird, zieht
sich durch die gesamte romantische Literatur.
Und auch in „Das Herz in der Dunkelheit“ ist Kunst und was diese bedeuten und
bewirken kann, eines der wichtigsten Themen. Mit Askadon hat Gesa Schwartz
bewusst eine Künstlerfigur ins Zentrum ihrer Erzählung gestellt und viele von
Askadons Aussagen hätten auch die eines romantischen Künstlers sein können.
Interessant ist auch, dass Sophie zunächst Askadons unvollendete Statuen sieht,
was mit dem romantischen Verständnis von Kunst als Prozess und Fragment
harmonieren würde. Die Romantiker betrachteten eher die Musik als die
unbewegliche, vollendete Plastik als höchste Form der Kunst, doch genau diese
Unbeweglichkeit wird in „Das Herz in der Dunkelheit“ aufgehoben, wenn
Askadons Skulpturen scheinbar zum Leben erwachen oder am Ende unter seinem
Schrei zerbersten. Ziel seiner Kunst scheint weniger die Produktion des vollendeten
Kunstwerks, sondern vielmehr der Schaffensprozess zu sein. Dessen Ergebnis ist
die Aufhebung der Grenzen von Innen und Außen, das Sichtbarmachen von
Vorstellungen. „Es ist, als hättest du meinen Gedanken eine äußere Form
gegeben“57, erklärt Sophie, als sie seine Statuen betrachtet. Es erscheint fast, als
habe Askadon den Ausspruch Caspar David Friedrichs beherzigt: „Schließe dein
leibliches Auge, damit du mit dem geistigen Auge zuerst siehest dein Bild. Dann
fördere zutage, was du im Dunkeln gesehen, daß es zurückwirke auf andere von
außen nach innen.“58
Sophies Beziehung zu Askadon gewinnt an Tiefe, nachdem sie seine Skulpturen
gesehen hat - und auch der Leser ist fasziniert. Obwohl Askadons Verhalten
teilweise noch immer abweisend ist, sehen wir in seinem schöpferischen Schaffen
56 „Das Herz in der Dunkelheit“ in „Stille Nacht. Magische Liebesgeschichten“, S. 67 57 Ebd., S. 61 58 http://www.kunstzitate.de/bildendekunst/kuenstlerueberkunst/friedrich_cd.htm, abgerufen am
einen Ausdruck der Wandlung, die er in den Jahren der Einsamkeit und Reflektion
durchlaufen hat und die ihn zu einem ebenbürtigen Partner Sophies hat werden
lassen.
Wackenroder schreibt über Kunst, welche er als „wunderbare Sprache“ ansieht,
die es dem Menschen erlaubt, das „Himmlische“ ansatzweise zu begreifen: „…sie
schließt uns die Schätze in der menschlichen Brust auf, richtet unsern Blick in unser
Inneres, und zeigt uns das Unsichtbare, ich meine alles was edel, groß und göttlich
ist, in menschlicher Gestalt.“59
Über die Buchfiguren, welche seine Statuen darstellen, äußert Askadon: „,Die
Menschen der Oberwelt denken, dass es diese Figuren nur in den Büchern gibt,
aber das ist nicht wahr. Es gibt sie in unseren Gedanken und mit ihnen formen wir
die Welt, die uns umgibt und wir werden uns verwandeln, wenn wir bereit sind, uns
von ihren Wundern verzaubern zu lassen.‘“60 Askadon spricht hier von der
Schaffung eines neuen Bewusstseins für die Welt und der Bereicherung, die jeder
durch die Bereitschaft, Faszination und Imagination Raum zu geben, erfahren
würde. Interessant ist hier wieder die Wechselwirkung von außen und innen, die so
oft im Zentrum romantischer Literatur steht.
„Alle Gemüter, die sie lieben, befreundet und bindet Poesie in unauflöslichen
Banden.“61, erklärt Friedrich Schlegel und es sind ausgerechnet Gespräche über
Kunst und Literatur, die Sophie und Askadon einander näher bringen.
Die romantische Dichtung erhob den Künstler (besonders den Dichter) zum
Propheten, der den Menschen seine besonderen Einsichten vermittelt: „was dieser
fliehnde (sic) Schimmer will bedeuten/…/kann nur der Dichter offenbarend sagen/
es wechseln die Gestalten wie die Zeiten/ sind sie euch Räthsel (sic), müßt (sic) ihr
ihn nur fragen./ Ewig bleibt steht in seinem Lied gedichtet,/ was die Natur schafft
und im Rausch vernichtet.“62 (Tieck).
Askadon scheint sich dem teilweise anzuschließen, denn während er die meisten
Menschen für ihre Blindheit für das Wunderbare in der Welt zu verachten scheint,
59 Wackenroder, Wilhelm Heinrich: „Von zwei wunderbaren Sprachen und deren geheimnisvoller
Kraft“ (1797) Ausschnitt aus „Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders“,
veröffentlicht in: Bohnenkamp, Anne: „Es geht um Poesie. Die schönsten Texte der deutschen
Romantik“ , S. 30 60 „Das Herz in der Dunkelheit“ in „Stille Nacht. Magische Liebesgeschichten“, S.61 61 Schlegel, Friedrich: „Gespräch über die Poesie“ S. 284, zitiert nach: