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In memoriam Fernando Coronil. Pensador modelo, sonrisa caribeña inolvidable. (1944-2011)
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(Geo)Graphien transnationaler mega-minería: Alte Strategien der Herrschaft

May 14, 2023

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In memoriam Fernando Coronil. Pensador modelo, sonrisa caribeña inolvidable. (1944-2011)

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Widmung

Es war mir eine große Freude und Ehre, als Gabriela Massuh mich fragte, ob ich bei der Organisation der Veranstaltung, „Lateinamerikas koloniales Gedächtnis. Vom Ende der Ressourcen, so wie wir sie kennen” in Berlin dabei sein möchte. Während einer Hospitanz in Buenos Aires hatte ich Gabriela Massuhs Selbstverständnis als Intellektuelle mit gesellschaftli-cher Verantwortung kennen gelernt, sowie eine neue, solidarische Art, Expert/innen und Aktivist/innen auf Augenhöhe zusammen zu bringen. Seither war es mir ein Anliegen, die in diesem Band enthaltenen Beiträge auch längerfristig auf Deutsch zu publizieren, um eine global wichtige Debatte im deutschsprachigen Kontext nachvollziehbar zu machen und Denkanstöße für andere, gerechtere Formen des Zusammenlebens zu ge-ben. Gerade in unseren reichen Ländern des sogenannten globalen Nor-dens ist es höchste Zeit, eine kritische Reflektion von Konsum, Dominanz, Ausbeutung und kolonialem Erbe in Angriff zu nehmen, welche alte und fortbestehende Ungleichheiten bedingen und vorantreiben. Das For-schungsnetzwerk „desiguALdades.net – Interdependente Ungleichheiten in Lateinamerika” am Lateinamerikainstitut der Freien Universität Berlin bot mir während meiner Zeit als Postdoctoral Fellow einen anregenden Diskussionszusammenhang, diese Fragen weiterzudenken und schließlich in einem Buch zusammenzufassen.

Auch wenn seither dankenswerterweise einige Veröffentlichungen zum Thema erschienen sind (neben zahlreichen spanischen Publikationen – zum Beispiel Göbel/Ulloa 2014 – auf Deutsch z.B. Burchardt et al. 2013, Brand/Dietz 2013, 2014; FDCL/RLS 2012), scheint mir die Zusammen-setzung der Autor/innen der Beiträge dieses Bandes in spezieller Weise dem solidarischen Geiste des Diskussionszusammenhangs des Symposi-ums gerecht zu werden. Ich danke dem Hebbel-am-Ufer für die tolle Zu-sammenarbeit, der Bundeszentrale für politische Bildung und vor allem dem Forschungsnetzwerk „desiguALdades.net – Interdependente Un-gleichheiten in Lateinamerika” für dir großzügige Unterstützung bei Über-setzung und Drucksetzung des Buches. Herzlichen Dank den Reihen-herausgeber/innen Manuela Boatcă und Sérgio Costa für die flexible Handhabung der Drucklegungsmodalitäten. Von ganzem Herzen vielen Dank vor allem allen Teilnehmenden für ihre phantastischen Beiträge und ihre wichtige Arbeit. Vielen Dank an Andreas Schug für die wunderbaren Interviews, an Liliana Bordet für die sorgfältige und fachkundige Tran-

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skription der Interviews an die Übersetzer/innen Britt Weyde und Martin Breuer sowie an Laura Kemmer für das geduldige, sorgfältige und fach-kundige Lektorat und Layout des Manuskripts.

Unerwartet verstarb Fernando Coronil kurz nach dem Symposium. Wir vermissen seinen Humor, seine Wärme und seine unvergleichliche, solida-rische Art zu denken und zu handeln. Die in diesem Band aufgezeigten möglichen „anderen Welten” reflektieren seinen kritischen Geist. Das Buch ist Fernando und seinem Wirken in Verbundenheit und Dankbarkeit gewidmet.

Julia Roth, Projektkoordination Berlin

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Inhalt Vorwort: Lateinamerikas koloniales Gedächtnis Julia Roth 11 Teil I – Zentrale Konzepte: Genealogien und Grenzen von Utopien, Kosmovisionen und Epistemologien 25 Die fragliche Zukunft: Geschichte und Utopie in Lateinamerika (1989-2010) Fernando Coronil 27 Das Buen Vivir als die „andere mögliche Welt”: Widersprüche, Grenzen und Möglichkeiten des Konzepts im Nationalstaat Raúl Zibechi 69 Die Modernität untergraben, um gut zu leben (oder über mögliche Auswege aus der zivilisatorischen Krise) Ana Esther Ceceña 81 Teil II – In Bewegung: Sozialer und künstlerischer Protest 107 „Ressourcen als Gemeingüter behandeln” Interview mit Gabriela Romano 109

Asamblea Ciudadanos por la Vida – Bürgervereinigung für das Leben: Ein Erfahrungsbericht aus dem Widerstand gegen Barrick Gold Gabriela Romano 115

„Bildung als Schlüssel zu einem würdigen Leben” Interview mit Gipi Fernández 119

„Haltet an, um nachzudenken” Interview mit Chacho Liempe 125

Die Soja-Kinder: Eine künstlerische Untersuchung des Archivo Caminante zu Erinnerung und Imagination Eduardo Molinari 137

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Inhalt

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Teil III – (Re-)Produktionen asymmetrischer Ressourcenausbeutung und Ungleichheiten 151

Neuer Entwicklungsextraktivismus, Regierungen und soziale Bewegungen in Lateinamerika Maristella Svampa 153

(Geo)Graphien transnationaler mega-minería: Alte Strategien der Herrschaft Mirta Antonelli 185

Sozialordnung und Beziehung zur Natur: Widersprüche zwischen Territorialität und Staatskapital am Beispiel Boliviens, oder die Rekonfiguration der ursprünglichen Form Luis Tapia 229

Der unglückselige Rohstoffreichtum: Warum Rohstoffextraktion das Gute Leben erschwert Elmar Altvater 239

Verzeichnis der Autor/innen, Übersetzer/innen, Mitwirkenden 261

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Vorwort: Lateinamerikas koloniales Gedächtnis Julia Roth

Der vorliegende Band basiert auf dem Symposium „Lateinamerikas kolo-niales Gedächtnis. Vom Ende der Ressourcen, so wie wir sie kennen,” das im Rahmen des zweihundertjährigen Jubiläums der formellen Unabhän-gigkeit vieler Länder Lateinamerikas 2010 im Hebbel am Ufer (HAU) in Berlin stattfand. Das Bicentenario-Jubiläum war der Projektinitiatorin Gabriela Massuh, damals Kulturreferentin am Goethe Institut Buenos Aires, Anlass zur kritischen Reflektion. Denn Ressourcen sind begrenzt, der Raubbau an der Natur lässt sich nicht ungebremst fortsetzen. Das Ex-portmodell, welches in den vergangenen zwei Jahrhunderten lateinameri-kanischer Nationalstaaten und in der kolonialen Zeit davor entstanden ist, hat keine Zukunft. Dennoch wollen Regierungen und multinationale Kon-zerne die epochale Trendwende nicht wahrnehmen. Das Symposium sollte vor allem auch daran erinnern, dass die Ausbeutung des so genannten glo-balen Südens, die Plünderung der Natur, die Zerstörung der Biosphäre und der Klimawandel gemeinsame Probleme sind. Die Folgen, die fortdauern-den und neuen globalen Ungleichheiten, betreffen uns alle, und sie lassen sich nur im Dialog in Angriff nehmen.

Die drei Segelschiffe von Christopher Kolumbus brachen 1492 von der Küste Spaniens auf, um eine alternative Route nach Asien zu suchen. Die-se Route sollte eine sichere Quelle für die damaligen Ressourcen sichern, vor allem Gold und Gewürze. Die Geschichte von Raubbau und Plünde-rung ist somit nicht neu. Seit der gewaltsamen Eroberung lieferte der la-teinamerikanische Kontinent begehrte Waren wie Zucker und Kakao oder Bodenschätze wie Silber zu konstant niedrigen Preisen nach Europa. Der europäische Kolonialismus war von Beginn an untrennbar mit der Aus-beutung von natürlichen und menschlichen Ressourcen verbunden. Der Kolonialismus etablierte eine Machtlogik, die auf der Ausbeutung und Abhängigkeit der kolonisierten Gebiete beruhte. Während der spanischen Kolonialzeit wurde Lateinamerika einer der weltweit wichtigsten Roh-stofflieferanten der heutigen Industrieländer. Die Bodenschätze der Regi-on waren prägend für die gesamte Entwicklung des Kapitalismus. Gemäß dem christlichen Weltbild der Eroberer galten die Bewohner/innen der er-oberten Gebiete als gottlos, zivilisatorisch unterlegen und ausbeutbar. Die Silberminen in der bolivianischen Bergstadt Potosí stehen heute sinnbild-

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lich für dieses System der Ausbeutung (vgl. Creischer/Siekmann/Hinderer 2010): Dort mussten Indígenas unter brutalen Bedingungen Silber zu Tage fördern. Die Ausbeutung der Ressource Arbeitskraft der Kolonisierten zu kostengünstigen Bedingungen war somit konstiutiver Teil des kolonialen Projekts.

Die damit einhergehenden ungleichen Machtbeziehungen wurden zur Voraussetzung europäischer Modernität. Fernando Coronil (2002) denkt Edward Saids Konzept des Orientalismus weiter und spricht von „Okzi-dentalismus” als Vorbedingung für europäische Modernität – im Sinne ei-ner westlich geprägten „Abendländischkeit” oder einem okzidentalen zivi-lisierteren, überlegenen Selbst, von dem aus ein orientalisiertes Anderes imaginiert, hergestellt und abgewertet werden könne. Das heißt: Der Wohlstand oder „Fortschritt” der Industrieländer fußte maßgeblich darauf, dass sie unter unfairen Bedingungen Ressourcen aus armen Ländern be-ziehen. Auch nach Gründung der Nationalstaaten um 1810 setzte sich die-se Entwicklung fort. Wie das Beispiel der Ressourcen in Lateinamerika – und anderswo – besonders anschaulich zeigt, ist somit auch „die” europäi-sche Geschichte eine vielschichtige (und vielzählige) Verflechtungsge-schichte. Shalini Randeria hat für diese Perspektive den Satz der „ver-flochtenen Geschichten ungleicher Modernen” (2002) geprägt. Am Bei-spiel des Zuckers hatte zuvor Sydney Mintz (1987) die Verstrickung von Rohstoffen, Macht und globalen Ungleichheiten anschaulich dargelegt. Fernando Coronil hat in seinem wegweisenden Buch The Magical State (1998) die Bedeutung des Rohstoffs Öl für Venezuela nachgezeichnet, und Ana Esther Ceceña (2010) erläutert, wie die Karibik seit der Koloni-sierung als „Schwelle der globalen Geopolitik” fungiert hat. Das Thema Rohstoffe erfordert eine Perspektive, welche auch die Ungleichheiten, die an dieses asymmetrische Machtverhältnis geknüpft sind, in ihren globalen Verflechtungen diskutiert (vgl. Boatcă 2011; Costa 2011). Auf der Mikro-ebene sind diese Asymmetrien strukturell und immer auch von einer rassi-sierten und vergeschlechtlichten Dimension geprägt (vgl. Roth 2013).1

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1 Auf der Makroebene drücken sich diese im Phänomen der „Feminisierung der Arbeit, der Armut und der Migration” aus, am anschaulichsten in Form soge-nannter „Care Chains”. Diese besehen in der Migration kostengünstiger, zumeist weiblicher Care-Arbeiterinnen, die den gestiegenen Bedarf an Pflegearbeit (Al-tenpflege, Kinderbetreuung, Haushaltsführung) in den reichen Ländern des soge-nannten Globalen Nordens (u.a. aufgrund der größeren Integration von Frauen in die Erwerbstätigkeit ohne entsprechende Arbeitsteilung der Haus- und Betreu-ungsarbeit) zu decken. In den „Senderländern” übernehmen dann wiederum an-

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Vorwort

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Heute hat sich daran wenig geändert: Lateinamerika öffnet weiterhin seine Adern.2 Mittelamerika führt Zuckerrohr, Kaffee und Bananen aus, die Andenregion exportiert Metalle, Öl und Gas, Brasilien exportiert un-verarbeitete Güter wie Soja, Biosprit und Aluminium, Uruguay und Ar-gentinien liefern Fleisch. Mineralische und agrarische Rohstoffe stellen immer noch den wichtigsten Beitrag zum wirtschaftlichen Wachstum auf dem Subkontinent dar. Doch trotz des Wachstums ist das Gefälle zwi-schen arm und reich kaum kleiner geworden, im Gegenteil: Nirgendwo auf der Welt ist es größer als in Lateinamerika.

Von Anbeginn hat es in Lateinamerika/den Amerikas Proteste gegeben sowie eigene Erzählungen der Eroberung, zumeist sind diese bisher jedoch unsichtbar gemacht worden. Seit der Eroberung durch die Europäer leiste-ten lokale Akteur/innen Widerstand gegen die koloniale Vereinnahmung und Ausbeutung, besonders sichtbar wurde anti-kolonialer Widerstand im Zuge der Unabhängigkeitsbewegungen im 19. und 20. Jahrhundert. Auch für heutige Bewegungsformen ist es wichtig, diese strukturelle Positionie-rung als kolonisierte, abgewertete, abhängig gemachte Region zu berück-sichtigen. Seit den späten 1990er Jahren wehren sich darüber hinaus in ganz Lateinamerika erneut unterschiedliche soziale Gruppen gegen die Zerstörung der Natur, den Ressourcenausverkauf und die zugrunde lie-gende westliche Dominanz. Die Interventionen neuer sozialer Ak-teur/innen wie Indígena-Gruppen trugen dazu bei, dass zum 500. Jahrestag der Eroberung 1992 auch auf offizieller Ebene in den europäischen Zen-tren eine kritische Reflektion in Bezug auf die Rechtmäßigkeit der Erobe-rung Lateinamerikas einsetzte. Am Tag nach der Ratifizierung der NAF-TA-Freihandelszone 1994 marschierten in Mexiko die Zapatistinnen und Zapatisten in die Hautstadt, um ich gegen die strukturelle Ausbeutung zur Wehr zu setzen (vgl. Brand/Ceceña 2000). Sie wurden zum Vorbild vieler globalisierungskritischer Bewegungen.

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dere Familienangehörige die Betreuung der zurückgelassenen Kinder und Fami-lienmitglieder. Ein weiteres Beispiel ist Tourismus.

2 Vgl. Eduardo Galeanos einflussreiches Buch Die offenen Adern Lateinamerikas (Las venas abiertas de América Latina), 1971.

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Fluch und Chance: Konflikte um Ressourcen in Lateinamerika Wirtschaftswachstum, Naturzerstörung, Ressourcenausverkauf

Am Beispiel Lateinamerikas lässt sich eine Bandbreite brandaktueller Fragen und Konflikte in Bezug auf den weltweiten Umgang mit und die Konflikte um Ressourcen und globale Ungleichheiten auffächern. Die Si-tuation in Lateinamerika verweist auf die globalen Vernetzungen und Ab-hängigkeiten, die in einem asymmetrischen Weltsystem an den Export na-türlicher Rohstoffe geknüpft sind. Darüber hinaus wird am Beispiel der Länder Lateinamerikas die fortdauernde Ungleichheit zwischen den rei-chen Industrieländern (im sog. „globalen Norden”) und den ehemals kolo-nisierten Regionen (im sog. „globalen Süden”) deutlich, ebenso wie neue Dimensionen dieses Gefälles. In vielen Ländern Lateinamerikas spielt der Reichtum an natürlichen Ressourcen heute eine bedeutende Rolle für das wirtschaftliche Wachstum.

Der gegenwärtige Boom natürlicher Rohstoffe wie Gold, Silber, Lithi-um und Erdöl trägt in Brasilien, Bolivien oder Peru erheblich zu einem neuen Selbstverständnis bei. Zum einen verspricht der Reichtum an Res-sourcen die Chance auf Auswege aus alten Abhängigkeiten und darauf, am Wohlstand und Konsum des Westens teilhaben zu können. Gleichzei-tig birgt der fortdauernde Ressourcen-Boom und die Art und Weise, wie die Rohstoffe abgebaut und weiterverwertet werden die Gefahr erneuter Abhängigkeiten und Ungleichheiten, sowie unvorhersehbare Folgen für die Biosphäre. Ausländische Anleger investieren Milliardenbeträge in Bergbau, Ölindustrie und Landwirtschaft. Multinationale Großkonzerne bauen Minen und Fabriken, in denen die Rohstoffe abgebaut und weiter-verarbeitet werden. Für diese Konzerne ist das Land meist billig zu haben und die Auflagen sind gering. Sie betreiben massiven Raubbau an der Na-tur und streichen einen Großteil des Gewinns ein. Somit bleibt die globale Arbeitsteilung erhalten: Die Länder des globalen Südens verringern zwar zum Teil die Armut, bleiben aber abhängig von Ressourcen.

Diese Abhängigkeit drückt sich häufig in Form von Warenketten, soge-nannten „Commodity Chains” (vgl. Hopkins/Wallerstein 1986),3 aus: vor

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3 Gery Gerrefi entwickelte daraus den Ansatz der Global Commodity Chains (GCC). Der Global Value Chains (GVC) Ansatz entstand wiederum auf Grund-lage der Global Commodity Chains Theorien. Gery Gerrefi entwickelte daraus den Ansatz der Global Commodity Chains (GCC). Der Global Value Chains (GVC) Ansatz entwickelte sich aus den Global Commodity Chains Theorien (vgl. Bair 2005). Eine erweiterte Form der GCC-Forschung ist die der Global

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dem Hintergrund wachsender globaler Verflechtungen von Ökonomien und Finanzmärkten werden immer mehr Produktionsschritte in andere Länder ausgelagert (Stichwort: „outsourcing”). Es entstehen vermehrt in-formelle, flexible und prekäre Arbeitsverhältnisse, da jedes Unternehmen versucht, die größten Kostenvorteile herauszuholen. Waren mit niedriger Wertschöpfung werden in Niedriglohnländer ausgelagert, Waren mit ho-her Wertschöpfung räumlich stärker konzentriert, um die Kontrolle über die Produktion zu gewährleisten. Die effektive und kostengünstige Extrak-tion von Rohstoffen spielt in diesem Prozess eine zentrale Rolle. Unter dem Begriff „Neo-Extraktivismus” wird eine post-neoliberale Variante des klassischen rohstoffbasierten Wirtschaftsmodells diskutiert, in der über Rohstoffeinnahmen vermehrt Entwicklungs- und Sozialprogramme finanziert werden. Die negativen ökologischen und sozialen Auswirkun-gen der Rohstoffausbeutung bleiben jedoch bestehen.

Neue Allianzen, alternative Kosmovisionen: Von Mercosur und Buen Vivir

Gegen die fortdauernden Ungleichheiten regt sich vermehrt Widerstand sowohl auf (inter-)staatlicher Ebene als auch von Seiten neuer sozialer Bewegungen mit unterschiedlichsten Strategien und Zielen. Einige latein-amerikanische Regierungen haben begonnen, die finanziellen Abhängig-keiten von den Industrieländern und internationalen Finanzorganisationen wie dem Internationalen Währungsfonds oder der Weltbank deutlich zu reduzieren. In jüngster Zeit konnten vor allem linke Regierungen die Erlö-se aus Rohstoffen erfolgreich dafür einsetzen, Armut abzubauen und Sozi-alprogramme auszubauen. Lateinamerikanische Staaten haben sich etwa in dem gemeinsamen Markt Mercosur (Mercado Común del Sur, gemeinsa-mer Markt des Südens) zusammengeschlossen. Zudem entstanden bilate-rale and multilaterale Kooperationen zwischen lateinamerikanischen Län-dern wie Unasur (Union südamerikanischer Nationen) oder die „Bank des Südens” als Versuche, der Macht und den Restriktionen der Weltbank zu entkommen. Brasiliens ehemaliger Präsident Luiz Inácio Lula da Silva (im Amt bis 2010) initiierte sogar Verhandlungen über eine gemeinsame süd-amerikanische militärische Allianz. Ein großer Schritt weg von der Ab-hängigkeit vom Westen waren im Jahr 2005 die sozialen und zivilgesell-____________________

Production Networks (GPN) (vgl. Henderson 2005; Levy, David L. 2008, s.a. Gereffi/Korzeniewicz 1994 und das „Proseminar Transdisziplinäre Entwick-lungsforschung 2”, vgl. Fußnote 1.

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schaftlichen Proteste gegen die von den USA vorgegebenen Bedingungen für eine panamerikanische Freihandelszone (ALCA/FTAA), welche einige lateinamerikanische Staatschef unterstützten.

Seit einiger Zeit wehren sich in ganz Lateinamerika unterschiedliche soziale Bewegungen gegen die fortdauernde koloniale Machtasymmetrie und die verbundene Zerstörung der Natur, sowie den Ausverkauf von Res-sourcen und Rohstoffen, die ihre Lebensgrundlage bilden und deren Ver-lust sie in Armut und ausbeuterische Abhängigkeit treibt. Einige kämpfen für konkrete lokale politische Ziele wie etwa Landrechte oder leisten Wi-derstand gegen die Zerstörung von Lebensgrundlagen durch Bergbau. An-dere stellen die Anerkennung ihrer Kosmovision oder kulturellen Identität ins Zentrum und viele hinterfragen das herrschende neoliberale System und seine kapitalistisch-koloniale Machtlogik.4 Häufig nutzen diese Ak-teur/innen mediale Technologien wie das Internet und Online-Plattformen, um internationale Sichtbarkeit und Solidarität zu erlangen. Sie bieten ihnen neue Möglichkeiten, sich auf dem gesamten Kontinent und auch in-ternational auszutauschen und zu vernetzen. Darüber hinaus bringen viele soziale Bewegungen ihren wachsenden Widerstand gegen die dominie-rende Weltordnung bei internationalen Alternativveranstaltungen wie den Weltsozialforen zum Ausdruck. Gemeinsam ist vielen dieser Ak-teur/innen, dass sie alternative Modelle zum radikalen Ausverkauf von na-türlichen Ressourcen des globalen Südens und seiner Bewohner/innen su-chen und teilweise praktizieren. Ihre Erfahrungen bieten Beispiele für an-dere Formen des Zusammenlebens.

In vielen Fällen adressieren die Bewegungen weder den Staat noch streben sie Macht im Sinne von institutionalisierter Partizipation an. Sie wollen keine Gegenmacht bilden, um die Staatsmacht zu übernehmen. Vielmehr geht es einer Vielzahl dieser Bewegungen gerade um die Aner-kennung ihrer alternativen Lebens- und Politikkonzepte. Die Zapa-tist/innen im mexikanischen Chiapas bieten mit ihren vollkommen auto-nom organisierten und verwalteten Gemeinden (den „Caracoles”) eines der bekanntesten Beispiele. Auch die Mapuche im heutigen Argentinien und Chile oder die Akteur/innen der Bergbauproteste verorten sich jen-seits staatlicher Logiken, wie die Beiträge von Chacho Liempe und Gab-riela Romano in diesem Band zeigen (vgl. auch den Beitrag von Zibechi in diesem Band). Der irisch-mexikanische Theoretiker John Holloway

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4 Einen guten Einblick in die Bandbreite sozialer Bewegungen in Lateinamerika bietet der von Burchardt (2014) herausgegebene Band.

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Vorwort

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(2002) hat diese Form des sozialen Protests in der Formel „die Welt ver-ändern, ohne die Macht zu übernehmen” beschrieben. Laut Holloway schaffen die neuen Akteur/innen folglich vielmehr eine Art Anti-Macht, die über kreatives „Tun” Freiräume jenseits des Kapitalismus und/oder der instrumentellen beziehungsweise institutionalisierten Macht schafft. Im Anschluss an die Wirtschaftskrise und den temporären Wegfall des Staa-tes in Argentinien 2001 entstanden zahlreiche Beispiele kreativer Protest-formen und gesellschaftlicher Selbstorganisation, die Creischer/Siek-mann/Massuh (2004) in Anlehnung an Holloway als „Schritte zur Flucht von der Arbeit zum Tun” bezeichnen. Darüber hinaus entstanden neue Arbeitslosenbewegungen, Landlosenbewegungen, Anti-Bergbaubewe-gungen, Protestbewegungen gegen multinationale Konzerne und den Ab-bau von Sozialpolitik, indigene Bewegungen oder auch urbane feministi-sche Gruppen uvm. Gemeinsam ist vielen dieser Akteur/innen, dass sie auf die Verschränkung und Interdependenz von lokalen Problematiken mit internationalen ökonomischen und politischen Strukturen und Ak-teur/innen hinweisen. Einige Aktivist/innen thematisieren auch die Ver-wobenheit von kolonialen Machtstrukturen mit rassistischen und sexisti-schen Ungleichheiten. Auf internationaler Ebene artikulierten sich diese Stimmen erstmals im Rahmen des Weltsozialforums in Porto Alegre 2001 und im Widerstand gegen die WTO-Konferenz in Seattle 1999, welche als Gründungsmomente der sogenannten Anti-Globalisierungsbewe-gung gel-ten, die letztlich zum Teil in den Occupy-Protesten 2011 und den Protes-ten der Indignados 2011/12 in Spanien ihren Ausdruck fand.

In der westlichen medialen Öffentlichkeit finden diese Ansätze sowie die bedeutende Rolle sozialer Bewegungen im gesellschaftlichen Prozess bisher wenig Resonanz. Die meisten Medien fokussieren immer noch vor allem die staatlichen Akteur/innen. Es dominiert eine Lesart, welche die Problematik einzig auf die vermeintlich verfehlte Staatlichkeit und Demo-kratisierung der lateinamerikanischen Länder nach europäischem Modell zurückführt und lokale Kontexte wie historisch gewachsene internationale und strukturelle Interdependenzen ausblendet. Auch in der euro- und US-zentrischen Bewegungsforschung bleibt der Fokus zumeist auf europäi-sche und nordamerikanische Nationalstaaten beschränkt. Die theoreti-schen Zugänge verharren oft in einem engen strukturellen und nationalen Fokus. Zugänge aus anderen Kontexten und Untersuchungen verflochte-ner Ungleichheitsregime und Widerstandspraktiken sind unterrepräsen-tiert. Die Beiträge im vorliegenden Band zeigen, dass globale Produkti-onsnetzwerke Räume sozialer Bedeutungsgenerierung sind, in denen So-zialordnungen verhandelt werden können. Soziale Bewegungen spielen daher eine Rolle bei der Politisierung von Ungleichheiten und somit als

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gesellschaftsverändernde Akteur/innen (vgl. z.B. Fernando Coronils Bei-trag in diesem Band).

Auch das neue Selbstverständnis vieler Lateinamerikaner/innen ist nicht zuletzt auf die Interventionen sozialer Bewegungen zurückzuführen. Das anschaulichste und wohl am weitesten verbreitete Beispiel ist das Konzept des „guten Lebens” (Buen Vivir), das die Zerstörung von Natur und Umwelt verbietet. Diese Weltvorstellungen bieten radikale Gegenmo-delle zur westlichen Kultur des ständigen Wachstums und der Entwick-lung. Als Perspektiven von einem „anderen Ort” verweist das Konzept des Buen Vivir auf die Grenzen von Wachstum und Konsum, die im Wider-spruch zur Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen stehen. Entspre-chend wird diesem Konzept zufolge die Natur als ein Rechtssubjekt be-trachtet und mit eigenen Rechten ausgestattet.

In Bolivien und Ekuador haben diese anderen „Kosmovisionen” – oder Weltvorstellungen – unter aus Indígena-Gemeinschaften stammenden Prä-sidenten Eingang in die Gesetzgebung gefunden. In Boliviens neuer Mag-na Charta erhalten die indigene Weltsicht und der Schutz der nationalen Ressourcen und Bodenschätze erstmals Verfassungsrang. Seit die Links-regierung unter Präsident Evo Morales im Amt ist (2005), herrscht eine – keineswegs widerspruchfreie – Politik des Zusammenspiels von sozialisti-schen beziehungsweise sozialstaatlichen Idealen, Industrialisierung und Umweltschutz. Morales hat das Energiegeschäft verstaatlicht und Förder-lizenzen mit multinationalen Konzernen neu verhandelt. Im Zuge seiner „Politik der Würde” kommt ein Großteil der Mehreinnahmen über Sozial-programme der bolivianischen Bevölkerung zu. Große Hoffnung ver-spricht auch der Abbau von Lithium. Im bolivianischen Salzsee Salar de Uyuni liegen die weltweit größten abbaubaren Vorkommen des Metalls, das zum Energiespeicher der Zukunft zu werden verspricht. Denn Lithium ist der Grundstoff für Batterien in Notebooks, Handys oder Elektroautos. Die Regierung setzt sich dafür ein, dass der Rohstoff vor Ort industriell weiterverarbeitet wird. Das Beispiel Bolivien könnte zum Paradebeispiel dafür werden, wie der Rohstoffreichtum für arme Länder nicht zwangsläu-fig zum Fluch wird. Doch auch hier kommt es zu Interessenkonflikten und Abhängigkeiten (vgl. Beutler 2011, Rupp 2013, Ströbele-Gregor 2012).

Wie die Beiträge von Raúl Zibechi und Luis Tapia und anderen in die-sem Band zeigen, besteht ein Widerspruch dieser Politiken des „Sozialis-mus des 21. Jahrhunderts” (Hugo Chávez) darin, dass sie parallel zur Be-rücksichtigung zentraler Paradigmen des „guten Lebens” die Ausweitung des Rohstoffausbaus vorantreiben, um die Politik der Verstaatlichung fi-nanzieren zu können. Somit bleiben auch diese Staaten im Netz von neoli-beraler Effizienz- und Fortschrittslogik und neokolonialer Abhängigkeit

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Vorwort

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vom Handel mit reichen Staaten und multinationalen Konzernen gefan-gen. Darüber hinaus läuft die staatliche Politik in Staaten wie Bolivien, wo die „Plurinationalität” in der Verfassung festgeschrieben ist, häufig not-wendig den vielfältigen Interessen einzelner Gruppen entgegen.

Die im Buch vereinten Beiträge beleuchten das Thema Ressourcen und koloniales Erbe sowie aktuelle Konflikte aus unterschiedlichen Perspekti-ven und spiegeln somit den einzigartigen Charakter des Symposiums wi-der: neben Expert/innen zum Thema Ressourcen und globale Ungleichhei-ten (Mirta Antonelli, Maristella Svampa), zählen dazu Reflektionen in Be-zug auf die sozialen Bewegungen und alternativen Kosmovisionen, die sich im Kontext dieser Konflikte formieren (Raúl Zibechi), auch aus akti-vistischer Perspektive (Chacho Liempe, Gabriela Romano, Gipi Fernández). Darüber hinaus zählen dazu künstlerische Zugänge (Eduardo Molinari) sowie theoretischere Reflektionen (Fernando Coronil, Luis Ta-pia), welche die Thematik in einen breiteren Rahmen historisch gewach-sener und verflochtener globaler Ungleichheiten einbetten und mögliche Lösungsansätze für deren Überwindung diskutieren (Elmar Altvater, Ana Esther Ceceña).

Der Anthropologe Fernando Coronil argumentiert in seinem Über-blicksbeitrag „Die fragliche Zukunft: Geschichte und Utopie in Latein-amerika (1989-2010)”, dass sich mit der Demokratisierung nach dem En-de vieler Militärdiktaturen und dem zeitgleichen Vormarsch des Neolibe-ralismus in Lateinamerika insgesamt ein „Linksruck” vollzogen habe. Ei-nerseits seien neue soziale Akteur/innen und neue Ideen auf die Agenda getreten. Andererseits sei der Linken jedoch eine klare Zukunftsvision ab-handen gekommen. Der Linksruck sei von dem Paradoxon geprägt, dass einerseits der Kapitalismus langfristig als nicht überlebensfähig angesehen werde. Jedoch biete auch der Sozialismus, so wie er real existiert hat, kein brauchbares Zukunftsmodell: selbst linksgerichtete Regierungen, die lang-fristig sozialistische Ideale proklamieren, fördern kurzfristig Kapitalismus, den sie langfristig als unrentabel betrachten, so betont Coronil. Die „dop-pelte internationale Teilung von Arbeit und Natur” und die entsprechende Abhängigkeit von Rohstoffen zwinge jedoch alle Länder, Devisen inner-halb eines neoliberalen Rahmens zu maximieren. Obgleich diese Tenden-zen das Potenzial des Linksrucks Coronil zufolge unterspülen, treibe eine Vielzahl von Stimmen alternative Zukunftsimaginarien voran, die von Ak-teur/innenn des globalen Nordens und des globalen Südens geteilt werden.

Der Journalist und Bewegungsforscher Raúl Zibechi diskutiert anhand der Beispiele Boliviens und Ekuadors, die beide die Natur als Rechtssub-jekt in die Verfassung aufgenommen haben, die alternativen Kosmovisio-nen des Buen Vivir/Sumak Kawsay. Er fächert sowohl die Ideen und Mög-

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lichkeiten als auch die Widersprüche und Grenzen dieser Formen einer möglichen „anderen Welt” jenseits etablierter Institutionen und kapitalisti-scher Ausbeutungsverhältnisse auf. Einen Hauptwiderspruch sieht Zibechi darin, dass ebenjene Regierungen, die zum Widerstand der Bevölkerung aufrufen, gleichzeitig die Erdölförderung und den Tagebau ausweiten. Entsprechend ist das Prinzip des guten Lebens in der Verfassung dem der „Entwicklung” untergeordnet. So würden eine Reihe an Ideen aufrecht-erhalten, die nicht klar und deutlich mit dem hegemonialen Modell bre-chen. Anhand von Interviews mit indigenen Sprecher/innen und Intellek-tuellen im „Tiefland” Boliviens zeigt Zibechi anschaulich die Widersprü-che zwischen dem Modell der Akkumulation und des individuellen Fort-schritts und dem Konzept des Buen Vivir auf, das auf Gegenseitigkeit ba-siert und der Aufteilung von Gütern, welches nationalstaatlichen und kapi-talistischen Produktions- und Denkweisen entgegenläuft. Zibechi schluss-folgert, dass ein neues Gleichgewicht nur von außerhalb der etablierten Institutionen erfolgen könne.

Die Ökonomin Ana Esther Ceceña beleuchtet in ihrem Beitrag Mög-lichkeiten, die epistemologischen (erkenntnistheoretischen) Grundlagen des Kapitalismus zu überwinden. Beispiele wie die „grüne Revolution” des Saatmittelgutkonzerns Monsanto weisen in die falsche Richtung. Ce-ceña zufolge bedarf es einer Untergrabung von hegemonialen, eurozentri-schen Konzepten von Modernität, und der „Ent-ortung der epistemologi-schen Referenten, die von der Moderne als universal angeordnet worden sind” um die Idee eines „guten Lebens” zu verwirklichen. Sie argumen-tiert, dass ein anderes Verhältnis zu Produktion und Reproduktion not-wendig seien, um auf diesem Planeten gemeinsam zu überleben. Darüber hinaus bedürfe es einer anderen Beziehung zwischen Gesellschaft und Na-tur, wie sie viele Gemeinschaften seit langem praktizieren und anhand von „Korridoren des nicht-Kapitalismus” beweisen.

Die Lehrerin Gabriela Romano berichtet im Interview von ihren Erfah-rungen im Widerstand gegen den kanadischen Bergbaukonzern Barrick Gold im Dorf Chilecito in Argentinien. Die Strategie des offenen Tage-baus hätte das Wasser des gesamten Dorfes verschmutzt sowie den sym-bolisch und kulturell bedeutsamen Berg Famatina. Romano plädiert gegen die zunehmende Privatisierung und dafür, Rohstoffe zu Allgemeingütern der Bürgerinnen und Bürger zu machen. In ihrem kurzen Essay berichtet sie von den Erfolgen und Rückschlägen der Bürgerbewegung.

Der Aktivist Gipi Fernández beschreibt im Interview mit Andreas Schug seine Arbeit für die Arbeitslosenselbstorganisation UTD im nord-argentinischen General Mosconi. Dort brach nach der Schließung des Erdgasunternehmens YPF ein Großteil der Infrastruktur zusammen. Diese

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Vorwort

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betreiben Gipi Fernández und seine Mitstreiter nun in Selbstverwaltung und gemäß einem solidarischen Prinzip.

Chacho Liempe ist Vorsitzender des Rats der Mapuche-Gemeinschaft in Río Negro und kämpft dort für die Landrechte und die kulturellen Rechte der Gemeinschaft der Mapuche, deren Interessen und Kosmovisi-onen seit der europäischen Eroberung kolonialen Interessen untergeordnet worden waren. Im Interview plädiert er für ein nicht-ausbeuterisches Mit-einander.

Der visuelle Künstler Eduardo Molinari erkundet in seinem Beitrag die Rolle von Soja im Prozess der neokolonialen Ressourcenausbeutung, wel-che auf dem zerstörerischen „Potosí-Prinzip” akkumulativer Ausbeutung der Ressourcen des globalen Südens beruht.

Maristella Svampas Artikel beschreibt aus soziologischer Perspektive den ausbeuterischen Neo-Extraktivismus von Naturressourcen in ganz La-teinamerika als politische Entscheidung – Svampa spricht von einer „Ver-kopplung von neuem Entwicklungsextraktivismus und fortschrittlichen Regierungen, vor dem Hintergrund, dass die staatlichen Kapazitäten ge-stärkt werden”. Diese schaffe neue Abhängigkeiten: Immer mehr Rohstof-fe würden exportiert, was sich in der ökonomischen Konzentration, der produktiven Spezialisierung sowie in der Konsolidierung von Exporten-klaven widerspiegele. Angeregt durch die Interventionen neuer sozialer Bewegungen zeigt Svampa Alternativen zu dieser Form auf. Zur Veran-schaulichung ihrer Analysen beschreibt sie spezifische Szenarien wie Ar-gentinien, Peru, Ekuador und Bolivien, um Spannungen, Abstufungen und Unterschiede dieser Phänomene zu beleuchten.

Die Bergbauexpertin Mirta Antonelli zeichnet in ihrem Beitrag den Zu-sammenhang zwischen neuen Geographien von Bergbau-Großprojekten der sogenannten mega-minería und der Reproduktion jahrhundertelang verfestigter globaler Machtstrukturen nach. Denn das allgegenwärtige Pa-radigma der „Entwicklung durch Bergbau”, soll die transnationale Agenda diskursiv vorantreiben. Antonelli zeigt, wie transnationale Unternehmen und lokale politische Akteur/innen in diesem Sinne als eine Art geopoliti-scher Strategie der Inwertsetzung von Natur auch auf die Kontrolle und Dominanz der Imaginarien, Erzählungen, Rhetoriken und Semantiken von „Entwicklung” zielen. Sie schlägt die Untersuchung von Sozialräumen (socio-spatial studies) als analytischen Zugang zu kollektiven Praktiken und Findungsprozessen einer kommunikativen Ästhetik jenseits der „Ra-tio des Extraktivismus” vor.

Der Politologe Luis Tapia untersucht in Anlehnung an René Zavaleta am Beispiel Boliviens das Verhältnis zwischen herrschender Sozialord-nung und Beziehung zur Natur. Er argumentiert, dass die derzeitige boli-

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Julia Roth

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vianische Regierung unter Evo Morales eine anti-indigene Politik verfol-ge, da sie den Wiederaufbau des Nationalstaates auf der Grundlage eines staatskapitalistischen Modells betreibe. Dabei werden die Widersprüche zwischen der Errichtung eines plurinationalen Staates und dem Weiterbe-stehen eines Modells der primär exportierenden extraktivistischen Ent-wicklung sichtbar. Sie wirken, so argumentiert Tapia, der Idee eines pluri-nationalen Staates und der Anerkennung vielfältiger Kosmovisionen ent-gegen.

Der Politikwissenschaftler Elmar Altvater fragt in seinem Text nach den Kriterien für Glück und „gutes Leben”. Dieses werde verhindert durch die Inwertsetzung und Verwertung einer kapitalistischen Produktionswei-se und der monetären Messung von Wert wie sie in der Rohstoffextraktion in Lateinamerika stattfindet. Lateinamerika sei durch die große Abhängig-keit vom Export von Ressourcen folglich in besonderer Weise von einem Rohstoff-„Fluch” betroffen. Die koloniale und imperiale Ausbeutung werde in Wert gesetzt und dabei grundlegend entsprechend den histori-schen Bedingungen der Kapitalakkumulation transformiert. Die Trans-formation des Raums verlaufe entlang einer „Inwertsetzungskette”. Ange-sichts der natürlichen und gesellschaftlichen Grenzen des Wachstums-Paradigmas fordert Altvater neue moralische Ressourcen jenseits kapita-listischer Verwertungslogik und eine Politik der Selbstbegrenzung. Literatur Bair, Jennifer: Global Capitalism and Commodity Chains: Looking Back, Going Forward,

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Vorwort

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Teil I Zentrale Konzepte:

Genealogien und Grenzen von Utopien, Kosmovisionen und Epistemologien

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Die fragliche Zukunft: Geschichte und Utopie in Lateinamerika (1989-2010)1 Fernando Coronil

A map of the world that does not include Utopia is not worth even glancing at, for it leaves out the country on which Humanity is always landing. And when Huma-nity lands there, it looks out, and, seeing a better country, sets sail. Progress is the realisation of Utopias.

Oscar, Wilde, „The Soul of Man Under Socialism”, 1891

[Eine Weltkarte, die das Land Utopia nicht enthielte, wäre nicht wert, dass man einen Blick darauf wirft, denn auf ihr fehlte das einzige Land, in dem die Menschheit immer landet. Und wenn die Menschheit dort gelandet ist, hält sie wieder Ausschau, und sieht sie ein schöneres Land vor sich, setzt sie die Segel. Fortschritt ist die Verwirklichung von Utopien.]

Das Jahr 1989, das aus mehreren Gründen ein welthistorisches Jahr war, markierte das Ende einer langen Periode militärischer Diktaturen in La-teinamerika. 1989 kamen auch neue Betrachtungsweisen von Fortschritt durch demokratische Prozeduren auf und die Neukonzeption von Demo-kratie nicht nur als ein Mittel, um Fortschritt zu erreichen, sondern auch als eines ihrer zentralen Ziele. Zu dieser Zeit beendete die Niederlage Au-gusto Pinochets in einer Volksabstimmung eine Diktatur, die Chile einer scharfen neoliberalen „Schocktherapie” unterzogen hatte, welche den Aufstieg des Neoliberalismus in Lateinamerika begründete. Pinochets siegreicher Gegner war 1989 die Concertación, eine Wahlallianz aus 17 politischen Parteien, die für Demokratie sowie Sozialstaatlichkeit eintrat und somit politische und soziale Rechte miteinander verknüpfte. Nur zwei ____________________

1 Übersetzte Version des Beitrags „The Future in Question: History and Utopia in Latin America (1989–2010)” in dem von Craig Calhoun und Georgi Derluguian herausgegebenen Band Business as Usual. The Roots of the Global Financial Meltdown. New York: NYU Press, 2011. Herzlichen Dank an den Verlag NYU Press für die freundliche Genehmigung des Abdrucks. Mein Dank an Julie Skurski, Genese Sodikoff, Katherine Verdery, John French, Talal Asad, Craig Calhoun und den Studierenden meines Seminars im Sommer-semester 2010 am Graduate Center der CUNY sowie an einen anonymen Leser von SSRC; ihre Vorschläge hinsichtlich des Inhalts und der Form haben diesen Text beträchtlich verbessert.

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Jahrzehnte später werden heute mehrere lateinamerikanische Länder von Präsidenten regiert, die anstreben, die Demokratie zu verfestigen indem sie den Neoliberalismus ablehnen und Ideale proklamieren, welche übli-cherweise mit sozialistischen Prinzipien assoziiert werden. Mehr als 300 Millionen der über 500 Millionen Menschen, die in Lateinamerika leben, werden heute, im Jahr 2010, von solchen Staatsoberhäuptern regiert. Die-ser Wechsel auf Staatsebene ist zum großen Teil von neuen sozialen Be-wegungen vorangetrieben worden, sowie von indigenen Gemeinschaften und politischen Organisationen, welche darum gekämpft haben, eine gleichheitlichere und gerechtere Gesellschaft zu schaffen. Die Politik in Lateinamerika hat in dieser Zeit den gewohnten Weg verlassen. Trotz sichtbarer wie unterschwelliger Kontinuitäten war sie geprägt von neuen Akteur/innenn, innovativen Agenden und originellen Ideen. Diese bei-spiellose Transformation umfasst ein breites Spektrum an heterogenen Prozessen in vielen der 20 lateinamerikanischen Nationen und entzieht sich so herkömmlichen Kategorien. Was sollen wir von diesem komple-xen politischen Wandel halten, der meist als Lateinamerikas „Linksruck” bezeichnet wird?

Dieser Frage werde ich im vorliegenden Text nachgehen, indem ich ei-nen bestimmten Aspekt in den Fokus nehme: Die Vorstellung von einer idealen Zukunft, die diese Veränderungen antreibt. Ich untersuche diese imaginierte Zukunft, das heutige Zukunftsimaginarium, nicht die potenzi-elle oder wahrscheinliche Zukunft der Linken, so wichtig auch diese Fra-gen sein mögen. Obgleich dies bereits ein begrenztes Thema ist, grenze ich es noch weiter ein. Vor dem Hintergrund der Diversität und internen Heterogenität dieser Staaten reduziere ich meine Überlegungen dadurch, dass ich die Aufmerksamkeit auf die Art und Weise richte, wie Zu-kunftsimaginarien den Staat bewohnen, als Hauptrepräsentant/innen und zentralen Agenten des „Fortschritts”. Dieses Zukunftsimaginarium wird anhand alltäglicher politischer Handlungen und Diskurse untersuchbar sowie über bestimmte kulturelle Artefakte wie Pläne, Projekte und Verfas-sungen. Da grundlegende Vorstellungen von Geschichte – nicht ihr spezi-fischer Inhalt, aber ihre Rahmung zeitlicher Strukturen – dennoch oft im-plizit vorausgesetzt werden, untersuche ich, wie unbeschreibliche Zu-kunftsimaginarien der Gegenwart innewohnen, wie „was sein wird” das „was ist” durchdringt, oder in Reinhardt Kosselecks Worten, in welcher

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Beziehung der „Erwartungshorizont” zum „Erfahrungsraum während die-ses Linksrucks” steht (Koselleck (2004: 259).2

Historisch sind der streitbaren Vorstellung von der „Linken” veränderte und strittige Bedeutungen zugeschrieben worden. Norberto Bobbio hat ein knauseriges konzeptuelles Raster zur Klassifizierung politischer Orientie-rungen entlang der dualen Achsen von Gleichheit/Ungleichheit und Frei-heit/Autoritarismus bereitgestellt. Demzufolge sind „links” und „rechts” keine absoluten, sondern relative Begriffe. Sie stellen Positionen dar, die sich innerhalb eines stets historisch spezifischen politischen Spektrums verschieben. Für Bobbio ist die Linke hauptsächlich durch eine Bewegung von Ungleichheit hin zu Gleichheit bestimmt. Freiheit kann damit assozi-iert werden, sie ist aber nicht das bestimmende Kriterium (Bobbio (1996). Ich nehme diese aufschlussreiche Diskussion auf, vermeide aber ihre eher scharfe Trennung zwischen Gleichheit und Freiheit. Ich benutze die Idee von der „Linken” als ein fluides Zeichen, um Handlungen zu identifizie-ren, die auf universelle Gleichheit und Wohlergehen ausgerichtet sind und somit auf ein politisches Leben, ohne welches diese Ziele nicht erreicht werden können, inklusive Demokratie, Diversität, Gerechtigkeit und Frei-heit. Die Bedeutung all dieser Begriffe ist abhängig von den Bedeutungen der anderen, mit denen sie ein konzeptuelles Ensemble formen. Vielmehr als fest oder vorgegeben, ist die einzelne Bedeutung dieser Begriffe für sich allein und im Ensemble ein Produkt historischer Wettstreite um ihre Bedeutung.

„Links” und „rechts” sind relationale Kategorien, welche durch Interak-tion definiert sind. So entstanden die wechselnden Bedeutungen linker Projekte im Rahmen von Kämpfen gegen die sich ständig verändernden Dominanzbeziehungen, um welche sich bestimmte „Rechte” bemüht ha-____________________

2 Übersetzung JR. In diesen Begriffen sondiert Koselleck die Beziehung zwischen historischer Erfahrung und Erwartungen an die Zukunft. Wissenschaftler/innen haben gezeigt, dass Konzeptionen von Geschichte und kulturelle Kosmologien eng miteinander verbunden und historisch spezifisch sind; in jeder gegebenen Gesellschaft etabliert die Beziehung zwischen Vergangenheit und Zukunft be-stimmte Temporalitäten und Geschichtserzählungen. Trotz überzeugender Kritik am Eurozentrismus weisen kanonische wissenschaftliche Kategorien eine Ten-denz auf, westliche Annahmen von Temporalität und Geschichtsvorstellungen zu reproduzieren. Obwohl ich mit dieser Kritik sympathisiere, wende ich hier die bekannte Trilogie von „Vergangenheit”, „Gegenwart” und „Zukunft” an, die üb-licherweise in Studien über Lateinamerika benutzt worden sind ebenso wie in La-teinamerika selbst. Mein Gebrauch dieser Trilogie ist weitgehend deskriptiv und beschränkt meine kritische Intention darauf, angenommene oder naturalisierte Konzeptionen von Geschichte und Raum/Zeit sichtbar zu machen.

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ben. Die Linke steht in Opposition zur Rechten, weil sie das Allgemein-wohl in immer mehr Domänen in immer umfassenderem Maße verfolgt. Wenn man die „Linke” also als ein expansives demokratisierendes politi-sches Projekt fasst, ist sie durch einzelne Errungenschaften gekennzeich-net, wie etwa die Anerkennung der Rechte indigener Gemeinschaften oder der „Natur” als politischem Akteur, wie 2008 in die Verfassung Ekuadors eingeführt. Darüber hinaus ist sie gekennzeichnet durch einen allgemeinen Prozess, der diese Errungenschaften wie das Streben nach einer alternati-ven Sozialordnung auf der Grundlage des indigenen Konzepts des Buen Vivir – dem guten Leben (Sumak Kawsay auf Quechua/Kichwa) – herbei-führt.

Als politisches Projekt ist das Verfolgen von Wohlbefinden für alle – und dies umfasst nicht-menschliche Einheiten – weniger als je zuvor das Monopol des „Westens”, seiner herrschenden Konzeptionen und Logiken. Die aktuellen Kämpfe in Lateinamerika sind in der Tat Teil eines Dekolo-nisierungsprozesses, welcher den Ethnozentrismus der westlichen Moder-nität herausfordert und Räume für andere Imaginarien eröffnet, die auf anderen Geschichten, Epistemologien, Ästhetiken und Ethiken beruhen. Weil die Links/Rechts-Unterscheidung ein westliches Schema ist, ist es verständlich, dass ihr Gebrauch in Lateinamerika zur Disposition gestellt worden ist. Gegenwärtige Auseinandersetzungen bedingen eine Definiti-on, was die „Linke” ist und ob dies noch eine relevante Kategorie ist. Vielleicht gibt es jetzt, mehr als zuvor (zumindest in Lateinamerika), mul-tiple „linke” Vorstellungen einer idealen Gesellschaft, die konkurrierende Vorstellungen von Wohlbefinden, Gerechtigkeit und Recht mit sich brin-gen. Einige streben die Ausdehnung materiellen Wohlstands und indivi-dueller Rechte für alle an, was oft Kämpfe über die Definition kollektiver und individueller Formen von Besitz beinhaltet. Andere basieren auf Kon-zepten von Harmonie innerhalb von Bevölkerungen, untereinander und mit ihrem gesamten natürlichen Umfeld. „Natur” wird im politischen Dis-kurs einiger Andenländer nicht als Einheit dargestellt, die der Kontrolle und Ausbeutung der Menschen unterworfen ist, sondern als fühlendes Wesen mit eigenen Rechten. Für einige stellen „rechts” und „links” keine relevanten politischen Kategorien mehr dar. Die zunehmende Vielfalt von Bewegungen und Positionen erodiert westliche Hegemonie, ohne dass dies notwendig die Ablehnung des Westens oder die Errichtung eines ex-klusiven alternativen Zentrums bedeutet. Zurzeit erscheint es nicht länger gangbar, oder sogar wünschenswert, einem privilegierten politischen Agenten historische Führerschaft zu gewähren oder einen universal gülti-gen politischen Standpunkt zu postulieren. Durch Austauschbewegungen zwischen universalisierenden Praktiken und Idealen, die von innerhalb

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und außerhalb des Westens kommen, aus den Zentren ebenso wie aus den Peripherien, haben es diese Veränderungen in Lateinamerika ermöglicht, provinzielle Universalismen in Frage zu stellen und eine offenere Univer-salität zu verfolgen.3 Dabei bin ich mir der Unzulänglichkeiten des Be-griffs „Linke” bewusst, den ich in diesem Essay verwende, um mich auf diese Veränderungen zu beziehen.

Mein Hauptargument ist, dass der lateinamerikanische Linksruck von einem verwirrenden Paradoxon geprägt ist. Einerseits gibt es eine Diversi-fizierung politischer Aktivitäten, die durch sozialistische oder kommunita-ristische Ideale inspiriert sind, welche auf eine grundsätzliche Verände-rung der Gesellschaft zielen. Andererseits gibt es eine allgegenwärtige Unsicherheit hinsichtlich der spezifischen Form der idealen Zukunft. Es gibt zwar einen starken Wunsch, die Nation zu verändern, es ist aber nicht klar, was man sich wünschen soll – was realistische Hoffnungen sind, wie man Wunsch und Realität verbinden kann. Es ist in Lateinamerika üblich geworden, dem Glauben zu frönen, dass der real existierende Kapitalis-mus langfristig nicht überlebensfähig ist, jedoch gleichzeitig anzuerken-nen, dass der Sozialismus, so wie er real existiert hat, kein brauchbares Zukunftsmodell bietet. Zwar beinhaltet das Projekt eines „Sozialismus für das 21. Jahrhundert”, wie in Venezuela, Ekuador und Bolivien verfolgt, eine implizite Kritik der historischen Sozialismen des 20. Jahrhunderts. Seine verschiedenen nationalen Ausformungen scheinen jedoch bisher keine Alternative zu bieten. Unter der Verantwortung linksgerichteter Staaten entfaltet sich wirtschaftliche Aktivität weiterhin auf der Grundlage kapitalistischer Beziehungen, diese stehen jedoch in spannungsreicher Be-ziehung zu der Erwartung in eine auf unbestimmte Zeit hinausgeschobene postkapitalistische Zukunft. Die Verflechtung zwischen utopischen Hoff-nungen und pragmatischer oder opportunistischer Gefälligkeit hat turbu-lente und gegensätzliche Auswirkungen auf Alltagsleben, persönliche Be-ziehungen und staatliche Politik.

Durch den Linksruck in Lateinamerika scheint die Gegenwart – die Er-fahrung des Hier und Jetzt – von gegensätzlichen Kräften hin- und herge-rissen zu werden. Einerseits wird sie durch zahlreiche Kämpfe für eine bessere Gesellschaft belebt. Andererseits sieht sie sich mit Hindernissen

____________________

3 Dieser Kommentar gibt meine eigene Bewertung und Position (und Wünsche) wieder, ist aber der grundlegenden Arbeit der Mitglieder eines losen „dekolonia-len” Kollektivs ohne eigenen Namen oder eine einzelne Position geschuldet. Bei-spielhaft für aktuelle Werke zu diesem Thema von Mitgliedern des Kollektivs sind die jüngsten Texte von Arturo Escobar (2010) und Javier Sanjinés (2009).

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konfrontiert, welche diese Kämpfe blockieren. Die Hoffnung, einen fun-damentalen Wandel zu bewirken wird oft durch die hemmende Wahrneh-mung ersetzt, dass die menschliche Gesellschaft nicht verbessert werden kann. Diese doppelte Vision generiert eine gespaltene Welt, eine Welt, die oszilliert zwischen der formbaren Landschaft utopischer Imaginarien und dem unveränderlichen Erdboden widerspenstiger Geschichten. Aus der Bruchstelle zwischen diesen Welten entspringen widersprüchliche Gesin-nungen und Motivationen, welche die Gegenwart ausdehnen und die er-wünschte Zukunft einem ungewissen Horizont entgegen schieben. Die Linke verfolgt eine gerechte Zukunft, doch der spezielle Inhalt kommt ihr abhanden. Sie hat einen Sinn für die Richtung, aber kein klares Ziel.

Mit dem Titel „Die fragliche Zukunft” versucht dieser Text die charak-teristische Gegenwart der Zukunft in Lateinamerika während dieses Linksrucks heraufzubeschwören, die widersprüchlichen Weisen auf wel-che die kommende Zeit das Hier und Jetzt durchdringt und sich auf das gegenwärtige politische Imaginarium auswirkt. Auf der einen Seite betritt die Zukunft die öffentliche Bühne als ein offener Horizont von Erwartun-gen, als Potenzialität, die erwartungsvolle Möglichkeiten bietet, wie sie für Übergangsphasen oder Revolutionen charakteristisch sind. Auf der an-deren Seite drängt die Zukunft ihre Präsenz als schwindender historischer Horizont auf, eine zweifelhafte Zukunft, die ein Gefühl von Verzagtheit hervorruft, wie sie typisch für Perioden des Verfalls oder historischer Kri-sen sind. Ich untersuche die Frage nach dieser Zukunft in zwei Schritten. Im ersten lege ich kurz den Kontext dar, innerhalb dessen die derzeitige lateinamerikanische Linke aufgekommen ist. Im zweiten Teil untersuche ich die Zukunft der Linken über die paradoxe Art auf die sie in der Ge-genwart verankert ist.

Entstehung

Ich begrenze meine Diskussion des Aufkommens der Linken auf eine kur-ze Skizze dreier Bedingungen die sich zurzeit auf ihre Entwicklung aus-wirken. Diese Bedingungen haben mit dem sich verändernden Schicksal der beiden Hauptparadigmen der Modernisierung im 20. Jahrhundert zu tun, Kapitalismus und Sozialismus, sowie mit der Krise des Neoliberalis-mus, einem Model kapitalistischer Entwicklung am Ende des 20. Jahrhun-dert, welches den Schlüssel zum Fortschritt versprach.

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Das Ende des Sozialismus

Die erste Bedingung ist die globale Krise und der Zusammenbruch des re-al existierenden Sozialismus zum Ende des 20. Jahrhunderts (man könnte sagen, der Zusammenbruch des „nicht real existierenden Sozialismus” – oder von verschiedenen Formen des Staatskapitalismus), symbolisiert durch den Fall der Berliner Mauer 1989, die Auflösung der Sowjetunion 1991 und das schnelle Eintreten Chinas in kapitalistische Märkte und Lo-giken. Dieser Zusammenbruch ist weitgehend nicht nur als das Ende von bestimmten historischen Sozialismen interpretiert worden, sondern als das historische Ende des Sozialismus.

Der Sieg des Kapitalismus

Die zweite Bedingung ist der offensichtliche globale Triumph des Kapita-lismus. Sobald einer der beiden Rivalen im Kampf um die Weltherrschaft im 20. Jahrhundert verschwunden war, schien es, als sei der andere Anta-gonist nicht nur siegreich gewesen, sondern als sei sein Sieg dauerhaft. Darüber hinaus behaupteten Ideolog/innen des Kapitalismus wie vom Sieg erblindet, dass sein Versprechen universellen Fortschritts sich bald reali-sieren würde. Am Ende des Jahrhunderts hatte der Neoliberalismus welt-weit den Status eines heiligen Dogmas erlangt. Konzeptionalisiert als der Sieg der Ökonomie über politische Ideologien zielte er auf die Herrschaft der Technokratie in sozialen Belangen und die Herabstufung der Politik auf den Bereich des parteiischen und emotionalen. Im Jahr 1989 prägte John Williamson den Begriff des Washingtoner Abkommens als Be-schreibung eines Dekalogs von politischen Verordnungen die gewährleis-ten sollten, dass alle Nationen, die sie befolgten, auch solche mit ernsthaf-ten ökonomischen Problemen, wirtschaftliches Wachstum erreichen wür-den. Diese Grundsätze spiegelten die Verflechtung geopolitischer Belange mit einer technischen Version neoklassischer Ökonomie wider, die das so-ziale Zusammenleben auf eine individualistische Berechnung des Nutz-werts reduziert oder auf ein Spiel mit Erwartungen. Diese Fantasie univer-sellen Fortschritts artikulierte Francis Fukuyama in seinem berühmten pa-radigmatischen Artikel von 1989 (und dem Buch von 1992), in dem er das „Ende der Geschichte” proklamiert. In diesen Texten argumentierte er, dass die weltweite Durchsetzung des freien Marktes ideologische Kämpfe auflösen, Fortschritt bringen und weltweite Harmonie erzeugen würde.

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Die Krise des Neoliberalismus

Die dritte Bedingung betrifft die negativen Auswirkungen des Grundsat-zes vom freien Markt: die wachsende Polarisierung innerhalb und zwi-schen Nationen, ökologische Zerstörung, die Ausgrenzung ganzer Bevöl-kerungssektoren, die Unterordnung der Produktion unter die Finanzspeku-lation, und den allgegenwärtigen Individualismus und Konsumismus. Die-se Effekte sind im gesamten kapitalistischen System spürbar gewesen, deutlich früher und intensiver jedoch im Globalen Süden.

In den meisten Fällen haben lateinamerikanische Länder ihre Unabhän-gigkeit im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts erlangt – und nicht nach dem Zweiten Weltkrieg wie die meisten neuen Nationen in Afrika und Asien. Deshalb weisen sie eine lange Erfahrung mit verschiedenen For-men von Modernisierungsprojekten auf. Diese reichen von liberalen Pro-jekten im 19. Jahrhundert, vor der gegenwärtigen neoliberalen Phase, bis hin zu staatszentrierten Projekten über weite Teile des 20. Jahrhunderts – und sie reichen von staatlich unterstützter Import ersetzender Industriali-sierung (ISI) zu staatlich unterstütztem Anstieg des Exports. Einige latein-amerikanische Länder strebten an, sich durch eigene Modelle des Sozia-lismus oder sozialistisch inspirierte politische Projekte zu modernisieren: Chile unter Salvador Allende (1971-73), Nikaragua unter den Sandinisten (1979-89) und Kuba unter Fidel Castro, und seit 2006 unter seinem Bru-der Raúl (1959-heute) [sic].4

Als Antwort auf die weltweite Vorherrschaft des Neoliberalismus ha-ben im Laufe des vergangenen Jahrzehnts die meisten Staaten in Latein-amerika die Rolle des Staates in der Wirtschaft reduziert, wohlfahrtsstaat-liche Institutionen abgebaut, die Wirtschaft dereguliert und die Verfol-gung von komparativen Vorteilen in Einklang mit den Prinzipien des freien Marktes vorangetrieben. Diese Veränderungen führten zu anstei-gendem ökonomischen Wachstum, jedoch zum Preis einer stärker polari-sierten Gesellschaft und heftigen sozialen Verwerfungen. Als Antwort auf diese Probleme wurde die Region Zeuge des Anstiegs einer großen Viel-falt an sozialen und politischen Bewegungen, die sich auf bestimmte, oft von sozialistischen Idealen inspirierte Forderungen konzentrierten. Bei-spiele hierfür sind die Zapatist/innen in Mexiko, die Landlosenbewegung in Brasilien (MST), die Piqueteros (Arbeitslose) in Argentinien, oder die ____________________

4 Anm. d. Übers.: Raúl Castro trat 2008 die Nachfolge seines Bruders Fidel Castro als Staatspräsident Kubas an und ist seit 2011 darüber hinaus Erster Sekretär der Kommunistischen Partei Kubas.

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indigenen Bewegungen in den Andenländern. Zum Teil aufgrund der po-larisierenden Effekte des Neoliberalismus, aber auch als Ergebnis des Ak-tivismus sozialer Bewegungen und politischer Organisationen dauerte die Vorherrschaft der neoliberalen Ideologie in Lateinamerika nicht lange an. Sogar der gefeierte dependista-Forscher Fernando Henrique Cardoso, der als Präsident Brasiliens (1995-2003) neoliberale Strategien billigte und dazu beitrug, Brasilien weiter in die Strukturen des globalen Kapitalismus zu integrieren, machte deutlich, dass er keine Illusionen bezüglich der Zu-kunft der Globalisierung habe. Er äußerte lapidar, es gäbe „innerhalb der Globalisierung keine Alternative, außerhalb der Globalisierung keine Er-lösung” (Zitiert in Borón 1998).5

Im Kontext von regionalen Treffen entwickelten die politischen Orga-nisationen und sozialen Bewegungen, die den Neoliberalismus ablehnten, Allianzen und gemeinsame Projekte. Nach einer Reihe solcher Treffen ta-ten sich Vertreter/innen dieser Bewegungen mit gleichgesinnten Akti-vist/innen von überall auf der Welt beim Weltsozialforum zusammen, ei-ner Versammlung, die zum ersten Mal 2001 in Porto Alegre, Brasilien stattfand. Seitdem haben die Weltsozialforen angestrebt, disparate Grup-pen in einer gemeinsamen Allianz gegen Neoliberalismus und für soziale Gerechtigkeit und Demokratie zu vereinigen. Gewiss war diesen Bewe-gungen und Organisationen klar, dass die neoliberale Globalisierung keine reale Alternative bietet. Weil aber der „real existierende Sozialismus” kei-ne Erlösung gebracht hatte, war es für sie einfacher, den Neoliberalismus zu kritisieren, als brauchbare Alternativen zu formulieren. Ihre konkreten Vorschläge richten sich typischerweise gegen besonders heftige Ausprä-gungen des Kapitalismus, nicht gegen den Kapitalismus selbst als ein Ge-samtsystem.

Ohne sichtliche Erlösung außerhalb oder innerhalb des Kapitalismus sind utopische Träume nicht verschwunden, sondern sie haben vielmehr die Form einer eher vagen Hoffnung auf eine ferne Zukunft angenommen. Die Linke hat ihre Kritik auf akute Formen der Herrschaft des Kapitals ge-richtet, anstatt auf den Kapitalismus. Wie der Historiker John French per-spektivisch bemerkt hat, verdeckt eine Fokussierung der Kritik des Neoli-beralismus die Akzeptanz von Kapitalismus. Gleichzeitig dient sie dazu, disparate Sektoren im lang anhaltenden Kampf für nationale Entwicklung zu vereinen:

____________________

5 Übersetzung JR.

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If opposition to neoliberalism, not to capitalism, marks the fundamental boundary of the contemporary left, as I would argue, the terminology could be said to obs-cure the essential capitalist and imperialist enemy, if viewed in orthodox Marxist terms. Yet the emphasis on neoliberalism is especially appropriate to Latin Ame-rica, where autonomous or semi-autonomous national development (be it capita-list or socialist) has long been a shared goal across the political spectrum. While anti-capitalism has had its place in the discourse of the region’s left, the practical emphasis has more often been on the incapacity of capitalism to achieve the auto-nomous national development being sought, while the bourgeoisie has long been criticized for failing to spark a bourgeois democratic revolution or deliver prospe-rity to the masses (French 2009: 362).

Vor dem Hintergrund Lateinamerikas immer wiederkehrendem Streben danach, eine Variante westlichen Fortschritts zu erreichen hilft uns dieser aufschlussreiche Kommentar, gegenwärtigen Dilemmata der Linken zu kontextualisieren. Die lange postkoloniale Erfahrung der Region hat sie mit den Defiziten verschiedener Entwicklungsprojekte vertraut gemacht, und sie an das Wechselspiel zwischen erneuten Versprechen und hinaus-geschobenen Erfolgen gewöhnt. Zurzeit hat jedoch die Kombination aus einem stark verbreitetem Engagement in transformative Politiken mit ei-ner intensivierten Unsicherheit bezüglich der Zukunft eine besonders star-ke Spannung zwischen großen Erwartungen und alltäglichen Praktiken er-zeugt.

Als man in den Vereinigten Staaten und England den Neoliberalismus als herrschende Ideologie anpries, wurde Lateinamerika zum Experimen-tierfeld für die Implementierung neoliberaler „Schockbehandlungen”, vor allem in Pinochets Chile (1973-89) unter der Führung der berüchtigten „Chicago Boys” und während der skrupellosen Herrschaft von Argentini-ens Militärjunta (1976-83). Mit weniger repressiven Mitteln implementier-ten auch demokratische Regimes diese Strategien, etwa Carlos Andrés Pé-rez während seiner zweiten Präsidentschaft in Venezuela (1989-93) und Fernando de la Rúa in Argentinien (1999-2001). In beiden Fällen wurden die Präsidenten größtenteils als Folge dieser Strategien von der Macht ver-trieben, Carlos Andrés Pérez 1993, Fernando de la Rúa 2001.

Angesichts dieser Geschichte abgebrochener Modernisierungsprojekte ist es verständlich, dass Lateinamerika zu der Region wurde, in der einige der frühesten und stärksten Proteste gegen die gegenwärtige Phase neoli-beraler Strukturanpassung aufkamen. Natürlich entstand die größte Oppo-sition als Teil des Kampfes gegen die Diktaturen in Chile und Argentini-en, die diese Strategien als Paket oder „Schocktherapie” implementiert hatten, welche zugleich ökonomisch, kulturell und politisch war. In ande-ren Zusammenhängen waren die Proteste größtenteils eine spontane Ant-wort auf eine bestimmte Reihe von Strategien. Dazu zählte etwa der

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Carazco 1993 in Venezuela, der größte und am gewaltvollsten niederge-schlagene Anti-IWF-Aufstand in Reaktion auf Nahrungsmittelknappheit und erhöhte Benzin- und Transportkosten, oder die massiven Bewegungen in Argentinien 2001 zur Verdrängung Präsident Fernando de la Rúas. Un-ter dem Slogan que se vayan todos („alle sollen gehen”) war dies ein un-erwarteter Protest in einem Land, das bis dahin als Modell des Washing-toner Abkommens gegolten hatte. Plötzlich aber wurde es von einer finan-ziellen Krise und verheerenden Produktionsstrukturen zerrissen, die das Ergebnis der Implementierung dieses Modells waren. In anderen Fällen wurden die Proteste von sozialen Bewegungen durchgeführt, die schon lange auf dieses Ziel ausgerichtet waren – etwa während des Aufmarschs der Zapatist/innen 1994 in Chiapas, der mit der Implementierung des NAFTA, des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens, durch den me-xikanischen Staat, zusammenfiel.

Wie zu erwarten war wurden die Begrenzungen des Neoliberalismus trotz seiner negativen Effekte im Globalen Süden erst dann weltweit sichtbar, als sie sich auf den Norden auswirkten. Als seine Strategien im Süden nicht funktionierten, schrieb die herrschende Sichtweise dieses Scheitern nicht dem freien Markt zu, sondern den „rückständigen Natio-nen”, nicht der Behandlungsmethode, sondern den „Patienten”, die nicht darauf vorbereitet waren, sich dieser zu unterziehen. Erst in Folge der fi-nanziellen Kernschmelze in den Vereinigten Staaten 2008 verlor der freie Markt seine heilige Aura. Als sei ein Schleier gelüftet worden, konnte nun die gesamte Welt den unregulierten Markt nicht mehr als selbstregulieren-des Naturprinzip sehen, sondern als allzu menschliche, außer Kontrolle geratene Intervention, die vom Staat diszipliniert und unterstützt werden muss. Obwohl die Wahl Barack Obamas in großem Maß eine Antwort auf die Effekte des Neoliberalismus in den Vereinigten Staaten war – auf die Immobilienkrise und die aus der Deregulierung resultierende finanzielle Kernschmelze – stellte die Wahl vieler linksgerichteter lateinamerikani-scher Präsidenten eine viel frühere Reaktion auf die multiplen Effekte des Neoliberalismus in der Region dar.

Es sind mehrere Genealogien und Typologien entstanden, die diesem Linksruck in Lateinamerika Rechnung tragen sollen. Die meisten Journa-list/innen und Akademiker/innen sehen trotz unterschiedlicher Interpreta-tionen die Wahl von Hugo Chávez 1998 als Anfang dieses Rucks, weil seine Kampagne sich durch die Gleichsetzung von Demokratie mit dem Wohlfahrtsstaat auszeichnete, durch eine starke Ablehnung des Neolibera-lismus und das Versprechen eines radikalen Wandels. Das macht insofern Sinn, als diese Wahl einen Zyklus von Wahlsiegen von Präsidenten initi-ierte, die versprachen, fundamentale soziale Transformationen vorzuneh-

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men. Ich ziehe es vor, die Wahlniederlage Pinochets 1989 als Ursprung für diesen Ruck zu kennzeichnen, um hervorzuheben, was ich als zentral für diesen Wandel erachte: Den Wert, welcher der Demokratie als politi-sches System zugemessen wurde, durch welches das kollektive Gemein-wohl verfolgt wird und als ein Wert an sich. Es gibt aber einen Unter-schied. Die chilenische Gesellschaft war zu dieser Zeit gekennzeichnet durch heftige politische Konflikte und wurde von einer brutalen Diktatur zerrissen. Die Einführung einer politischen Demokratie stellte dort eine große Herausforderung für die Mehrparteienallianz dar, die danach streb-te, das Pinochet-Regime zu stürzen. Diese Allianz beabsichtigte, die nega-tiven Effekte des Neoliberalismus zu verbessern, nicht, ihn zu ersetzen. Heute, in einer Phase, in welcher der Neoliberalismus sich auf dem Rück-zug, wenn nicht in der Krise befindet, haben alle linksgerichteten Präsi-denten seit Chávez versprochen, die Demokratie durch Begrenzung des Neoliberalismus und Implementierung fundamentaler sozialer Wohl-fahrtsmaßnahmen zu verstärken: 2002 Lula da Silva in Brasilien; 2003 Néstor Kirchner in Argentinien; 2004 Tabaré Vasquez in Uruguay; 2005 Evo Morales in Bolivien; 2006 Michelle Bachelet in Chile, Daniel Ortega in Nikaragua, Rafael Correa in Ekuador und Hugo Chávez’ Wiederwahl in Venezuela; 2008 Fernando Lugo in Paraguay; 2009 José Mujica in Uru-guay; und 2010 Dilma Roussef in Brasilien. Trotz ihrer Unterschiede war die Verfolgung von mehr Demokratie ihre Gemeinsamkeit.

Die vielleicht einflussreichste Typologie dieser linken Regime stellt ein frühes Schema des mexikanischen Wissenschaftlers und Politikers Jorge Castañeda dar, welches die politischen Führer/innen in vernünftige Re-former/innen und rückwärtsgewandte Populist/innen einteilt – vorbehalt-los in die „gute” und die „schlechte” Linke. An einem Ende platzierte er die „aufgeschlossene und moderne Linke”, repräsentiert durch Brasiliens Lula da Silva, und am anderen Ende die „engstirnige und populistische Linke”, repräsentiert durch Venezuelas Hugo Chávez (Castañeda (2006).6 Selbst diejenigen, die Castañedas Argumentation kritisiert haben, tendier-ten dazu, seine dichotome Struktur zu wiederholen, oft, indem sie diese umgekehrt bewerteten – Lula als den kompromittierenden Reformer und Chávez als den wahren Revolutionär. Aus einer konservativen Perspekti-ve, wie sie häufig in den Mainstreammedien zum Ausdruck kommt, wer-den natürlich alle linksgerichteten Regierungen in einem negativen Licht gesehen; in den Vereinigten Staaten neigen die Medien dazu, zwischen

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6 Übersetzung JR.

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dem Modell der „guten” Linke gegen die „schlechte” Linke und der Gleichbehandlung aller als eine undifferenzierte negative Kraft zu oszillie-ren.

Unter linksgerichteten Staatsoberhäuptern haben unterschiedliche Visi-onen von Gesellschaft eine öffentliche Debatte angeregt. Sie tendieren aber auch dazu, den politischen Diskurs zu polarisieren, oft indem sie hilf-reiche Vereinfachungen in flache Karikaturen verdrehen, die das Ver-ständnis eher verhindern als anregen. Im Kontext aufgeheizter politischer Konfrontationen hat diese Verflachung der Vernunft und die Erhöhung von Emotionen politische Repräsentationen sowohl in Lateinamerika als auch außerhalb davon bestimmt, auch diejenigen, die in akademischen und künstlerischen Kreisen entstanden. Zwar fordert beispielsweise Oliver Stones Dokumentarfilm South of the Border zum Aufstieg der lateiname-rikanischen Linken eklatante Zerrbilder der US-amerikanischen Medien energisch heraus, jedoch zeichnet er ein umgekehrtes Spiegelbild der Lin-ken, das die flache Sicht der Medien auf die Geschichte reproduziert. Der Dämonisierung der Linken kann man nicht durch ihre Vergötterung ent-gegentreten; die Reduktion von Politik auf einen Kampf zwischen Gut und Böse muss vielmehr durch Darstellungen herausgefordert werden, welche die Kapazität der Öffentlichkeit entwickeln, der Welt und der Ge-schichte, welche sie herstellt, Sinn zuzuschreiben. Wenn die Mainstream-medien die Menschen betäuben, brauchen wir Darstellungen, die dazu bei-tragen, sie aufzurütteln.

In dem Bemühen, flache Dichotomien zu vermeiden, oder sie zumin-dest in bedeutungsvolle Unterscheidungen zu verwandeln, biete ich ein Schema an, welches helfen soll, die Zukünfte7 der Linken in Lateinameri-ka untersuchen. Dazu nehme ich die Möglichkeitsbedingungen histori-scher Veränderung in den Blick, mit denen die jeweiligen Nationen kon-frontiert sind. Dieses Schema verbindet historische Erfahrung und politi-sche Erwartungen durch Beobachtung dessen, wie unterschiedliche An-ordnungen ökonomischer und politischer Voraussetzungen sich auf ver-schiedene Modalitäten linksgerichteter Politik auswirken.

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7 Im Original im Plural (futures), Anm. d. Übers.

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Politische Voraussetzungen

In Ländern, die kürzlich eine Diktatur und ernsthafte politische Repression erfahren haben, tendiert die Linke dazu, Ideen von Revolution oder Sozia-lismus herunterzuspielen, formale demokratische Prozeduren hervorzuhe-ben, breite Allianzen und politische Kompromisse zu etablieren und sozia-listische Projekte in die weite Zukunft zu projizieren. Der politische Ton ist moderat. Die eindeutigsten Beispiele sind hier Chile, Argentinien, Bra-silien, Uruguay und Paraguay. Auf der anderen Seite tendiert die Linke in Ländern, die aus Bedingungen ökonomischen und politischen Aufruhrs und Phasen politischer und sozialer Instabilität kommen – darunter Auf-stände von ausgeschlossenen indigenen Bevölkerungen oder Bevölke-rungssektoren – dazu, grundlegende Verfassungsänderungen voranzutrei-ben, konfrontativ zu sein und die Fahne von Revolution und Sozialismus offen aufzurollen. Ihr politischer Ton ist radikal (oder nicht moderat). Die paradigmatischen Beispiele hierfür sind Venezuela, Bolivien und Ekua-dor.8

Materielle Bedingungen

Eine Doppelkombination aus zentralen ökonomischen Bedingungen wirkt sich während dieses Linksrucks auf die Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft aus: die Art und Weise, wie der wirtschaftliche Mehrwert ei-ner Gesellschaft produziert wird, und wie sie Devisen bezieht. Während die Generierung von Mehrwert von der Beziehung von Kapital, Land und Arbeit abhängt (einem zentralen Anliegen sowohl klassischer liberaler als auch Marxistischer Theorien), ist der Zugang zu Devisen von der Bezie-hung zwischen nationalen und internationalen Ökonomien abhängig. Wenn man sie gemeinsam analysiert, machen diese beiden Faktoren die kritische, aber unzureichend anerkannte Rolle der Grundrente in Latein-amerika als „Natur-intensive” Ressourcen-basierte Ökonomien sichtbar.9 Landwirtschaftliche und Bergbaurendite spielen unterschiedliche Rollen und ziehen verschiedene soziale Implikationen mit sich als Element spezi-

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8 Arturo Escobars Diskussion des Linksrucks in Lateinamerika in „Lateinamerika at a Crossroads” fokussiert diese Länder, zum Teil weil sie einen radikaleren Bruch mit der Vergangenheit und ein „dekoloniales” politisches Projekt zu reprä-sentieren scheinen.

9 Ich diskutiere diese Konzepte in Coronil (1997: 45-66).

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fischer Anordnungen sozialer Beziehungen. Landwirtschaftliches Land ist typischerweise in Privatbesitz und stellt somit die Grundlage der Landbe-sitzenden Klassen dar, die direkt davon profitieren. Minen sind hingegen in der Regel unter staatlicher Kontrolle, und ihre Pachtzinsen tragen zur zentralen politischen und ökonomischen Bedeutung des Staates bei. Im la-teinamerikanischen Kontext geht die Dominanz landwirtschaftlicher Pachtzinsen auf nationaler Ebene normalerweise mit der Ausbreitung wirtschaftlicher Macht einher, einer relativ vielfältigen Ökonomie, einem starken Businesssektor und einem strukturellen Konflikt zwischen Expor-tierenden und Konsumierenden über die Allokation landwirtschaftlicher Produkte entweder als Quelle für Devisen oder als binnenländische Kon-sumgüter. Bergbaurendite führen hingegen in der Tendenz dazu, eine Machtkonzentration im Staat voranzutreiben sowie einen subventionierten und abhängigen Businesssektor zu schaffen und einen strukturellen Kon-flikt über die Verteilung kollektiver Pachtzinsen unter den Bürger/innen, die gleichen Rechte auf diese Pachtzinsen haben, aber ungleichen Einfluss auf den Staat, der sie verteilt. Auch wenn die Grundrente in allen Gesell-schaften wichtig ist, so spielt sie doch im Globalen Süden wegen dessen untergeordneter Position in der internationalen Verteilung von Arbeit und Natur eine besondere Rolle. Obgleich ich die Wichtigkeit von natürlichen Rohstoffen hervorhebe, widerspricht meine Argumentation dem „Fluch der Ressourcen”, weil Ressourcen selbst nicht tätig sind, sondern es erst durch ihre sozialen Beziehungen werden, die sie bedeutsam machen.

Im Zuge dieses linksgerichteten Schwungs, demzufolge landwirtschaft-liche Pachtzinsen zentral für die nationale Wirtschaft sind, hatten diese [Zinsen] die Tendenz, die sich formenden Allianzen zwischen Klassen und Interessengruppen zu unterstützen. Darüber hinaus förderten sie das Verhandeln von Strategien zwischen dem Staat und den Hauptsektoren und trieben einen moderaten politischen Stil voran, wie es in Brasilien, Argentinien und Chile geschieht. Andererseits wurde dort, wo Bergbau-rendite der dominante locus – oder Standort – der internationalen Ökono-mie sind, die Machtkonzentration im Staat vorangetrieben, ebenso wie die Abhängigkeit des privaten Sektors vom Staat, und die Entwicklung eines radikalen oder nicht moderaten politischen Stils, der die Konflikte zwi-schen Klassen und Regionen intensiviert, wie es in Venezuela, Ekuador und Bolivien geschieht. In allen lateinamerikanischen Nationen bleiben (mineralische oder landwirtschaftliche) Primärerzeugnisse die Hauptex-portware und Quelle für Devisen; in vielen Ländern hat sich Arbeitskraft, – eine ungewöhnliche primäre „Exportware” – verstärkt in Remittances [Geldsendungen, Anm. d. Übers.] gewandelt, welche eine Hauptquelle für internationale Währungen bilden. Trotz der Ablehnung des Neoliberalis-

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mus bleibt die Verfolgung von komparativen Vorteilen in diesem Bereich die ökonomische Kernstrategie in allen lateinamerikanischen Ländern.

Natürlich kann dieses einfache Schema nur den Anfang für ein Ver-ständnis der Komplexität der jeweiligen Situation bieten. Denn einerseits definieren andere Faktoren ebenfalls den nationalen Kontext. Andererseits können auch diese beiden Bedingungsfaktoren komplementäre sowie kon-fliktive Effekte erzeugen. In Chile zum Beispiel verblieb selbst zu Hoch-zeiten von Pinochets neoliberalem Projekt die Kupferindustrie in der Hand des Staates und Kupfereinkommen (und -devisen) garantierten dem Staat außergewöhnliche finanzielle Ressourcen und heimischen politischen Ein-fluss. Diese Situation hat sich nicht verändert, außer dass der ständige An-stieg der Kupferpreise in den letzten Jahren dem Staat sogar noch mehr fi-nanzielle Macht beschert hat. In dieser Hinsicht teilt Chile trotz seiner diversifizierten Wirtschaft und dem versöhnlichen politischen post-Pinochet Stil mit den Bergbauländern die Präsenz eines starken Staates. In Argentinien gab es historisch – trotz der Tendenz während der Nachdikta-turzeit, Allianzen zu etablieren – einen chronischen Konflikt zwischen landwirtschaftlichen Produzierenden, die daran interessiert sind, ihre Pro-dukte zu exportieren um ihre Profite zu maximieren und Konsumierenden, die daran interessiert sind, sie auf dem heimischen Markt zu halten, um ihr Sozialwesen zu verbessern. Der Staat muss zwischen diesen konflikthaf-ten Forderungen, die oft explosiv werden, vermitteln, wie es während Cristina Fernández de Kirchners Präsidentschaft 2008 der Fall war.

Darüber hinaus muss auch anderen Formen von Devisen wie internati-onalen Krediten Rechnung getragen werden, die typischerweise mit zwin-genden „kollateralen” politischen Verpflichtungen einhergehen. Während der zweiten Präsidentschaft von Fernando Henrique Cardoso beispielswei-se war Brasilien mit ernsten finanziellen Nöten konfrontiert und der Wahl-sieg von Kandidat Lula 2002 wahrscheinlich. Der Präsident des IWF räumte Cardoso einen Kredit von 30 Milliarden US-Dollar ein und setzte fest, dass nur sechs Milliarden an ihn ausgezahlt würden. Der Rest sollte dem neuen Präsidenten gegeben werden unter der Voraussetzung, dass al-le Kandidierenden die Vorschriften des IWF akzeptierten. Lulas Arbeits-partei (PT) stimmte diesen Bedingungen durch ihren „Brief an die brasili-anische Bevölkerung” zu (Avritzer 2004). Dieser Vorfall zeigt, dass die internationale Finanzgemeinschaft no vota pero si veta [nicht wählt, aber ein Veto einlegt] (Garavito/Barret 2004). Unabhängig davon, ob sie aus Pachtzinsen, Profiten oder Krediten stammen, sind Devisen eine Haupt-kraft in der Dynamik. Ich nenne diese Dynamik „nationale” und „globale” postkoloniale Imperialismen – Formen imperialer Herrschaft, die haupt-sächlich durch ökonomische Kontrolle und politischen Einfluss ausgeübt,

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aber durch die größte territoriale und extraterritoriale Armee der Mensch-heitsgeschichte unterstützt werden (Coronil 2007).

Da ich die meisten Labels, die üblicherweise benutzt werden, um diese linksgerichteten Regime zu unterscheiden, unangemessen finde, beziehe ich mich auf die beiden Gruppierungen dieses einfachen Schemas in Form von Abkürzungen aus den Anfangsbuchstaben der drei jeweiligen typi-schen Repräsentanten: VEBo, für Venezuela, Ekuador und Bolivien, und BrAC für Brasilien, Argentinien und Chile. Trotz ihrer Unterschiede ist eines klar: Fern von einem Ende der Geschichte sind diese Nationen mit deren Rückkehr konfrontiert; für sie ist die Geschichte zurückgekehrt. Nur, um welche Art von Geschichte handelt es sich, und welche Zukunft ruft sie hervor?

Die Zukunft der Linken

Es ist bemerkenswert, aber nicht außergewöhnlich, dass dieser Linksruck die Rückkehr der Geschichte bedingt hat. Nationalgeschichten in Latein-amerika sind typischerweise eingeschrieben gewesen in eine globale histo-rische Reise in Richtung Fortschritt. Was eher außergewöhnlich ist an die-ser Verbindungsstelle ist nicht die Wiedereinschreibung Lateinamerikas in die Geschichte als großen Prozess, sondern, dass zurzeit nicht klar ist, wo-hin die Geschichte sich entwickelt.

Seit der Eroberung und der Kolonisierung der Amerikas haben die herr-schenden Eliten eine gewisse Vorstellung von ihrer idealen Zukunft ge-habt, oder vielleicht richtiger, haben umfangreiche ideale Zukunftsmodel-le dem Alltagsleben der Region in erheblicher Weise innegewohnt. Inso-fern als diese elitären Imaginarien hegemonial gewesen sind, lebte Latein-amerika die Gegenwart im Schatten der Zukunft; wie Susana Rotker be-merkt „ist Lateinamerika ... eine Aktion ohne Vergangenheit oder Gegen-wart, nur mit einer Zukunft.” (Rotker 2005: 85).10 Unter der Last imperia-ler Zukunftsszenarien erschien die Gegenwart als Übergangsphase, ein Geschichtsstadium, das es hinter sich zu lassen galt, oder gar einfach als peinliche Realität abzulehnen ist. Diese Zukunftsideale waren immer schon bekannt weil sie immer die Gegenwart der metropolitanen Zentren gewesen sind: Erst die der „zivilisierten” kolonialen Imperien, und dann, nach der Unabhängigkeit, die der modernen Industrienationen.

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10 Übersetzung JR.

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Die Legitimität der Eliten in Lateinamerika war abhängig von deren Fähigkeit, Boten der Zukunft zu sein. Als politische und kulturelle Füh-rer/innen war es ihre Aufgabe, Vermittler zwischen Lateinamerika und der „zivilisierten” oder „modernen” Welt zu sein, also eigentlich zwischen Vergangenheit und Zukunft. Um diese historische Alchemie auszuüben, müssen sie, in ihrem Sein zu Verkörperungen der Zukunft werden. Sie verkörpern die Zukunft mittels unzähliger Selbst-Techniken, inklusive der Sozialisierung Zuhause, selektiven Konsums, Bildung, Reisen und Spracherwerb. Man könnte ermitteln, welche „Zukunft” von diesen Eliten imaginiert worden ist, indem man ihre Reisen verfolgt, und vor allem, in-dem man beachtet, in welcher Nation sie ausgebildet worden sind und welche Sprachen und Literaturen sie lesen. Historisch stellten für sie die Feuerprobe der Selbstschöpfung (self-making) zunächst Spanien und Por-tugal dar, aber bald danach waren es Frankreich und England, und seit dem Zweiten Weltkrieg sind es die Vereinigten Staaten. Für einige politi-sche linke Führer/innen hatten natürlich die Sowjetunion und Ostdeutsch-land diese zivilisierende Funktion. In Lateinamerika waren die Hauptspra-chen der Zivilisation Spanisch für Spaniens Postkolonie, Portugiesisch für Brasilianer/innen und für alle zunächst Französisch und jetzt Englisch.

Dieses Modell der Historizität durchtränkt das politische Leben mit dem Syndrom des „noch-nicht”. Eine solche Perspektive stellt einige Ge-sellschaften als immer schon „noch nicht zivilisiert” dar, als noch nicht industriell noch nicht modern. Sie klassifiziert und hierarchisiert auch ge-genwärtige Gesellschaften, indem sie Raum in Zeit verwandelt, geogra-phische Nähe in zeitliche Distanz und kulturelle Differenz in evolutionäre Hierarchie. Als Folge werden einige Gesellschaften, obwohl sie zur glei-chen Zeit in einem benachbarten Raum existieren, als zivilisiert definiert und andere als primitiv und eine frühere und minderwertige Stufe der Menschlichkeit repräsentierend. Angesichts der Dominanz dieser Sicht-weise hat in Lateinamerikas Beziehung zur modernen Welt Gleichzeitig-keit nicht Kontemporanität (Gegenwärtigkeit) bedeutet, denn um kontem-porär zu sein, so hat Ernst Bloch für andere Regionen argumentiert, muss man vollkommen modern sein. Der Anthropologe Johannes Fabian hat diese Rahmung „die Aberkennung von Gleichzeitigkeit” (the denial of coevalness) genannte, das heisst, die Konstruktion einer „allochronen Temporalität” (allochronic temporality). Dadurch wird zeitgleich existie-renden Gesellschaften ein unterschiedlicher evolutionärer Wert beigemes-sen und sie werden in verschiedene historische Perioden verortet. Diejeni-gen die als barbarisch behandelt gelten, werden in die Vergangenheit ent-hoben. Gleichzeitig bleiben diejenigen, die als zivilisiert angesehen wer-den, in der Gegenwart und werden als Gipfel der Menschheit präsentiert

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(Fabian 1983). Wenn sie alle auf dem gleichen fortschreitenden Pfeil der Zeit platziert sind, gelten nicht-westliche Gesellschaften als Repräsentan-ten der Vergangenheit zivilisierter Gesellschaften und die zivilisierten als Verkörperung der Zukunft der nicht-westlichen Welt. Wenn nicht-westliche Menschen aus der westlichen Geschichte ausgeschlossen wer-den, behandelt man sie als radikal Andere, eher als Kreaturen der Natur als Schöpfer von Kultur.

Diese historistische Vision präsentiert den Westen als den Gipfel der Zivilisation und den „Rest” als rückständige Regionen, die auf einer vor-hergehenden Entwicklungsstufe stehen. Im Sinne dieser Weltsicht ist das Gebiet, welches Lateinamerika geworden ist, zu unterschiedlichen Zeiten verschiedenartig sowohl als anders als auch als minderwertig dargestellt worden, in Übereinstimmung mit den sich verändernden vorherrschenden Typologien: als wild, primitiv, rückständig, traditionell, unterentwickelt, sich entwickelnd, die Dritte Welt, erst entstehend, failed. All dies sind verschiedene Labels, welche die Region als minderwertig ausweisen und als in dem lebend, was Historiker Dipesh Chakrabarty für andere postko-loniale Gesellschaften den „Warteraum der Geschichte” genannt hat (Chakrabarty 2000). Aus einer solchen imperialen Perspektive wird La-teinamerika gesehen – und sieht sich selbst – als immer aufholend, nie-mals einholend, immer nicht ganz, ständig von der Hinterbühne auf die Geschichte blickend, niemals ausreichend, immer nie genug.11

Im 20. Jahrhunderts, besonders nach der Dekolonisierung europäischer Kolonien in Afrika, Asien und der Karibik nach dem Zweiten Weltkrieg, wurde „Modernisierung” – allgemein verstanden als ein Entwicklungspro-zess durch Industrialisierung, Urbanisierung, Demokratisierung und Säku-larisierung – zum idealen Schlüssel der Zivilisation, nach dem man so lange gesucht hatte. Wie die meisten Nationen der Dritten Welt – eine Ka-tegorie, die zu dieser Zeit geschaffen wurde – strebten lateinamerikanische Länder weiterhin nach Modernität, trotz Bemühungen nach Eigenständig-keit oder danach, blockfrei zu sein, indem sie eines von zwei etablierten Modellen verfolgten: Kapitalismus, den alt vertrauten Weg der Ersten Welt, oder Sozialismus, die experimentelle Bewegungsbahn der Zweiten Welt. Jedoch erlangte nach einem langen Kampf zwischen diesen antago-

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11 Diese Form der Historisierung ist von literarischen und politischen Eliten in La-teinamerika seit dem 19. Jahrhundert beobachtet worden, darunter solche „Grün-der” lateinamerikanischen Nationalismus wie Simón Bolivar und José Martí. Chakrabarty hat in seiner aufschlussreichen Kritik des Historizismus die Idee des „noch-nicht” produktiv benutzt. Ebd.

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nistischen Modellen keines davon einen wirklichen Sieg. Obwohl der real existierende Sozialismus geschlagen war, erwies sich der Triumph des Kapitalismus am Ende des 20. Jahrhunderts als Pyrrhussieg. Zwar hatte dieses System eine verändernde historische Kraft und hat den großen Sek-toren erhebliche Vorteile beschert und in einigen Gegenden die Armut verringert. Doch dies geschah auf Kosten der Exklusion von Mehrheiten und der Abwertung der materiellen Grundlagen der Menschheit. Fast die Hälfte der Weltbevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze; die reichs-ten 20 Prozent konsumieren 82,5 Prozent der Reichtümer der Erde, wäh-rend die 20 ärmsten Prozent von 1,6 Prozent leben. In Angesicht des Kon-kurses beider Modelle sind die lateinamerikanischen kulturellen und poli-tischen Eliten ebenso wie die Bevölkerung im Allgemeinen, die es lange gewohnt war, die Gegenwart als eine Stufe in Richtung einer idealen Zu-kunft zu sehen, mit einem Mangel an Leitmodellen konfrontiert; sie be-gegnen einer Krise der „Zukünftigkeit”.

Jetzt, wo die Geschichte12 zurückgekehrt ist, blickt die Linke in allen lateinamerikanischen Ländern in eine ähnliche Zukunft, auch wenn diese durch unterschiedliche nationale Träume und unterschiedliche politische und ökonomische Bedingungen verkörpert werden. Ich untersuche hier die Gestalt13 dieser Zukunft, dieser gemeinsamen „Zukunftsform” anhand von fünf miteinander verknüpften Themen.

Aufgewühlte Gegenwart, geisterhafte Zukunft

Ich nenne diese Rubrik „Aufgewühlte Gegenwart, geisterhafte Zukunft”, um eine Art und Weise von Historizität, von in-der-Welt-sein, wachzuru-fen, derzufolge die Zukunft phantasmatisch erscheint. Als sei sie ein von Geistern und idealen Träumen aus der Vergangenheit bewohnter Raum, und die Gegenwart entfalte sich als dichtes Feld nervöser Agitation, stän-dig in sich vervielfachende Beschränkungen verflochten, als eine Anhäu-fung widersprüchlicher Tendenzen und Handlungen, die in keine klare Richtung führen. Trotz ständiger durch große Hoffnungen inspirierter Ak-tivität, trotz bedeutender Errungenschaften durchdringt die Gegenwart das alptraumhafte Gefühl festzusitzen, als wäre sie eingeklemmt oder bewege sich ohne voran zu kommen oder aber in die falsche Richtung. Sogar ____________________

12 Im Original groß geschrieben (History); vermutlich bezieht sich der Autor hier auf hegemoniale/kanonische Erzählungen von Geschichte. Anm. d. Übers.

13 Deutsch im Original; Anm. d. Übers.

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wenn Staaten es schaffen, wirtschaftliches Wachstum und das öffentliche Wohlfahrtswesen voranzutreiben, bleibt die ideale Zukunft flüchtig, be-droht von chronischen Problemen und neu entstehenden Hürden.

Unter dieser Form von Historizität erscheint die Gegenwart nicht nur als aufgerührt, sondern als ausdehnungsfähig; sie verlängert sich innerhalb andauernder Einschränkungen. Während sie die Raum-Zeit dessen besetzt, was man als die chronologische Zukunft fassen könnte, wird sie nicht selbst zur Zukunft, insofern als die Zukunft nicht als homogene Zeit ima-giniert wird, die bevorsteht, sondern als die antizipierte Epoche histori-scher Erfüllung. Da diese Zukunft nicht gleichgesetzt ist mit leerer kalen-darischer Zeit, sondern mit bedeutungsvoller Zeit erfüllter Geschichte, er-wacht sie als Verkörperung erneuerter Hoffnungen und wiederholter Auf-schiebungen. Als würde sie von widerspenstigen Umständen zurückgehal-ten, erscheint und versinkt diese antizipierte Zukunft immer wie eine Fata Morgana, ein geisterhaftes Versprechen, welches droht, stets eine aufge-schobene Gegenwart zu sein.

Nationalistische Führer/innen in Lateinamerika, inklusive die der Lin-ken, haben die versprochene Zukunft üblicherweise als „zweite Unabhän-gigkeit” definiert: Das Erreichen von wirtschaftlicher und kultureller Au-tonomie, von realer im Gegensatz zu formaler politischer Unabhängigkeit. In der Vergangenheit hatte dieses Ziel typischerweise eine historische Grundlage: Die Unabhängigkeitskriege, welche die koloniale Verbindung aufbrachen und die lateinamerikanischen Nationen als formal unabhängi-ge Republiken begründeten (mit bedeutsamen Ausnahmen wie Brasilien, wo die Unabhängigkeit mit politischen Mitteln 1822 erreicht wurde, als das Land eine Monarchie wurde und Kuba, das 1889 nach 30 Jahren Krieg gegen Spanien ein Protektorat der USA wurde und dem schließlich 1902 bedingte Unabhängigkeit gewährt wurde). Unterschiede in Bezug auf die politischen Bewegungsbahnen und Ziele reflektierend, haben linksgerich-tete Regierungen nun vielfältigere Gründungsgenealogien für die noch immer als Ziel verkündete „zweite Unabhängigkeit” geschaffen.

In einer aufschlussreichen Diskussion des Linksrucks in Lateinamerika macht Claudio Lomnitz eine Tendenz zur Etablierung einer bestimmten Gründungsvergangenheit für ihre gegenwärtigen Kämpfe unter allen lin-ken Regimes aus: Evo Morales platziert diese in Boliviens 500jährigem antikolonialen Widerstand; Hugo Chávez definiert sie mit der heroischen Führerschaft Bolívars in den Unabhängigkeitskriegen (gelegentlich blickt er auf die Schlacht des indigenen Führers Guaicaipuro gegen die spani-schen Kolonisierer im 16. Jahrhundert); Cuauhtemoc Cárdenas sieht sich als Nachfolger des Kampfes seines Onkels Lázaro Cárdenas für soziale Gerechtigkeit in Mexiko; Michelle Bachelet bejubelt Allendes Kampf für

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demokratischen Sozialismus; Néstor Kirchner hat seine eigene peronisti-sche Kultur proklamiert; Lula bringt sich mit Brasiliens Übergang zur Demokratie 1983 in Verbindung; und Tabare Vásquez unterstreicht Uru-guays sozialdemokratisches Erbe der 1920er Jahre. Zeitliche Skalen und historische Epochen nebeneinanderstellend konstatiert Lomnitz:

Bolivia, Venezuela, Mexico, Uruguay, Argentina, Brazil, Chile: 500 years, 200 years, 90 years, 80 years, 60 years, 40 years, 30 years. But also the pre-colonial era, the early republican moment, the popular regimes, and democratic socialism. These are some of the ghosts that haunt the new foundationalism. (Lomnitz 2006)

In Anbetracht einer Geschichte von partiellen Errungenschaften und stän-digem Hinausschieben, beseelen die Geister epischer Rebellionen, Revo-lutionen und republikanischer Nationenbildung weiterhin den andauern-den Prozess der Nationenbildung – der Konstruktion und der Rekonstruk-tion ihrer Gründung. Es ist offensichtlich, dass das stärker variierende Re-pertoire an Gründungsmomenten zurzeit die facettenreiche Natur der Lin-ken spiegelt. Während das Aufrufen solcher Gründungsmomente eine alte politische Angewohnheit ausdrücken mag, so verweist ihr bemüht wieder-holter Charakter auf eine unverkennbare Angst in Hinblick auf die Zu-kunft. In der Vergangenheit hatte die Inanspruchnahme bestimmter histo-rischer Momente als Gründungsmomente weniger als Grundlage zur Her-stellung fortschreitender Entwicklung gedient. Vielmehr dienten sie der Legitimation der andauernden Verfolgung der üblichen Ziele angesichts fortlaufend aufgeschobener Erfolge. Trotz der nun stärker variierenden Grundlagen ist ein ähnlicher Austausch von vergangenem Ruhm und auf-geschobenen Triumphen am Werk. Nur bleibt jetzt nicht mehr die er-wünschte Zukunft unerfüllt, sondern ihre Existenz selbst ist ätherisch ge-worden. In Anbetracht einer gegenstandslosen Zukunft muss die Linke sich konstant in der Vergangenheit verorten.

Die Beschwörung einer denkwürdigen Vergangenheit fixiert bestimmte Zeiten und Orte in der gegenwärtigen nationalen Vorstellung. Diese Form der Imagination der Nation durch die Territorialisierung einer Geschichte und die Historisierung eines Territoriums hilft die Verbindung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu rahmen.14 Die unsichere Lang-fristigkeit schrumpft, die Kurzfristigkeit dehnt sich aus, gräbt in der Ver-gangenheit um ihre Ikonen zu neuem Leben zu erwecken und verlängert

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14 An anderer Stelle habe ich Nicos Poulantzas Einsicht diskutiert, dass Nationen-bildung die Territorialisierung von Geschichte und die Historisierung eines Terri-toriums beinhaltet. Coronil (1996).

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sie in die kalendarische Zukunft. Genauso verschiebt sie die antizipierte historische Zukunft über einen stets zurückweichenden Horizont hinaus. In einer deutlichen Auseinandersetzung mit dem gegenwärtigen Linksruck in Lateinamerika bemerkt Boaventura de Sousa Santos die seltsame Rela-tion, die zurzeit in Lateinamerika zwischen Kurzfristigkeit und Langfris-tigkeit angenommen wird. Während die Langfristigkeit historisch der Ho-rizont der Linken gewesen ist, hat nun die überwältigende Dominanz des Kapitalismus das Gebiet der lateinamerikanischen Linken auf das Kurz-fristige beschränkt.15 Ohne klare alternative Vorstellungen von der Zu-kunft müssen ihre Kämpfe das Hier und Jetzt fokussieren. De Sousa San-tos zufolge macht diese Konzentration auf das Kurzfristige auch klassi-sche Debatten über Reform und Revolution weniger relevant, und er führt diese Situation auf den Mangel der Einbindung von Theorie und Praxis zurück. Ich sehe sie hingegen auch als eine Reflektion der außergewöhnli-chen strukturellen Zwänge innerhalb derer die Linke aufgekommen ist (de Sousa Santos 2004).

In meiner Wahrnehmung erfahren diese Zwänge eine eher merkwürdige Artikulation zwischen Praktiken und kurzfristigen wie langfristigen Idea-len; während linksgerichtete Regierungen langfristig sozialistische Ideale proklamieren, fördern sie kurzfristig Kapitalismus. Und während sie kurz-fristig Kapitalismus fördern, betrachten sie Kapitalismus langfristig als unrentabel. Wir haben also Kapitalismus für eine Gegenwart ohne Zukunft und Sozialismus für eine Zukunft ohne Gegenwart.

Wenn diese Spannungen andauern, machen sie die Gegenwart zu Treib-sand. Wir müssen uns weiterbewegen, um oben zu bleiben, hin- und her-gerissen zwischen dem Wunsch eine sichere Basis für alle zu finden und dem Instinkt zur Selbsterhaltung, der Individuen dazu nötigt, aus kol-lektiven Projekten auszusteigen. Die allgegenwärtige Rede von Korrupti-on innerhalb der derzeitigen Linken legt nahe, dass diese Spannung dazu führt, dass viele die Sprache des Allgemeinwohls nutzen, um eigennützige Bestrebungen zu kaschieren.

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15 Obwohl diese Beobachtung für jüngste Phasen der lateinamerikanischen Ge-schichte zutreffend ist, muss man bemerken, dass auch der liberale Gedanke An-spruch auf eine eigene Zukunft gefordert hat. Die Vorstellung der „langen Sicht” (long term) schuf Marshall (1890) um eine Zeit zu benennen, in der der Markt al-le Faktoren korrigieren und normale Preise definieren würde; für eine ausführli-che Darstellung dieses Punktes, vgl. die interessante Diskussion der öffentlichen Rhetorik der Makroökonomie in Guyer (2007).

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Natürlich verkörpern verschiedene Länder diese paradoxe Historizität auf unterschiedliche Weise. Meiner Typologie folgend befürworten die VEBo-Länder (typifiziert durch Venezuela, Ekuador und Bolivien) den Sozialismus offener und fördern entsprechende Strategien. Die BrAC-Länder (beispielhaft Brasilien, Argentinien und Chile) nehmen hingegen moderatere Positionen ein und konzentrieren sich auf Verteilungsstrate-gien und Sozialreformen. Da ein originär linkes Projekt weder mit Natio-nalisierungen gleichgesetzt werden kann (die es auf eine Art Staatskapita-lismus reduzieren) noch mit Verteilungsstrategien (die es auf eine Version des sozialdemokratischen Staates reduziert), bleibt die Aufgabe, ein gang-bares langfristiges Projekt zu entwickeln. Während VEBo-Länder ein in-novativeres politisches Projekt zu haben scheinen und BrAC-Länder scheinbar eher einem gewohnten Pfad folgen, sind beide Gruppierungen noch auf der Suche einen originären Weg in eine postkapitalistische Zu-kunft zu definieren.16 Auch wenn die linksgerichteten Staaten sich in diese Richtung bewegen mögen, deutet ihr Vertrauen auf die Verfolgung kom-parativer Vorteile darauf hin, dass sie bisher nicht in der Lage gewesen sind, dieser grundlegenden Herausforderung gerecht zu werden.

Jenseits von Reform und Revolution

Die recht vertraute Rhetorik von Reform und Revolution wird in Latein-amerika weiterhin eingesetzt, auch wenn immer unklarer ist, was diese Begriffe bedeuten. Angesichts der Typologie, die ich vorgeschlagen habe ist es offensichtlich, dass VEBo-Länder – deren Staaten üppige Bergbau-rendite kontrollieren, und die keine kürzliche Diktaturerfahrungen hinter sich haben – häufiger die Vorstellung von Revolution und Sozialismus aufrufen. Die BrAC-Nationen – die diversifizierte Ökonomien aufweisen und kürzlich Diktaturen hinter sich haben – folgen dem Beispiel Chiles und Brasiliens und einer Strategie der rhetorischer Mäßigung und der Klassenallianzen.

Während des 20. Jahrhunderts war „Revolution” zum Mantra nationa-listischer Diskurse geworden. Revolution bedeutete radikale Veränderung. Unabhängig davon, ob sie gemäßigt oder radikal waren, beanspruchten die meisten Regierungen in Lateinamerika für sich, revolutionär zu sein. Das ____________________

16 Ich benutze die Vorstellung von Postkapitalismus hier als eher vagen Begriff, um meine hypothetische zukünftige Gesellschaft zu evozieren, die auf den Grundla-gen des Kapitalismus aufbaut, aber dessen Begrenzungen überwindet.

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Label „Revolution” wurde häufig angewendet, um Radikale nicht zu för-dern, sondern einzubinden; das archetypische Beispiel dieses Gebrauchs ist die Partido Revolucionario Institucional (PRI; Institutionelle Revoluti-onäre Partei) in Mexiko. Die Partei gab sich den Namen der Mexikani-schen Revolution, um ihr radikales Potential zu domestizieren, indem sie ihren widersprüchlichen Namen zu einer treffenden Beschreibung des normalisierenden Ethos der Partei machte.

Für die radikale Linke bedeutet „Revolution” traditionell den Umsturz des kapitalistischen Systems; sie hat die Revolution für sich beansprucht und die Reformen für alle anderen. Weil der Umsturz des Kapitalismus aber die Eroberung des Staates erfordert, wurden mit „Revolution” zwei Prozesse beschrieben, und ihr zwei unterschiedliche Bedeutungen zuge-schrieben: Die Übernahme des Staates durch den bewaffneten Kampf und die Entfesselung radikalen staatlichen Wandels. Weil die kubanische Re-volution zum Modell dieser Sichtweise von „Revolution” wurde, dem vie-le Länder in den 1960er Jahren nacheiferten, wurden diese beiden Bedeu-tungen als Teil eines Prozesses gesehen. Der Militärsieg der Sandinisten gegen die Somoza-Dynastie 1979 und die Wahlniederlage des sandinisti-schen revolutionären Regimes ein Jahrzehnt später haben diesen Zyklus des bewaffneten revolutionären Kampfes scheinbar beendet.

Das chilenische Modell unter Salvador Allende (1970-73) bot eine al-ternative Sicht: „Revolution” nicht als die gewaltsame Übernahme von Staatsmacht, die durch Wahlen errungen werden sollte, sondern als radi-kale Transformation der Gesellschaft. Im Zuge des gegenwärtigen Links-rucks ist diese Sicht vorherrschend geworden. Das Weltsozialforum schlägt vor, dass Revolution, auch die Machtübernahme, durch demokrati-sche Mittel erfolgen solle. In Mexiko begann die Zapatist/innenbewegung 1994 einen bewaffneten Aufstand von symbolischer Dimension, legte aber bald die Waffen nieder und machte deutlich, dass ihr Weg der politische Kampf war, nicht um den Staat zu übernehmen, sondern um einen Raum für verschiedene Formen von Politiken auf lokaler und nationaler Ebene zu schaffen. Auf Grundlage des politischen Projekts der Zapatist/innen, die die Gesellschaft ändern wollen, indem sie die sozialen Beziehungen verändert ohne den Staat zu übernehmen, hat John Holloway behauptet, dass es zu einer wahrhaft revolutionären Politik gehört, eine neue Welt zu schaffen indem man die Gesellschaft eher von innen verändert als durch den Staat (Holloway 2010).

Dennoch bleibt für die meisten Linken der Staat im Zentrum revolutio-närer Politik. Aber selbst in diesem Fall herrscht keine Übereinstimmung darüber, was Politik radikal macht. Chávez hat den Staat in den Haupt-agenten der Revolution verwandelt, zunächst durch staatlich herbeigeführ-

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te Reformen, die von einem sui generis Modell des Dritten Weges inspi-riert war, und nach 2005 durch das, was er den „Sozialismus des 21. Jahr-hunderts” nannte.17 Während zwar der Staat der Hauptagent revolutionä-ren Wandels in Venezuela ist, ist [war] Chávez das Zentrum des Staates, indem er ungeniert die grundlegenden Entscheidungen fällt[e] und seinem eigenen Ziel widersprach, die „partizipative Demokratie” zu fördern. Ge-nauso wie er 2005 in Porto Alegre stolz erklärte, er habe allein entschie-den, dass Venezuela sozialistisch sein solle, prahlte er 2007 damit, dass er die sozialistisch inspirierte Verfassungsreform, die er vor der Nationalver-sammlung präsentierte, im Alleingang geschrieben habe, in seinen Worten mit puño y lettra (in seiner eigenen Handschrift).

Am anderen Ende des politischen Spektrums hat die Concertación-Regierung18 in Chile angestrebt, einen Konsens auf Grundlage von Ent-wicklungszielen zu finden. José Insulza, der der Concertación-Regierung zehn Jahre lang angehörte, hat diesen Ansatz, der ideologische Labels vermeidet und sich auf einzelne Strategien konzentriert „Sozialismus durch Aufzählung” genannt. Er erklärte mir: „Wir konzentrieren uns lieber auf Wohnen, Bildung, Gesundheit und so weiter. Wir brauchen das Label ‚Sozialismus’ nicht. Wir nennen das ‚Sozialismus durch Aufzählung’.”19 Dies hilft zu erklären, warum Präsidentin Michelle Bachelet ihre große Beliebtheit (84 Prozent) nicht auf den Concertación-Kandidaten Eduardo Frei übertragen konnte, und warum die Wahl des konservativen Milliar-därs Sebastián Piñera weitgehend als „effizienterer” Weg der andauernden „Modernisierung” Chiles wahrgenommen wurde und nicht als Austausch von Wachstumsmodellen.20

Diese unterschiedlichen Strategien verwischen die Grenzziehungen zwischen Reform und Revolution. Boaventura de Sousa Santos zufolge ____________________

17 Nach Hugo Chávez’ Tod im März 2013 trat Nicolás Maduro der Vereinigten So-zialistischen Partei am 14. April 2013 die Präsidentschaft Venezuelas an. Anm. d. Übers.

18 Die Concertación de Partidos por la Democracia (Koalition der Parteien für die Demokratie) ist ein Bündnis von Mitte-Links-Parteien in Chile. Es ist aus dem Oppositionsbündnis Concertación de Partidos por el No hervorgegangen, das beim Plebiszit von 1989 für freie Wahlen eintrat (und gegen eine Verlängerung der Diktatur, deshalb „No”). Seit dem Ende der Militärdiktatur unter Augusto Pinochet kamen mit Patricio Aylwin, Eduardo Frei, Ricardo Lagos und Michelle Bachelet bis zur Präsidentschaft von Sebastián Piñera alle chilenischen Präsiden-ten aus dem Lager der Concertación. Anm. der Übers.

19 José Insulza, Interview mit dem Autor, University of Michigan, Oktober 2006. Übersetzung JR.

20 Anm. d. Übers.: Michelle Bachelet wurde 2013 wiedergewählt.

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„gibt es reformistische Prozesse, die den Anschein haben, revolutionär zu sein” in Lateinamerika (sein Beispiel ist Venezuela unter Chávez), „revo-lutionäre Prozesse, die den Anschein haben, reformistisch zu sein” (sein Beispiel sind die Zapatist/innen) und auch „reformistische Prozesse, die noch nicht einmal den Anschein haben, reformistisch zu sein” (sein Bei-spiel ist die Arbeiterpartei PT in Brasilien) (Santos (2004: 438-39). Unab-hängig von der Aussagekraft seiner Beispiele sind im gegenwärtigen Kon-text die Konzepte von Reform und Revolution, wie unabdingbar sie auch immer in ideologischen Auseinandersetzungen sein mögen, als Hand-lungsanleitungen und als analytische Kategorien verstärkt unzureichend geworden.

Man kann diese Umstände als Spiegel eines Abschlusses radikaler Op-tionen deuten, aber auch als Eröffnungsangebot für neue Formen, die Zie-le und sozialen Logiken eines grundlegenden Wandels zu imaginieren. Es ist jetzt weniger akzeptabel, fragwürdige Ziele im Namen höherer Ziele zu rechtfertigen. Stattdessen existiert ein wachsender Bedarf, alltägliche poli-tische Handlungen in Einklang mit höheren Werten zu bringen, also die Gegenwart die Zukunft ankündigen zu lassen. Demokratie wird zuneh-mend nicht als die schützende Hülle des politischen Lebens bewertet, son-dern als dessen Grundlage, nicht als Mittel von Revolution, sondern als ihr Ziel. Im Spannungsfeld mit historizistischen Teleologien ist es nun mög-lich, die Gegenwart nicht als Stufe auf dem Weg in die vorherbestimmte Zukunft der Geschichte zu denken, sondern als ihr notwendiger Grund. Wenn nicht in Form der Geschichte, die wir wollen, dann in Form der Ge-schichte, die wir haben.

Jenseits des einzelnen revolutionären Subjekts

Der jüngste Linksruck in Lateinamerika hat durch die Handlungen einer recht großen Vielfalt an Akteur/innenn stattgefunden, die als Ikonen der „Linken” anerkannt werden. Dies steht im Unterschied zu eine histori-schen Tradition, in der die Linke mit politischen Parteien oder Organisati-onen gleichgesetzt wurde, die für sich in Anspruch nahmen, Arbei-ter/innen und Bauern/Bäuerinnen als Hauptagenten des revolutionären Wandels zu vertreten. Auch wenn dies auf alle Länder während des Links-rucks zutrifft, haben in VEBo-Ländern bestimmte Sektoren oder Individu-en die hauptsächliche oder komplette Führung des Prozesses übernom-men. In den BrAC-Ländern gab es hingegen die Tendenz, Allianzstrate-gien zwischen konkurrierenden Sektoren zu schaffen.

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In den letzten 30 Jahren, als chronische und neue Probleme sich in Latein-amerika vervielfachten – teilweise wegen der Schließung staatlich prote-gierter Firmen, der Ausdehnung der informellen Ökonomien und heftiger Migration und Vertreibung – entstand in Lateinamerika eine allgemeine Verdrossenheit über die traditionellen politischen Parteien und über die Politik an sich. In diesem Kontext kam neuen sozialen Bewegungen eine bedeutende Rolle in der Politik zu, so etwa den Zapatist/innen in Mexiko, der Landlosen/Arbeiterbewegung (MST) in Brasilien, den Piqueteros (Ar-beitslosen) in Argentinien und den indigenen und Afro-stämmigen Bewe-gungen in Ekuador, Bolivien, Kolumbien und Peru. Obwohl diese Bewe-gungen für bestimmte Forderungen wie Land, Arbeit und Anerkennung gekämpft und so das existierende politische System reaktiviert haben, for-derten sie auch die gängige Politik heraus. Obwohl die meisten traditionel-len Parteien an Macht verloren, wurden gleichzeitig neue Parteien so wichtig, dass sie in zwei Fällen durch Wahlen die Präsidentschaft erran-gen: Die PT (Arbeiterpartei) in Brasilien und die MAS (Bewegung zum Sozialismus) in Bolivien. Obgleich diese Parteien einen einzelnen sozialen Sektor in ihrem Kern haben (Arbeiter/innen und Kokabauern/bäuerinnen), sind sie sozial heterogen und betrachten diesen Kern als universelle Klas-se. Sie sind durch mehr-Klassen-Allianzen in der Regional- sowie in der Nationalpolitik an die Macht gekommen. Es sollte nicht vergessen wer-den, dass, bevor Lula 2002 die brasilianische Präsidentschaftswahl durch Bündnisse mit Wirtschaftssektoren gewann, die PT durch breite politische Bündnisse wichtige regionale Wahlsiege erzielt hatte, wie etwa in São Paulo und Porto Alegre.

Die linksgerichteten Präsident/innen, die mit Unterstützung dieser Be-wegungen und Organisationen gewählt wurden, repräsentieren ein breit gefächertes Spektrum an Persönlichkeiten, sozialer Herkunft und politi-scher Erfahrung. Unter ihnen finden sich zwei Frauen, ein indigener Staatsführer, ein Gewerkschafter, ein ehemaliger Priester und ein Mili-täroffizier niedereren Rangs und Stands. Somit spiegelt diese Anordnung an Präsident/innen ein außergewöhnlich breites Spektrum der lateinameri-kanischen Bevölkerung wieder. Ihre Regierungskonzepte weichen vonei-nander ab, von Chávez’ Versuch durch die monologische Stimme des Staates eine uniforme Gesellschaft zu schaffen bis zum heteroglossen Pro-jekt, das José Mujica, der neue Präsident von Uruguay, ankündigte. Als Produkt einer gespaltenen Gesellschaft hat Chávez auf dieser Spaltung aufgebaut und sie in eine Kluft zwischen revolucionarios und escuálidos (revolutionären und „Elendigen”, die Bezeichnung, die Chávez auf seine Gegner anwendet) verwandelt. Im Jahr 2005 hat er diese Spaltung zu ei-nem Todeskampf zwischen zwei Systemen gemacht: zwischen Sozialis-

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mus und Kapitalismus. Sein Slogan für die Revolution in dieser neuen Phase ist [war] patria, socialismo o muerte (Vaterland, Sozialismus oder Tod).21 Im Gegensatz dazu rief der uruguayische Präsident Mujica in sei-ner Antrittsrede das Ziel una patria para todos y con todos (ein Vaterland für alle und mit allen) aus. Damit wies er beachtlicher Weise seine frühere radikale Position als Tupamaro-Anführer zurück (Tupamaros waren eine urbane Guerilla-Organisation in den 1960e rund 1970er Jahren), hielt aber am Ideal einer gerechten Gesellschaft fest.

Obgleich die Suche nach einem einzelnen revolutionären Subjekt zu-rückgegangen ist, haben einige Linksgerichtete diese Rolle vom Proletari-at auf das pobretariado übertragen, ein Konzept des brasilianische Befrei-ungstheologen Frei Breto zur Beschreibung des größten Sektors von La-teinamerika, den Marginalisierten und Ausgeschlossenen (pobretariado ist ein kluges Wortspiel, denn pobre bedeutet auf Spanisch „arm”) (Colussi 2009). Die Tendenz in der Region, besonders in den BrAC-Ländern, geht aber in Richtung der Anerkennung einer Vielfalt von Agenten der Verän-derungen, als gäbe es eine geheime Übereinkunft darüber, dass es, um die Welt zu verändern nun eines Bündnisses zwischen all denjenigen in der Welt bedürfe, die Not leiden. In allen Ländern wird die Ausbeutung der Arbeitskraft, in einem Kontext, in dem die Mehrheit der Bevölkerung aus der formalen Ökonomie ausgeschlossen ist, nicht mehr als Hauptfaktor für die Formierung revolutionärer Subjekte gesehen. Bündnisse werden nun zwischen Subjekten die von vielfältigen Formen der Herrschaft betroffen sind gesucht, nicht nur von ökonomischer Ausbeutung, sondern auch von politischer Unterordnung und Diskriminierung.

Neue politische Akteur/innen nehmen nun in Lateinamerika an der öf-fentlichen Debatte teil und definieren sie sogar. Für Marisol de la Cadena ist „die Präsenz regionaler indigener Bewegungen als konstituierendes Element dieser Transformationen” für diesen Linksruck „beispiellos”; für sie bedingen diese Prozesse „plurale Politiken in einem politischen Pluri-versum” (de la Cadena 2010: 334; 356). Carlos de la Torres’ erhellende Analyse neuer Populismen in Lateinamerika hat die spezifischen Span-nungen beleuchtet, die diesen „pluralen Politiken” innewohnen, wie etwa der Konflikt zwischen der zentralisierenden Politik Rafael Correas und

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21 Es sollte jedoch zur Kenntnis genommen werden, dass Chávez trotz Spaltung der Bevölkerung in zwei antagonistische Gruppen, das revolutionäre Lager als plural, als aus vielen sozialen Sektoren gebildet versteht [verstand], so lange sie mit den Zielen der Revolution wie vom Staat formuliert übereinstimmen.

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den Forderungen nach Autonomie der indigenen Gemeinschaften in Ekuador (de la Torre (2010).22

Die immer vielfältigeren Akteur/innen der Veränderung haben die Konzepte historischen Fortschritts ausgeweitet und die Hegemonie von li-beralen Konzepten von Nation als entweder monokulturelle Mestizenge-meinschaft oder multikulturelles Gemeinwesen untergraben, insbesondere dann, wenn zu diesen indigene Sektoren zählen. Es ist nun möglich ge-worden, Plurinationalismus und Interkulturalität als nationale Ideale ein-zubringen, insbesondere in den Andenregionen mit großen indigenen Be-völkerungen. Diese Veränderungen haben die Domäne des Politischen erweitert und Diskussionen über die Legitimität kultureller Vielfalt in den öffentlichen Raum gebracht, die zuvor auf intellektuelle Kreise beschränkt waren. Die Verfassungen von Ekuador und Bolivien von 2008 definieren diese Nationen als plurinationale Gesellschaften, garantieren ihren vielfäl-tigen Gemeinschaften vielfache Rechte, erkennen den Wert des interkultu-rellen Dialogs an, und verschaffen im Fall Ekuadors zum ersten Mal der Natur als politischem Akteur Verfassungsrechte. Im Laufe dieser turbu-lenten Phase generieren konkurrierende Prinzipien und Lebensvisionen akute politische Spannungen, aber sie öffnen die Politik auch für noch nie dagewesene Möglichkeiten.

Doppelter historischer Diskurs

Im Bereich des Politischen ist es ist üblich zu denken, doppelter Diskurs beinhalte Duplizität und beschreibe eine Lücke zwischen Forderungen und Praxis, zwischen dem Gesagten und dem Gemeinten. Gegenwärtige linke Politik in Lateinamerika ist sicherlich nicht frei von dieser üblichen Form trügerischen politischen Diskurses. In jedem historischen Kontext werden prinzipielle Forderungen von eigennützigen Praktiken konterkariert. In neokolonialen Kontexten gibt es jedoch spezifische Formen des doppelten Diskurses, welche die Spannung zwischen nationaler Unabhängigkeit und internationaler Abhängigkeit widerspiegeln. Diese Spannung erzeugt „ei-nen doppelten Diskurs nationaler Identität, welcher der Kluft zwischen dem Anschein nationaler Souveränität und dem andauernden Griff inter-nationaler Unterordnung Ausdruck verleiht und sie organisiert.” (Skurski/ Coronil 1993: 25) Gegenwärtig ist jedoch meiner Meinung nach eine

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22 Übersetzung JR.

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merkwürdige Art des doppelten Diskurses charakteristisch, der anhand von Erzählungen über die Gegenwart und die Vergangenheit Darstellun-gen erzeugt, die gegenseitig widersprüchlich aber wahr sind, da sie sich auf unterschiedliche zeitliche Horizonte beziehen. Da er auf der Spannung zwischen zwei zeitlichen Erzählungen des Kurzfristigen und des Langfris-tigen beruht, nenne ich ihn einen doppelten historischen Diskurs.

Es geht mir dabei nicht um die Aufrichtigkeit von Überzeugungen oder deren Beziehung zu Praktiken, sondern um die spezifischen strukturellen Beziehungen, die es ermöglichen, dass diese konflikthaften Überzeugun-gen und Praktiken nebeneinander existieren ohne notwendigerweise Täu-schungsabsicht und Betrug widerzuspiegeln. In einer aufschlussreichen Analyse des gegenwärtigen Linksrucks in Lateinamerika stellt Atilio Borón eine „Disjunktion” (Entkopplung) zwischen „der Konsolidierung des Neoliberalismus im kritischen Gebiet der Wirtschaft und der Politik” und ihre sichtbare „Schwächung in den Gebieten der Kultur, der öffentli-chen Wahrnehmung und Politik” fest (Borón 2004: s.p.). Er sieht diese Entkopplung als Reflektion des Mangels an einem alternativen ökonomi-schen Programm. Ich würde diese akute Beobachtung modifizieren und vorschlagen, dass „die Konsolidierung im kritischen Bereich der Ökono-mie” des Neoliberalismus zumeist kurzfristig erfolgt, denn als ökonomi-sches Projekt der Zukunft wird er auch abgelehnt. Diese Entkopplung be-steht erst zwischen zeitlichen Rahmungen und dann zwischen Domänen. Die Wahrnehmung, dass es hinsichtlich des ökonomischen Kerns keine unmittelbare Alternative zum Neoliberalismus gibt, hat zur Vervielfälti-gung dieser Form von doppeltem Diskurs geführt, der aus Erzählungen besteht, die einander widersprechen, aber alle wahr sind in Bezug auf ihre entsprechende Historizität. Die Antrittsrede des uruguayischen Präsiden-ten José Mujica von 2010 bringt diese Entkopplung klar zum Ausdruck: „Wir werden im Bereich der Makroökonomie orthodox sein. Dies werden wir kompensieren, indem wir bezüglich anderer Aspekte heterodox, inno-vativ und wagemutig sein werden.” In einer früheren Aussage hatte er ver-sichert „Wir haben viele Dinge zu tun vor dem Sozialismus” (tenemos muchas cosas que hacer antes del socialismo) (Chávez 2004: 172).23 Mujica war vielleicht aufrichtiger als andere linksgerichtete Präsidenten, die auch behaupteten, Kapitalismus sei schlussendlich unrentabel, die aber im Hier und Jetzt danach streben, ihre Einnahmen durch kapitalistische Produktion zu maximieren. Dieses konflikthafte Zusammenspiel zwischen

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23 Übersetzung des Autors. Deutsch: JR.

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unterschiedlichen zeitlichen Skalen macht die Gegenwart besonders auf-geregt und nebulös. Sie ist ein Raum entspannender Unternehmungen, aber auch ruchloser Formen von Doppelzüngigkeit und Korruption. Es gibt wahrscheinlich kein sinnbildlicheres Beispiel für diese Mischung aus Unmoral und Betrug als die Entdeckung von rund viertausend Containern, die mit mehr als hunderttausend Tonnen importierten Lebensmitteln ge-füllt im Juni und Juli 2010 in Venezuela überall in den nationalen Häfen verrotteten. Dies war das Ergebnis der Ungeeignetheit sowie vor allem des profitorientiertem Handelns von Wirtschaftsnetzwerken, die auf unter-schiedlichen Ebenen des venezolanischen Staates operieren.

Auch auf die Gefahr hin, ein komplexes Phänomen zu vereinfachen schlage ich vor, dass in diesen Ländern Kurzfristigkeit und Langfristigkeit verschieden artikulierte werden. In den VEBo-Ländern, wo sozialistische Ideale ständig proklamiert werden, herrscht eine enge Verknüpfung zwi-schen kurz- und langfristigem auf politischer Ebene, aber eine starke Trennung zwischen beidem auf ökonomischer Ebene. In BrAC-Ländern, wo sozialistische Ideale abgeschwächt werden, bekräftigen Politik und Wirtschaft sich auf kurze Sicht tendenziell gegenseitig, während sie die lange Sicht in eine immer weniger sichtbare Zukunft verschieben.

Dieser doppelte historische Diskurs drückt ein verdrehtes Paradoxon aus. Wie ich schon angedeutet habe, hat angesichts der Lage Lateinameri-kas in der doppelten internationalen Teilung von Arbeit und Natur gegen-wärtig die Verfolgung von Devisen bedeutet, dass in der Praxis alle latein-amerikanischen Staaten – ob rechts- oder linksgerichtet – komparative Vorteile innerhalb eines neoliberalen Rahmens verfolgen. Da Lateiname-rikas hauptsächlicher komparativer Vorteil seine enormen Naturressour-cen sind, platziert die Maximierung von Devisen alle lateinamerikani-schen Staaten auf der gleichen wirtschaftlichen Ebene – der Abhängigkeit von Rohstoffen.

Dieses grundlegende ökonomische Fundament droht das radikale Po-tential des Linksrucks zu unterspülen und alle leitenamerikanischen Staa-ten, ob sie als Linke oder der Rechte bezeichnet werden, sich einander über lobbyistische wirtschaftliche Politiken [rent-seeking economic poli-cies] anzunähern. Kolumbien zum Beispiel, welches eine relativ vielfälti-ge Exportstruktur auf der Grundlage von Agrarprodukten hatte, ist unter dem konservativen Präsidenten Alvaro Uribe zu einer Bergbaunation ge-worden – Öl und Mineralien stellen nun über 60 Prozent des Exports dar. Obwohl Analytiker Brasilien und Venezuela allgemein an den entgegen gesetzten Enden des reformistischen und revolutionären Spektrums plat-zieren, sind diese Länder in gleichem Maße versessen darauf, ihre Ölpro-duktion auszuweiten. Chile, einst das paradigmatische neoliberale Modell

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in Lateinamerika, bietet ein aufschlussreiches Beispiel: während die Wirt-schaft an konventionellen Standards gemessen tatsächlich bedeutende Wachstumsraten erreicht hat, erfolgte diese Expansion auf Kosten einer asymmetrischen Produktionsstruktur, die auf der Ausbeutung von weni-gen Naturressourcen beruht. Wie die Wahl Sebastian Piñeras 2010 andeu-tet, hat der Konsens zwischen konkurrierenden politischen Parteien bezüg-lich dieser wirtschaftlichen Grundlage die Unterschiede zwischen rechter und linker Politik verringert. Wenn diese Analyse zutrifft, könnten die linksgerichteten Staaten nun in einer ironischen Umkehrung im Streben nach Reichtum die Arbeit des Kapitals verrichten.

Dennoch wird dieser doppelte historische Diskurs, da er Teil eines plu-ralen diskursiven Feldes ist, von anderen Stimmen modifiziert und her-ausgefordert. Dies ist ein Moment der Heteroglossie. Einige dieser Stim-men, darunter gelegentlich die des Staates, bieten Wirtschaftsmodelle an, die ökologisch vernünftiger und sozial harmonischer sind. Obgleich die Vervielfältigung von Stimmen im politischen Feld verwirrend und kon-fliktreich sein mag, bietet sie die Möglichkeit unerwarteter Vorstellungen und origineller Zukunftsvisionen.

Radikale Demokratie

In der Vergangenheit war Gleichheit das Schlüsselwort in globalen Kämp-fen für Demokratie: die Verfolgung von Gleichheit von Bürger/innen vor dem Gesetz. Marxist/innen haben die bürgerliche Demokratie als formell universal aber inhaltlich partiell kritisiert. Wie Marx argumentiert hat, reicht es nicht aus, vor dem Gesetz gleich zu sein – ein allgemeines Recht, das postuliert, dass niemand unter einer Brücke schlafen kann, betrifft nur diejenigen, die keine angemessene Unterkunft haben. Die sozialistische Demokratie strebte danach, sich von formaler Gleichheit in Richtung von wirklicher sozialer Gleichheit zu bewegen. Doch die sozialistische Demo-kratie real existierender Sozialismen hat ihre eigenen staats-zentrierten Ungleichheiten produziert und der Gesellschaft eine einzige Stimme auf-gezwungen.

Die gegenwärtigen Kämpfe in Lateinamerika bauen auf die weltweiten Errungenschaften und Begrenzungen bürgerlicher und sozialistischer De-mokratien auf. In mancherlei Hinsicht repräsentieren sie eine Kontinuität dieser vergangenen Schlachten und reproduzieren bekannte Machtmodi und Entwicklungskonzepte. Es wäre aber ein Fehler, diese komplexe Zeit auf politics as usual und auf das Bekannte zu reduzieren. Politische Stra-tegie nimmt nun umfangreiche Formen an unterschiedlichen Orten an.

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Obgleich ihre Auswirkungen kurzlebig oder ko-optiert sein mögen, hat die Handlungsfähigkeit von neuen politischen Akteur/innenn und die Kraft neuer Imaginarien die politische Szene in Lateinamerika schon verändert. Dieser Linksruck hat den öffentlichen Raum reaktiviert und die Politik selbst transformiert.

Die größte Errungenschaft ist meiner Meinung nach gewesen, dass jetzt der Demokratie als politische Form, die der ständigen Erweiterung und Veränderung bedarf, Wert beigemessen wird; dies war auf unterschiedli-che Weise die gemeinsame Leistung verschiedener lateinamerikanischer Linker in allen Ländern sowohl durch inländische Bestrebungen als auch durch regionale Initiativen und Institutionen wie ALBA, einer Allianz, die den US-Amerikanischen Bestrebungen nach Freihandelsabkommen etwas entgegenzusetzen versucht. Da sie stets neue Bereiche des Soziallebens umfasst, benennt Demokratie nun eher einen Prozess als eine politische Hülle oder institutionelle Ordnung; als „permanente Demokratie” hat sie die „Revolution” als Schlüsselbegriff für die Linke derzeitig abgelöst.24 Wenn diese Errungenschaft auch das Ergebnis vieler Kämpfe ist, war ihr vielleicht bedeutsamster Ausdruck die Anerkennung von Differenz als po-litisches Prinzip. In vielen Ländern, insbesondere in VEBo-Ländern, kämpfen Menschen nun nicht nur für die Anerkennung der gleichen Rech-te der Bürger/innen vor dem Gesetz, sondern für unterschiedliche Konzep-te von Staatsbürgerschaft und Gesetz. Diese Forderungen werden häufig von unterschiedlichen epistemologischen und kosmologischen Positionen aus angestoßen und binden nicht nur eine Kritik des westlichen Liberalis-mus, sondern auch der westlichen Modernität selbst ein; schlechthin bein-halten sie nicht nur den Kampf um klare Rechtsforderungen, sondern auch um das Recht unterschiedliche Lebensauffassungen zu haben. Dies war der Hauptbeitrag indigener Bewegungen, von den Zapatist/innen in Mexi-ko bis zu denjenigen in den Anden-Nationen. Diese Bewegungen halfen, das nationale Imaginäre neu zu definieren – nachdem die politischen Eli-ten ein langes Jahrhundert lang homogenisierende Projekte veranlasst hat-____________________

24 Das Konzept „permanente Demokratie” (permanent democracy) hat Juan Carlos Monedero von Boaventura de Sousa Santos entlehnt um ein Argument für De-mokratie als sich stets ausdehnenden und inklusiven Prozess zu entwickeln (Mo-nedero 2009: 221-75). Monederos Werk spiegelt seine Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Sozialtheorie wieder, sowie seine jüngste Erfahrung in Vene-zuela als ein zentrales Mitglied des Centro Miranda, einem linken unter Chávez eingerichteten Think Tank; er verließ dieses Zentrum nach einem eher erfolglo-sen Versuch, eine konstruktive Kritik an Chávez’ bolivarianischer „Revolution” von innen zu entwickeln.

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ten, welche westliche Fortschrittsvorstellungen befürworteten. Die Bewe-gungen trugen dazu bei, die Werte indigener Gemeinschaften einzubezie-hen und die Nation als eine plurinationale Gemeinschaft zu entwerfen, wie sie in den neuen Verfassungen in Bolivien und Ekuador unterstützt wird. Sogar in Ländern wo der Kampf um Anerkennung von Differenz eine ge-ringere Rolle gespielt hat, wie in Chile, Brasilien oder Venezuela, hat die Aufwertung von Diversität dennoch das politische Feld verändert.

Diese Kämpfe haben die Akteur/innen, Agenden und Konzepte von Demokratie erweitert. Sie ziehen aus vielen lokalen Erfahrungen Kraft. Ebenso wie kein einzelner sozialer Akteur mehr als Agent der Geschichte repräsentiert werden kann, ohne auf erheblichen Widerstand von anderen zu stoßen, kann kein einzelnes Konzept von Demokratie ohne vorherige Debatte Hegemonie erlangen. Der Kampf für Demokratie bringt nun einen Kampf über Demokratie mit sich. Wie Boaventura de Sousa Santos es ausgedrückt hat, verfolgen politische Kämpfe nicht länger Alternativen zur Demokratie, sondern eine alternative Demokratie (Vgl. Santos 2004).

Die Währung des Gegenwärtigen

Wenn die Linke in der Vergangenheit ein Monopol für die Zukunft für sich behaupten konnte, so kann sie jetzt nicht mehr als ein unsicheres Bild der Zukunft anbieten. Doch hat eben dieser Mangel neue Räume, zum imaginieren und zum experimentieren eröffnet. Auch wenn die Zukunft nicht offen ist, so bietet sie doch Öffnungen. Und auch wenn das Endziel nicht klar ist, so ist es doch die Richtung: hin zu Gleichheit, Freiheit, Diversität und sozialer und ökologischer Harmonie. Die Linke hat keine (Land)Karte, aber sie hat einen Kompass.

Lateinamerikas Krise der Zukünftigkeit umfasst eine noch grundlegen-dere Herausforderung. Nicht nur ist die imaginierte Zukunft der Linken unsicher, ihre reale zukünftige Existenz steht in Frage. Der Linksruck mag sich als nur temporär erweisen – eher als ein vorübergehender Moment als eine dauerhafte Errungenschaft. Zumindest auf der Ebene des National-staates scheint die Region sich nach Rechts zu bewegen. Eine kritische Wahl deutet auf einen Richtungswechsel hin: der Sieg des Milliardärs Se-bastian Piñera 2010 in Chile trotz Michelle Bachelets 84-prozentiger Beliebtheit.25 Sogar Fidel Castro, der sicherlich ein kluger Beobachter ist,

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25 Anm. d. Übers.: Michelle Bachelet wurde 2014 erneut gewählt.

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und keiner, der anfällig dafür ist, negative Prognosen abzugeben, hat er-klärt, dass „es in Lateinamerika sechs bis acht rechte Regierungen, Ver-bündete des Imperiums, geben wird, bevor Obama sein Mandat beendet.” (Castro 2009)

Andererseits ist mein Gefühl, dass auch wenn die Rechte lokale Wahl-siege erreichen mag, die Linke es geschafft hat, das Terrain neu zu defi-nieren, auf dem sich alle politischen Sektoren bewegen müssen. In Latein-amerika bekräftigen Gegner der Linken jetzt wie in Europa viele der Prin-zipien und Politiken der Linken. Wie Steven Erlander in der New York Times beobachtete,

Europe’s center-right parties have embraced many ideas of the left: generous wel-fare benefits, nationalized health care, sharp restrictions on carbon emissions, the ceding of some sovereignty to the European Union. But they have won votes by promising to deliver more efficiently than the left, while working to lower taxes, improve finiancial regulation, and grapple with aging populations.

Er zitiert Michel Winockas, der argumentiert, dass unter Staatsfüh-rer/innen „welche die Exzesse des ‚angelsächsischen’ Modells des Kapita-lismus verdammen, während sie die schützende Macht des Staates prei-sen”, wie Frankreichs Nicolas Sarkozy oder Angela Merkel in Deutsch-land „der Gebrauch sozialistischer Ideen ... zum Mainstream geworden ist” (Steven 2009).26 In Lateinamerika hat die Opposition der Linken jetzt ebenfalls deren grundlegende Prinzipien einbezogen. Während eindeutig antagonistische Pole in der Politik fortbestehen, die tiefe soziale Un-gleichheiten und ideologische Differenzen widerspiegeln, sind die Grenz-ziehungen zwischen der traditionellen „Rechten” und „Linken” weniger scharf. In Lateinamerika wäre es jetzt schwer, gewählt zu werden – und an der Macht zu bleiben – ohne das Volk als Souverän anzuerkennen und weniger als nominale Aufmerksamkeit auf die verstärkt vielfältigen For-derungen der popularen Sektoren zu richten, für welche die Linke ge-kämpft hat.

Einige dieser Forderungen sind sehr elementar und können von Regie-rungen unterschiedlicher politischer Orientierungen adressiert werden, an-dere aber sind ziemlich radikal. Auch wenn einige der utopischsten Forde-rungen zurzeit unrealistisch erscheinen mögen, drücken sie doch Hoff-nungen und Wünsche aus, welche die Entfaltung gegenwärtiger Politik beeinflussen. Selbst ein so gemäßigter Denker wie Max Weber erkannte utopische Bestrebungen als unabdingbar für das politische Leben. Wie er

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26 Deutsche Übersetzung: JR.

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sagte, „ist es ja durchaus richtig, und alle geschichtliche Erfahrung bestä-tigt es, dass man das Mögliche nicht erreichte, wenn nicht immer wieder in der Welt nach dem Unmöglichen gegriffen worden wäre.” (Weber 1978: 225)27 Kürzlich hat der Philosoph Alain Badiou die Notwendigkeit betont, nach dem zu streben, was unmöglich scheint. Da der Kapitalismus, verstanden als ein sich selbst ausdehnendes von Profitmaximierung ange-triebenes System, global unrentabel ist, weil er Mehrheiten ausschließt, das Gemeinschaftsleben degeneriert und die natürlichen Lebensgrundla-gen der Menschheit aushöhlt, sei es unabdingbar, für eine alternative Welt zu kämpfen. Er beantwortet diese Notwendigkeit indem er anbietet, was er „die kommunistische Hypothese” nennt. Für ihn ist diese Hypothese kein utopisches Ideal, sondern eine Ansammlung „intellektueller Praktiken, die sich immer auf unterschiedliche Art und Weise realisieren” in unter-schiedlichen historischen Situationen. In einer anderen Auflistung präsen-tiert er diese Hypothese als „was Kant eine Idee mit einer ordnenden Funktion genannt hat, kein Programm” (Badiou, 2008: s.p.).28 Es ist be-merkenswert, dass diese Hypothese für Badiou in fragmentarischer Form in Kämpfen für Gleichheit seit der Antike präsent ist, aber mit keinem Modell aus der Vergangenheit identifiziert werden muss. Dies gilt sogar für diejenigen, die für sich beansprucht haben, ein kommunistisches Ideal zu verkörpern.

Diese historische Dimension erachtet Slavoj Žižek als essentiell. Wäh-rend er Badious Kernargument enthusiastisch begrüßt, lehnt er die Vor-stellung der kommunistischen Hypothese als Kantianische regulative Idee ab und betont deren „präzisen Bezug zu einer Reihe von gesellschaftliche Antagonismen, welche den Kommunismus nötig machen.” (Žižek 2009: 87-88)29 Als ob er Weber wiederhole, bedeutet dies für Žižek einen stän-digen Kampf, der über Modelle hinausgeht, die nicht funktioniert haben, und „immer und immer wieder” dafür zu kämpfen, neue Modelle zu ver-wirklichen (ebd. s.p). Von einer eher anderen theoretischen Perspektive, aber einem ähnlich radikalen Impuls folgend, zeichnet David Harvey im Anhang zu Spaces of Hope ein kühn gewagtes Bild davon, wie solch ein Modell einer gerechten und gleichen Gesellschaft aussehen könnte, die auf kooperativen Produktionsformen und flexibleren Arrangements von Ar-beit, Familie und Wohnraum basiert (Harvey 2000).30 ____________________

27 [Dt.: 1988: 505-560; 560]. 28 [Dt.: 2011]. Übersetzung JR. 29 [Dt.: 2011, n.p.]. 30 Übersetzung JR.

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Glut der Vergangenheit, Poesie der Zukunft

Den gesamten Text hindurch habe ich argumentiert, dass während des ge-genwärtigen Linksrucks der sich ständig wiederholende Aufruf von Iko-nen der Vergangenheit ein Symptom ist, das die Angst vor einer ungewis-sen Zukunft zeigt, und den Wunsch nach einer stabilen Grundlage für eine aufgeregte Gegenwart. Dennoch kann der Aufruf vergangener Ikonen, wenn er organisch aus Kämpfen für eine bessere Welt entsteht, deren an-dauernde Bedeutung als zentrale Verkörperungen von Gerechtigkeits- und Gleichheitsidealen zum Ausdruck bringen. In diesem Sinn hat Javier San-jinés die Vorstellung von der „Glut der Vergangenheit” gebraucht, um die Kapazität der Geschichte zu beschwören, gegenwärtige Kämpfe zu er-leuchten: „’Glut’ ist vor allem ein Konzept soziokultureller Zeitlichkeit: das Fortbestehen von ‚Glut der Vergangenheit’ in der Gegenwart, vergra-ben, aber noch in der Lage, neue Brände zu entfachen.” (Sanjinés 2010) In der Einleitung zu Sanjinés’ Buch kommentiert Xavier Albó, das Bild, welches Sanjinés vorschlage sei geeigneter als Walther Benjamins Vor-stellung von „Ruinen”, denn „es bezieht sich auf von Asche bedeckte Glut, die niemals wirklich gelöscht wurde, und die neue Winde erneut mit Kraft zum Brennen bringen werden.” (Albó 2009: xiii)31 Obwohl dies eine scharfsinnige Beobachtung ist, sah Benjamin die Vergangenheit nicht nur als Ruinen, sondern als Traditionen, die gerettet, für gegenwärtige Kämpfe bewahrt werden müssen. Wie Susan Buck-Morss argumentiert, bezieht seine Vorstellung von Dialektik nicht nur die beiden geläufigen Momente von Negation und Verdrängung (als die Transzendenz der Negation über Synthese) ein, sondern auch die vernachlässigte Vorstellung der „Aufhe-bung”. Wie sie es formuliert, „hat das Verb ‚aufheben’ noch eine dritte Bedeutung. Es ist der deutsche Ausdruck für ‚behalten, bewahren’, diese Bedeutung zu bewahren. Sie ähnelt Walter Benjamins Idee von der Ret-tung der Vergangenheit.” (Buck-Morss 2010: 16-17).32 In einem ähnlichen Geiste benutzt Sanjinés die Vorstellung von der „Glut” um anzuerkennen, wie die Vergangenheit in der Gegenwart erweckt werden kann, um die Zukunft zu retten.

Dennoch ist nicht klar, wie man vergangene Flammen dazu bringt, Be-stand zu haben und gegenwärtige Kämpfe zu erleuchten. In einer ernsten Analyse der Krise der Modernität im Globalen Süden argumentiert David

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31 Übersetzung des Autors. Deutsch: JR. 32 Übersetzung JR.

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Scott, dass die emanzipatorischen Kämpfe der Vergangenheit inadäquate Modelle für die Pattsituation der postkolonialen Gegenwart bieten (Scott 2004). In einem Dialog mit Scott kehrt Gary Wilder zurück in die konzep-tuellen Welten von Denkern, die mit der „Négritude”-Bewegung assoziiert werden und zeigt den Wert, ihre unzeitigen Gedanken zu bewohnen und deren anhaltende Relevanz zu erkunden. Aufbauend auf Erkenntnissen zu „verdinglichten Objekten, emanzipatorischem Potenzial und historischer Zeitlichkeit” im Werk Walter Benjamins, Theodor Adornos und Ernst Blochs liefert Wilder überzeugende Argumente für die Erkundung von „Zukünften, die einst imaginiert wurden, aber niemals eintrafen, alternati-ven Zukünften die gewesen sein könnten und deren noch nicht realisierte emanzipatorische Möglichkeiten jetzt als beständiges und vitales Erbe neu organisiert und wiedererweckt werden könnten.” (Wilder 2009: 103)33

Die Suche nach Quellen für emanzipatorische Imaginarien war eines von Marx’ zentralen Anliegen. Obwohl er fest entschlossen war, radikale Imaginarien von der Last der Vergangenheit zu befreien, erkannte er die Kapazität der Vergangenheit, gegenwärtige Kämpfe zu erleuchten. In sei-nen Untersuchungen der Revolutionen des 19. Jahrhunderts war sein Ruf nach einer von der Zukunft gezeichneten Poetik nicht darauf ausgerichtet, die Vergangenheit zu verwerfen, einzig die Zukunft für radikal Neues zu öffnen. Für ihn konnte die Vergangenheit zum nur dann zum Leben er-weckt werden, wenn sie aktiviert wurde, um Kämpfe anzuregen, um die Welt zu verändern, anstatt ihre Dramen zu schmücken. Er hat bekannter-maßen dargelegt, dass die bürgerlichen Revolutionen des 18. Jahrhunderts der „Totenerweckung” dienten, um „die neuen Kämpfe zu verherrlichen” und „die gegebene Aufgabe in der Phantasie zu übertreiben”, nicht, den Geist der Revolution wiederzufinden, nicht ihr Gespenst wieder umgehen zu lassen.”, während die sozialen Revolutionen des 19. Jahrhunderts dies taten, um „die alten zu parodieren” und um „vor ihrer Lösung (der Aufga-be) in der Wirklichkeit zurückzuflüchten.” (Marx 1963) [2009: 11]).

Mitgerissen von den Winden der Geschichte, die alte Flammen schüren und neue Kämpfe wachrufen, ist Lateinamerika zu einem facettenreichen Gewebe an kollektiven utopischen Träumen geworden. Der Dialog zwi-schen Vergangenheit und Zukunft, welcher die gegenwärtigen Bestrebun-gen durchdringt, hat, trotz Einschränkungen, ortsgebundene Konzeptionen von Universalität herausgefordert und weltweiten Austausch über re-imaginierte Welten generiert. Die Suche nach Gleichheit geht über den

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33 Übersetzung JR.

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Kampf gegen Formen der Dominanz auf der Grundlage von Region, Klas-se, Gender, Ethnizität, Religion, Race oder Alter hinaus. Insbesondere in der Andenregion bewegen sich indigene Bewegungen gezielt von anthro-pozentrischen Bestrebungen hin zu einem Biozentrismus als Ausdruck planetarischer Universalität. Als Ergebnis jüngster Kämpfe ist es in La-teinamerika nun eher möglich geworden, Differenz zu schätzen und anzu-erkennen, dass man auf Spanisch nicht das Gleiche träumt wie auf Ayma-ra, als Frau wie als Mann als Erwachsener oder als Kind, in einem Bett oder unter einer Brücke. Vielleicht ist es auch möglich geworden, ver-schiedene Kosmologien einzubeziehen, Partikulares in Universalem zu er-kennen und Universales im Partikularen und offen zu sein für den Ruf „die Welt in einem Sandkorn zu sehen/und einen Himmel in einer wilden Blume.”34

Natürlich ist es angesichts der ungleichen Machtstrukturen unter denen der Linksruck stattgefunden hat, möglich, dass neue Imaginarien kooptiert oder zermahlen werden. Doch diese Imaginarien vereinen nun den Süden und den Norden in einer Politik der Verfolgung von Wohlbefinden und bloßem globalen Überlebens. In Anbetracht dessen ist es naheliegend, dass die Glut der Vergangenheit und die Poesie der Zukunft weiterhin Imaginarien einer Welt heraufbeschwören, die frei von den Gräueln der Vergangenheit ist.35 Politik wird eine Schlacht um Sehnsüchte bleiben, die auf unebenem Terrain geführt wird. Doch solange in der Welt Menschen ohne sicheres und würdiges Zuhause sind, werden sich utopische Träume weiterhin vermehren und Bestrebungen danach Antrieb geben, eine Welt aus vielen Welten zu schaffen, wo Menschen sich ihre Zukunft erträumen können – ohne Angst davor, aufzuwachen.

Aus dem Englischen von Julia Roth

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34 Blake, Auguries of Innocence, lines 1-2. (Dt.: Weissagungen über die Unschuld) 35 Die Vorstellung eines Kontrapunkts zwischen Vergangenheit und Zukunft ist in-

spiriert von Fernando Ortiz’ (1995) erlösendem Kontrapunkt zwischen den Ame-rikas und Europa durch die Tropen von Tabak und Zucker. „Poesie der Zukunft” ist meine an Marx’ Argument angelehnte Phrase, dass anders als die bürgerlichen Revolutionen des 18. Jahrhunderts die sozialen Revolutionen des 19. Jahrhundert ihre „Poesie aus der Zukunft schöpfen” müssen.” Marx, (1963) [2009].

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Das Buen Vivir als die „andere mögliche Welt”: Widersprüche, Grenzen und Möglichkeiten des Konzepts im Nationalstaat Raúl Zibechi

In Lateinamerika erleben wir eine Periode starken Wirtschaftswachstums. Dies weckt bei dem größten Teil der Bevölkerung Hoffnungen, als Kon-sument/innen in eine Gesellschaft aufgenommen zu werden, die sie mar-ginalisiert. Konservative und Fortschrittliche, Regierungen und Bevölke-rungen, Arbeiter/innen und Landarbeiter/innen, Beschäftigte und Arbeits-lose – alle möchten weiter konsumieren oder hoffen, in den bis dato rela-tiv kleinen Kreis derjenigen aufgenommen zu werden, die ihre Staatsbür-gerschaft in Supermärkten und Shoppingmalls auszuüben glauben. In ei-nem solchen sozialen und kulturellen Klima erscheint es etwas abwegig, vom Buen Vivir/Sumak Kawsay [das Gute Leben] zu reden.

Dies gilt umso mehr vor dem Hintergrund, dass der Norden unter den Wechselfällen der globalen Wirtschaftskrise leidet, was den Kontrast zu der Region verstärkt. [Der brasilianische Präsident] Luiz Inacio Lula da Silva trat mit sehr hohen Zustimmungsraten – mit über 80 Prozent – nach acht Regierungsjahren zurück. Denn das Wirtschaftswachstum hat auch ohne Umverteilung der Erträge dazu geführt, dass 26 Millionen Brasilia-ner/innen die Armut hinter sich lassen und Teil der Mittelschicht werden konnten. Tatsächlich ist die Einkommensschicht der sogenannten „C-Klasse”, die ein monatliches Familieneinkommen zwischen drei und zehn Mindesteinkommen hat (zwischen 600 und 2600 Dollar), von 32 Prozent der Bevölkerung im Jahr 1992 auf 50 Prozent im Jahr 2010 angewachsen. Im Jahr 2003 stand dieser Sektor für 37 Prozent des Nationaleinkommens. Im Jahr 2008 war er auf 46 Prozent angestiegen und hat somit zum ersten Mal in der Geschichte die zwei oberen Einkommensschichten von ihrem Platz verdrängt, die nun 44 Prozent des Nationaleinkommens unrechtmä-ßig besitzen. Es sind also 15 Prozent der Bevölkerung, die in nur fünf Jah-ren in die Mittelschicht aufgestiegen sind.1

Aus einem Land der Armen hat sich Brasilien nach und nach zu einem Land der Mittelschichten entwickelt, zumindest im Hinblick auf die disku-

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1 Neri (2009: 6-7).

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tablen Messdaten zum Einkommen. In einer Zeit des Wirtschaftswachs-tums und sozialen Aufstiegs scheint es noch schwieriger, eine Debatte an-zustoßen, die notwendigerweise auch die Grenzen des Wachstums thema-tisieren wird. Etwas in der Art musste der deutsche Soziologe Wolfgang Sachs bei seinem letzten Besuch in der Region erleben. Der Autor des De-velopment Dictionary2 hielt eine Reihe von Vorträgen in Buenos Aires und Montevideo, in denen er seinen Vorschlag für ein „Post-Wachstum” und dafür, den Verbrauch der fossilen Brennstoffe bis 2050 um 90 Prozent zu reduzieren, verteidigte. Er brauchte dem Publikum nur zu sagen, dass „wir alle im selben Boot sitzen”, da wurden schon Gegenstimmen laut, dass sein Diskurs die enormen Unterschiede bei der Emission von Treib-hausgasen zwischen den Ländern des Nordens und des Südens unterschla-gen würde. Das herrschende extraktivistische Modell in Lateinamerika (Bergbau und Monokulturen) ist eine der wichtigsten Konsequenzen des kolonialen Tatbestandes; gleichzeitig begünstigen diese Unternehmungen vor allem die multinationalen Konzerne der Ersten Welt.

Auf diesem Kontinent gibt es eine Kosmovision, die sich von der west-lichen unterscheidet, und es gibt – was keine Kleinigkeit ist – kollektive Subjekte, die nichtkapitalistische Lebensstile praktizieren, oder genauer gesagt Lebensstile, die nicht vom Entwicklungsmodell und dem konstan-ten, fortwährenden Wirtschaftswachstum beeinflusst sind. Wir werden diese Ideen und Stile untersuchen, um herauszufinden, inwiefern sie Inspi-rationsquelle für eine Zivilisation sein können, die dringend Alternativen braucht. Aber wir werden auch einige Hindernisse sehen, die es erschwe-ren, dass sich die Kraft dieser anderen Lebensstile entfalten kann.

Buen Vivir/Vivir Bien – Das Gute Leben/Gut Leben

Die politischen Veränderungen in Südamerika, vor allem in jenen Län-dern, wo das plötzliche Hereinbrechen der indigenen Welt die hegemonia-le politische Kultur inklusive des Konzepts vom Nationalstaat in Frage stellt, spiegeln sich in einer heftigen Debatte über die Wege, die diese Ge-sellschaften beschreiten sollten, wider. In Cochabamba, Bolivien, fand vom 19. bis 22. April 2010 – zeitgleich mit dem 10. Jahrestag des „Was-

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2 Sachs (1992 (Dt.: Wie im Westen so auf Erden. Ein polemisches Handbuch zur Entwicklungspolitik , 1993). Auch auf Spanisch, Italienisch, Indonesisch, Japa-nisch, Thai, Persisch, Portugiesisch, Serbisch, Türkisch erschienen.

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serkrieges”3 – die Weltkonferenz der Völker über den Klimawandel und die Rechte der Mutter Erde statt, die von der Regierung von Evo Morales einberufen worden war. Im Januar 2010 fand in Quito das Lateinamerika-nische Treffen „Pachamama, Völker, Befreiung und Sumak Kawsay” statt, organisiert von der Stiftung Pueblo Indio zum Anlass des 100. Geburtsta-ges von Monsignore Leónida Proaño, des „Bischofs der Armen”. Im glei-chen Monat führte die Andine Koordination Indigener Organisationen in Lima das öffentliche Forum „Das Buen Vivir der Andinen Indigenen Völ-ker” durch. Ich hebe nur diese drei Ereignisse hervor als Beispiele für eine Vielzahl ähnlicher Treffen, Kongresse und Debatten auf den unterschied-lichsten Ebenen, aber mit einer unentwegten Beteiligung der Basisbewe-gungen, auf denen die zu beschreitenden Wege debattiert werden.

In Folge des mächtigen Aufbruchs der indigenen Bewegungen und Völker haben die politischen Systeme Ekuadors und Boliviens mehr oder weniger wichtige Veränderungen erfahren. Eines dieser Ergebnisse ist die Verabschiedung neuer Verfassungen im Jahr 2008, die neue Ansätze her-vorheben. Unter anderem werden der plurinationale Staat, neue Formen die Natur wahrzunehmen sowie eine Philosophie, die sich vom Entwick-lungsgedanken unterscheidet, betont.

Laut der neuen Verfassung Ekuadors, die am 28. September 2008 von 64 Prozent der Ekuadorianer/innen in einem Plebiszit angenommen wur-de, ist die Natur ein Rechtssubjekt wie alle Bürger/innen auch. „Die Natur oder Pachamama, in der sich das Leben reproduziert und verwirklicht, hat das Recht, dass ihre Existenz sowie der Erhalt und die Regeneration ihrer Lebenszyklen, Strukturen, Funktionen und Evolutionsprozesse respektiert werden”, verfügt Artikel 71, der den „Rechten der Natur”4 gewidmet ist. In der hegemonialen Logik ist die Natur eine Ressource, ein Mittel, aus dem Rohstoffe entnommen werden können für die Entwicklung, von der das Wohlergehen der menschlichen Wesen abhängt. Die neue Verfassung spiegelt die Bedeutung wider, die die indigenen Kulturen erlangt haben. Die harmonische und ausgeglichene Beziehung mit der Natur stellt hierfür ein Merkmal dar.

Die Rechte der Natur sind Bestandteil eines andinen Konzeptes, das energisch in die Verfassung eingebracht wurde: das Sumak Kawsay/Buen

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3 Bürgeraufstand in der Stadt und der ländlichen Umgebung von Cochabamba ge-gen die Privatisierung des Wassers, der mit einem Triumph endete und einen Protestzyklus einleitete, der Evo Morales im Januar 2005 an die Präsidentschaft brachte.

4 Verfassunggebende Versammlung Ekuadors (2008).

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Vivir (das Gute Leben) auf Quechua oder „klares und harmonisches Le-ben”. Diesem Konzept widmet die Verfassung Ekuadors 75 Artikel in dem Abschnitt „Regime des Buen Vivir”. Es geht darum, so zu leben, dass eine harmonische Beziehung unter den menschlichen Wesen und folglich auch zwischen ihnen und der Natur hergestellt werden kann. Es darf kei-nen Unterschied geben zwischen der Art der Beziehungen unter den Men-schen und derjenigen der Menschen mit dem Raum, in dem sie leben.

Die Verfassung Boliviens, die am 25. Januar 2009 von 62 Prozent der Wähler/innen angenommen wurde, beinhaltet das Suma Qamaña, das Vi-vir Bien (Gut Leben), zusammen mit anderen ähnlichen Forderungen der verschiedenen indigenen Gemeinschaften.

Der Staat übernimmt und befördert als ethisch-moralische Prinzipien der pluralen Gesellschaft:

ama qhilla, ama llulla, ama suwa (sei nicht faul, sei nicht lügnerisch noch ein Dieb), suma qamaña (Gut Leben), ñandereko (Harmonisches Leben), teko kavi (Gutes Leben), ivi maraei (Erde ohne Schlechtes) und qhapaj ñan (Nobler Weg oder Nobles Leben) (laut Artikel 8)5

Es handelt sich um einen radikalen Bruch mit der westlichen Kultur, mit den Vorstellungen von Fortschritt und Entwicklung. Und mit der Moder-ne. Wir erleben eine zivilisatorische, soziale, kulturelle und Umweltkrise, die größtenteils in einem Modell der Ausplünderung der Natur wurzelt, deren Beherrschung und Ausbeutung die Basis von Wohlstand und Reich-tum für einen Teil der Menschheit gewesen ist. Die Vorstellungen von kontinuierlichem Wachstum und unbegrenztem Konsum – die sowohl von Liberalen als auch von Sozialist/innen verteidigt werden – zeigen ihre ra-dikale Unvereinbarkeit mit dem Schutz des Lebens auf dem Planeten.

Aber da gibt es noch etwas. Nicht nur der Eurozentrismus ist Teil des Problems, das die Menschheit erlebt. Es ist auch der Anthropozentrismus, der Glaube, dass die Welt dafür da ist, um vom Menschen für seinen aus-schließlichen Vorteil benutzt zu werden. Entwicklung und Fortschritt sind unvereinbar mit der Natur – auch wenn sie mit dem Etikett „nachhaltige Entwicklung” versehen werden. Die zivilisatorische Krise, die wir erle-ben, teilt uns gleichzeitig mit, dass die Analyseinstrumente, mit denen wir die Realität verstehen und analysieren, nicht mehr vertrauenswürdig sind. Schließlich sind sie Teil einer kolonialen Matrix (wie zum Beispiel die Subjekt-Objekt-Beziehung, auf die wir uns stützen), die das aktuelle zivi-

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5 Ministerium für Ländliche Entwicklung, Landwirtschaft und Umwelt (2008).

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lisatorische Muster als etwas Natürliches heiligt und uns davon abhält, über andere Lebensformen nachzudenken.

Der ekuadorianische Ökonom Pablo Dávalos behauptet, dass der Dis-kurs von Entwicklung und Wirtschaftswachstum fünf Zäsuren bezie-hungsweise Brüche heraufbeschworen hat, die die aktuellen Gesellschaf-ten charakterisieren: Er fragmentiert und bricht die Beziehung des Men-schen mit der Natur; er lehnt die Ethik ab, weil sie unvereinbar mit dem Wachstum, das heißt in Wirklichkeit mit der Kapitalakkumulation ist; er beraubt die Geschichte und die Kulturen der Gemeinschaften ihres Inhalts, da sie Hindernisse sind, die „modernisiert” werden sollen und kolonisiert damit das, was Jürgen Habermas als „Lebenswelt” bezeichnet; er verwan-delt die Wirtschaftswissenschaften in eine Politik der Knappheit, denn die Armut ist der Entwicklung zu eigen; und er bringt schließlich eine episte-mische Kolonisierung hervor, die die Fähigkeit, über Alternativen nach-zudenken, neutralisiert.6

Aktuelle Grenzen des indigenen Vorschlags

Vivir Bien (Gut Leben) oder das Buen Vivir (das Gute Leben) ist eine Kunstfertigkeit, die von Prinzipien geleitet wird und nicht eine Liste von Forderungen, die sich als Rechte der Bürger/innen und Pflichten der Staa-ten formulieren ließen. Eine Kunstfertigkeit, die Harmonie mit der Natur voraussetzt, die als Mutter gilt, von der wir abhängen und mit der wir kei-ne Beziehung der Konkurrenz oder Beherrschung unterhalten können. Ei-ne Kunstfertigkeit, die mitunter konkrete Formen annimmt: Im Jahr 2007 schlug der Bergbauminister Ekuadors vor, das Erdöl im Gebiet des Natio-nalparks Yasuní nicht zu fördern, obwohl es ein Viertel der Reserven des Landes ausmacht. Ein „revolutionärer Vorschlag” laut Alberto Acosta, Ex-Präsident der Verfassunggebenden Versammlung, auf der Suche nach einem postmateriellen und postextraktivistischen Entwicklungsmodell.7 Es handelt sich um das sogenannte ITT Projekt (Abkürzung für die drei Erkundungsbohrungen in der Zone des Yasuní-Parks im ekuadorianischen Amazonas: Ishpingo, Tambococha und Tiputini), das Mitte 2009 von der Regierung Rafael Correas als Beitrag Ekuadors zum Kampf gegen den Klimawandel angenommen wurde.

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6 Dávalos (2008). 7 Acosta et. al. (2009).

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Die Wirtschaft Ekuadors basiert auf Erdöl: 22 Prozent des Bruttoin-landsproduktes, 63 Prozent der Exporte und 47 Prozent des Staatshaushal-tes hängen vom Erdöl ab. Aber dort liegt auch der Wert des Vorschlags: Er würde 410 Millionen CO2-Emmissionen verhindern, Entwaldung und Umweltverschmutzung aufhalten und wäre ein großer Beitrag zur Ent-wicklung einer Post-Erdöl-Ökonomie. Als Gegenleistung verlangt die ekuadorianische Regierung von der internationalen Gemeinschaft eine Kompensation, die 50 Prozent der Einnahmen entspricht, die erzielt wer-den könnten, wenn dieses Erdöl gefördert würde. Das Parlament und die Regierung Deutschlands reagierten zunächst mit Zustimmung und sagten 50 Millionen Euro jährlich zu während der 13 Jahre, die diese Vorkom-men ausgebeutet werden könnten. Diese Zusage wurde jedoch wenig spä-ter wieder zurückgenommen, wofür maßgeblich der ehemalige Entwick-lungsminister Dirk Niebel verantwortlich war. Norwegen und die Kom-mune Madrid gaben positive Signale. Dieses Projekt, das eine ökologische Revolution bedeutet und für das heute der Staat bürgt, entstand im Zuge der Widerstandskämpfe der indigenen Gemeinschaften, besonders im süd-lichen Zentrum des Amazonas, die sich dagegen richten, dass sich die Erdölförderung auf ihre Territorien ausweitet.

Doch die gleiche Regierung unter Rafael Correa, die die „Bürgerrevolu-tion” ausgerufen hat, setzt nicht nur nach wie vor auf die Erdölförderung, sondern beabsichtigt auch den Tagebau auszuweiten. Dagegen widersetzt sich die indigene Bewegung mit Demonstrationen, Aufständen und ver-schiedenen Mobilisierungen, die die Regierung mit Repression beantwor-tet – die gleiche Regierung, die behauptet das Buen Vivir zu verteidigen – und wo es zu Verletzten und Toten gekommen ist. In Bolivien, wo das Suma Qamaña/Vivir Bien den Gipfel von Cochabamba inspiriert hat, ist der gleiche Widerspruch festzustellen. Schließlich setzt die Regierung von Evo Morales weiterhin verstärkt auf den Bergbau und die Förderung fossi-ler Brennstoffe als wichtigstes ökonomisches Instrument. Beide Länder beharren nach wie vor auf dem Extraktivismus, trotz der Aussagen ihrer Verfassungen und des öffentlichen Diskurses ihrer Führungsmannschaft. Wie ist ein solcher Widerspruch möglich?

Meiner Meinung nach wurzelt dieser Widerspruch in dem Denken der politischen Kräfte (MAS in Bolivien und Alianza País in Ekuador), die den bolivianischen und den ekuadorianischen Prozess vorantreiben. In der Verfassung Ekuadors führt dieser unaufgelöste Widerspruch dazu, dass das Sumak Kawsay der Entwicklung untergeordnet wird. Artikel 247 be-sagt:

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Das Entwicklungsregime ist das organisierte, nachhaltige und dynamische Zu-sammenspiel der wirtschaftlichen, politischen, soziokulturellen und Umweltsys-teme, die die Realisierung des Buen Vivir, des Sumak Kawsay ermöglichen.8

Dem wird hinzugefügt, dass der Staat damit beauftragt sein wird, die Ent-wicklung zu planen, um diese Ziele erfüllen zu können. Kurz, die Formel Entwicklung plus staatliche Führung als Mittelpunkt der Politik scheint von den Prinzipien des Buen Vivir weit entfernt zu sein.

Auf dem Gipfel von Cochabamba 2010 wiederholte sich das gleiche Problem, das auch Ekuador quält. Einige Organisationen, wie zum Bei-spiel CONAMAQ (Nationaler Rat der Ayllus und Markas del Qullasuyu), beschlossen den Arbeitstisch Nr. 18 einzuberufen, denn in den 17 Arbeits-gruppen des offiziellen Ereignisses gab es keinen Raum, um über die sozi-alen Umweltkonflikte zu debattieren, die die indigenen Gemeinschaften Boliviens bewegen. Der Hauptkonflikt besteht darin, dass die betroffenen Gemeinschaften den öffentlichen Diskurs über die Bergbau- und Erdölak-tivitäten sowie die Mega-Staudämme am Madera-Fluss ablehnen. In ihrer Erklärung bringt der Arbeitstisch Nr. 18 zum Ausdruck, dass die Entwick-lungspläne der Regierungen in der Region, inklusive derjenigen, die sich als links und revolutionär bezeichnen, „lediglich das Entwicklungsschema der Vergangenheit reproduzieren”, und fordert, „das Modell der Pseudo-Entwicklung zu ändern, das dem Rohstoffexport den Vorzug gibt”.9

Das Konzept des Buen Vivir/Sumak Kawsay scheint noch recht zer-brechlich zu sein und geht nicht über Absichtserklärungen hinaus, außer für einen kleinen Sektor ländlicher Gemeinden und indigener Spre-cher/innen und Intellektueller. In Ekuador, wo die Debatte am stärksten während des Formulierungsprozesses der neuen Verfassung aufkam, ver-öffentlichten einige der Stichwortgeber dieser Debatte das Buch „Das Bu-en Vivir. Ein Weg zur Entwicklung”,10 das schon im Titel einen offenkun-digen Widerspruch erkennen lässt. Obwohl das Werk höchst interessant ist, besteht Alberto Acosta im Vorwort darauf, dass das Buen Vivir „ein neues Entwicklungsregime” repräsentiere. Und obwohl die Kritik am herrschenden Modell durchaus zutreffend und überzeugend ist, wird eine Reihe von Ideen aufrecht erhalten, die nicht klar und deutlich mit dem he-gemonialen Modell brechen. Vielleicht besteht der schwächste Punkt da-rin, dass die Subjekte, die auf diese Wende hinwirken könnten, nicht klar

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8 Verfassunggebende Versammlung Ekuadors (2008: 130). 9 Nationaler Rat der Ayllus und Markas del Qullasuyu, Tiquipaya (2010). 10 Acosta/Martínez (2009).

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benannt werden. Diese Wende würde bedeuten, von der Ideologie des Fortschritts und des Wachstums zum Buen Vivir/Buena Vida überzugehen.

Der Nationalstaat als Einschränkung

Mitte des Jahres 2009 hielt ich mich einige Wochen in Bolivien auf, wo ich Organisationen und Sprecher/innen von Gemeinschaften aus dem so-genannten „Tiefland” interviewte: Gemeinschaften, die nicht als Klein-bauern tätig sind, sondern ein Leben als Nomaden führten und zum Teil auf gewisse Art immer noch führen. Bis zu diesem Moment hatte ich nur Erfahrungen mit Gemeinschaften mit bäuerlicher Tradition gemacht, wie den Quechua und Aymara. In Santa Cruz interviewte ich Mitglieder der indigenen Ayoreo, einer Nomadengemeinschaft, das erst im Jahr 1940 von katholischen und evangelikalen Missionaren kontaktiert worden war, als der Staat Vorbereitungen für den Bau der Eisenbahnstrecke Santa Cruz-Puerto Suárez traf. Dem gingen die Viehzucht und die Erdölförderung vo-raus. Sie verloren ihr angestammtes Territorium und die meisten emigrier-ten. Überlebt haben zum heutigen Zeitpunkt gerade einmal 3000 Ayoreo.

Der junge Vizepräsident von der Zentrale der Einheimischen Ayoreo des Bolivianischen Ostens (CANOB), mit Namen Subi, erläuterte die Charakteristika des Buen Vivir, indem er an eine Erfahrung erinnerte, die vor kurzem die Bewohner/innen des Dorfes gemacht hatten, in dem er lebt. Ich gebe seine Worte wider:

Mein Nachbar Jonatan kaufte ein Traktor, um seine drei Hektar Mais zu bestellen, in der Hoffnung, ihn zu verkaufen und damit gutes Geld zu verdienen. Ungedul-dig wartete er auf den Moment der Ernte. Als der Tag kam, lud sein Vater – ohne ihm etwas davon zu sagen – die ganze Familie ein, die Nachbar/innen und Freund/innen, um die Ernte gemeinsam nach altem Brauch einzubringen, indem gearbeitet und gefeiert wird. Während der Arbeit wird der Mais zwischen allen Anwesenden aufgeteilt, wie es die Ayoreo zu tun pflegen. Am Ende des Tages hatten sie zwei Hektar verbraucht. Jonatan blieb nur ein Hektar übrig. Er weinte vor Wut über die Einstellung seines Vaters.11

Zwei Lebensmodelle gerieten hier miteinander in Konflikt: das der Ak-kumulation mit dem des Buen Vivir, das des individuellen Fortschritts mit dem der Gegenseitigkeit und der Aufteilung von Gütern. Subi sprach nicht vom Buen Vivir, vielleicht weil seine Art zu denken/zu handeln weit ent-fernt ist von jeglicher Konzeptualisierung. Aber er weiß/spürt, worum es

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11 Zibechi (2009).

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geht. Die indigenen Intellektuellen jedoch debattieren über das Thema und formulieren es sehr klar.

Verschiedene indigene Intellektuelle heben die Unterschiede hervor zu der Version des Sumak Kawsay, das die Regierungen anbieten. Vivir Bien heißt nicht besser zu leben, was im Allgemeinen auf Kosten anderer Per-sonen geschieht, also mit Hilfe von Ausbeutung. Vivir Bien bedeutet in der Gemeinschaft zu leben, geschwisterlich und vor allem sich gegenseitig ergänzend”, sagt der bolivianische Außenminister David Choquehuanca.12 Wir könnten sagen, das gemeinschaftliche Leben und die Verbundenheit mit dem Land sind das erste unvermeidbare Prinzip. Das zweite ist die Komplementarität, die dadurch definiert ist, nicht zu konkurrieren, son-dern zu teilen und in Harmonie zu leben. In der andinen Kosmovision er-gänzen sich die Gegensätze, weshalb dies eine nicht dialektische Philoso-phie ist, wo sich der Kampf der Gegensätze nicht in eine Synthese über-setzt, die die miteinander in Konflikt stehenden Begriffe überwindet. Die neue Welt entsteht von daher nicht aus dem Kampf von Gegensätzen, sondern aus einer anderen Dimension, die ich später erklären werde.

An dritter Stelle stehen Arbeit, Feiern, Lernen, Wachsen – als so etwas wie Atmen und Gehen, eine vitale Aktivität, und keine Verpflichtung, um zu überleben. Viertens lehnt das Buen Vivir rundweg die Entwicklung ab. Sein Vorschlag zielt in die entgegen gesetzte Richtung: „Wir haben uns organisiert, um auf unseren Weg zurück zu kommen, den Weg des Gleichgewichts (…), um zu unserem Ursprung zurück zu kehren”.13 Was ist das für eine Logik, die behauptet sich zu organisieren, um zurückzu-kehren? Dann hebt Choquehuanca vier zusätzliche Aspekte hervor: Die Identität ist wichtiger als die Würde; unser Kampf geht über das Rechts-system hinaus, weil es ausschließend ist, da es nur von Personen redet; die Komplementarität geht über die Freiheit hinaus; der Konsens ist wichtiger als die Demokratie, denn letztere unterwirft die Minderheiten.14

Luis Macas, Quichua und ekuadorianischer Rechtsanwalt, Ex-Präsident des Dachverbands der Indigenen Nationalitäten Ekuadors (CONAIE), de-finiert das Sumak Kawsay als Leben in Fülle, das sich auf die gemein-schaftlichen Prinzipien der Gegenseitigkeit und der Umverteilung gründet. Seine Erklärung ist zudem von Interesse, da sie das zentrale Thema des Staates berührt.

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12 Choquehuanca (2010: S. 8). 13 Ebda., S. 10. 14 Ebda., S. 11-13.

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Das Zusammenleben von Sumak Kawsay und dem aktuellen System ist unmög-lich, es kann kein System dieses Staats sein; ein grundsätzlicher Wandel in den Strukturen dieses Staates muss überlegt und eine neuer erschaffen werden, der je-doch mit unseren Händen aufgebaut wird.15

Er geht einen Schritt weiter und sagt, dass es darum geht, „unsere Lebens-systeme wiederherzustellen und zu entwickeln, Institutionen und histori-sche Rechte, die dem Staat voraus gehen, um die Geschichte und das Denken zu dekolonisieren”. Nicht staatliche Institutionen?

Beide Intellektuelle zielen in die gleiche Richtung: Das Buen Vivir kann keine Politik des Nationalstaats sein, sondern ist etwas anderes. Es muss in der Gemeinschaft verankert sein, eine prä-staatliche Institution, die auch die Grundlage für eine unerlässliche und umfassende post-staatliche Institution sein kann, die wir noch erschaffen müssen. Es gibt weder eine Strategie noch eine Taktik, es aufzuerlegen, sondern einen anderen Weg, näher an dem, was der Chilene Luis Razeto vorschlägt, einer der Antreiber der solidarischen Ökonomie. Wir sind stets davon ausgegangen, dass der Wandel global sein muss, mit dem Ziel, ein System durch ein anderes zu ersetzen, das ein neues „so soll es sein” gestaltet. Aber das kann nur er-reicht werden, indem Macht angehäuft wird, und noch konkreter, indem die staatliche Macht übernommen wird. Also, indem Politik gemacht wird. Razeto bringt seine Gedanken in seltsamer Übereinstimmung mit Nietz-sche zum Abschluss, eingedenk seiner christlichen und kommunistischen Ausbildung:

Die Politik organisiert das Existierende: Sie erschafft keine neuen Realitäten. Doch das einzige, das das Existierende tiefgehend verändern kann, besteht darin, zu erschaffen und neue Realitäten in die gegebenen Realitäten einzufügen, die das Existierende in Frage stellen und die mit ihrer Anwesenheit zu seiner Umstruktu-rierung führen. Die wichtigste und entscheidende transformierende Aktivität ist die kreative Aktivität, die dazu fähig ist, effektive historische Neuigkeiten einzu-führen.16

Wie andere auch glaubt Razeto nicht daran, dass die Politik – in ihrer tra-ditionellen und institutionellen Bedeutung – für die Transformation der Welt die wichtigste Aktivität sein soll. Vielmehr ist es die Konstruktion neuer Realitäten, in denen die Probleme, die die Notwendigkeit für den Wandel hervorrufen (Ungerechtigkeiten, Unterdrückungen, Ungleichhei-ten etc.), verschwinden und in denen die gewünschten Werte, die die

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15 Macas (2010). 16 Razeto (1993: S. 17).

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menschlichen und sozialen Beziehungen prägen sollen, auf zentrale und starke Art und Weise präsent sind.17

Ist das nicht das, was die Zapatist/innen in Chiapas gerade tun? Sie ha-ben explizit davon abgeschworen, „diese” Welt zu verändern. Statt dem Weg der alten Linken zu folgen, sich in die Institutionen einzufügen, um von dort aus das Unmögliche zu versuchen, machten sie einen wunderba-ren Umweg über das Erschaffen. Die Kreativität, die einzige transformie-rende Aktivität, kann sich nur außerhalb des Systems verwirklichen, an den Rändern der wirklich existierenden Welt. Unter diesen Umständen kann sich das Erschaffene wirklich von dem Etablierten unterscheiden. Und dieser Unterschied kann – vielleicht – das Gleichgewicht der Welt verändern. Oder besser, wieder ins Gleichgewicht bringen, was die Ent-wicklung, der Kapitalismus durcheinander gebracht und zersetzt haben. Das, was wir Krise nennen – in ihrem tiefsten Sinn, der zivilisatorischen Krise – erfordert ein neues Gleichgewicht. Wobei dies nicht von oben er-reicht werden kann – vielleicht auch nicht von unten – sondern von einem anderen Ort aus, den wir vielleicht noch gar nicht erahnen oder erkennen, der aber sicherlich weder der Staat ist, noch eine der bekannten Institutio-nen. Diejenigen, die das Buen Vivir praktizieren, glauben daran, dass man zu diesem neuen Gleichgewicht gelangt mit Hilfe dessen, was sie Pachakutik nennen. Dies ist die Zeit, die gerade kommt, so offen wie un-voraussagbar und unsicher.

Aus dem Spanischen von Britt Weyde

Literatur Acosta, Alberto et. al.: „Dejar el crudo en tierra o la búsquqeda del paraíso perdido”, ALAI,

11. Juni 2009. Acosta, Alberto/Martínez, Esperanza, Hrsg.: El Buen Vivir. Una vía para el desarrollo,

2009. Choquehuanca, David: Vortrag auf dem Lateinamerikanischen Treffen „Pachamama, Volk,

Befreiung und Sumak Kawsay”, Quito, 27. Januar 2010, Zeitschrift ALAI, „Sumak Kawsay. Recuperar el sentido de la vida”, Februar 2010.

Dávalos, Pablo: „El Sumak Kawsay y las cesuras del desarrollo”, ALAI, 6. Mai 2008. Macas, Luis: auf dem Öffentlichen Forum „Das Buen Vivir der Indigenen Andinen Völ-

ker”, Lima, 28. Januar 2010, Zeitschrift ALAI, „Sumak Kawsay. Recuperar el sentido de la vida”, Februar 2010.

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17 Ebda.

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Ministerium für Ländliche Entwicklung, Landwirtschaft und Umwelt: „Nueva Constitución Política del Estado”, La Paz 2008.

Nationaler Rat der Ayllus und Markas del Qullasuyu: „Declaración Mesa 18 Derechos Colectivos y Derechos de la Madre Tierra”, Tiquipaya, 21. April 2010.

Neri, Marcelo: „Consumidores, produtores e a nova classe media: miséria, desigualdade e determinantes das classes”, 2009

Razeto, Luis: Los caminos de la economía de la solidaridad, 1993. Sachs, Wolfgang, Hrsg.: The Development Dictionary. A Guide to Knowledge as Power,

1992 (Dt.: Wie im Westen so auf Erden. Ein polemisches Handbuch zur Entwicklungs-politik, 1993).

Verfassunggebende Versammlung Ekuadors: „Constitución de la República del Ekuador”, Quito, 2008.

Zibechi, Raúl: Interview mit Sprechern der CANOB, Santa Cruz, 26. März 2009.

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Die Modernität untergraben, um gut zu leben (oder über mögliche Auswege aus der zivilisatorischen Krise) Ana Esther Ceceña1

Una noción cada vez más precisa de la multiplicidad del tiempo y del valor excepcional del tiempo largo se va abriendo paso [...] Es esta última noción, más que la propia historia –historia de muchos semblantes, la que tendría que interesar a las ciencias sociales ...

Fernand Braudel

Eine immer genauere Vorstellung der Zeit und vom außergewöhnlichen Wert der Dauerhaftigkeit wird sich den Weg bahnen ... Es ist diese letzte Vorstellung, vielmehr als die eigene Geschichte – eine von vielen ähnlichen Geschichten – die die Sozialwissenschaften interessieren sollte ... (Übersetzung JR)

Nobody's easier to fool ... than the person who is convinced that he is right

Haruki Murakami

Niemand ist leichter zu täuschen ... als die Person, die davon überzeugt ist, im Recht zu sein. (Übersetzung JR)

Die zivilisatorische Krise der Modernität

Wir erleben gegenwärtig Zeiten der Unsicherheit und hoher Instabilität. Es sind Zeiten der Katastrophe. Die moderne Zivilisation scheint in einem Labyrinth ohne Ausgang gefangen zu sein. Weder die Wissenschaft noch die Kräfte des Fortschritts sind in der Lage, die Probleme zu lösen, die sie selbst verursacht haben. Die Gefräßigkeit der Akkumulation, welche von den großen Mächten der kapitalistischen Technologie gefördert wird, ver-schlingt nicht nur das Existierende, sondern auch das Zukünftige. Die an-eignenden Kräfte sind exponentiell angestiegen und haben eine Situation unumkehrbaren Schadens erreicht. Heute werden über 50 Prozent der re-

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1 Koordinatorin des Observatorio Latinoamericano de Geopolítica am Instituto de Investigaciones Económicas der Universidad Nacional Autónoma de México. Dieser Text ist Teil eines breiteren Forschungsprojektes, das im Rahmen des Programms UNAM-DGAPA-PAPIIT IN301012 durchgeführt wird

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generativen Kapazität des Planeten in einer unaufhaltsamen Dynamik in-nerhalb ihrer eigenen Logik konsumiert. Anstatt sich zu vervielfachen löscht sich das Leben immer schneller aus. Der Kapitalismus hat sich auf lange Sicht als nicht nachhaltig erwiesen: seine Erzählung von Fortschritt und Wohlbefinden prallt mit einer polarisierten, räuberischen und aus-schließenden Realität aufeinander; die wissenschaftliche und technologi-sche Entwicklung, die in der bekannten Menschheitsgeschichte noch nie dagewesen zu sein scheint, begünstigt die Zerstörung von Leben.

In Übereinstimmung mit einem Großteil der Realitätsanalyse, ein-schließlich der weniger kritischen, weisen alle Indizien darauf hin, dass die gegenwärtige moderne Gesellschaft im Spätkapitalismus keinen Weg aus der tiefen Krise findet, in der sie sich befindet. Denn es handelt sich dabei um eine Paradigmenkrise: Das Ethos der Modernität ist in die Krise geraten. Es hat dem Kapitalismus als allgemeine Organisationsform Platz gemacht, ebenso für die Generierung des materiellen Lebens wie auch als Erklärung der Welt und ihres Sinngehalts. Aus diesem Grund ist das Epis-temologische der fundamentale Spaltungsraum der Alternative: die Her-ausforderung liegt nicht im Bereich des Politischen oder seiner spezifi-schen Formen, sondern sie liegt im Bereich des Sinngehalts und der Kos-movisionen. Die Auseinandersetzung hat sich aus dem (stärker begrenz-ten) Terrain der Ökonomie in das der Philosophie verschoben, in dem An-spruch, die zivilisatorischen Fundamente zu untergraben und neu zu erfin-den.

Die epistemologische Kette der Modernität befindet sich in einer Krise.

Die epistemologischen Grundlagen des Kapitalismus

No acepten lo habitual como cosa natural, pues en tiempos de confusión generali-zada, de arbitrariedad consciente, de humanidad deshumanizada, nada debe pare-cer imposible de cambiar.

Bertolt Brecht

Wir bitten euch ausdrücklich, findet das immerfort vorkommende nicht natürlich! Denn nichts werde natürlich genannt in solcher Zeit blutiger Verwirrung Verord-neter Unordnung, planmäßiger Willkür entmenschlichter Menschlichkeit, damit nichts unveränderlich gelte.

Bertolt Brecht, „Die Ausnahme von der Regel”

Der Kapitalismus ist nicht allein eine Produktionsweise im engen Sinne, sondern eine Art, die Welt zu denken, eine Art, die Realität zu verstehen, Subjektivität und ihr Handlungsuniversum wahrzunehmen. Kapitalismus

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ist ein Organisationssystem des Lebens von sehr hoher Präzision und Komplexität. Ihn zu demontieren, zu überwinden und/oder zu dekonstruie-ren erfordert folglich eine sorgfältige Ergründung seiner Logiken, seiner Genealogie und seiner realen Grenzen. Gleichzeitig verlangt die Schaf-fung von Organisationsformen des Lebens, die sich vom Kapitalismus un-terscheiden, eine Verschiebung der Realität und des Verständnisses davon. Das heißt, es bedarf einer epistemologischen Verschiebung, welche die neuen Formen des Handelns und des Begreifens erhält (Ceceña 2008) und die seine Interaktionsfelder neu definiert.

Ich möchte deshalb kurz die epistemischen Grundlagen des Kapitalis-mus durchgehen, die ich der Modernität zuweise, um anschließend das semantische Feld des Buen Vivir oder des „Lebens in Fülle” zu sondieren. Ich werde zudem die Möglichkeiten dieses Konzepts für die Konstruktion einer anderen materiellen Zivilisation ausleuchten, als derjenigen, die sich mit der kapitalistischen Modernität entwickelt hat.

Über die Modernität

Um mein Argument ohne Selbstgefälligkeit zu stützen, werde ich auf die Beiträge von drei Autoren zurückgreifen, die ich für besonders relevant für diese Themen halte und die sich zudem untereinander sowohl in der Form ihres Zugangs zur Modernität unterscheiden wie auch hinsichtlich ihrer theoretischen Ableitungen: Bolívar Echevarría, Immanuel Waller-stein und Norbert Elias.

Der erste Autor, Bolívar Echevarría, hat die Modernität eifrig studiert und entschied sich gnädig, sie vom Unglück des Kapitalismus freizuspre-chen.

Die technischen Gegebenheiten, die der Modernität vorausgehen und sie ankündigen, erlauben es für Echevarría den Menschen, die magische, untergeordnete Beziehung zu unterwandern, die sie mit der Natur und dem Kosmos unterhalten haben. Sie befreien sie von der Angst vor den myste-riösen Dämonen des natürlichen Gebarens. Diese treten den Menschen – in seinen Worten – nicht länger als Feinde in einer räuberischen Bezie-hung entgegen. Aufgrund der Entdeckung einer neuen Form der Technik-wahrnehmung, welche die Mächte der menschlichen Spezies mit denen der Naturmächte gleichstellt, kann das Natürliche mit dem Menschlichen kollaborieren.

Die Modernität bietet auf diesem Weg die Möglichkeit, den absoluten Mangel als unüberwindbare Grenze des Lebens zu eliminieren. Sie ver-spricht, Bedingungen der Fülle von emanzipatorischer Prägung zu schaf-

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fen – oder des wiederholten relativen Mangels. Seien der Terror oder die physischen Grenzen des absoluten Mangel durch die Technik gelöst, dürfe nichts das Voranschreiten in einem Prozess menschlicher Emanzipation verhindern. Es sei denn die quantitavistische Version des neuen techni-schen Impulses ermächtigt sich der Bühne und lässt die Modernität in ih-rer kapitalistischen Modalität gefangen (Echevarría 1995).

Bolívar bietet seinerseits eine Vision einer möglichen nicht-kapitalistischen Modernität an, die sich erst unter den Gegebenheiten der totalen Krise entfalten könne, in der sich die moderne kapitalistische Ge-sellschaft befände. Er führt jedoch nicht aus, wie die epistemischen Säulen der Modernität eingeflochten werden könnten, um andere Bedingungen, hauptsächlich in Bezug auf die Beziehung Gesellschaft-Natur, zu bieten.

Es ist dennoch interessant, dass sich die Tür für die anderen Formen des organisatorischen Ganzen, welche die Menschheit gekannt hat für Bolívar nicht verschließt. Das heißt, auch wenn man der Modernität selbst die Möglichkeit der emanzipatorischen sozialen Rekonstruktion zugesteht, negiert dies nicht notwendigerweise andere Möglichkeiten, die sich sogar in einer konfrontativen Situation mit ihr zu erkennen geben:

[La] modernidad [es una] modalidad civilizatoria que domina en términos reales sobre otros principios estructuradores no modernos o pre-modernos con los que se topa, pero que está lejos de haberlos anulado, enterrado y sustituido; [...] la mo-dernidad se presenta como un intento que está siempre en trance de vencer sobre ellos... (Echeverría, 2008: n.p.)

Die Modernität ist eine zivilisatorische Modalität die in realen Begriffen über nicht moderne oder vormoderne Strukturprinzipien herrscht, mit denen sie zu-sammenstößt, die aber weit davon entfernt sind, diese annulliert, beerdigt oder er-setzt zu haben; ... die Modernität präsentiert sich als ein Versuch, der immer im Begriff ist, über diese zu siegen ... (Übersetzung: JR)

Die Modernität aber, fügen wir hinzu, kann auch von diesen anderen Strukturprinzipien besiegt zu werden, in Übereinstimmung mit der Idee der Unvollständigkeit der sozialen Prozesse und ausdrücklich von Bolívar anerkannt.

Aus einer ganz anderen Perspektive stimmt Immanuel Wallerstein mit der Herangehensweise Bolívars überein in der Betrachtung der Modernität als zivilisatorisches Ganzes mit widersprüchlichen Varianten untereinan-der. Er identifiziert zwei große Felder oder Modalitäten: das technologi-sche oder fortschrittliche und das freiheitliche.

Von seiner Blickwarte aus ist der historische Ausgangspunkt eindeutig emanzipatorisch. Also entsteht die Modernität als anarchistische anti-mittelalterliche Verästelung als ein „Triumph der menschlichen Freiheit gegen die Kräfte des Bösen und der Ignoranz”, nicht über die Natur – wie

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er zu sagen pflegt – sondern als „Triumph der Menschheit über sich selbst und über diejenigen, die Privilegien hatten” (Wallerstein 1995: 2; Über-setzung JR).

Wallerstein lässt an dieser Stelle die Diskussion über die Beziehung zur Natur beiseite, die heute unumgänglich ist, um sich vor allem den freiheit-lichen Möglichkeiten der Modernität und ihrer Fallstricke zuzuwenden. Aus eben diesem Grund, und weil sie den Kampf der Menschheit mit sich selbst bevorzugt, bleibt die potentielle emanzipatorische (Weg)Gabelung, als Konstruktionsweg eines anderen sozialen Ganzen im Bereich der Mo-dernität, aber in ihrer libertären Version.

[Desde 1968] hay por lo menos una tensión clara y evidente entre las modernid-ades de la tecnología y de la liberación...

El moderno sistema mundial [el de la modernidad tecnológica] está llegando a su fin [...] Y [eso puede significar] el principio, por vez primera, de una verdadera modernidad de la liberación. (Wallerstein, 1995: 12).

Seit 1968 gibt es zumindest eine klare und eindeutige Spannung zwischen den Modernitäten der Technologie und der Befreiung ...

Das moderne Weltsystem (das der technologischen Modernität) gelangt an sein Ende ... Und das kann zum ersten Mal den Beginn einer wahren Modernität der Befreiung bedeuten. (Übersetzung: JR)

Folglich kann man mit Wallersteins Fokus auf die longue durée die Überwindung des Kapitalismus als Organisationssystem des Lebens nicht als ein großes Ereignis erwarten, wie besonders der von E.P. Thomson ini-tiierte Strom von Historikern es hält. Vielmehr geht es um die stufenweise Verfestigung der Kohäsionslogik und des Ganzen, die aus den allgemei-nen Bedingungen der systemischen Instabilität entstehen, welche die Ent-ropie bevorzugen. Es handelt sich nicht eigentlich um eine Revolution nach klassischem Verständnis, sondern um eine vollkommene Abzwei-gung, die langfristig eintritt, um eine Veränderung im Lebenssystem, um eine tiefe und ausgedehnte Transformation der Sinngehalte und der Prak-tiken des Lebens in Gemeinschaft. Es handelt sich um einen Prozess, der sich selbst entdecken wird in dem Maße, wie er die systemische zerstöre-rische Logik dekonstruiert und sich epistemologisch von ihr differenziert.

Für Wallerstein tritt die befreiende Kraft zur Hinterfragung des Kapita-lismus in Richtung einer anderen Modalität hauptsächlich im Moment der Auflockerung oder systemischen Instabilität zutage. Diese setzte 1968 ein und schreitet in dem Maße fort, wie die Bedingungen des kapitalistischen Ganzen sich entfesseln, sich zerschlagen werden und eine entropische Si-tuation generieren. Das systemische Ganze ist im großen historischen Zeitraum möglich. Es bedarf Wallerstein zufolge aber tiefer gehende Un-

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tersuchungen oder größere Annäherungen, um zu sehen, ob die potentiel-len Kräfte des Ganzen lediglich aus den freiheitlichen Sektoren der Mo-dernität entspringen, oder ob sie aus den anderen Gesellschaftlichkeiten stammen, diesen anderen Kohärenzformen, diesen anderen nicht-modernen Rationalitäten, die (in) der Modernität untergeordnet wurden und im Gespräch mit ihr (sind), aber Trägerinnen von anderen epistemi-schen Matrizen. Gemäß dieser freiheitlichen Quellen und unter der Vor-stellung, dass der Kapitalismus an seine Möglichkeitsgrenzen gerät, han-dele es sich in Wahrheit darum, Grenzen zu übertreten, und deshalb sei es unvermeidbar, das Problem in seiner größten Tiefe zu untersuchen: den von der Modernität gelegten Fundamenten.

Norbert Elias, der den Blick ebenfalls auf die Ursprünge und Funda-mente der modernen Rebellion richtet, unterstreicht seinerseits den Bruch zwischen dem Natürlichen und dem Sozialen als Stütze des von der Mo-dernität errichteten Gebäudes. Der epistemologische Schlüssel ist für ihn verortet in der Schaffung einer physischen Zeit. Diese kann absolut unab-hängig von den Phänomenen gemessen zu werden, aus denen sie sich ergibt und wird dem Natürlichen zugewiesen (Elias 1996). Das Natürliche wird so aus der vitalen Welt der Subjekte vertrieben und nimmt einen ob-jektiven Charakter an, ein messbares und geordnetes Verhalten (die Na-tur!). Das Natürliche bleibt deshalb als feste Dimension der Willkür der menschlichen Wesen als den einzigen Subjekten der Geschichte ausge-setzt.

Elias hebt jedoch eigentlich die Essenz der Weggabelung hervor, die die Modernität verursacht habe in Bezug auf das vorhergegangene, wel-ches abwechslungsreich und divers war, aber nicht den Imperativen der Subjektivierung untergeordnet. Sicherlich ähnelt dies mehr dem was eini-ge als magisch2 einordnen. Mit diesem Schritt bringt er uns die dual ge-genübergestellte, polarisierte Gestaltung näher, die wir für gewöhnlich im Kapitalismus wiedererkennen. Er entdeckt sie aber klar in der Modernität.

...ce dualisme [entre temps physique et temps social] s’est enraciné au point que les gens partent de lui comme d’une prémisse évidente par elle-même me afin de pouvoir classer les évènements en naturels ou sociaux, objectives ou subjectives, physiques ou humaines. (Elias, 1996: 129-130)3

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2 Es sollte nicht vergessen werden, dass „die moderne Wissenschaft sich selbst als die Auslegung des Natürlichen im Gegensatz zum Magischen definiert hat.” (Wallerstein 2004: 97); Übersetzung JR.

3 “...este dualismo [entre tiempo físico y tiempo social] se enraizó́ al punto que la gente parte de él como de una premisa evidente por sí misma para clasificar los

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Die drei untersuchten Autoren erkunden das epistemologische Terrain auf unterschiedliche Weise auf der Suche nach irgendeiner Pioniermethode, die schon die Symptome der zivilisatorischen Krise angekündigt hat, die heute offenkundig ist.

Die Idee der Zeit ist so alt wie das menschliche Leben, aber die lineare, pfeilförmige, Zeit, die Unmöglichkeit, mit ihr zu interagieren sowie ihre Unabhängigkeit von sozialen Prozessen, kommt eindeutig erst mit der Modernität auf. Die Zeit half dabei, sich an die natürlichen Prozesse für das kreative Überleben anzupassen – manchmal auch für das destruktive, vor allem, wenn es keine gespeicherten Erfahrungen gab. Ein wenig ist es so wie ein Übersetzer von Sprachen der Natur in menschliche Codes, um Interaktion oder Intersubjektivität zu ermöglichen. Es war aber keine line-are Zeit sondern angepasst an die Phänomene. Ausgehend von der Tren-nung zwischen physischem und sozialem wurde sie in eine disziplinieren-de Zeit verwandelt – unabhängig, objektiv und quantitativ: sie wurde a-historisch und deshalb nicht zurückweisbar.

Die Lebensquelle des Kapitalismus gründet sich aus dieser linearen Zeit des Fortschritts und aus der Dichotomie, die sich beinahe unendlich ent-faltet in den gegensätzlichen oder polarisierenden Dyaden, von denen Eli-as spricht, welche die Seinsbegründung eines sozialen Organisationssys-tems wie des Kapitalismus sind, die auf der Negation des anderen und auf Wettbewerb basieren – nicht in komplementären Dyaden wie die ver-schiedener prämoderner Kulturen. Den kritischen Punkt kann man in der Einführung einer objektivierenden Dynamik festmachen, welche die in-tersubjektiven Beziehungen in Subjekt-Objekt-Beziehungen mit instru-mentellem, individualisierendem und fragmentierendem Charakter ver-wandelt. Wir müssen uns aber erneut fragen, ob der Kapitalismus oder aber die Modernität die Regeln festgelegt haben.

Wenn die Tugend der Modernität sich auf den Kampf konzentrierte, die Unterwerfung des Menschlichen gegenüber anderen Kräften zu durchbre-chen, so weist alles darauf hin, dass diese einen langen Atem hat und sie

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acontecimientos en naturales o sociales, objetivos o subjetivos, físicos o huma-nos.” (Traducción AEC). (dieser Dualismus (zwischen physischer Zeit und sozia-ler Zeit) hat Wurzeln geschlagen bis zu dem Punkt, dass die Menschen ihn vo-raussetzen ausgehend wie von einer evidenten Prämisse für sich selbst, um die Ereignisse in natürliche oder soziale, objektive oder subjektive, körperliche oder geistige zu klassifizieren. Übersetzung JR

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als vorrangiges,4 einziges Subjekt verfestigt, welches deshalb gemäß ihrer Brille oder gemäß ihrem Interesse die Welt und alle natürlichen Kräfte ih-rer Herrschaft unterwerfen muss. Der Überschuss von Persönlichkeit oder der Protagonismus des Menschlichen gelangt zu der Frechheit, das Ver-halten der Natur lenken zu wollen. So errichtet dieser die höchste Ebene der Machtbeziehungen: die Klassenbeziehungen, die Gender-Beziehungen und Beziehungen von Kulturen oder Ethnien addieren sich angetrieben von der menschlichen Gattung zu den Machtbeziehungen zwischen den Arten.

Die epistemologischen Spuren des Buen Vivir

Siempre pensé́ que la ciencia era un dialogo con la Naturaleza. Como en todo diálogo genuino, las respuestas suelen ser inesperadas.

Ilya Prigogine

Ich dachte immer, die Wissenschaft sei ein Dialog mit der Natur. Wie in jedem wahren Dialog, pflegen die Antworten unerwartet zu sein. (Übersetzung JR)

Wir verstehen das Buen Vivir in einem generischen Sinne5, als semanti-sches Feld, in dem all diejenigen emanzipatorischen Erfahrungen verortet werden können, welche externe oder bezüglich der epistemologischen Säulen der Modernität verschobene Imaginarien konstruiert haben, insbe-sondere die des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Das heißt, Gedanken-Erfahrungen des Kampfes, die auf eine Abzweigung vom aktuellen Sys-tem verweisen und sich von dessen Form des Handelns und des Weltver-ständnisses ablösen. Es handelt sich dabei eher um ein breites Universum an Kosmovisionen als um festgelegte Strecken. Den Kosmovisionen ist ihr nicht-räuberisches Wesen gemeinsam, ihre Ziele und die nicht-instrumentelle Komplementarität mit der Natur, die Intersubjektivität.

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4 Und aus der gleichen Logik entsteht dann das männliche Menschliche, das privi-legierte Menschliche (sei es in Bezug auf Wissen, Reichtum, Position, Hautfarbe etc.) und macht einem reduzierten primordialen (urzeitlichen) Subjekt Platz, das stets im Disput steht, aber stets dazu tendiert, seine Exklusivität zu sichern.

5 Deshalb sind auf dieser Ebene die Vorstellungen des Buen Vivir, dem Leben in Fülle, des Sumak Kawsay, Sumak Qamaña und anderen, die sich auf eine epis-temologische Matrix beziehen, welche den Ideen der Integralität und Intersubjek-tivität der reproduktiven Prozesse folgen, gleichwertig.

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Auch wenn sie einen Komplex darstellen, der sich aus Geschichten rechtfertigt, die dem Kapitalismus vorhergehen, entstehen sie aus seinen Eingeweiden als eine profunde Kritik an seinen Fundamenten. Sie bringen ein Gedächtnis mit, das sich sinnvoll politisch aktualisiert.

Die suizidale Tendenz der ökologischen Nicht-Nachhaltigkeit, die be-zeichnend ist für die Katastrophen unserer Tage, entsteht aus den Prämis-sen, unter denen der Kapitalismus Gestalt angenommen hat: die Beherr-schung der Natur durch den Menschen und die Organisation – und Kreati-on – von Wissen zu diesem Zweck6; die Individualisierung nicht nur der menschlichen Wesen, sondern generell, bis zu dem Punkt der Individuali-sierung seiner Teile: ein Gen, ein Molekül, ein Protein etc., als ob jede o-der jeder auf seine Rechnung handeln könnte. Von dort leitet sich nicht nur die theoretische sondern auch die praktische Unkenntnis der Ganzheit-lichikeit ab; die Darstellung der Realität erfolgt als Schlachtfeld auf der Grundlage eines zerstörerischen Wettbewerbs und der Vorstellung von ei-ner linearen Zeit, die vor einer Vergangenheit flieht, zu der sie nicht zu-rückkehren will, und die alles nach vorn tragen, einebnen und akkumulie-ren muss.

Die Einführung des Buen Vivir als Träger einer anderen Rationalität, ist zugleich Rückgewinnung und Kreation, vor allem aber einer Suche nach Überlebensformen, welche die derzeitige Gesellschaft nicht in der Lage ist, anzubieten. Die Ergründung und epistemologische Dekonstruktion der kapitalistischen Modernität ist unumgänglich, um die Prämissen, die sie möglich machen zu verstehen – und zu demontieren. Von diesem Aus-gangspunkt aus ist es notwendig, diese anderen, niemals sicheren aber doch aussichtsreichen Wege zu beschreiben. Die einzige Sicherheit be-steht darin, dass der bekannte Weg zum Selbstmord führt und dass es die Normen des Zusammenlebens neu zu erfinden gilt. Alles Weitere bleibt unsicher.

Die Beziehung Gesellschaft-Natur

Der erste Knoten, den es zu lösen gilt ist der der Herrschaft über die Ar-ten, indem man die Spaltung zwischen natürlich und sozial, zwischen phy-sisch und sozial auflöst. Die Grenze zwischen natürlich und sozial aufzu-lösen bedeutet, auf gemeinschaftlich orientierte Weise diejenigen Subjek-

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6 Siehe entsprechend die erklärten Ziele der Wissenschaft.

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tivitäten neu zu entdecken, die sich von der menschlichen unterscheiden und sie zu verstehen und zu schützen. Dazu gehört, eine intersubjektive Beziehung mit der Natur im Dialog mit ihren Regeln und Bestimmungen aufzubauen und sie nicht aufzubrechen und zu „korrigieren”. Vielmehr gilt es, sie zu verstehen und Bedingungen der Interrelation zu schaffen und so etwas, was die Tojobal Gemeinschaften (Maya) aus Chiapas unter „Konsens” verstehen. Dabei handelt es sich nicht um den Willen der Mehrheiten, sondern um das kollektive Gewebe zwischen den verschiede-nen Visionen, bis man einen wahren Gemeinsinn erlangt (Ceceña: Inter-view mit Carlos Lenkersdorf, 1999).

Wenn ich davon spreche, Konsens mit der Natur zu schaffen, beziehe ich mich selbstverständlich auf eine Praktik gegenseitigen Verständnisses. Dieses unterdrückt den Konflikt nicht, sondern gibt ihm einen Raum und es ist, aus anderem Blickwinkel betrachtet, der Konstruktionsprozess der harmonischen Komplementarität. Diese schafft die Möglichkeitsbedin-gungen für eine „Tierra sin mal” (Erde ohne Böses), einer „mundo en el que caben todos los mundos” (Welt, in die alle Welten passen), welche Teil der utopischen Imaginarien und der politischen Angebote vieler ge-genwärtiger sozialer Bewegungen sind. Der Weg zum Horizont, der Weg, verschiedene gemeinschaftliche Gemeinsinne miteinander zu verweben, ist ein Raum der Auflösung, das heißt, er muss als ein Konfliktraum ver-standen werden, welcher die konsensuale Absicht ständig herausfordert.

Der Konflikt ist Teil der Konstruktion des Zusammenlebens, sei es zwi-schen den Menschen, sei es in ihrer Beziehung mit anderen Lebensfor-men. Die Beziehung mit „der Natur”, und mehr noch mit den Bedingun-gen der Verletzung, der man sie ausgesetzt hat, wird nicht reibungslos sein, wir können sie nicht so einfach überzeugen. Aber wenn diese Bezie-hung nicht aufgebaut wird, gibt es keine Perspektive für menschliches Le-ben, nicht einmal mittelfristig. Dabei geht es nicht darum, sich von der Natur unterwerfen zu lassen indem man ihr göttliche, magische oder über-natürliche Eigenschaften zugesteht; aber es geht auch nicht darum, sie in Folge einer Säkularisierung zu unterwerfen.

Das Risiko, dem das Leben ausgesetzt worden ist, liegt darin, dass es keine mögliche Zukunft für die Menschen geben wird, wenn es sie nicht auch für die Natur gibt. Wir brauchen sie an unserer Seite, weil wir an ih-rer Seite stehen.

Es bedarf also der Beseitigung der aneignenden und hierarchisierenden Form, in der sich die Menschheit in Beziehung setzt mit anderen lebendi-gen Wesen, die in generischem Sinn (lebendige und tote) Natur genannt werden. Dieser Schritt ist unumgänglich aber sehr kompliziert. Denn im Laufe von fünf Jahrhunderten sind verschiedene Formen von Gemeinsinn

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von der Vorstellung des vorrangig ordnenden Subjekts kolonisiert worden. Und dies erfordert es wiederum, die Praktiken und ihre Bedeutungen um-zubenennen, neu zu konzeptualisieren und zu dekolonisieren. Es erfordert, das Subjekt zu entsubjektivieren. Dies bedeutet wiederum, sich auf die Natur nicht länger als ‚natürliche Ressourcen zu beziehen, welche die Probleme der Menschheit lösen werden’ und ihr ihren Charakter als akti-ves Wesen zurückzugeben. Das heißt, es erfordert, die Machtbeziehungen in Frage zu stellen und Räume des konsensuellen Verständnisses zwischen den Spezies zu suchen.

Die kulturelle Dezentrierung

Wenn das Buen Vivir eine tiefgreifende Transformation in der Beziehung Gesellschaft-Natur voraussetzt, so erfordert es aus den gleichen Gründen und auf gleicher Ebene einen Wechsel der kulturellen oder ethnischen Machtbeziehungen. Es ist unmöglich, die verschiedenen Lebensformen anzuerkennen, wenn noch nicht einmal die Vielfältigkeit anerkannt wird, die aus der Geschichte und Geographie innerhalb der menschlichen Spe-zies hervorgegangen ist – insbesondere in Gemeinschaften, die eine lange Erfahrung der Kolonisierung durchgemacht haben. Dass wir alle mensch-lich sind, macht uns nicht homogen. Wenn uns als menschlich anzuerken-nen heißt, uns als Subjekte anzunehmen, ist – ganz im Gegenteil – an eine einzige soziale Gestaltungsform nicht zu denken.

Die menschlichen Spannungen und Konflikte haben unausweichlich seit 500 Jahren und sicherlich länger eine dekolonisierende Komponente. Die menschliche Vielfalt ist für die Erhaltung der Überlebensbedingungen ebenso wichtig wie die Verbindung mit der Natur. Die unterschiedlichen Formen der Gemeinschaften, Probleme zu lösen sowie die unterschiedli-chen Visionen und Perspektiven, haben jeweils entsprechende Technolo-gien konstruiert, entdeckt, erfunden und seit Jahrtausenden erprobt. Diese bilden ein Wissen, dem sich die Menschheit nicht entziehen kann, auch nicht zugunsten des wissenschaftlichen Wissens, das nicht ausreicht, um den Fortbestand des Lebens auf dem Planeten zu garantieren.

Die Plurinationalität, die heute in den Anden- und Amazonsgebieten eingefordert wird, ist Teil der dekolonisierenden Tätigkeit. Eigentlich sind alle Kämpfe um kulturelle Vielfalt gegen das Aussterben dekolonisierend, aber sie sind (noch) viel mehr. Dekolonisieren ohne dezentrieren ist un-möglich. Dezentrieren bedeutet, die Orte, Konzepte und die Formen zu multiplizieren, von denen aus sich die Bahnen bilden, von denen aus die

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Bedingungen einer neuen materiellen Zivilisation generiert werden und zugleich die Bedingungen für eine Enthierarchisierung des sozialen Le-bens.

Kurzfristig kann man das Plurinationalität nennen, langfristig verwi-schen sich die Grenzen und die Institutionen, die wir kennen und auf kur-ze Sicht sogar verteidigen.

Meghalaya, oder: wie denkt man das Leben ohne „Entwicklung”

Das Konzept der Entwicklung ist zentral für einen bestimmten Typus des Verständnisses von Welt und ihrer (Um)Gestaltung in Funktion der Herr-schaft der Menschen über die Natur und der Menschen über die Men-schen. Dieses muss demontiert werden, um den Weg für neue Formen des Zusammenlebens, der Wahrnehmung und des Handelns zu eröffnen, wel-che die Materialität des Lebens, der Territorialität und der Kosmovisionen transformieren. Worte sind Konzepte und zugleich soziale und intersub-jektive Beziehungen. Konzepte sind Ausdruck von Lebensformen, von Wahrnehmung und Konstruktion von Objektivität und Subjektivität, sie orientieren sich an den Formen des Handelns und des Denkens. Das Kon-zept der Entwicklung ist eine Form mit der Natur umzugehen im Sinne von einem historischen Moment und den entsprechenden Umständen: die moderne kapitalistische Sicht. Diese gilt es heute dringend zu verändern:

Andere Formen, die Beziehung zur Natur zu verstehen stammen aus anderen historischen Erfahrungen, denen andere epistemologische Kon-struktionen entsprechen. Es bietet sich an, sich die Erfahrung von Megha-laya in Erinnerung zu rufen.

Der feuchteste Ort der Welt, an dem die Natur die größte Menge Was-ser erhält, und wo die Flüsse reichhaltig und üppig begrünt sind, ist ein Ort, der Leben spendet. Meghalaya liegt in einer entlegenen Ecke Indiens und bietet eine beispielhafte Erfahrung der Intersubjektivität und Vitalität. Es ist, wie so viele, dem Risiko ausgesetzt, vom dem Monster, genannt Fortschritt, verwüstet zu werden.

Meghalaya ist bekannt als „der Ort der lebendigen Brücken” und es ist ein Paradigma der Komplementarität zwischen allen Lebensformen und der ihrer Umwelt und ihrer Geschichte.

Seit sehr langer Zeit mussten die Menschen von Meghalaya mit den Flüssen zusammenleben, welche zentrale und manchmal überwältigende Protagonisten der Geschichte dieses Ortes sind. Die Wahl bestand darin, sich den Flüssen entweder entgegenzustellen, sie zu beherrschen, oder sich mit ihnen zu einigen, um ein harmonisches Leben zu erreichen. In

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Anbetracht der Wassermenge, die dort ständig hinzukommt, erschien die Konfrontation ein unmöglicher Weg zu sein. Die Flüsse erhielten ständig Verstärkung, und der Kampf gegen sie war absolut ungleich und ineffi-zient. Warum außerdem streiten; warum sollte eine Existenz die andere negieren müssen; woraus sollte man das Vorrecht ziehen, wenn die Flüsse schon da waren, als die Menschen kamen? Also sie beherrschen, kontrol-lieren ... Eine harte Aufgabe angesichts unbeugsamer Flüsse von überbor-dender Natur. Wie kann man von einer Position relativer Schwäche aus die Kräfte der Natur beherrschen?

Vor allem die jüngsten Versuche, zur Disziplinierung oder Absperrung Beton zu verwenden, sind komplett gescheitert. Die Betonbrücken ver-schwinden mit der Wasserfülle, die der erste Regen hervorruft; die Däm-me erscheinen wie ein Spielzeug zum Vergnügen der kraftvollen Lebens-ströme, die durch die Flussbetten fließen und alles mitnehmen was sie auf ihrem Weg finden.

Die Vorstellung von Modernität wirft einen Schatten, indem sie sich an ihrer eigenen vorgegebenen Unfehlbarkeit ergötzt. So begrenzt eine Sicht von der Modernität aus dieses kompliziertes Paradoxon einer so intensi-ven Vitalität und das Zusammenleben mit dem Leben auf extreme Weise. Es wurde schon seit langer Zeit gelöst durch das populare7 Wissen von ei-ner sensiblen Solidarität zwischen allen Elementen, die in dieser komple-xen Realität zusammenfließen.

Das Wasser und die Flüsse, die die Pflanzen ernähren haben an den Ufern üppige Bäume mit kräftigen Wurzeln wachsen lassen. Diese boten natürliche, starke und tiefe Fundamente, weil sonst die Bäume vom Strom herausgerissen worden wären. Sie boten die Seile für eine wunderbare Brücke, die die Bewohner/innen im Laufe unzähliger Generationen knüpf-ten. Indem sie die Wurzeln der Bäume auf der einen Seite mit denen auf der anderen verflochten, formten sie eine flexible, starke und lebendige Kette, die sich auf mehreren Etagen und in unterschiedliche und kombi-nierte Richtungen über den Fluss verband. Die Großeltern brachten diese Technik den Kindern bei, die die Arbeit fortsetzen sollten, wenn sie star-

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7 Anm. d Übers.: Das spanische popular bedeutet populär, volkstümlich, populis-tisch, geht aber auch über diese Bedeutung hinaus und meint damit alles, was die unteren Schichten (aber nicht allein die Armen) betrifft; deshalb kann popular vielleicht am besten in der Negation gefasst werden: alles was nicht von der herr-schenden Klasse/Schicht/Elite/Kultur ist, sondern vielmehr von breiten, tenden-ziell unteren Gesellschaftsschichten kommt beziehungsweise sie betrifft. (Vgl. Britt Weydes Übersetzung von Maristella Svamaps Text in diesem Band).

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ben, indem sie die Wurzeln mittels Führungshilfen aus dünnen Stämmen oder Bambus dazu brachten, sich nach und nach am gegenüberliegenden Flussufer so zu verwurzeln, dass die Brücke wirklich nicht zerstört werden kann, weil sie sich kräftigt und verstärkt, wenn der Fluss ansteigt. Wenn der Fluss höher steigt, als die Brücke aushalten kann, gibt es immer eine höher gelegene, die in Gebrauch treten kann, bis der Fluss seine Wucht verringert. Die Brücke verschwindet aber nicht.

Das Knüpfen dieser Brücken war eine der grundlegenden Aktivitäten der Gemeinschaft von Meghalaya. Deren Lebensbedingungen sind abhän-gig von ihrer Beziehung zum Fluss, den Bäumen und den Brücken, und dies hat in der Gemeinschaft ein Imaginarium von langer Temporalität er-schaffen: nur in einem langen Zeitraum, der viel mehr einer Zeit der Natur entspricht als der menschlichen Zeit, also einer zirkularen Wahrnehmung, ist es möglich, die Überlebensbedingungen an diesem Ort herzustellen. Die Dimension, der Charakter und die Temporalität dieser Aufgabe, wel-che im Übrigen unumgänglich sind, begünstigen keine Transzendenz, kei-nen Wettbewerb und kein Streben nach Exklusivität und Individualismus. Das verunsichert die modernen okzidentalen Wesen. Die Lösung des Problems ist nur auf gemeinschaftliche Weise möglich und durch eine An-sammlung von Wissensformen die die Wege, nicht nur der Wurzeln, son-dern auch des gemeinschaftlichen Handelns ausmachen.

In Richtung einer neuen materiellen Zivilisation

Die uns bekannte materielle Zivilisation gründet auf einem exzessiven Energieverbrauch. Die Vorstellung von ständigem Wachstum, von der Akkumulation von materiellem Reichtum als Motor des sozialen Prozes-ses hat zur Entgrenzung [i. Original: translimitación] (WWF) oder Über-dimensionierung des Energieverbrauchs geführt, der dem Planeten einen schwerwiegenden ökologischen Verlust zugefügt hat und das Risiko des Kollapses birgt.

In der Literatur und im Rahmen der großen Gipfeltreffen zum Thema Energie sucht man weiterhin nach so genannten „sauberen Energien”. Diese verstärken nachweislich die gleiche Logik und sind unfähig, das Problem zu lösen. Darüber hinaus erfordert das Ausmaß, in dem die Ener-gieressourcen verschlungen werden, Auswege aus der kritischen Situation zu finden, in der wir uns befinden. Die bisherigen Formen der Bioenergie rufen jedoch Probleme der Waldrodung, der Verarmung und der Vergif-tung der Böden hervor. Dies hat in kurzer Zeit dazu beigetragen, die Wüs-tenbildung und den Klimawandel zu verschlimmern.

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Das Ausmaß und der Inhalt der ausbeuterischen Dynamik der Gegen-wart erschöpft die Möglichkeiten der Natur, sich zu regenerieren und ruft exzessive Anpassungsreaktionen der Umwelt hervor, die anderswie auch Auswirkungen auf den räuberischen Ton haben, der unsere Zeit auszeich-net.

Das Paradigma der grünen Revolution – Monsanto

Das herrschende Energiemodell wird von der Einführung der Genmanipu-lation begleitet, die das Energiemodell in gewissem Maße versorgt und mittelfristig (oder kurzfristig?) eine trostlose Aussicht entwirft. Die Gen-manipulation ist Teil des ruchlosen Prozesses der Abkoppelung (von) der Natur. Anhand dessen, was ich als Paradigma der grünen Revolution-Monsanto (Paradigma GR-Monsanto) bezeichne, kann diese gut nachvoll-zogen werden.

Die Probleme, welche mit der grünen Revolution einhergingen – oder von ihr zusammengefasst und vertieft wurden – sind zahlreich und be-kannt. Ziel dieser Zeilen ist nicht, spezifische Fälle zu untersuchen, son-dern die zentralen Elemente des Paradigmas GR-Monsanto darzustellen, und es in Anbetracht der gegenwärtigen Herausforderungen zu untersu-chen.

Der Ausgangspunkt ist was ich das rodende oder entsorgende Konzept (concepto desbrozante) nenne. Es ist das herrschende Konzept des Aus-schlusses, welches das Existierende einordnet, um es in nützlich und un-nützlich zu unterteilen, in strategisch, primär, sekundär und/oder entbehr-lich. Es fehlt ein Verständnis davon, dass jedes dieser Elemente nur in Be-ziehung mit anderen existieren und sich entwickeln kann, worauf das überlieferte Wissen an allen Orten des Planeten so nachdrücklich besteht.8 Die Vorstellung des Fortschritts, welche zur Bildung dieses Paradigmas geführt hat, hat sich im umgekehrten Sinn gebildet: man musste die un-nützen Elemente eliminieren, damit sie nicht diejenigen belasten würden, welche als interessant identifiziert wurden, oder die erwünschten Elemen-

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8 Es gibt eine breite Bibliographie über diese Konzepte der Integralität und der In-tersubjektivität bezüglich der Reproduktion des Lebens, die aber strategisch zer-streut ist. Einige wichtige Referenzen sind aufgeführt in Ceceña, 2008.

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te isolieren, um ihre Produktion oder Erzeugung zu verstärken und auszu-weiten.9

Die Dschungel und Wälder wurden geordnet (vgl. Scott 1998), die Überproduktion einiger Arten wurde angeregt, die Entwicklung anderer wurde gehemmt und insgesamt destabilisierten sich die Ökosysteme. Sie zeigten die wiederholten Folgen an Plagen, die nichts anderes sind als Ausdruck des so erzeugten Ungleichgewichts. Die heimische oder lokale vielfältige Agrikultur hat man durch die umfangreichen Pflanzungen von Monokulturen ersetzt; man überflutete die Szene mit einer Auswahl der am meisten rentablen Samen oder Pflanzen und begünstigte die Eliminie-rung (und sogar Ausrottung) der anderen. Die Felder bedeckte man mit eingeführten Chemikalien, mit Pflanzenschutzmitteln, Herbiziden und weiteren Produkten zur Korrektur der Natur. So brach man mit jahrtau-sendalten Erfahrungen und Praktiken, gemäß derer Natur und Gesellschaft als eine bewohnbare und harmonische Umwelt behandelt wurden. Diese beruhten auf einer Verflechtung durch die auf autonome Weise Gleichge-wichte und Komplementaritäten (wieder)hergestellt werden konnten. Die-se Verflechtungen konnten auch von Konflikten durchkreuzt werden und sich permanent neu definieren.

Das rodende, entsorgende Konzept zielt genau auf eine Abspaltung. Die Natur wird demnach in eine hierarchisierte Summe von Komponenten transformiert. Man beobachtet deren Nutzbarkeit oder potentielle Ver-wertbarkeit, aber nicht ihre relationalen Dynamiken. Selbstbezogene Indi-viduen ersetzen die Menschenmenge, und so werden die Prozesse zu uni-lateralen gemacht. Die Monokultur verkörpert als bestbekannte und ver-allgemeinerte Ausformung dieses rodende Konzept, welche die grüne Re-volution vorangetrieben hat. Monokultur ist eine der Hauptursachen für die Abnutzung der Böden, den Rückgang der Artenvielfalt und die allge-meinen Verschlechterung der Natur.

Dessen ungeachtet erschöpft sich dieses Konzept nicht in einer geschei-terten Erfahrung, – die übrigens weiterhin angetrieben wird, trotz ihrer Neigung zur Nichtnachhaltigkeit. Vielmehr erscheint es erneut in ver-schiedenen Technologien und mit der Verwertung der Natur verbundenen Angeboten. Die Firma Monsanto, die wissenschaftliche Forschung auf al-lerhöchstem Niveau sponsert, hat im Zuge der erreichten Entwicklung und

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Eine wertvolle und minutiöse entsprechende Studie hat James Scott (1998) durchgeführt, der sich als Richtlinie auf die Ordnung oder Disziplinierung der Natur bezieht.

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der technologischen Präzision einen neuen, wegen seiner Reichweite und Folgen viel risikoreicheren, Prototyp des rodenden Konzepts generiert.

Bekanntermaßen sind die Samen das Medium einiger Pflanzen, auch für viele Nutzpflanzen, um zu leben und sich zu erhalten, um das Leben zu erneuern. Samen sprießen und lassen aus sich eine neue Pflanze entste-hen, die in einer unendlichen Kette der Lebenserschaffung die Samen der nächsten hüten wird. Niemals gleicht ein Samen einem anderen, niemals sind Pflanzen identisch. Ihre Variationen schaffen die Spuren einer Evolu-tion, die ihren unendlichen Interaktionen entspricht. Die Natur korrespon-diert nicht mit dem zielgerichteten Konzept der Zeit; sie dreht ihre Run-den, kehrt zurück, rekonstruiert, schreitet voran, wiederholt und erneuert. Kurven scheinen ihre bevorzugte Form zu sein, und sie nimmt sich ohne Eile die Zeit die sie als günstig einschätzt.

Monsanto hat es geschafft, eine Form zu finden, dieses Verhalten der Samen zu modifizieren, um ihre Leistungsfähigkeit zu steigern und das Ausmaß der Produktion zu erhöhen. Mit dem Ziel, die Launen der Natur zu kontrollieren, produziert man Saatgut um das Natürliche zu ersetzen. Monsanto nahm die Samen von der Natur, modifizierte sie und heute kommen die Samen aus den Labors. Aber sie sind keine Lebensträger mehr. Monsanto hat die perverseste Innovation erschaffen: einen Samen, der sich nicht reproduzieren kann.10 Ein Samenobjekt; die Negation des Lebens: den Terminator-Samen.

So zerbricht man nicht nur die Ganzheitlichkeit, unterbricht die tropi-sche Kette, und es individualisiert sich nicht nur jede/s einzelne Wesen, welches die Umwelt bildet. Darüber hinaus wird auch verhindert, dass ein lebendiges Wesen sich reproduziert, um seine Reproduktion anschließend zu verkaufen. Der natürliche Prozess wird aufgehoben. Die Evolution wird aufgehoben und damit schließt sich der Kreis der programmierten Plünderung: die des Paradigmas grüne Revolution – Monsanto.

Geopolitische Dringlichkeiten und systemische Transformationen

Die Linearität der Akkumulation widersetzt sich den holistischen fürsorg-lichen Praktiken der Ganzheitlichkheit der Prozesse der Organisation und ____________________

10 Fürs Erste. Da man die Kreativität des Lebens, neue Wege und Lösungen für die Hindernisse zu finden, die ihm in den Weg gelegt werden, nicht unterschätzen sollte, kommt vielleicht der Moment, in dem diese Samen es schaffen könnten, sich zu reproduzieren, aber derzeit nicht.

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Erzeugung von Leben und seinen Stützungsbedingungen und ersetzt sie. Mit einer Sorgfalt, die die stete Wiederkehr sicherstellt, verwandelt die Konzeption einer kosmischen Ganzheitlichkeit die gefräßigen Ausplünde-rungsprozesse mittels derer die lineare Zeit die Natur ausplündert. Sie entwickelt sich im Einklang mit einem zirkularen Zeitverständnis, demzu-folge alles wiederkehrt, wo alles bleibt und zugleich nicht dauerhaft ist.

In der zirkularen Zeit besteht keine Notwendigkeit, und es ist auch nicht ratsam, auf einen Schlag alle Güter, welche die Natur uns gibt oder welche die menschliche Kraft produziert zu nutzen, abzubauen, aufzukaufen. Dies macht nur in einer zukunftslosen Zeit Sinn. Im Gegenteil, je natürlicher Reichtum und Vielfalt bleiben, desto mehr Bedingungen zur Erhaltung und Neuerschaffung von Leben gibt es.

Diese Rationalität teilen allgemein diejenigen Gemeinschaften und Kul-turen, die sich der Plünderung des gesamten Planeten widersetzen und ge-gen sie kämpfen – egal ob sie unter der Vorstellung des Buen Vivir oder des Vida en Plenitud [Leben in Fülle] formuliert wird oder nicht. Diese Rationalität nimmt das Erbe jahrtausendalter Erfahrungen der Menschheit auf und erfindet es neu, indem sie andere Inhalte einräumt und andere Vorsätze, technologische Sinngehalte und Skalen dafür, was sich mög-licherweise als eine neue materielle Zivilisation von holistischem, kom-plementärem und ganzheitlichen Charakter profilieren könnte.

Nach Informationen des WWF (2010) überstieg der ökologische Fuß-abdruck die Kapazität der Erneuerung der Erde schon 2007 um 50 Pro-zent, und die Umstände haben sich seither nur verschärft. Nichts hat das Fortschreiten des ökologischen Schadens aufgehalten.

In less than one century capitalism has been able to reverse what the planet was able to create only in millions of years. There is no doubt that this points to the immense power achieved by science and technology but, more than that, to the original perversion with which this system under-stands and confronts nature. Because the tropics are the sites of more ge-netic concentration, diversity and variability, the ecological overshoot ma-de them contract in 60% in less than 40 years (WWF, 2010).11

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11 „In weniger als einem Jahrhundert hat es der Kapitalismus geschafft, umzukeh-ren, was der Planet in Millionen von Jahren erschaffen hatte. Zweifellos verweist diese Tatsache auf die immense Macht, die durch Wissenschaft und Technologie erreicht worden ist, aber vielmehr noch auf die ursprüngliche Perversion nach der dieses System die Natur versteht und ihr gegenübertritt. Da die Tropen die größte genetische Konzentration, Vielfalt und Variabilität aufweisen, hat die ökologi-

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Die weltweite hegemoniale (nicht die einzige) Produktionslogik des Kapitalismus stellt einen gefräßigen und unaufhaltsamen Weltmarkt ins Zentrum. Dessen Kriterien der Befriedigung der konkreten materiellen Nachfrage haben sich in Richtung der Finanzexperten verschoben und produzieren Figuren wie die „Märkte der Zukunft”, die per Definition un-ersättlich sind. Die Versorgungsnotwendigkeit des Weltmarktes über-schreitet also jeden realen Gesamtbetrag, um in eine Logik fiktiver, poten-zieller, maßloser Gesamtbeträge einzutreten. Diese Logik nimmt einen unaufhaltsamen Lauf, dessen Hauptstütze die Plünderung der Natur ist.

Die Art und Weise wie der Kapitalismus den gesamten Planeten in die-se Dynamik einbindet führt zu perversen Spiralen, welche sich mittels vielfältiger Mechanismen gebildet haben. Dazu zählt die Zwischenstaat-lichkeit: es gilt, die Produktion gemäß der Normen und Formen des tech-nologischen und produktiven Paradigmas fortzuführen, die der Wettbe-werb und der hegemoniale Disput generiert haben. Dafür ist es unumgäng-lich, Devisen zu haben, um sich mit der Technologie versorgen zu können, die es ermöglicht, weiterhin an das gleiche Produktionsmodell gebunden zu bleiben. Andernfalls würde man die „Wettbewerbsfähigkeit” verlieren, das heißt, die Präsenz oder Position auf dem Weltmarkt. Und unter den gegebenen Bedingungen dieser produktiven, ausbeuterischen and zentrali-sierten Verzahnung, gibt es derzeit drei Devisenquellen:

1) Die Auslandsschulden: Dieser Mechanismus hat den Prozess der

kapitalistischen Kolonisierung von Beginn an mit enormem Er-folg in Gang gebracht, und sie sind, wie die Wirtschaftsge-schichte zeigt, immer unbegleichbar;

2) Der „Export” von Arbeitskraft, um Geldsendungen (remesas)

einzuziehen: Diese erfolgt auf Kosten einer doppelten Ausbeu-tung. Dabei wird eine Überschreitung der Normativität (weil es allgemein schwierig ist, ihre Forderungen zu erfüllen) kombi-niert mit Situationen der Illegalität und einem hohen Risiko bei präkarisierten und oft unwürdigen Arbeitsbedingungen – sowohl bezüglich der Arbeitsinhalte wie auch der Bezahlung.

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sche Entgrenzung (translimitación ecológica) diese in weniger als 40 Jahren um 60 Prozent reduziert.” Übersetzung JR.

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3) Die wachsende Verwertung (und Inwertsetzung) (entrega) von „Naturressourcen”– das heißt, von Natur. Diese sind in den meisten Fällen nicht erneuerbar. Das bedeutet einen absoluten Verlust. Dies erfolgt auf unterschiedliche Weisen. Für die Natur und die Bewohner/innen am meisten belastend ist die Praktik, den großen transnationalen Firmen den Vortritt zu lassen, damit sie sich um die Extraktion und die Aufstellung auf dem Welt-markt kümmern. Die andere ist die direkte Ausbeutung durch den Staat oder durch die eigenen Landsleute. Dies kann eine Veränderung des Anteils an den erzielten Gewinnen bedeuten und manchmal an den Erträgen der Ausbeutung, aber sie ändert nicht die Produktionsmatrix. Das heißt, es gibt keinen Grund, den Schaden an der Natur und die Entgrenzung des ökologi-schen Fußabdrucks zu ändern, obwohl es andere Matrizen geben kann.

In diesem Fall gibt es eine Variante, die in einigen Ländern Südamerikas ausprobiert wird, und die kurzfristig einen größeren Effekt auf dem Gebiet der Verteilung haben kann. Dennoch fällt diese Variante, wie die Ge-schichte gezeigt hat,12 mittelfristig zu einem guten Maß zurück auf die

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12 [Anm. d. Übers.: Seit Mitte der 1990er Jahre setzt Lateinamerika wieder verstärkt auf ein Entwicklungsmodell, das auf der Ausbeutung natürlicher Ressourcen be-ruht. In einigen Ländern wird deshalb auch von einer „Reprimarisierung” der Wirtschaft gesprochen, das heißt der Rohstoffabbau gewinnt innerhalb der Ge-samtwirtschaft an Bedeutung, während die verarbeitende Industrie zumindest re-lativ abnimmt.] Mitte des 20. Jahrhunderts gab es in Lateinamerika einen ähnli-chen Versuch, angeregt durch das Denken der CEPAL, der in groben Begriffen bekannt wurde als Prozess der Importsubstituierung. Man versuchte damals, in der Region den gestiegenen Anteil an unverarbeiteten Agrarprodukten und Roh-stoffen am Gesamtexport wieder zu reduzieren (desprimarizar), zunächst durch die Produktion von Zwischenprodukten (bienes intermedios) und später durch Anlagegüter/Kapitalgüter (bienes de capital). Dies trat niemals ein. Als man sich in ein anderes Stadium als das der Akkumulation versetzt glaubte, erwies sich der technologische und organisatorische Sprung der Zentren der weltweiten Wirt-schaftsmacht dergestalt, dass die lateinamerikanischen Prozesse erneut der all-gemeinen Logik untergeordnet wurden. Die Diskussionen dieser Zeit insistierten darauf, dass der Kapitalismus keine Abfolge identischer Etappen sei, wie Rostow glaubte, sondern eine polarisierte Formation, innerhalb derer die beiden Spitzen wesentliche Teile desselben Phänomens darstellen. Dies war der Grundton der Analyse von Autoren wie Gunder Frank und Ruy Mauro Marini und von einigen anderen der sogenannten dependistas. Die Realität hat sich verändert und ist heu-

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technologischen Breschen und die allgemeine Disziplinierung zu einer Produktionslogik und einem -modell, auf das man wenig Einfluss hat. Diese Variante besteht darin, die abgebauten Güter einigen Transformati-onsprozessen (Verfeinerung, Extraktion von Wirkstoffen, Destillierung etc.) zu unterziehen. Dies erlaubt, die eigene relative Position in Hinblick auf die internationale Arbeitsteilung zu verbessern und einen größtmögli-chen Anteil des generierten Reichtums zu erhalten. Es handelt sich nicht um einen Wechsel des Produktionsparadigmas, auch wenn diese Variante in Begriffen von eigenstaatlicher Werbung Bedeutung hat.

Wenn vom Leben in Fülle (Vida en Plenitud) oder dem Sumak Kawsay gesprochen wird, wird aber an einen Rationalitätswechsel appelliert, an eine epistemische Verschiebung, die ermöglichen soll, den Blickwinkel zu ändern. Dieser soll zudem auf eine Organisationsform mit vielmehr repro-duktiven als produktiven Kriterien zielen. Die Konzeption der Materialität wird von den intersubjektiven Beziehungen zwischen den verschiedenen Lebensformen aus gedacht und nicht von den Subjekt-Objekt-Beziehungen. Dies markiert einen grundlegenden Wandel in der Betrach-tungsweise der Welt und der Säulen von denen aus sich Territorialität, So-ziabilität und Materialität konstruieren.

Gemäß dieser anderen Kosmovisionen stellt man sich die „Grundbe-dürfnisse” sicherlich anders vor: das Ausmaß der Produktion ist nicht mit Unersättlichkeit verbunden; die Produktionsinhalte unterscheiden sich von den gegenwärtigen; es gibt kein vorherrschendes Energiemodell, sondern vielfältige Formen, Energie zu gewinnen sowie Lebensformen, die keinen exzessiven und ständigen Energieverbrauch erfordern.

Vom Standpunkt dieser anderen Sichtweisen beruht eine der zentralen Formen der Hinterfragung auf der Wahrnehmung der Realität als frag-mentiert und der daraus folgenden Zerrüttung der Ganzheitlichkeit. Es ist nicht konsequent, Produktion auf andere Weise zu denken als von der Re-produktion und ihren Spuren her, und die Reproduktion selbst markiert die Linien und Formen der Produktion.

In Übereinstimmung mit diesem allgemeinen Sinngehalt ist es unab-dingbar, sich erneut Fragen zu stellen in Bezug auf die Komplementarität mit der Natur wie die Extraktion von Mineralien, oder die Nutzung der Regenwälder. Ebenso ist sicherlich die Ernährungssouveränität ein Defini-tionskriterium des Weges, den es zu verfolgen gilt.

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te viel komplexer, aber das Weltsystem bleibt weiterhin durch die Polarisierung gekennzeichnet, welche eine seiner immanenten Charakterzüge ist.

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Im Prozess der Konstruktion des Sumak Kawsay, eines Lebens in Fülle, welches die Überlebensbedingungen auf dem Planeten wiederherstellen könnte, erfindet sich gerade alles neu, wird unterminiert, oder erlangt eine neue Bedeutung. Der Wandel beginnt bei den ökonomischen Theorien auf der Grundlage der Vielfalt an Erfahrungen und Technologien, welche die Gemeinschaften im langen Zeitraum ihrer Geschichte kennengelernt ha-ben. Von dieser anderen Seite aus zu denken – entlang anderer Kriterien, mit anderen epistemologischen Orientierungen mit einem Erbe nicht-kapitalistischer alternativer Technologien, um die neuen Prozesse stützen zu helfen – führt notwendigerweise zu anderen Formulierungen und Prak-tiken. Dafür muss man sich trauen, die Betonbrücken beiseite zu lassen, um gemeinsam mit der Natur daran zu arbeiten, lebendige Brücken zu bauen, wie man sie in Meghalaya findet – ohne dabei die allgemeinen Umstände zu verkennen und ohne Romantizismen. In dem Wissen um die Risiken, die aus der Herausforderung des Bekannten entstehen, eines fest verwurzelten und arroganten Systems, bedarf es aber trotzdem Utopien basierend auf dem Bewusstsein der Notwendigkeit, dass die räuberische und schmutzige Dynamik aufgehalten werden muss, zu der die Formen des Handelns und Denkens der hegemonialen kapitalistischen Praxis füh-ren. Wenn dies nicht jetzt passiert, also zu einem Zeitpunkt wo die Bedin-gungen der systemischen Instabilität vielfältige Möglichkeiten der Zerset-zung eröffnen, und wo die Vitalität der Gemeinschaften (pueblos) zum Denken neuer Horizonte führt, wird es auch nicht dann geschehen, wenn das Leben auf dem Planeten seine letzten Atemzüge aushaucht.

In diesem Kampf müssen Natur und Gesellschaft auf der gleichen Seite kämpfen; das wird die einzige Art und Weise sein, die menschlichen Le-bensbedingungen auf der Erde wiederherzustellen. Und das Buen Vivir, unter seinen vielen Namen und Formulierungen, weist in diese Richtung. Auch wenn die Geschwindigkeit, mit der die Akkumulation fortschreitet diese Form beenden könnte, indem sie ihr den Weg verweigert, während sie die Zukunft aushebelt.

Der konzeptuelle Korridor des Nicht-Kapitalismus

Die Situation der zivilisatorischen Nichtnachhaltigkeit, auf die wir um die Jahrtausendwende herum zusteuern, zwingt uns dazu, den Horizont in sys-temischen Begriffen zu denken. Wir müssen ihn von der immanenten epistemischen Seite her konfrontieren, die den Kosmovisionen entstammt, welche im Laufe der letzten 500 Jahre überliefert und rekonstruiert wor-den sind.

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Trotz der kulturellen Unterwerfung, die der Kapitalismus seit seinen Ursprüngen verübt, haben sich Kosmovisionen, gesellschaftliche Organi-sationen, Imaginarien und Verbindungen zur Mutter Erde (Madre Tierra) als Zufluchts-Ort erhalten, von dem aus der Widerstand hervorgebracht wird. Von diesen Räumen gehen heute die Visionen einer Geschichte aus, die dem Kapitalismus sowohl vorhergehend als auch zeitgenössisch ist, aber nicht mit ihm identisch; ebenso wie auch die Vorstellung und die Möglichkeitsbedingungen von einer Geschichte nach dem Kapitalismus.

Eine zirkulare Konzeption von Zeit ermöglicht es, an den Ausgangs-punkt zurückzukehren, ihn zu überprüfen und den Weg wieder aufzuneh-men. Im Unterschied zur linearen Konzeption, die zu einem akkumulati-ven und aneignenden Verhalten führt, gibt es nach dieser Vorstellung von Zirkularität keine Notwendigkeit, irgendetwas zu entziehen. Sondern es gilt zu garantieren, dass es immer Verfügbarkeit gibt. Und diese Vorstel-lung gilt für alle Ebenen der gemeinschaftlichen oder zwischengemein-schaftlichen Beziehungen, so dass sie eine Entsprechung im Bereich der politischen Prozessführung hat wie in Maghalaya.

Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen ökologischen Katastrophe und der Herausforderung des systemischen Kollaps eröffneten die Zapa-tist/innen in Chiapas das neue Jahrtausend, indem sie die Bestrebungen der Politik und der Demokratie hinterfragten. Sie zeigen, dass es eine Vielfalt von Gemeinschaftlichkeiten gibt, welche der kapitalistischen un-tergeordnet bestehen. Sie repräsentierten die Unvollständigkeit und Polari-tät des so genannten Fortschritts und heben darüber hinaus die Existenz von subalternen und dissidenten Zukunftsvorstellungen zur/der Moderne hervor, die ein Ausgangspunkt für die systemische Abzweigung sind.

Ihre Revolte gegen die Individualität, die Fragmentierung und den Sinnverlust, fordert ein gemeinschaftliches, nicht-ausbeuterisches Territo-rialitätsverständnis ein. Indem sie Traditionen zurückeroberten und utopi-sche Imaginarien wieder stark machten, die zu der Welt führen, in die alle Welten passen, durchrütteln (sie) alle Wahrnehmungen von Welt und von Geschichte. Die epistemologischen Referenten, die von der Moderne als universal angeordnet worden sind, werden ent-ortet, und auf der Suche nach zukünftigen nachhaltigen, würdigen und freiheitlichen Projekten vervielfältigen sich die Interpretationen.

Die langen Gedächtnisse [plural im Original, Anm. der Übers.] der Gemeinschaften (pueblos) verweisen auf entfernte Horizonte. Zudem ließ die Feier/das Fest der Loslösung der Sinne das Magma der Rückerobe-rung-Konstruktion der unterschiedlichen Welten fließen, welche die Welt formen und formen werden.

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Das Denken des Lebens auf ganzheitliche Weise bildet die Quelle, von der aus die Emanzipation keine Grenzen kennt. Denn dieses Denken erfordert, die Bedingungen, die das Leben ermöglichen, in ihrer Vollständigkeit zu rekonstruieren. Dazu gehören seine überlagerten Zeiten, seine schöpferi-sche Komplexität, die sich als Teil einer Totalität in Bewegung weiß, die Umsicht und Respekt schützt. Zugleich verlangt es diese Sichtweise, von einer Totalität mit vielfältigen Subjekten abzusehen und dezentriert zu sein, weil es zerstreute und verschiedene Zentren gibt.

Das um die Jahrtausendwende entstandene Imaginarium von der Welt, in die alle Welten hineinpassen, von der Erde ohne Schlechtes oder dem Lebens in Fülle, welche die Diskussion von den Interlokutionsräumen mit dem Kapitalismus ins Innere der Gemeinschaft und in den Alltag dringen ließ und gleichzeitig das Problem der Organisation des Lebens in seiner Totalität angeht, hat sich übertragen auf die Welt des Sumak Qamaña (Vi-vir Bien/Gut Leben) oder des Sumak Kawsay (Buen Vivir/Gutes Leben). Es drang von den politischen Aufständen hinein bis in die kleinen Räume, in denen die Politik gewebt wird, die zur Subversion der Regeln der sozia-len Organisation führt: von der materiellen Produktion zur Reproduktion des zufriedenen Lebens; von der Unterwerfung des Objekts hin zur Freude der Intersubjektivität.

Es besteht ein breiter Korridor neuer Sinngehalte – die zugleich wie-derhergestellte alte Sinngehalte sind. Diese umfassen alles, vom Kräf-tegleichgewicht und Übereinkünften des Willens, über nationale Pakte und konstituierende Versammlungen bis hin zur Neuorganisation des kol-lektiven täglichen Lebens unter der Bedingung von Respekt und Kom-plementarität. Wir stehen an einem wahren zivilisatorischen Scheideweg, der zu einer Subversion des Denkens, der sozialen Praktiken, der Subjek-tivität, der Institutionen, der Wahrnehmungen und der Wissensformen (auf)ruft, zu epistemischer Ent-ortung und sozialer Neugründung. Dies scheinen die Herausforderung des neuen Jahrtausends zu sein. Sie impli-zieren, sich mit Konzeptionen von Modernität auseinanderzusetzen, um ihre kritischen Verknotungen zu entdecken und aufzulösen und die Fluchtpunkte zu finden, von denen aus eine Welt geschaffen werden könnte, in der Natur und Gesellschaft Seite an Seite gehen.

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Literatur Ceceña, Ana Esther: Derivas del mundo en el que caben todos los mundos, 2008. Ceceña, Ana Esther: „El mundo del nosotros: entrevista con Carlos Lenkersdorf”, Chiapas 7

(Mexiko: ERA-Instituto de Investigaciones Económicas), 1999, S. 191-205. En www. revistachiapas.org (letzter Zugriff: 28.11.2014).

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Wallerstein, Immanuel, Después del liberalismo, 1999. WWF: „Planeta Vivo”, Informe 2010, Biodiversidad, biocapacidad y desarrollo, 2010, http:

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Teil II In Bewegung:

Sozialer und künstlerischer Protest

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„Ressourcen als Gemeingüter behandeln” Interview mit Gabriela Romano1

Die Gebirgskette der Sierra de Famatina in den nordargentinischen Anden hat über 6.000 Meter hohe Berge. Schon in vergangenen Jahrhunderten wurden hier Gold- und Silbererze abgebaut. Auf einem Gebiet von 40 Quadratkilometern sollen noch rund 280 Tonnen Gold lagern, die im so-genannten „offenen Tagebau” abgebaut werden sollten. Mit dem Einsatz von Zyankali und Millionen Litern von Wasser wird mit dieser Methode das Gold herausgesprengt und dann das zermalmte Berggestein herausge-waschen. Für die Anwohner/innen bedeutet diese Methode Vergiftungen, Wassermangel und Krankheiten. Seit 2006 leisteten die 5.000 Bewoh-ner/innen des Dorfes Chilecito Widerstand gegen die Bergbaufirma Bar-rick Gold und hatten Erfolg: Barick Gold trat den Rückzug an. Im Som-mer 2011 unterzeichnete der Provinzgouverneur Luis Beder Herrera ein Abkommen zur Erkundung der Lagerstätten mit der kanadischen Osisko Mining Corporation. Mit Straßenblockaden und Demonstrationen verhin-derte die Nachbarschaftsbewegung seit Anfang 2012 immer wieder den Beginn der Arbeiten. Im Juli 2013 teilte die Provinzregierung mit, dass sich die Megamine gegen den geschlossenen Widerstand der lokalen Be-völkerung nicht durchsetzen ließe.

Gabriela Romano ist Lehrerin sowie Mitglied und Aktivistin der sozia-len Bürgerbewegung „Asamblea Ciudadanos por la Vida de Chilecito” in Chilecito. Sie war bei den Protesten gegen die zerstörerische Goldminen-ausbeutung und die Zerstörung der Lebensgrundlagen und der traditionel-len Lebensweisen der Bewohner/innen dabei.

1) Was ist für Sie das Wichtigste in Ihrer politischen und sozialen Arbeit?

GR: Ich glaube, dass eine der Errungenschaften, die ich erlebt habe, mit einem Wandel begonnen hat, der individuell war, und dann kollektiv wur-

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1 Lehrerin und Aktivistin der sozialen Bürgerbewegung „Asamblea Ciudadanos por la Vida de Chilecito” im Kampf gegen das Bergbauunternehmen Barrick Gold (Argentinien).

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de. Es geht darum, dass wir uns rechtzeitig bewusst werden, dass dieses [vorherrschende] Modell, das viele Gesichter hat, nicht mehr funktioniert, und dass wir beginnen müssen nach Veränderungen zu suchen. Es wird viel darüber geredet, ob dieses Buen Vivir ein Rezept sei. Ich glaube, jeder wird einen Weg finden. Die Mapuche haben schon sehr klare Vorstellun-gen, für uns stellt sich das ein bisschen komplexer dar. Ich bin Lehrerin, arbeite viel mit jungen Leuten, ich unterrichte Geschichte und im Allge-meinen fragen dich die Kinder immer: Wozu sollen wir etwas lernen über etwas, was vergangen ist? Ich ziele stets darauf ab, diese Erinnerungen wach zu halten [und frage]: Aber wer von uns stellt Geschichte her, doch nicht die bedeutenden Persönlichkeiten, oder? Denn wir haben in der ar-gentinischen Geschichte vor allem diese Version der offiziellen Geschich-te, die uns Lügen aufgetischt hat. Leider erzählen wir sie häufig immer noch in den Schulen nach und reproduzieren nach wie vor Modelle, die uns nichts mehr bringen, in den Schulen, in unserem alltäglichen Umfeld. Und für mich ist es eine der größten Errungenschaften, dass mir rechtzei-tig klar wurde, dass mich das nicht glücklich macht und dass ich damit aufhören muss. Aufhören, Komplizin zu sein und mit der Suche nach Ver-änderungen beginnen und nicht [warten], dass man mir sie bringt. Oder dass ich nach Rezepten suche und mich mit Leuten treffe, die ähnlich denken wie ich. Ich fand in meinem Dorf, das ganz klein ist, viele Leute, die wie ich dachten und so begannen wir mit der Arbeit. Ich fing von mei-nem Zuhause aus an. Das ist der erste Ort, das Naheliegende und danach überträgst du es und es breitet sich aus und so entstehen Netzwerke. Und ich glaube, das ist eine der wichtigsten Errungenschaften. Ich beschloss, nicht mehr Komplizin zu sein, denn du kannst Komplize sein durch aktive Handlungen oder durch Unterlassungen, wenn du Teil von etwas bist oder wenn du indifferent bist, dann bist du auch Komplize. Ich wollte nicht mehr indifferent sein gegenüber allem, was passiert und wollte beginnen, Veränderungen zu suchen und hervorzubringen. Ich glaube, dass wir das schaffen. Nicht auf die Art und Weise oder mit dem Ausgang, den man sich erhofft hat, aber wir schaffen das.

2) Sie kämpften für den Erhalt des Famatina in La Rioja. Was bedeutet Ihnen der Berg? Welche Funktion erfüllt er? Welche Bedeutung hat er?

GR: Ja, dieser Berg hat eine besondere Bedeutung, das sind nicht nur auf-gehäufte Felsbrocken. Er hat viel mit unserer Vergangenheit zu tun. In un-serer Vergangenheit gab es auch indigene Gemeinschaften und er hat mit dem zu tun, worüber wir sprachen: dem Territorium. Und er hat mit dem

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zu tun, was wir über das Territorium redeten; das Territorium ist symbo-lisch verflochten mit der Identitätsfrage, mit der kulturellen Frage. Die In-digenen redeten schon davon, dass der Famatina nicht angerührt werden solle, so erzählten es die Legenden über diesen Berg. Und als ich mich dem Kampf anschloss, ging es mir zunächst so – Chilecito ist 40 Kilomen-ter von Famatina entfernt und ist eher urban, eher Stadt. Famatina ist ein viel kleineres Dorf, das eine nähere Verbindung zu dem Berg hat. Ich musste erst einige Monate bei dem Kampf mit dabei sein, um zu verste-hen, wie die Leute, die Bewohner/innen von Famatina sich mit der Natur in Beziehung setzen. Sie sprachen von dem Berg und gaben ihm bestimm-te Qualitäten, sie personifizierten ihn. Und am Anfang verstand ich sie nicht, ich kämpfte mit, bekam aber diese Verbindung nicht hin. Als wir dann mit der Straßensperre gegen Barrick Gold bei einer Berghütte auf 1800 Meter Höhe begonnen hatten, verbrachten wir dort Tage und Nächte und wechselten uns turnusmäßig ab.Wegen unserer Arbeit waren wir sehr spät fertig und konnten nur diesen Turnus mit den Genoss/innen bei der Blockade übernehmen – andere, die auch in der Schule arbeiteten. So gin-gen wir und beteiligten uns in der Nacht an der Blockade und kehrten morgens zurück, gingen in die Stadt hinunter zum Arbeiten. Als ich dann dort die Natur erlebte, in der Abenddämmerung, die Gerüche, die Geräu-sche, das vor Ort sein, das ist sehr stark. Erst dort begriff ich, warum der Kampf dort entstanden war, so nah am Berg und dass er sich von dort über andere Orte ausbreitete. Vielleicht ist es schwierig zu erklären, es gibt Dinge, die du fühlst, die dich prägen, dich bewegen und erst dann kannst du losgehen und beginnen sie zu verbreiten. Aber es gibt Dinge, die du er-lebst und die du vielleicht nicht in Worte fassen kannst. Dort wird häufig versucht, etwas in Konzepte zu pressen, was wir in der Praxis machen und das kollidiert dann miteinander. Wir beobachten, dass es im Allgemeinen auf unseren Treffen viele Leute gibt, die Konzepte suchen und versuchen, es mit Worten zu erklären. Es gibt einige Dinge, bei denen das geht, aber andere Dinge in diesen Kämpfen musst du erleben und bevor du sie nicht erlebst wirst du sie vielleicht auch nicht verstehen.

3) Dieser Kampf hat sich ausgeweitet. Im ganzen Land und darüber hinaus sind Beziehungen entstanden …

GR: Als wir mit diesem Kampf begannen, versuchten wir als erstes uns mit anderen Dörfern in Verbindung zu setzen, die bereits unter diesen Mega-Bergbauprojekten litten. Eines davon ist Catamarca, in der Nach-barschaft zu La Rioja. Wir reisten also und begannen die Region zu besu-

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chen, nahmen Kontakt zu den Anwohner/innen auf, hörten uns ihre Be-richte an … Und genau diese Netze ermöglichen es uns, den Kampf zu stärken und kennen zu lernen. Die Regierung präsentierte genau diesen Fall der Bergbaugesellschaft La Alumbrera in Catamarca als Beispiel da-für, was der Mega-Bergbau für die „Entwicklung” der Dörfer bedeute. Uns reichte ein Wochenende vor Ort mit den Leuten aus Andalgalá und Belén, welche die Orte sind, die am nächsten an den Minen liegen und wir erkannten, dass der „Fortschritt”, der sich angeblich nach mehr als zehn Jahren Mega-Bergbau hätte einstellen müssen, nicht gekommen war. Im Gegenteil, das Dorf war ärmer als zuvor, die soziale Spaltung, die sozialen Probleme, die das hervorruft, wenn multinationale Konzerne die Rolle der Regierung übernehmen. Befreundete Lehrer/innen erzählten uns zum Bei-spiel, wie sie sich nicht mehr an die Regierung, sondern an die Bergbau-unternehmen wandten, wenn sie etwas benötigten. Es war der Manager der Bergbauunternehmen, der sich an die Schulen wandte und ihnen Computer und Bücher anbot. Und was versuchen sie damit? Uns einzu-binden und zum Schweigen zu bringen. Du gingst zum Krankenhaus und wir sahen, dass auf den Notarztwagen Schilder mit der Aufschrift „Berg-bauunternehmen La Alumbrera” waren und die Straßen wurden mit „Bergbauunternehmen La Alumbrera” bezeichnet. Das war wie eine Pa-rallelregierung, die entstanden war. Das zusammen mit der sozialen Frage, der Wasserfrage. Die Landwirt/innen erzählten uns, wie sie Jahre lang auf den Weideplätzen gearbeitet und ihre Tiere gehalten hatten. Sie hatten ihr Land von ihren Großeltern geerbt und mussten jetzt fortgehen. Es gab Zeugenberichte von Leuten, die in die Stadt gehen mussten oder nach Bu-enos Aires. Diese Entwurzelung ist sehr heftig für jemanden, der dort auf-gewachsen ist. Ich kann mir nicht vorstellen in einem anderen Ort als Chi-lecito zu leben; wenn ich zwei, drei Tage woanders bin, vermisse ich mei-ne Leute, den Berg, du stehst auf und er ist da. Bei einigen ist das sehr ausgeprägt, es gibt Leute, die in den Bergen leben, auf den Weideplätzen und ihr Leben besteht darin, die Tiere zu halten, mit ihren Pflanzen und ihrem Wasser zu sein. Es tat weh, diese Berichte von Leuten zu hören, die von diesen Orten vertrieben worden waren und die zu einem Lebensstil gezwungen worden waren, den sie nicht gewählt hatten. Ich glaube, dass das Schlimmste an diesem Modell die Tatsache ist, dass sie es dir auf-zwingen und dass du es nicht auswählst. Sie zwingen es dir mit Gewalt auf, in jeder Hinsicht. Auf diese Art und Weise nahmen wir Kontakt zu anderen Versammlungen aus anderen Dörfern auf. Wir sind auf nationaler Ebene miteinander verbunden in der Vereinigung der Bürgerversammlun-gen – UAC ist die Abkürzung – dort treffen wir uns zwei, drei Mal im Jahr in verschiedenen Provinzen. Die Versammlungen haben nicht nur mit

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dem Mega-Bergbau zu tun, sondern auch mit den Problemen des Sojaan-baus oder allgemein mit dem Land. Das ist eine Form uns kennen zu ler-nen, zu teilen und mitzubekommen, dass du nicht allein bist. Es gibt sehr viele, die dort sind. Auch wenn es erscheint, als ob wir wenige sind, sind wir mehr, als wir glauben.

4) Welche Rolle haben die Frauen in der Bewegung, in der Versammlung?

GR: In unserem Fall eine sehr wichtige Rolle. Für uns war es ein doppel-ter Kampf. Wir leben in Dörfern im Nordwesten und dort ist die Gesell-schaft an sich schon sehr machistisch, so wurde häufig die Tatsache in Frage gestellt, dass wir Frauen bei diesem Kampf an vorderster Front standen. Und es gab sehr viele Schmähungen, die wir ertragen mussten. Ständig kam die Frage „Was machen sie da?” – denn wir brachen mit den Paradigmen oder den Modellen, den Rollen, welche die Gesellschaften im Allgemeinen für die Frauen vorsehen. „Die Frau muss ihren Platz Zuhause einnehmen, muss die Kinder großziehen, sich um die Haushaltsangele-genheiten kümmern”. Diese Geschlechterrollen-Paradigmen aufzubrechen ist auch eine Herausforderung und wir spielen dabei eine wesentliche Rol-le, weil wir sagen: Wir Frauen können auch diese Räume besetzen, wir müssen sie für uns gewinnen, und zwar mit konkreten Aktionen und in-dem wir zeigen, dass wir uns – genau wie die Männer – beteiligen können und müssen.

5) Das Konzept des Buen Vivir, für das Sie kämpfen, was bedeutet das für Sie?

GR: Ich glaube, das Buen Vivir bedeutet vieles. Dieses Buen Vivir, das sind die neuen Formen, die wir finden müssen, wie wir uns miteinander verbinden; das hat nicht nur mit den Beziehungen unter den Personen zu tun. Der Schlüssel für das Buen Vivir liegt in der Verbindung, die wir mit der Natur haben müssen. Nicht mehr von Naturressourcen sprechen, son-dern von Gemeingütern, die nicht den einen oder den anderen gehören, sondern der Allgemeinheit, allen. Aber nicht nur denjenigen, die wir jetzt leben, in der Gegenwart, sondern sie gehören auch denjenigen, die noch kommen werden – und in der Hinsicht müssen wir nachdenken. Wir brau-chen den Bergbau doch bis zu welchem Punkt? Es gibt Abstufungen. Im Fall Argentiniens diskutiert die Regierung nicht, sie zwingt es dir auf. Aber wir brauchen das „was”, das „wie”, das „wofür”, das „für wen”. Bis

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zu welchem Punkt müssen wir ausbeuten, oder in diesem Fall, überaus-beuten? Und dabei ist klar, dass Lateinamerika gewissermaßen diese Ge-schichte hat, von den Ländern der ersten Welt ausgesaugt wurde, damit sie ihr Konsumniveau aufrecht erhalten können auf der Grundlage dessen, was uns und allen gehört. In die Richtung geht also das Buen Vivir: Neue Formen zu etablieren, wie wir die Beziehungen unter den Menschen sowie zwischen den Menschen und der Natur gestalten. Und das ist ein Prozess, der sich im Aufbau befindet. Einige haben ihn schon gefunden. Die Ma-puche haben da schon seit einiger Zeit sehr klare Vorstellungen. Vielleicht sollten wir anfangen, von ihnen zu lernen, von den indigenen Gemein-schaften, ich glaube, dort liegt der Schlüssel.

6) Wie verbinden sich der Widerstand und die Kunst? Welcher Prozess erlaubt es, das eine mit dem anderen miteinander in Einklang zu bringen?

GR: Wir mussten eine Sprache schaffen. Um Widerstand leisten zu kön-nen, mussten wir Sprachen erschaffen, damit wir gehört werden. Wir sind nicht viele, deshalb konnten wir keine Demonstration auf der Straße mit Tausenden von Leuten organisieren, deshalb fanden wir Formen, mit de-nen wir im öffentlichen Raum intervenierten, um anzuklagen. Die Kunst als Anklage. Die Kunst, um zu erkunden, indem die öffentlichen Plätze besetzt werden. Die Kunst war also eines unserer Werkzeuge, die wir ge-funden haben. In unserer Versammlung gibt es Künstler/innen, die dann Formen geschaffen haben, um rauszugehen, um bekannt zu machen und zusammen zu bringen, indem sie die Kunst als ein Werkzeug der Anklage benutzt haben: um zu suchen, um uns zu verbinden und mit dem anderen zu kommunizieren. Das spielt eine wichtige Rolle, denn du kannst damit etwas erreichen, bewegen, erkunden, anklagen. Die Kunst ermöglicht dir vieles.

Das Interview führte Andreas Schug Aus dem Spanischen von Britt Weyde Transkription: Liliana Bordet

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Asamblea Ciudadanos por la Vida – Bürgervereinigung für das Leben: Ein Erfahrungsbericht aus dem Widerstand gegen Barrick Gold Gabriela Romano

Es war am 8. Mai 2006, es waren sehr wenige, noch nicht einmal zehn. An diesem Tag wurde das Saatgut ausgesät und an diesem Tag begann die Entwicklung der bemerkenswertesten Geschichte von La Rioja: eine Bür-gerbewegung breitete sich innerhalb kurzer Zeit über das Gebiet der ge-samten Provinz aus. Sie entstand als Widerstandsbewegung gegen ein Mega-Bergbau-Projekt, das die kanadische Firma Barrick Gold im Berg Famatina durchführen wollte. Der Berg ist über 600 Meter hoch und aus ihm stammt das Wasser, welches wir für den häuslichen Gebrauch und für die Landwirtschaft nutzen. Famatina bedeutet in der indigenen Sprache „Mutter Metallproduzentin”. Die Reichtümer, die sich in seinem Inneren befinden waren der Stoff für zahlreiche Legenden, die das Kulturerbe un-serer Gemeinschaft bereichert haben. Eine davon erzählt, dass „in den schneebedeckten Gipfeln des Hügels die Seelen der toten Inkas ruhten. Diese beschützten die Ansiedler und bewachten den Schatz des Berges vor der Habgier des weißen Mannes. Als sich der Aufstand von Tupac Amaru gegen die Spanier in Peru ereignete, donnerte der Berg und rief die Ur-einwohner dazu auf, ihre Gemeinschaften zu befreien. Seit diesem Ereig-nis sind 200 Jahre vergangen. Viel Geschichte, viele Kämpfe und viel Blut sind seither geflossen und trotzdem leisten wir weiter Widerstand, die Adern Lateinamerikas bluten weiter.

Als der Gouverneur von La Rioja nach einer Kanadareise offiziell den Beginn der Megabergbau-Förderung im Famatina ankündigte, begannen die Anwohner/innen, eine Initiative zu gründen. Ein sozial heterogenes Kollektiv ohne Anführer/innen, in dem wir uns alle frei ausdrücken kön-nen, wo wir uns als Protagonisten des Geschehens empfinden können. Das führt dazu, dass wir aktiv mitmachen und uns bei jeder Entscheidung ver-pflichten, sie im Konsens zu fällen. Die erste Etappe bestand in der Suche nach Informationen. Was ist Übertagebau? Warum benutzt man diese Me-thode? Wo wurde sie schon angewendet? Welchen Gewinn bringt sie den Gemeinschaften?

Wir traten mit anderen Initiativen in Kontakt, mit anderen Bewegungen und Intellektuellen, die sich in sozialen Kämpfen engagierten und ent-

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schieden, gegenüber diesen Problematiken nicht neutral zu sein. Wir tra-ten auch der Unión de Asambleas Ciudadanas (U.A.C.) (Union der Bür-gervereinigungen) bei, einem Artikulationsraum aller sozialen Bewegun-gen des Landes. Je mehr Informationen wir einholten, desto besorgter wurden wir, denn es ging nicht nur um den Hügel, sondern viel weiter, weil die Sache einem Modell entsprach: Mega-Bergbau, Soja, Überfrem-dung des Bodens, waren nur einige seiner Gesichter. Und es kamen Fra-gen auf: Wie kann eine Abbaumethode Entwicklung hervorrufen, die ein allgemeines Gut wie Wasser an Orten nutzt, wo dieses knapp ist? Warum werden den multinationalen Unternehmen beschämende steuerliche Vor-teile eingeräumt? Was heißt Entwicklung für diejenigen, die solche Akti-vitäten vorhaben?

Erneut erschienen die bunten Glassteinchen1 in der Geschichte, und wir entschlossen uns, auf der Seite derer zu sein, die Widerstand leisteten, mit den Füßen, mit Würde. Wir betrachten den Boden nicht nur als ein Medi-um oder ein Produktionsobjekt, er stellt auch eine symbolische Struktur für unsere Identität und unsere kulturelle Produktion dar. Wasser und Erde sind Gemeingüter und mit ihnen handelt man nicht.

Während die politische Macht in einem tiefen Machtstreit zwischen dem Gouverneur Ángel Maza und dem Vizegouverneur Beder Herrera versank, erhielt das Thema Bergbau durch die Asambleas Einzug in die Gemeinschaften. Es wurde auf den Straßen, in den Schulen, in den Stadt-vierteln und in den Clubs darüber gesprochen. Charakteristisch für die Asambleas von La Rioja ist, dass sie sich in der Mehrheit aus Frauen und zugleich aus Lehrerinnen zusammensetzen, was uns ermöglichte, starke und ertragreiche Arbeit in den Schulen zu leisten. Die Kinder sind Multi-plikationsagenten weil die Botschaft von der Verteidigung des Wassers, des Lebens, des Landes sie ergreift. Zweifellos ist eine unsere größten Er-rungenschaften die wunderbare Aufgabe der Bewusstmachung, die wir Dorf für Dorf ohne Ressourcen realisierten, von ganz unten und indem wir oft „gegen den Strom” ruderten. Die Ergebnisse wurden bald sichtbar. Die Umfragen, mit denen die Regierung Berater beauftragte, waren unbe-streitbar: 90 Prozent der Bevölkerung von Chilecito und Famatina lehnte den Übertagebau ab. Dies erlaubte, dass die Bürgerbewegungen auf die politische Bühne traten, ebenso wie die Problematik des Bergbaus. Die von der Exekutivmacht ausgegangene Krise übertrug sich dann auf den ____________________

1 Anm. d. Übers.: Die Autorin bezieht sich hier auf die koloniale Praxis der Kolo-nisierer, die Bewohner/innen der eroberten Gebiete mit Glassteinchen als Wäh-rung abzuspeisen (vgl. etwa die Berichte von Christopher Kolumbus).

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Asamblea Ciudadanos por la Vida – Bürgervereinigung für das Leben

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legislativen Bereich, auf die Abgeordnetenkammer. Diese sanktionierte auf Initiative des Vizegouverneurs unter Berufung auf die Bür-ger/innenbefragung ein Gesetz das den offenen Tagebau auf dem gesam-ten Provinzgebiet verbietet. Am gleichen Tag, an dem das Gesetz verab-schiedet wurde, am 8. März 2007, entschied die Asamblea, eine Straßen-blockade ausgewählter Ruten in der Gegend um Peñas Negras auf 1800 Metern Höhe zu organisieren, um Barrick Gold zu vertreiben, die schon ein Camp aufgebaut hatten, um mit den Bohrungen anzufangen. In Peñas Negras begann eine weitere wichtige Etappe der Auseinandersetzung: Die Entscheidung, solche Vorhaben nicht sozial zu Legitimieren (Licencia Social). Wir brachten Wort und Tat in Einklang.

Die Regierungskrise kulminierte schließlich in der Absetzung des Gou-verneurs und der übergangsweisen Übernahme der Exekutivmacht durch den Vizegouverneur Beder Herrera. Es wurden Wahlen ausgerufen und er bewarb sich als Kandidat. Während des gesamten Wahlkampfes eignete er sich die Erzählung der Asambleas an, hielt die Fahne hoch für die Vertei-digung des Landes und des Wassers und schaffte es, die Wahlen zu ge-winnen. Sobald er übernommen hatte änderte er radikal seine Haltung, setzte das Gesetz außer Kraft, das den offenen Tagebau verbot und führte keine Bürgerbefragung durch. So wurde uns klar, dass sich die Gesetze mit diese Sorte Regierender nicht auf Basis unserer Forderungen konstitu-ieren würden. Die Auslandsreisen des Gouverneurs mit Präsidentin CFK [Cristina Fernández Kirchner] um sich mit Bergbauunternehmer/innen zu treffen wurden häufiger. Sie begannen, regelmäßig zu werden. In den Me-dien kündigte die Regierung die zahlreichen Bergbauprojekte an, die uns aus der Stagnation, der Armut, der Arbeitslosigkeit herausholen würden. Man beteuerte, dass die „Entwicklung” in Form des Mega-Bergbaus end-lich in La Rioja Einzug erhalten würde. Aber weil diese Regierung es sich angewöhnt hatte, heute zu lügen, um es morgen wieder zu tun, schafft sie es nicht mehr, die Menschen von den Vorteilen des Megabergbaus zu überzeugen. Und weil sei es nicht schafft, entwickelt sie jede Menge Stra-tegien gegenüber denjenigen von uns, die wir ihren Diskursen die Masken herunterreißen.

Sie zielten darauf ab, uns auf das rein ökologische zu reduzieren, indem sie uns als „Umweltaktivist/innen” bezeichneten und so die Auslieferung unsere Gemeingüter aus der Diskussion verdrängten, die Ausplünderung , das aufgezwungene Wirtschaftsmodell, die Unterwerfung, den Kapitalis-mus, die Globalisierung, die Unwürdigkeit. Ihr Ziel war die Zerschlagung der Asamblea-Bewegung mittels aller möglicher Strategien: Zensur, Kün-digungen, Verfolgungen, Drohungen, Disqualifizierung, rechtliche Ver-

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Gabriela Romano

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folgung des sozialen Protests. In einem Wort: Gewalt als Mittel der Un-terdrückung, um zum Schweigen zu bringen, um Unsichtbar zu machen.

Die Entstehung von Asambleas wie die in Chilecito und Famatina und diejenigen, die sich auf dem gesamten Gebiet Argentiniens bildeten, er-möglichen nicht nur Widerstand gegen den Mega-Bergbau zu leisten. Sie ermöglichen auch, die herrschende politische Ordnung zu hinterfragen, ih-ren Amtsmissbrauch anzuklagen, und eine neue Form echten horizontalen Ausdrucks und Partizipation zu generieren. Die aktive Militanz hat uns individuelles und kollektives Wachstum ermöglicht. In dem Maße wie wir vorwärts kamen haben wir Konzepte, Ausdrucksformen Aktionen gelernt und ent-lernt, überdacht und umgedeutet. Als sich in der Provinz Rioja die Asamblea-Bewegung zu bilden begann, erlangte das Motto „Der Famatina wird nicht angerührt” (la Famatina no se toca) bald eine weitere Bedeu-tung und schloss „Die echte Demokratie wird nicht angerührt” (la de-mocracia real no se toca) mit ein.

Die linkische und feige Art, auf welche die Regierung versucht hat, uns zum Schweigen zu bringen, hat uns stärker gemacht, vereint. Sie hat uns erlaubt, diesen neuen Diskussions- und politischen Partizipationsraum zu konzipieren, der mit der Parteipolitik nichts gemeinsam hat. Wir erschaf-fen eine neue populare Form von Macht und gegen die werden diese und andere Regierungen nicht ankommen.

Glauben wir daran, dass die partizipative Demokratie möglich ist. Für sie kämpfen wir, und auf sie steuern wir zu.

Aus dem Spanischen von Julia Roth

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„Bildung als Schlüssel zu einem würdigen Leben” Interview mit Gipi Fernández1

Die Unión de Trabajadores Desocupados (UTD) [Vereinigung erwerbslo-ser Arbeiter/innen] im nordargentinischen General Mosconi (Provinz Sal-ta) organisierte sich Mitte der neunziger Jahre als Reaktion auf die Privati-sierung des staatlichen Ölunternehmens Yacimientos Petroíferos Fiscales (YPF), um gegen die dramatischen Kürzungen von Sozialleistungen in Mosconi vorzugehen. Mit der Privatisierung von YPF (seit 2012 Repsol), bei dem die meisten Bewohner/innen der Stadt beschäftigt waren, war in Mosconi beinahe die gesamte Infrastruktur zusammengebrochen. Ein Großteil der Bevölkerung wurde arbeitslos, Schulen wurden geschlossen, das Gesundheitssystem brach zusammen. Damals tat sich eine Gruppe er-werbsloser Arbeiter/innen zusammen, um Arbeit, Gesundheitsversorgung und Bildung zurückzugewinnen und zudem bessere Lebendbedingungen für die Einwohner/innen der Region einzufordern. Die UTD konzentriert sich in Form einer Reihe von autonomen Projekte darauf, würdige Ar-beitsverhältnisse zurückzuerobern und setzt sich gegen Umweltzerstörung und für den Erhalt natürlicher Ressourcen ein. Juan Carlos („Gipi”) Fernández ist Koordinator der UTD. Inzwischen betreibt die UTD in Mosconi ohne staatliche Hilfe Schulen, eine Volksuniversität, Metall-werkstätten, Kleiderfabriken und alternative Landwirtschaft.

1) Was ist für Sie das Wichtigste in Ihrer politischen und sozialen Arbeit?

GF: Für mich ist es am Wichtigsten ein Lebensmodell zurückzugewinnen, das normalerweise jeder auf dieser Welt führen kann. Das ist wichtig. Die Identität wiederherzustellen, unsere Kultur, in allen Lebensbereichen. Das bedeutet im Wesentlichen, die natürlichen Ressourcen zurückzugewinnen. Das, was für mich im Hinblick auf die Arbeit Vorrang hat – ob wir sie nun politisch oder sozial nennen, oder wie in unserem Fall piquetero2 – ist die

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1 Koordinator der Unión de Trabajadores Desocupados (UTD). 2 Als piqueteros bezeichnet man in Argentinien Demonstrant/innen, die durch

Straßenblockaden auf ihre schlechte Situation aufmerksam machen und Druck

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Interview mit Gipi Fernandez

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Essenz des Lebens. Das ist etwas, das nicht bezahlt werden kann und für mich ist es wichtig. Einen, den du zurück gewinnst, ist schon mal einer; zwei, die du zurück gewinnst, sind schon mehrere. Und wenn du mehr zu-rück gewinnst, dann sind es Tausende und Millionen. An die Menschen denken. Dafür muss man solidarisch sein. Ohne Solidarität ist es schwie-rig, diese Dinge zu erreichen, denn dann werden wir mit solchen grenz-wertigen Konsequenzen konfrontiert, mit denen wir heutzutage auf der Welt zu kämpfen haben.

2) Wenn Sie die Kämpfe der UDT betrachten, die in den 1990er Jahren begonnen haben – welche Veränderungen sind seitdem in in General Mosconi erreicht worden?

GF: Bei uns ist der Kampf konstant und wird stets weiter gehen. Warum ist er konstant und wird stets weiter gehen? Weil wir mit Rechten ausge-stattet auf die Welt kommen und mit Rechten ausgestattet groß werden. Diese Rechte sind im Laufe der Zeit und des Lebens verloren gegangen. In einigen Fällen haben einige so manche Jahre lang gelitten, in anderen Fällen kamen sie erst im Nachhinein heraus. Und tatsächlich ist in Latein-amerika ein großer Prozentsatz der Leute indigener Ursprungs. Das führt dazu, einen Kampf zu führen und zeigt, dass dieser Kampf ein andauern-der ist. Es ist schwierig, dies in der kapitalistischen Welt oder im neolibe-ralen System zu verstehen. Normalerweise machen wir unsere Aufrufe in dem Ort, aus dem wir kommen, einem ziemlich reichen Ort. Wir sind die zweitwichtigste Region für die Gasproduktion in Argentinien. Unsere Re-gion stellt Getreide in großen Mengen bereit, ebenso Bohnen – zehn ver-schiedene Sorten – zudem das Getreide Sorghum und das Gewürz Karda-mom und auch die Soja, die in dem Land Biodiesel genannt wird. Es gibt zwei Dinge, die ganz besonders und mitunter auf sehr persönliche Weise für unser Anliegen sprechen: Ich sprach davon, woher man kommt und vom Kapitalismus und Neoliberalismus. In den Orten, aus denen wir kommen sagt man, es gilt, „barfuss zu gehen” oder „andar a pata pilla”. Denn manchmal gehen die Heilpflanzen verloren. Aber dafür gibt es eine

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auf Staat und Wirtschaft auszuüben. Die Protestform entstand 1996 im südargen-tinische Neuquén als Protest gegen die Rationalisierungen bei Repsol YPF. Ins-besondere während und im Anschluss an die Krise von 2001 formierten sich zahlreiche piquetes (Blockaden). Heute sind die meisten ursprünglich losen piquetero-Gruppen organisiert. Anm. d. Übers.

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„Bildung als Schlüssel zu einem würdigen Leben”

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dieser uralten Pflanzen mit dem Namen yerba de pollo („Hühnerkraut”), die Stacheln hat. Wenn du noch sehr klein oder gerade geboren bist, spürst du die Stacheln, doch mit der Zeit gewöhnst du dich daran und spürst sie nicht mehr. Deshalb gehen wir in den Organisationen und in dem Kampf um unser Recht hinaus und verteidigen das, was wirklich eine solidarische und eine soziale Arbeit ist. So wird auf der Welt Solidarität ermöglicht, indem du die Rechte verteidigst, die dir zustehen und das Recht zu leben, wie es dir zusteht.

3) Sie haben ebenso alternative Strukturen entwickelt für das Gesundheits- und Bildungssystem. Was hat Ihnen während all dieser Jahre die Kraft gegeben, den langen Atem bei diesem Kampf zu bewahren?

GF: Die Kraft, weiter zu kämpfen für Alternativen der Selbstversorgung wird durch verschiedene Dinge ermöglicht. Wir machen weiter, indem wir überlegen, wie wir eine bessere Welt entwickeln können. Deshalb sprach ich davon, dass die menschlichen Wesen, die Menschheit, Vorrang hat, vor allem in unserem Heimatort, weil dort ziemlich viel verschmutzt wird. Das erste, was zurückgewonnen werden muss, ist die menschliche Res-source. Dies bedeutet, zu sehen wer zerstört und wer sich selbst zerstört oder wer zurückgewinnt, was zurückgewonnen werden muss. Das Wich-tigste in einer Krise, wie sie Argentinien im Jahr 2001 erlebte, ist, dafür zu sorgen, dass die Kinder zur Schule gehen können. Wir haben Bildungsar-beit in allen Schulen gemacht. Wir verbesserten die Infrastruktur, damit die Kinder ein besseres Leben hätten. Der Großteil der Weltbevölkerung, der indigenen Gemeinschaften, lebt schlecht. Die Kinder leben wegen der fehlenden Arbeit der Familie in Plastik eingehüllt und in einigen Fällen ohne Dach über dem Kopf. Wir glaubten in diesem Moment, dass es am sichersten wäre, mit einer gut durchgeführten Untersuchung3 die meisten Leute retten zu können – und das Sicherste war die Bildung, die Gesund-heit und an erster Stelle die Arbeit. Das war der strategische oder alterna-tive Weg, den wir eingeschlagen haben, um arbeiten zu können. Und er

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3 Investigación, im Sinne einer „militanten Untersuchung”, ist ein Begriff den in Argentinien das Künstler/innenkollektiv Colectivo Situaciones geprägt hat. Die meisten dieser Untersuchungen beziehen sich auf die operaistische conricerca (Mit-Untersuchung) im Italien der 1960er Jahre und legen den Fokus auf prakti-sche Erfahrungen und Debatten im Gegensatz zu abstrakten Theorien.

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Interview mit Gipi Fernandez

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ermöglicht uns heute, dass in unserer Organisation 4000 Personen in ver-schiedenen Arbeitsbereichen arbeiten und vor allem versuchen, Bewusst-sein zu schaffen für den Wert der Bildung. In jedem Ort, in dem wir etwas aufgebaut haben, wurde wieder aufgeforstet. In einigen Fällen werden die-se Dinge nicht bedacht, wenn ein schnelles Leben geführt wird, wie es in den stärker entwickelten Ländern oder den großen Hauptstädten – oder den Großstädten sozusagen – üblich ist. Gesundheit kommt über Sauer-stoffaufnahme zustande. Es gibt keine bessere Sauerstoffaufnahme als die-jenige, die dir die Natur gibt – und in diesem Fall sind es die Pflanzen, die nehmen und geben. Wir haben 60000 Setzlinge von heimischen Pflanzen in unserer Region, die wir gemeinsam auf den Bergen gepflanzt haben, wo der Raubbau betrieben wird, oder in der Region des nördlichen Chaco in der Provinz Salta, wo ein absoluter Raubbau betrieben wird. Das ist also die solidarische Arbeit, was die großen Kapitalisten häufig nicht machen. Wir pflanzen eine Vielfalt an Bohnen, wir haben eine Kleiderfabrik, eine Möbelfabrik. Wir arbeiten mit dem System der Umwelt, mit einem Sys-tem der Bewusstseinsschärfung der Leute. Denn alles, was aus Plastik ist, kommt von den Gas-Derivaten und das bedeutet Verschmutzung. Es geht darum, Bewusstsein bei den Leuten zu schaffen über diese Verschmut-zung und im Bildungssystem Wege zu suchen, um stets mehr Bewusstsein zu schaffen. Das führt dazu, dass wir hier sein können und andere Orte be-reisen. Deswegen zielen wir vor allem auf die Bildung ab, auf die Ge-sundheit. Denn die Verschmutzung, die Zerstörung erreicht auch Gebiete wie die unsrigen und sorgt dafür, dass sie dort eher bemerkt wird. Bei uns hat es keinen Krieg gegeben wie im Irak oder in Afghanistan oder wie den Zweiten Weltkrieg. Aber wir leiden unter diesem kalten neoliberalen Krieg, diesem heftigen Krieg. Wir erleben es Tag für Tag: Leute ohne Beine, über 60 Prozent der Leute mit Diabetes, Krankheiten wie die Amö-benruhr, die Hantaviren und all diese Dinge. Krankheiten, die Anzahl von Kindern mit deformierten Körpern, die im Moment geboren werden, eine Menge an Frauen mit Gebärmutterkrebs. Auch daran muss gearbeitet wer-den, dass es das nicht mehr gibt. Mit Hilfe von Vorsorge, durch Bewusst-seinseinsbildung, durch Bildung. In unserem Fall ist das Entweichen von Gas konstant, die Besprühung durch die Luft – beispielsweise mit Gly-phosat – ist konstant. So sind es Tausende von Hektar, Unmengen an Ver-schmutzung, an Chemikalien, die in Flüssen und Bächen entsorgt werden. Und diese Zerstörung findet an verschiedenen Orten statt. Es ist schwierig, in diesem System aufzuwachsen, denn man verliert seinen Lebensraum und der Lebensraum ist wichtig in diesem ganzen System. Früher hatten wir den Wald, wo du jagen gehen konntest, die Früchte, was das natür-lichste überhaupt ist, all das hatten wir ganz nah. Und es rückt immer wei-

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ter weg. Regionale Produkte, die du bearbeiten konntest, wie im Fall von Kunsthandwerk, auch die gehen konstant verloren. Alles entfernt sich immer mehr.

4) Um besser zu leben haben Sie viele Dinge selbst in die Hand genommen – Strukturen, Gesetze, Organisationsformen. Glauben Sie, dass die Gesellschaft sich ohne den Staat besser organisieren könnte?

GF: Es ist möglich, ohne den Staat zu leben und es ist wichtig mit dem Staat zu leben. Das sind zwei verschiedene Facetten und du kannst sie un-terschiedlich anwenden, je nachdem. Wir bilden eine parallele Gemeinde innerhalb unserer Ortschaft General Mosconi – ohne Staat. Wir bauen mehr als die Gemeinde im Bereich der Arbeit und der Bildung. Heute wird eine Schule in sehr abgelegenen Orten gebaut, 140 Kilometer von uns entfernt, mit privaten Mitteln, die nichts mit dem argentinischen Staat zu tun haben. Wir organisieren auch die Ausbildungen in der Volksuni-versität. Dort könnten wir jede Hilfe gebrauchen, damit diese Universität so funktioniert, wie sie sollte. Wir bekommen jedoch keine Unterstützung von der argentinischen Regierung, beziehungsweise dem argentinischen Staat.

Deshalb müssen wir auch so viel umherfahren. Wir arbeiten in einem Projekt, mit dem wir 2001 begonnen haben und das 2020 beendet sein sollte. Im Jahr 2015 werden wir die Laufzeit bis zum Jahr 2040 verlän-gern, ohne dass der Staat dabei wäre, oder die Regierung. Wir verfolgen eine Arbeitsstrategie, die wir dafür entwickelt beziehungsweise erschaffen haben, mit eigenen Untersuchungen. Denn manchmal werden die einfa-chen Leute oder die einfachen Ortschaften als etwas Primitives behandelt oder bezeichnet. In dieser Hinsicht gibt es eine wissenschaftliche Arbeit, eine rationale und regionale Arbeit, die es erlaubt, dass die Entwicklung in unserem Ort andere Erfahrungen und Alternativen zulässt. Es gibt regio-nale und lokale Alternativen, die es erlauben, dass sich eine gewisse Au-tonomie herausbildet. Ich glaube, dass das einzig und allein durch Bildung möglich sein wird. In einigen Fällen lassen es die Regierungen, die gerade am Hebel sind, nicht zu, dass man viele Leute erreicht. Denn in einigen Fällen verhindern sie das durch Staatssubventionen, die in bestimmte Ort-schaften gelangen, wodurch aber die dortige Identität und die Kultur ver-loren gehen. In einigen Fällen, auch in der Ortschaft, in der wir leben, in Mosconi, gehen bestimmte Kräfte und bestimmte Fähigkeiten verloren. Denn die Leute vom Land gehen in die Stadt oder ins Dorf, auf der Suche nach Wohlstand, und enden in der Elendssiedlung oder irgendwo am Stra-

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Interview mit Gipi Fernandez

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ßenrand. Oder die indigenen Gemeinschaften, die ihre Identität verlieren und am Rande ihrer Dörfer enden. Es gilt, Wege zu finden, damit sie in diesen Orten bleiben können. Was heute mit der Soja gemacht wird, wird auf verschiedenen Ebenen gemacht, wie in Salta durch das Bergbausys-tem. Der Bergbau vertreibt die Coya [indigene Gemeinschaft Nordargen-tiniens Anm. d. Übers.], wodurch viele Dinge, viel Wissen, verloren ge-hen. Als ich von der pata pilla sprach, meinte ich, dass diejenigen, die am meisten leiden, mehr Geist haben, denn sie haben schon alles durchge-macht, in unserem Fall die indigenen Gemeinschaften. Diese Durchreise des Leids erlaubt es ihnen, dass sie besser als andere vorbereitet sind.

Das Interview führten Andreas Schug und Julia Roth Aus dem Spanischen von Britt Weyde Transkription: Liliana Bordet

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„Haltet an, um nachzudenken” Interview mit Chacho Liempe1

In der Sprache der Mapuche, dem Mapudungun, bedeutet Mapu Erde und Che Mensch. Die Mapuche nennen sich folglich selbst „Menschen der Er-de.” Seit der gewaltsamen Unterwerfung durch die europäischen Eroberer kämpften die auf dem heutigen Gebiet Chiles und Argentiniens lebenden Mapuche gegen ihre Vertreibung. Seit Beginn des 21. Jahrhunderts setzen sie sich massiv gegen die Ausbeutung ihrer Gebiete durch multinationale Konzerne und die Abwertung ihrer hierarchiefreien Kultur und Organisa-tionsform zur Wehr. Viele Mapuchegemeinden wollen nicht in den Staat integriert werden, sondern fordern ihre Autonomie, die Anerkennung ihrer Landrechte sowie ihrer Lebens- und Organisationsformen und ihres Wis-sens. Chacho Liempe, politischer Referent des Consejo Asesor Indígena (CAI, Rat der Indigenen) der Andenregion, plädiert für eine solidarische und ökologische Ökonomie und die Anerkennung des Anderen, wenn wir auf diesem Planeten gemeinsam überleben wollen.

1) AS: Was ist für Sie das Wichtigste in Ihrer politischen und sozialen Arbeit?

ChL: Wir reden für gewöhnlich im Plural wegen dem, was wir sind, was ich bin. Für uns ist es wichtig – wenn das Wort wichtig passt – mit dem Leben zu gehen. Wenn es etwas gibt, weswegen wir sehr zufrieden sind, so ist es die Tatsache, dass wir am Leben sind. Am Leben zu sein bedeutet nicht nur zu atmen, zu essen, zu singen, sondern am Leben zu sein bedeu-tet zu wissen, dass man da ist, dass man existiert, mit allem, was Wider-stand sein muss, zu wissen, wer man ist. Denn nachdem der argentinische Staat uns auszurotten versuchte, verharrten wir schweigsam fast 100 Jahre lang und der Staat versuchte uns dazu zu bringen, dass wir sogar unsere eigene Existenz negierten. Wir wussten jedoch immer, wer wir sind, und unsere Ältesten erhielten das immer aufrecht. Unsere Ältesten waren sich dieser Bedingungen bewusst und auch dessen, dass wir eines Tages zum ____________________

1 Politischer Referent der Mapuche (CAI), Argentinien.

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Interview mit Chacho Liempe

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Leben zurückkehren müssten, dass wir wieder in der Welt in Erscheinung treten müssten. Das geschieht gerade, heute können wir voller Freude aus dem Schatten hervortreten. Also sind wir zufrieden, die Welt zu sehen. Zufrieden, dass die Welt uns sieht und zufrieden damit, dass wir das sind, was wir sind. Man sagt, dass die Gemeinschaft der Mapuche sehr stolz sei. Ich weiß nicht, ob das Wort „Stolz” zutrifft, vielmehr sind wir uns dessen bewusst, was wir sind, und wir leben voll und ganz, was wir sind. Wenn das Stolz ist, dann soll es das Wort Stolz sein; allerdings wird Stolz oft mit Hochmut verwechselt und wir wollen nicht hochmütig sein, sondern uns lediglich aufrecht zeigen, vor wem auch immer. Unsere Ältesten haben al-so niemals klein beigegeben, das hat uns viele Jahre voller Blut gekostet. Über 400 Jahre voller Blut, allein aufgrund der Tatsache, dass wir das sind, was wir sind und aufgrund der einfachen Tatsache, dass wir das Le-ben bewahren, lediglich deswegen. Wenn das also das Motiv ist, das her-vorgehoben oder das in uns gesehen wird, dann ist die Tatsache, dass wir zufrieden sind sehr wichtig. Denn alles, was man macht, die Gegenwart und mein Gespräch mit Ihnen ist insofern von Bedeutung, als die Welt uns kennen lernen wird. Dann ist es wertvoll für uns, denn so schweigen wir nicht mehr, sind wir sind nicht mehr unsichtbar. Wir beginnen uns zu zei-gen und beginnen – worum wir uns sehr sorgen – uns mit der Welt zu ver-ständigen. Denn das Eine ist die Gesellschaft, sind die Leute, die Mehr-heit, und das andere sind die Personen an der Macht, Personen, die die Wirtschaftsmacht auf der Welt haben, Personen, die in Institutionen arbei-ten, die für diese Wirtschaftsmächte geschaffen wurden, die dafür sorgen, dass wir in diesen Bedingungen verharren, die meisten Leute auf der Welt. Nicht nur die Gemeinschaft der Mapuche, auch die Arbeiter/innen, so vie-le diskriminierte, ausgebeutete Leute. So sorgen diese Leute also nicht nur dafür, dass wir unter diesen Bedingungen verharren, oder versuchen uns in diesen Bedingungen zu halten, sondern sie versuchen manchmal – wie in unserem Fall – die Vernichtung. Es gibt indigene Gemeinschaften in dem [Gebiet], das [heute] Argentinien ist, die verschwunden sind; es gibt ande-re, die im Begriff sind zu verschwinden. Doch das betrifft nicht nur uns, sondern das ist überall auf der Welt passiert, das kann passieren oder pas-siert gerade.

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„Haltet an, um nachzudenken”

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2) AS: Damit die Grundlagen des Lebens aufrecht erhalten werden können, ist die Natur wichtig. Wie ist die Beziehung der Mapuche zu der Natur?

ChL: Mapu ist das Land, das Territorium, ist alles, und che sind die Men-schen. Unsere Ältesten haben schon immer, von Anfang an, etwas Bedeu-tung beigemessen oder gesehen, was unbestreitbar ist: dass das menschli-che Wesen lediglich Teil, nichts weiter als ein weiterer Teil der Natur ist. Heute diskriminiert uns die Gesellschaft, die uns seit jeher verleugnet, uns einzuschüchtern oder abzuwerten versucht hat, die immer wieder gesagt hat, dass wir in unseren Gemeinschaften, in unserer Kultur keine Fähig-keiten, kein Wissen hätten. Dabei gibt es Leute, die sich in verschiedenen Wissensbereichen weiter entwickeln: in der Medizin, in der Spiritualität, in allem, was eine Gemeinschaft zum Leben braucht. Wie viele Staaten wurden aufgrund bestimmter Interessen geschaffen? Unsere Gemeinschaf-ten nicht. Sie werden geboren, sie sind Gemeinschaften, mit einem Terri-torium, auf dem sich das Leben, die Spiritualität, die Sprache, die Kultur entwickelt hat. Nicht um jemandem zu gefallen, [sondern] um die ver-schiedenen Aspekte des Lebens anzugehen, entwickelt sich das, was heute als Kultur erklärt werden kann. Aus diesem ganzen Wissen ergibt sich das Verhältnis zur Umwelt, zu allem. Ich sagte ihnen: Wissenschaftlich gese-hen weiß heute jede Person, die über gewisse intellektuelle Kenntnisse verfügt, dass das menschliche Wesen aus Mineralien und Wasser besteht, welche der Mensch über pflanzliche und tierische Stoffe, Luft und andere Dinge zu sich nimmt. Aber nicht nur diese Fragen, die materiellen Dinge, sondern die Beziehung zur Umwelt, die verschiedenen Energien, die es auf der Welt gibt, sowohl auf der Erde als auch in der Luft und im Kos-mos: der Mond, die Sonne, das Wetter, die Schönheit der Dinge, der Duft der Dinge, die Schönheit der Vögel, all das nährt die Form/das Gefühl des menschlichen Wesens. Das versteht also die Gemeinschaft der Mapuche und wenn es kämpft, kämpft es deshalb nicht um ein Stück „mal gucken, wo ich meine Tiere halten und wo ich pflanzen werde”. Nein, es kämpft für die ganze Umwelt und die ganze Umwelt bedeutet das Leben. Das ha-ben unsere Ältesten verteidigt und das ist unsere Beziehung zur Umwelt, die Zugehörigkeit dazu. Deshalb klagen wir nicht die Bergbauunterneh-men dafür an, dass sie die Berge zerstören oder das Wasser kontaminie-ren, nicht deswegen, weil es gerade angesagt ist oder weil es wirtschaft-lich nicht angebracht ist: nein, weil es das Leben zerstört. Das gilt nicht nur für unser Leben, sondern die Welt ist heute besorgt über die wenige Zeit, die dem Planeten Erde bleibt, sein Leben zu erhalten. Aufgrund der

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einfachen Tatsache, dass diejenigen, die ihn steuern, die davon profitieren dabei sind ihn zu zerstören.

3) AS: Dies ist eine spirituelle Frage: Wenn du die Seelen deiner Vorfahren befragen würdest, was würden sie zu der gegenwärtigen Situation sagen?

ChL: Die Frage erscheint mir wichtig, denn nicht jedermann stellt diese Frage. Die Gemeinschaft der Mapuche begreift, dass das Leben nicht nur aus unserer Anwesenheit hier besteht: Unser Leben besteht aus dem Vor-herigen, aus denjenigen, die wir jetzt hier sind und außerdem denjenigen, die vorher da waren. Es ist nicht so, dass wir unsere Ältesten nicht fragen würden, wir fragen sie, wir haben eine Beziehung zu ihnen. Vielleicht ist das nicht zu verstehen, vielleicht werden einige sagen „das sind Spiritis-ten”, als ob das eine böse Anschuldigung wäre. Aber nein, wenn der Ma-puche-Mensch beginnt, alle seine Mapuche-Eigenschaften wiederzuerlan-gen, beginnt er sozusagen, reale Beziehungen zu anderen Räumen zu ha-ben. Eine der Übertragungsformen läuft über die Träume, eine andere über die Personen, die über diese Fähigkeit verfügen, wie im Fall der machis [Schamane, Schamanin], welche die Personen sind, die das tiefe Wissen darüber übermitteln, was das Leben ist. Diejenigen also, die uns heilen helfen, wenn wir körperliche oder geistige Probleme haben. Das heißt, dass uns die Ältesten in allen Situationen etwas sagen, uns führen. Sogar meine Anwesenheit hier ist herbeigeführt. Jeder hat eine Aufgabe zu erfül-len, wenn also jemand in Schwierigkeiten ist, braucht er die Frage, braucht er den Rat der Ältesten und wenn nicht, dann kümmern sich die Ältesten darum, uns zu sagen, wohin wir gehen müssen, wenn wir Verantwortung tragen, wann wir die Sachen gut machen – und wann wir die Sachen schlecht machen.

4) AS: Welches Bild haben die Mapuche von der Art und Weise, mit der die industrialisierten Nationen die Erde behandeln?

ChL: Welches Bild? Eine Form zu denken ist, dass die Ideologie von den Menschen geschaffen worden ist. Wir sagen also, wenn sie von den Men-schen geschaffen worden ist, dann ist es möglich sie zu verändern. Alle Konsequenzen, die diese westliche Weltsicht mit sich gebracht hat und mit sich bringt, diese Welt, die sich aufgrund des Kapitalismus bewegt, bringt so viel Zerstörung. Sie erscheint wie ein Monster, das immer mehr

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„Haltet an, um nachzudenken”

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Nahrung will, und diese Nahrung führt zu seiner eigenen Zerstörung, und im Zuge dieser Zerstörung werden wir alle zerstört. Diese Form ist selbst-zerstörerisch. Man versteht nicht, wofür der ganze Ehrgeiz gut ist, wel-chen Sinn die Akkumulation so vieler Dinge macht, für immer weniger Leute. Die Denkweise des Kapitalismus [ist, dass], wenn eine Sache stark gemacht wird oder an Grenzen stößt, man keine Probleme damit hat, sie zu ersetzen oder zu zerstören und manchmal sogar seine eigenen Angehö-rigen umzubringen aufgrund dieses „mehr-haben”-Wollens. Das passiert häufig. Es gibt also keine Überlegungen dazu, das Leben der Gesamtheit zu denken. Die Regierenden entsprechen diesen Interessen. Es ist ein Lüge zu sagen, dass sie den Überlegungen und den Bedürfnissen ihrer Bevölke-rung entsprechen. Das heißt also, dass die Regierenden der Länder – der meisten, fast aller Länder, zumindest in unserer Region – diesen Interes-sen entsprechen, deshalb: Wie können sie sich Regierende der Bevölke-rung nennen? Jede Person, die Verantwortung trägt und der ihre Bevölke-rung Verantwortung übertragen hat, unternimmt alles nur Mögliche, um ihre Aufgabe wahrzunehmen: die Aufgabe zu schützen und das Wohler-gehen der Bevölkerung voranzutreiben, das ist niemals eine persönliche Frage. Ich glaube, das ist der große Unterschied, der absolute Unterschied zu unserer Lebensweise.

5) AS: Viele Leute der gegenwärtigen Generation erkennen an, dass sie vor einem Abgrund stehen, und suchen nach Auswegen, Alternativen. Welche Alternative würden Sie für die Gesellschaft vorschlagen, aus der Perspektive der Mapuche?

ChL: Ich weiß nicht, ob wir uns in der Verfassung befinden, Vorschläge zu machen. Was wir machen [ist folgendes]: Wir erzählen, wie unser Le-ben gewesen ist und warum die Mapuche weiter bestehen; warum wir so viele Jahre lang gekämpft haben, warum die Sorge, der Schutz, die Bezie-hung, der Respekt, den wir jedem Element der Natur gegenüber haben, so wichtig sind. Wenn man insofern anfängt ernsthaft nachzudenken, muss man selbst im Alltag sorgfältig vorgehen. Denn jede Sache beginnt bei ei-nem selbst, um jede Sache zu ändern, muss beim Persönlichen begonnen werden. Manchmal denke ich über diese Werbung nach „Schützt die Um-welt” – ja klar, wir haben die Aufgabe, den Abfall nicht einfach wegzu-werfen, so wenig Plastik wie möglich zu benutzen, weniger zu konsumie-ren, um nur einige Aspekte zu nennen. Diese Aufgabe wird uns manchmal über die Werbung auferlegt, aber das müssen wir eigentlich sowieso tun. Wobei wir bedenken müssen, dass wir selbst diese großen Unternehmen

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füttern, die für so viel Zerstörung sorgen und danach kommen sie mit ihrer Werbung, in der sie uns sagen, dass wir Sorge tragen sollen. Ich glaube, dass einer der Punkte aus unserer Sicht ist, dass wir erzählen, was wir füh-len und sehen. Außerdem haben wir die Aufgabe, zu erhalten oder wie-derherzustellen. Denn es ist auch eine Anstrengung für uns, uns davon freizumachen, was uns der Westen oder die westliche Kultur auferlegt hat. Wir müssen uns davon freimachen, indem jeder von uns überlegt, welche Dinge wir gemeinsam haben und welche Dinge wir machen können. Aber das ist eine Aufgabe für alle.

6) AS: Sie haben gesagt, dass der Kapitalismus und die Kosmologie der Mapuche nicht kompatibel sind, warum?

ChL: Wie ich eben erläutert habe, ist der Kapitalismus die Anhäufung von Reichtum. Deshalb ist es ihm egal, dass er die Menschen zerstört und es ist ihm egal, dass er die Natur zerstört. So zerstört er ganze Gemeinschaf-ten, um Reichtümer anzuhäufen, aber nur für einige wenige, um zu sehen, wer mehr wirtschaftliche oder sonstige Macht hat. Dafür benutzen die Mächtigen alle Mittel, die die Wissenschaft bereit hält und entwickelt. In unserem Fall sind wir dabei, wieder zu bestimmen, wie wir die Sachen einfacher machen können und wie wir leben mit allem, was uns die Natur gibt. Ein Beispiel: Die Form des Kapitalismus ist: „je mehr Land ich habe, desto mehr Dinge produziere ich”. Im Fall der Soja eignen sie sich Tau-sende, Millionen von Hektar für die Sojaproduktion an. Soja ist eigentlich als Nahrungsmittel gedacht. Doch sie geht in die Großindustrie, in die großen Unternehmen, die damit die Tiere füttern, um zu sehen, ob sie noch massiver Nahrungsmittel produzieren können, die aber noch nicht einmal gesund sind, sondern gentechnisch verändert. Die natürlichen Be-dingungen der Pflanzen oder der Tiere sind verändert worden. Gleichzei-tig sollen die Leute diese veränderten Produkte konsumieren, und zwar nicht nur aus Bedürftigkeit, sondern sie zwingen es ihnen auf mit Hilfe der Werbung, damit sie ihre Reichtümer vermehren können. Wir sagen, dass die Bedingungen der Natur perfekt sind, um alle Erdbewohner/innen und auch mehr zu ernähren, denn wir sprechen von Millionen Hektar allein in unserer Region und dabei gibt es eine Menge Leute, die keinen Zugang zu einem Stückchen Land haben. Das ist nicht kompatibel, das ist unmöglich. Und wir kämpfen nicht dafür, um uns ins System zu integrieren, wir sagen nicht: „Lasst uns unsere Lebensbedingungen als Gemeinschaft wiederher-stellen und dann fügen wir uns in die Staaten so ein, wie dieses System funktioniert”. Wir fühlen uns weder ausgeschlossen noch wollen wir uns

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integrieren. Wir sind etwas Anderes. Wir akzeptieren auch nicht die As-similierung: Wenn wir etwas anderes machen, gibt es bestimmt viele Din-ge, die wir teilen und von denen wir etwas lernen können. Wir lehnen nicht die zum Leben wichtigen Dinge ab, wir nehmen jedes Mittel an, das uns helfen kann. Aber nicht mit dem Ziel zu akkumulieren oder die ande-ren zu zerstören.

7) AS: Haben Sie eine Botschaft, die die Mapuche den zukünftigen Generationen, der Menschheit der Zukunft mitteilen möchten?

ChL: Das einzige ist: Anhalten, um nachzudenken. Wir müssen darüber nachdenken, dass wir nicht permanent befolgen, was man uns eintrichtert. Wir müssen sagen: Gut, es gibt etwas anderes … Jeder hat die Fähigkeit, für sich selbst zu denken und zu entscheiden, welche Richtung er ein-schlagen wird: Bleiben wir auf diesem Weg, der uns letztlich zerstören wird, oder beginnen wir, etwas anderes zu denken? Ich glaube, dass dies eine Aufgabe ist, die zwar absolut wichtig, sehr entscheidend für das Le-ben und die Zukunft ist, gleichzeitig aber ganz einfach: Es geht nur darum anzuhalten, denn im Leben müssen wir uns immer entscheiden: Ob jeder von uns sich hätte entscheiden können, Wissen zu erlangen, zu akkumulie-ren, und mit allem auf bessere Lebensbedingungen – gemäß der Denkwei-se des Systems – abzuzielen, ein Auto zu besitzen etc.. Nein, in unserem Fall und in meinem persönlichen Fall besteht die Aufgabe und das Leben darin, beizutragen zu der Suche danach, wie wir die Bedingungen unserer Leute wiederherstellen können. Das bedeutet nicht, dass ich schlecht lebe. Ganz im Gegenteil, ich lebe glücklich mit meiner Familie, integriert in un-sere Gemeinschaft, die immer größer wird – insofern gibt es daran nicht viel Kompliziertes.

8) AS: Wie können wir in unseren Ländern aus der Logik des Kapitalismus herausfinden?

ChL: Die einzige Form ist, zu überlegen, sich dessen bewusst zu werden, dass der Kapitalismus eine Sicht- und Denkweise über die Beziehungen auf der Welt ist und sich dazu zu entscheiden, etwas anderes zu denken: Muss das so sein oder können wir etwas anderes hervorbringen? Und da-nach konsequent handeln, sich andere Leute suchen, mit denen man nicht nur teilen kann, sondern auch zusammen nachdenken kann, das heißt, nicht isoliert zu bleiben, sondern darüber nachzudenken, wie wir das auf

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Interview mit Chacho Liempe

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eine andere Art und Weise ausweiten können. Und auch ohne Gewalt, obwohl der Kapitalismus seinem Wesen nach gewalttätig ist. Er macht nichts ohne Gewalt, er erzwingt alles mit allen möglichen Mitteln: mit Werbung, mit den Medien und wenn nötig, mit Waffen. Die Alternative ist, lediglich das Leben zu suchen, mit dem Wissen darüber, was der Kapi-talismus macht, wenn ihm Widerstand entgegen gesetzt wird. Wir selbst werden heutzutage als Terroristen beschuldigt, es werden sehr schwere Anschuldigungen gemacht, es gibt fürchterliche Kommentare. Deshalb ist es für uns sehr wichtig, einen Dialog zu führen, zu reden, um uns mit der Welt zu verständigen. Denn es gibt den Diskurs der Leute, die an der Macht sind und es gibt das, was wir sind und was wir mit der Welt teilen wollen. Bestimmt werden wir für sie immer gefährlicher, allein aufgrund der Tatsache, dass wir leben wollen. Leben – wie wir sagten – nicht nur im persönlichen Fall oder mit der Familie, sondern mit allem, was Leben auf der Welt bedeutet. Das ist der totale Gegensatz zum Kapitalismus, deshalb ist im argentinischen Staat und in Chile das Antiterrorismus-Gesetz2 in Kraft, zu dessen Anwendung sie bereit sind und das sie bereits anwenden. Einige unserer peñis [in der Sprache der Mapuche: Brüder], ei-nige unserer Brüder, sind schon im Gefängnis im heutigen Chile. In Ar-gentinien ist heute das Antiterrorismusgesetz ebenso in Kraft. Es unter-wirft uns einer Repression, allein aufgrund der Tatsache, dass wir sind, was wir sind, nichts weiter. Es gibt keinen weiteren Grund, als eine andere Sicht zu haben und ein anderes Verhalten auf der Welt zu probieren. Was wir machen: wiederherstellen, um zu sehen, welche Dinge auf der Welt etwas taugen. Dabei gibt es keine Gruppe, die etwas vorbereitet oder für Bewusstsein sorgt, alles ist natürlich. Männer, Frauen und Alte – jeder hat eine Aufgabe. Das ist für uns sehr wichtig, heute kommen unsere Kinder bereits auf die Welt mit der Freude darüber das zu sein, was sie sind, sie leiden nicht daran, worunter wir gelitten haben. Und unsere Ältesten ha-ben die Aufgabe, uns die Elemente zu geben, die sie während so vieler Jahre Repression aufrecht erhalten konnten.

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2 Chacho Liempe bezieht sich auf das Gesetz 26.734, das als „Antiterrorismus-Gesetz” bezeichnet wird und das politische Abtrünnigkeit und entsprechende Forderungen als Terrorismus bezeichnet. Anmerkung LB.

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9) JR: Das interessiert mich und unsere Leser/innen, die vielleicht nicht viel über den Kampf der Mapuche, von der Geschichte der Mapuche-Gemeinschaften wissen. Könntest du in einem Satz beschreiben, worin der Kampf der Mapuche heutzutage besteht?

ChL: Der Kampf der Mapuche ist unsere tägliche Aufgabe und das ist, was wir in diesem Moment hier sind: bewahren, erneuern und überlegen und die Überlegungen unserer Vorfahren zurückgewinnen und versuchen, sie in die Praxis umzusetzen. Die Art sich zu organisieren, die Art zu pro-duzieren, unsere Beziehung wiederherzustellen. Unsere Aufgabe ist es, wiederzuentdecken, warum die Pflanzen wichtig sind, warum sich um das Wasser gekümmert werden muss. Und [zwar] nicht weil es gerade ange-sagt ist, sondern weil unsere Ältesten es nicht zuließen, dass Wasser ver-schwendet oder irgendein Gewässer aus Spaß an der Freude verschmutzt wurde. Man fällt keinen grünen Baum, für Feuerholz wird ein trockener Baum gefällt, ein Tier wird nicht getötet aus reinem Spaß am Töten – noch viel weniger ein Vogel – sondern es wird getötet, damit wir uns er-nähren, das hat einen Grund. Auch das Heilmittel: Wenn ein Heilmittel gesucht wird, wird die Kraft, die die Kontrolle über diese Pflanze hat, um Erlaubnis gebeten. Denn das ist es, was wir heute zurückgewinnen, die Spiritualität, die Sprache und unser Bewusstsein darüber, was wir sind. Das ist die Aufgabe, das ist unser Kampf. Komplikationen gibt es, wenn der Staat sich dagegen wehrt oder weil wir die großen Unternehmen be-hindern und anfangen ein Problem für sie zu sein. Dort beginnen die be-merkenswerteren Dinge und wir müssen versuchen, uns zu behaupten, uns dagegen zu verteidigen. Mit euch zu reden ist Teil des Kampfes, ein sehr wichtiger Teil, sehr aktiver Teil des Kampfes. Ich füge dem hier nichts weiter hinzu, denn es geht lediglich darum, unsere Gedanken zu sagen und zu sehen, ob wir übereinstimmen oder nicht. Aber wenn wir nicht überein-stimmen, sollten wir diejenigen respektieren, die anderer Meinung sind. Denn wir gehen nicht raus, um der Welt zu gefallen, wir gehen raus, weil wir sind, schlicht und ergreifend weil wir sind. Wir sind gekommen, um unser Erbe anzutreten, nichts weiter. Und die Welt muss uns anerkennen, denn niemand hat die Befugnis, uns zu negieren und noch viel weniger uns anzugreifen oder uns verschwinden zu lassen: niemand: Wer hat die Befugnisse auf der Welt? Einige nennen sich – fast gottgleich – Verteidi-ger der Welt und sie maßen sich an, nicht nur andere zu beherrschen, son-dern sogar ganze Gemeinschaften verschwinden zu lassen. Wir bitten sie auch nicht um Erlaubnis, denn wir müssen niemanden um Erlaubnis bit-ten. Wir sind und möchten weiterhin sein. Und in diesem Wunsch, weiter-hin zu sein, wollen wir in Beziehung treten mit anderen Teilen der Welt

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Deshalb ist es für uns wichtig mit euch zu reden, mit denjenigen, die das hier sehen. Damit wir uns kennen lernen, sind wir heute in Erscheinung getreten. Also lasst uns reden und sehen, wie wir das lösen.

10) JR: Eine weitere kurze Frage: Wann habt ihr mit diesem besser organisierten Kampf begonnen und wie vernetzt ihr euch mit anderen Gemeinschaften des Kontinents?

ChL: Nach dem Krieg, im Fall von Urumapu, in dem Gebiet, das heute Chile ist, konnten sich noch am besten vollständige Gruppen unserer Leu-te halten.3 Dort gibt es größere Gruppen von Leuten, die die Kultur und die Sprache aufrecht erhalten haben. Im Fall Argentiniens waren wir komplett verstreut, denn im argentinischen Fall wurde unsere komplette Auslöschung versucht. Das zu erzählen dauert lange und stimmt traurig, denn es bedeutet … das sind harte Worte: die Enthauptung, die Zerstörung … alles, was der Versuch, eine Gemeinschaft zu zerstören, bedeutet. Das hat der Staat unserer Gemeinschaft auferlegt, unserer Kultur und unserer Sprache, hat unsere Sprache und unsere Spiritualität verboten sowie unse-re spirituellen Autoritäten getötet. Das bedeutete all das. Dennoch hielten unsere Ältesten in all diesen Jahren einige Räume, unsere Lebensbedin-gungen und Kenntnisse aufrecht. Nachdem wir in den 1980er Jahren – un-gefähr – natürlich in Erscheinung zu treten begannen, auf individuelle Art und Weise, begannen wir anschließend, uns zu organisieren. Auch das ge-schah in ganz Lateinamerika. Wir begannen, uns zu sehen und uns kennen zu lernen. Organisationsformen wurden zurück gewonnen. Nach unserer überlieferten Organisationsform ist der chaún die höchste Autorität. Der chaún wäre das, was die Versammlung ist. Deshalb gibt es keine Anfüh-rer/innen, keine Präsident/innen, keine höchste Autorität „an sich”. Wenn es Verantwortlichkeiten gibt, sind sie temporär und nach Bedarf; doch der

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3 Seit der Eroberung durch die Spanier widersetzten sich Mapuchegruppen der Un-terwerfung durch die Konquistadoren, häufig mit Erfolg. Seither kam es immer wieder zu Auseinandersetzungen. Unter der chilenischen Militärdiktatur subsu-mierte Pinochet die Gemeinschaften als „Chilenen”. Nach der Rückkehr zur De-mokratie leisteten Mapuche-Gemeinschaften in den 1990er Jahren erneut Wider-stand gegen die Einverleibung in den Staat und den Ausverkauf ihres Landes an multinationale Konzerne und kämpfen für ihre Landrechte und ihre Autonomie. Seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in den USA wird die Nieder-schlagung ihrer Proteste häufig über das neu in Kraft getretene Anti-Terrorismus-gesetz gerechtfertigt/Gesetz 26.734, s.o.)

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chaún, die Versammlung, sagt, wohin wir gehen müssen. Unsere peñis [Brüder] wissen von meiner Anwesenheit hier und wenn ich zurückkehre, muss ich sagen, was ich gemacht habe und wo ich war. Die Autorität ist also nicht eine einzelne Person, sondern alle unsere Leute. Wir erhalten diese Organisationsform aufrecht und verstehen deshalb auch, warum es für diejenigen, die uns vernichten wollen, so komplex ist. Denn wir sind weder eine Person, noch ein Sektor, sondern wir sind die Gemeinschaft.

11) JR: Welche Rolle spielt für die Mapuche das Internet, um miteinander zu kommunizieren?

ChL: Wir benutzen es, ja. Wir versuchen jede Technologie zu nutzen, die unseren Bedürfnissen hilft, Internet, Telefon, Fahrzeuge. Wir machen also zweierlei: Wir erobern das Wissen und die überlieferten Elemente wieder zurück und beziehen Dinge aus der Welt mit ein, um uns in der Welt heute zu verorten. Wir müssen uns in dieser Realität der Welt bewegen.

12) JR: Und außerdem habt ihr einen alternativen Markt, wie du neulich erzählt hast?

ChL: Ja. Zumindest in unserer Region ist unsere wichtigste Produktion das Halten von Schafen, von Zicklein, das verlangt die Situation von uns. Und deshalb produzieren wir Schafwolle, Ziegenfell, aber alle anderen Lebensmittel müssen wir kaufen. Und seit einigen Jahren machen wir mit anderen Bevölkerungsgruppen, die keine Mapuche sind und die andere Dinge produzieren, einen Austausch oder kaufen direkt bei ihnen. Im Moment versuchen wir, unsere Produktion zu ordnen, auf Grundlage der Überlegung, dass wir nicht für den Markt produzieren wollen, über das hinaus, was uns die Situation abverlangt zu verkaufen. Aber eine Sache ist, zu verkaufen, weil die Bedingungen heutzutage so sind, und eine ande-re Sache ist es zu denken, dass man immer dort sein wird. Also: Im Mo-ment sind wir dort und das wird noch eine gute Zeit lang so sein. Aber gleichzeitig werden wir damit aufhören, für den Markt zu arbeiten. Für den Markt zu arbeiten bedeutet, die Produktionsbedingungen zu verbes-sern, damit die Erträge dann in die Regale der großen Supermärkte gehen. Nein, wir wollen, dass unsere Lebensmittel, dass das, was wir produzie-ren, zu den ärmsten Leuten gelangt, damit sie sich ernähren können. Dass sie als Lebensmittel zu den Leuten gelangen und nicht zur Reichtumsak-kumulation von einem oder zweien beitragen. Das ist also der große Un-

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terschied. Wir suchen die Verbesserung der Bedingungen für die Tiere. Wir sehen einige Gebiete, die wir wieder für die Landwirtschaft zurück gewinnen können. Dies ist gerade unsere Aufgabe: Eine anderer Produkti-on vieler möglichen Dinge. Das Interview führten Andreas Schug und Julia Roth Aus dem Spanischen von Britt Weyde Transkription: Liliana Bordet

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Die Soja-Kinder: Eine künstlerische Untersuchung des Archivo Caminante zu Erinnerung und Imagination Eduardo Molinari

Einleitung

Die Soja-Kinder ist der Titel meiner letzten Arbeit, einem aus einer Instal-lation geformten Dyptichon und einer Publikation zum Projekt „Das Po-tosí-Prinzip”, das 2010/11 im Haus der Kulturen der Welt in Berlin zu se-hen war.1 Dieses Treffen erlaubt mir, einige Aspekte des Untersuchungs-prozesses, der Reflektion und der künstlerischen Arbeit mit Euch zu tei-len, die zur Konkretisierung der Arbeit geführt haben, vor allem die Moti-vationen, auf denen sie beruht.

Es ist für mich grundlegend klarzustellen, dass ich meine Ideen aus meiner Position als visueller Künstler heraus artikuliere, ausgehend von meiner Arbeit der Kreation von Bildern. Das heißt trotzdem nicht, dass die sozialen, ökonomischen, oder politischen vergangenen oder gegenwärti-gen Erfahrungen für mich reine „Themen” wären. Im Gegenteil, mich in-teressieren künstlerische und kulturelle Praktiken die aus dem Inneren der sozialen Transformationsprozesse heraus ohne den Anspruch auf Reprä-sentation angetrieben werden, also als lebendige Präsenzen innerhalb ihrer selbst. Gleichsam interessiert es mich, neue Formen historischer Narrative zu diesen Erfahrungen zu erkunden. Meine Ausführung gliedert sich ent-lang von drei Punkten.

Die Lastwagen

Zwischen Juni 2007 und Februar 2008 lebte ich zum ersten Mal außerhalb Argentiniens, in den deutschen Städten Berlin und Chemnitz. Diese Erfah-

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1 Das Potosí-Prinzip. Wie können wir das Lied des Herrn im fremden Land sin-gen? Koloniale Bildproduktion in der globalen Ökonomie. Hgg. von Alice Crei-scher/Max Jorge Hinderer/Andreas Siekmann, Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln 2010, siehe http://www.hkw.de/de/media/publikationen/10_potosi. php, letzter Zugriff: 14.11.2014

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rung erlaubte mir einen neuen Blick auf mein Land und auch auf seine jüngste Geschichte. Als ich Anfang 2008 nach Argentinien zurückkam, rüttelten mich die Geschehnisse in diesem Moment auf heftige Weise auf und führten zu einer notwendigen, nicht einfachen Neupositionierung. Der „Landkonflikt” oder die „Landrebellion”, die sich über fast vier Monate erstreckte, hatte ihren Ursprung in dem Versuch der Regierung, eine neue Steuer einzuführen (Resolution 125), welche die Einnahmen für die Ge-treideausfuhr vergrößern sollte, darunter die von Soja. Die Initiative wur-de sofort von ländlichen Produzent/innen abgelehnt, die ausgehend von einer politischen Allianz verschiedener Vertretungsgruppen eine Reihe von Widerstandsaktionen in Gang setzten. Die Mittel, welche die (großen, mittleren und kleinen) Produzent/innen im Rahmen des Protests einsetzen, schlossen Methoden mit ein, die sie bis dahin beklagt hatten, besonders als sie in den Händen der sozialen Bewegungen der arbeitslosen Arbei-ter/innen während der 1990er waren. So setzten die Produzent/innen Streikposten und Straßenblockaden ein, die den normalen Verkehr der Lastwagen und Güter und den Zugang zu den Häfen und zu den Vertei-lungszentren für Lebensmittel verhinderten, oder Cacerolazos2 in den ur-banen Zentren im Innern von Argentinien und in Buenos Aires. Es wurden auch Lebensmittel auf die Straßen geworfen und Erde verbrannt, wodurch in Rosario und Buenos Aires enorme Rauchwolken entstanden. Schließ-lich schickte die Regierung angesichts des starken sozialen Drucks (ein-schließlich des Drucks mittels der großen Kommunikationsmedien) ihre Resolution zur Abstimmung im Parlament. Nach einem Patt stimmte Julio Cobis, Cristina Kirchners Vizepräsident, gegen den Antrag der Regierung, der er bis heute angehört. Der Antrag blieb dadurch ohne Folgen.

Im Rahmen der Erinnerungsformen, welche aktuellen die amerikani-schen Nationalstaaten den revolutionären Bewegungen zum Bicentenario (zweihundertjährigen Jubiläum) anbieten, aus denen sie entstanden sind und nachdem ich eingeladen worden bin, beim Potosí-Projekt mitzuma-chen, entwirft das Archivo Caminante im Jahr 2010 eine doppelte Bewe-gung: Erinnerung und Imagination.

Auf der einen Seite steht die Erinnerung, um gegenwärtig den Kurs und die Energien anzuerkennen und fortzuführen, die das Unternehmen der Katholischen Könige von Kastillien und Aragón leiteten, und die bekannt sind als „Entdeckung, Eroberung und Evangelisierung der Neuen Welt”. Auf der anderen Seite steht ein Neudenken der Erinnerungspolitiken und

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2 Protestzug, bei dem mit Töpfen Lärm gemacht wird.

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der Konstruktion historischer Erzählungen, die zu erreichen versuchen, dass sich gleichzeitig die Politiken der Imagination aktivieren. Dies be-deutet nicht, keine Bilder mehr zu erzeugen, sondern den neuen Politiken ihrer Rezeption Aufmerksamkeit zu zollen.

Ich schlage vor, diese Aufgabe im Lichte der nächsten Erfahrungen des Widerstands gegen den Neoliberalismus durchzuführen und über die aktu-elle Situation der Nationalstaaten und ihrer Rolle in der südamerikani-schen Region nachzudenken. Wenn ich die Augen schließe, kann ich mir also einen lebendigen Körper vorstellen und erinnern, der historische li-bertäre und emanzipatorische Erfahrungen einschließt. Ich könnte auch denjenigen Träumen von Befreiung und Gerechtigkeit nachspüren, die den Metaphern in verschiedenen Werken der argentinischen oder lateinameri-kanischen Kunstgeschichte innewohnen.

Trotzdem betrachtet der hegemoniale Diskurs und das hegemoniale Imaginarium der Globalisierung die Nationalstaaten zeitgleich, indem sie einerseits für obsolet gehalten werden (dieser Punkt ließ zumindest bis zur US-amerikanischen Krise 2008 keine Hinterfragung zu) und andererseits die Rechtfertigung für Wettrüsten darstellen, für Waffenhandel, für Kriege und Xenophobie, welche die Staatsgrenzen in immer hermetischere Barri-eren verwandeln. Denn vor allem braucht der globale Kapitalismus sie als Garanten des Privatbesitzes und für die erklärte „juridische Sicherheit”, die für den „freien Markt” unumgänglich sind.

In diesem Kontext ist also das Bild, das ich von den Nationalstaaten in ihrer aktuellen Zusammenstellung insgesamt entwerfen möchte, das einer schweren Lastwagenflotte. Ich denke an Lastwagen, auf deren Seitenwän-den sich gut diejenigen historischen Parolen der sozialen Kämpfe Latein-amerikas von „Befreiung oder Abhängigkeit” lesen lassen. Dieses Ensem-ble schwerer Fahrzeuge steht – auf zugleich transparente und durchsichti-ge Weise – im Dienste des Marktes und des Verkehrs.

Durch kontrollierte Zirkulation und niedrige Zölle auf Waren und aller möglichen Formen von commodities, darunter auch Menschen, fördern die Nationalstaaten auf transparente und gleichzeitig undurchsichtige Weise die Dynamiken, die der Markt und seine globalen Netze bestimmten. Na-türlich sind Kultur und künstlerische Praktiken davon nicht ausgenom-men.

Das Projekt „Los niños de la soja” ist eine Reise entlang der Straßen dieser Lastwagen-Nationalstaaten und richtet die Aufmerksamkeit auf die Spur einer der Dimensionen entlang derer diese sich organisieren: die ak-tuellen Beziehungen zur Natur und besonders die neuen globalen Bedin-gungen der Nahrungsmittelproduktion.

Willkommen in der Soja-Republik.

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Die Soja-Republik

A veces las ideas, como los hombres, saltan y dicen: Hola! Estas ideas se presenta con palabras… ¿son palabras? Esas ideas hablan de formas extrañas. Todo lo que vemos en este mundo está basado en las ideas de alguien. Algunas son destruc-tivas, algunas son constructivas. Algunas ideas pueden llegar en forma de sueño. Lo diré de nuevo… algunas ideas llegan en forma de sueño.

Manchmal springen die Ideen wie die Menschen und sagen: Hallo! Diese Ideen stellen sich mit Worten vor ... sind es Worte? Diese Ideen sprechen auf merkwür-dige Weise. Alles, was wir auf dieser Welt sehen basiert auf den Ideen von je-mandem. Einige sind zerstörerisch, einige sind konstruktiv. Einige Ideen können in Form von Träumen kommen. Ich sage es noch einmal ... einige Ideen kommen in Form von Träumen.

Log Lady, Eingangssatz zum Kapitel 2 der TV-Serie „Twin Peaks”, David Lynch, 1990.

El traspaso de empresas de la cadena alimentaria a capitales extranjeros es un bu-en ejemplo para comprender el comportamiento de los actores en esta etapa: o traspasaban sus patrimonios o se subordinaban a la lógica de los nuevos núcleos del poder ... Los empresarios agroalimentarios optaron por lo primero (vendieron y giraron sus dineros al exterior) y los dueños de la tierra por lo segundo.

Norma Giarraca in Arzac (2009: S. 202)

Die Übertragung von Firmen der Lebensmittelkette in Auslandskapital bietet ein gutes Beispiel, um das Verhalten der Akteur/innen in dieser Etappe zu verstehen: Entweder mussten sie ihre Vermögen übertragen, oder sie mussten sich den neuen Machtzentren unterwerfen … Die Nahrungsmittelunternehmer/innen entschieden sichfür ersteres (sie verkauften und verschoben ihr Geld ins Ausland) und die Landbesitzer für die zweite Option. (Übersetzung: JR)

Mehr noch als ein reiner Streit um eine Steuer zu sein, hat der Konflikt von 2008 mir mein fehlendes Wissen über diesen tiefgreifenden ökonomi-schen Prozess verdeutlicht (und ich glaube, das der städtischen Bevölke-rung im Allgemeinen). Im engeren Sinne kann ich aus meiner künstleri-schen Praxis sagen, dass in diesem Moment die Soja aufhörte, unsichtbar zu sein. Dennoch hatte ich kein konkretes Repertoire an Bildern in meiner Reichweite.

Mein Körper kannte keine physische Erfahrung des Kontakts mit dieser Pflanze und auch nicht mit ihrer Landschaft oder den Akteur/innenn, die ihren Anbau ermöglichen. Bereits bevor ich Teil des Potosí-Prinzip-Projektes war, begann ich meine Untersuchung und versuchte, erst die Bilder des Konfliktes von 2008 wieder zusammenzubringen und sie dann mit der Soja-Welt in Zusammenhang zu bringen. Eines der ersten die ich

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fand beeindruckte mich sehr und es war sehr entscheidend für meine wei-tere Arbeit. Ich fand es im Internet, es war eine „alte” Nachricht aus dem Jahr 2006, ein Notiz aus der Tageszeitung La Capital aus Rosario in der Provinz Santa Fé, die sich auf die Existenz der „Fahnenkinder” bezieht. In der Gemeinde Las Petacas, benutzten die Sojabauern die Arbeitskraft von Jugendlichen zwischen 12 und 16 Jahren als „menschliche Fahnen”, um den Piloten der Düngemittelflugzeuge anzuzeigen, wo sie das Glysophat3 von Monsanto sprühen mussten. Die Nachricht hatte ein einziges Bild von einem Jungen, dem man die Auswirkungen des Herbizids ansah. Als Alice Creischer, Andreas Siekmann und Max Hinderer mich zum Potosí-Prinzip einluden, bildete dieses Bild einen der Ausgangspunkte. Dieses Projekt gab den Eingeladenen zwei Aufgaben vor: ein Bild des kolonialen Barock aus einem von den Kuratierenden vorgeschlagenen Repertoire auszuwäh-len und aus ihm einen Dialog zu generieren, der ermöglicht, die gegen-wärtigen Dynamiken des „Potosí-Prinzips”4 zu lokalisieren, indem dieses Konzept zugleich als Ursprung und als Mechanismus betrachtet wird.

Die historische Ausbeutung der Minen im Cerro Rico von Potosí ist für diese These zentral. Sie erfolgt gleichzeitig mit dem Beginn der ursprüng-lichen kapitalistischen Akkumulation und mit dem dynamischen Prozess des Ausverkaufs der Natur und der Ausbeutung der Menschen (welche die massive Produktion von Bildern im Dienste dieses Vorhabens ein-schließt). Dieser Mechanismus könnte in unterschiedlichen Geographien und Zeiten im Laufe der Menschheitsgeschichte lokalisiert werden. Ich entschied mich, diese These mit dem Prozess der argentinischen „Soja-isierung” zu verbinden. Dazu wählte ich ein Gemälde eines anonymen Malers aus, das normalerweise in der Casa de la Moneda in Potosí in der heutigen Republik Bolivien ausgestellt ist und mit ihm einen Dialog zu beginnen. Das Gemälde ist „Imposición de la casulla de San Idelfonso” (der Heilige Idelfonso empfängt ein Gewand) aus dem 17. Jahrhundert. Die Gründe, aus denen ich das genannte Bild auswählte sind folgende:

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3 Anm. d. Übers.: Glyphosat ist eine chemische Verbindung und eine biologisch wirksame Hauptkomponente einiger Breitbandherbizide, die seit über 30 Jahren weltweit zur Unkrautbekämpfung eingesetzt werden. Im Vergleich mit anderen Herbiziden weist Glyphosat meist eine geringere Mobilität, Lebensdauer und ei-ne geringere Toxizität gegenüber Tieren auf, ist wegen seiner fatalen Nebenwir-kungen für Mensch und Umwelt aber stark umstritten.

4 Anm. d. Übers.: Dem Kunstprojekt lag die strukturelle und fortdauernde kolonia-le Ausbeutung vom Naturresourcen und indigener Arbeitskraft zugrunde, nach der Eroberung in den Silberminen in Potosí (Bolivien) ihren Anfang nahm.

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- Einerseits ist es das einzige zur Auswahl stehende Bild, in dem die Natur die Hauptrolle spielt, insbesondere die Pflanzen. Im irdi-schen Teil des Bildes können wir sehen, dass sich die Aktionen in einer von Pflanzen bewohnten Landschaft abspielen, die ein selt-sames Merkmal aufweisen: eine dünner werdende Beziehung mit dem menschlichen Körper. Zweitweise sind sie sehr groß und zeitweise sehr klein und so erzeugen sie ein Schicksal mit „Gulli-ver-Effekt”. Dieser Effekt war ähnlich dem, den wir Bewoh-ner/innen von Buenos Aires, wie ich glaube, mit dem Soja haben, frei von einer realen körperlichen Dimension.

- Andererseits: die anonyme Autorschaft des Bildes. Dieser Aspekt steht in Beziehung zu der Entscheidung der Potosí-Prinzip-Ausstellung, unsere Namen als Künstler/innen nicht überzudimen-sionieren, sondern der kollektiven Konstruktion neuer historischer Erzählungen größeren Wert einzuräumen.

- Zudem versetzte ich mich in einer persönlichen Dimension in die Lage einer Künstlerin/eines Künstlers, deren/dessen Handwerk der Sichtbarmachung eines Imaginariums verpflichtet ist, mit dem er keine Gemeinsamkeiten hat, zu dem er eine antagonistische Sicht-weise hat.

Auf dem Gebiet Argentiniens beherrschte der Neoliberalismus auf hege-moniale Weise zwischen 1989 und 2011 das Land, wenn auch noch nicht in wichtigen Bereichen der ökonomischen Aktivität. Die Atlanten der Globalisierung zeigen heute, dass er eines seiner Hauptziele konkretisiert hat: die Stärkung eines Prozesses der „Agrikulturalisierung”. Für seine Bekräftigung bedarf es genau eines bestimmten Baukastens, ohne den die-ser Prozess nicht möglich gewesen wäre und der drei Elemente umfasst:

1) Die Methode der direkten Aussaat die zwei Ernten pro Jahr er-möglicht durch den Einsatz von Agrarmaschinen der letzten in-dustriellen Generation.

2) Die Implementierung von Biotechnologie, zu der der Gebrauch von genetisch verändertem Saatgut gehört, ebenso wie der Einsatz neuer Chemikalien und Herbizide, aber auch die Erforschung und Entwicklung dieser Form von Produkten auf argentinischem Bo-den.

3) Neue Formen des Landbesitzes, deren Hauptform die so genann-ten Saatpools sind.

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Die Hauptfolge der Agrikulturalisierung in Argentinien ist die „Soja-isierung” des Landes. Einige Daten, die für dieses Phänomen relevant sind:

Felipe Solá hat als Minister für Landwirtschaft, Fischerei und Ernäh-rung der Menem-Regierung 1996 die Genehmigung für das Experimentie-ren, die Produktion und Kommerzialisierung von Saatgut im Land unter-zeichnet, von genetisch veränderten Samen, der Soja, welche das Herbizid Glyphosat und seine Abkömmlinge vertragen. Er genehmigte auch dem multinationalen Konzern mit nordamerikanischem Ursprung Monsanto, seine Produkte ins Land einzuführen.

Eine Nuance gab der Landung von genetisch verändertem Soja im Land „Farbe”: Monsanto hatte in den USA der Firma Asgrow/Dekalb, deren Fi-liale in Argentinien die holländische Firma Nidera erwarb, die Lizenz ausgestellt, dieses Gen zu nutzen. Dieser kommerzielle Handgriff verhin-derte, dass Monsanto seine Produkte in Argentinien patentierte, und des-halb kann das Unternehmen bis heute weder die Nutzung seines Saatgutes einschränken, noch das Urheberrecht dafür einfordern. Die nächsten Schritte nehmen potentiell die Firmen vor, die durch dieses neue Gesetz befugt sind, ihre technologischen Pakete auszubreiten. Die multinationa-len Unternehmen, die die wichtigsten Rollen spielen sind unter anderen: Syngenta, Bunge, DuPont, Bayer, Cargill, Nidera, Dreifus, Dow Ag-roSciences, Asgrow/Dekalb, Massey Ferguson und John Deere.

Die Hälfte der landwirtschaftlich genutzten Fläche in Argentinien be-steht aus Sojaanbau (über 18 Millionen Hektar) und auf 90 Prozent dieser Fläche wird gentechnisch verändertes Soja RR von Monsanto und seinen lokalen Vertreter/innen angebaut. Dieses Territorium ist Teil einer neuen erkennbaren Form auf den Landkarten Südamerikas: erschaffen durch den multinationalen Konzern Syngenta für seine Werbekampagne „die Soja-Republik”, fegt sie über die Grenzen von Argentinien, Uruguay, Paraguay, Brasilien und Bolivien hinweg.

Argentinien ist heute der weltweit drittgrößte Produzent von Soja und seinen Abkömmlingen, weltweit zweitgrößter Produzent von gentechnisch verändertem Soja (nach den USA) und weltweit führender Exporteur von Sojamehl und Sojaöl.

Im Jahr 2010 betrug die Sojaernte 52,7 Millionen Tonnen und sie war schon zu 80 Prozent vermarktet, so dass dem Land etwas über 7200 Milli-onen Dollar blieben (Página 12/ 22. August 2010). Seinen kommerziellen Weg weiterverfolgend konzentrierte Argentinien 80 Prozent seines Ex-ports auf China (51 Prozent Sojabohnen, 29 Prozent Sojaöl). In Europa ist Dänemark der größte Importeur, dort befindet sich die Danish Crown Amba, die größte Firma für Schweinefleischproduktion in der europäi-

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schen Union und von Arla Foods Amba, der größten Milchproduktefirma (fusioniert aus MD Foods und der schwedischen Firma Arla). Argentinien und die „Soja-Republik” versorgen auch die größten spanischen Firmen für Fleisch-, Milch- und Hühnerproduktion (die Gruppen Pozo, Pascual, Sada, Casa Tarradellas oder Coren) über die drei nordamerikanischen Firmen, die den spanischen Markt kontrollieren: Cargill, Bunge und ADM.

Die argentinischen Produzierenden benutzen die Parole „Fleisch ist So-ja”, um daran zu erinnern, dass die Hauptbestimmung ihrer Produkte Fut-ter für Kühe, Schweine und Hühner ist, um anschließend auf indirektem Wege über Fleisch, Milchprodukte und Eier wieder in die menschliche Ernährungskette zurückzukehren. Die Soja-isierung ist gleichzusetzen mit einem Kahlschlag. Im Jahr 2007 betrug die durchschnittliche Entwaldung, die nur in sechs Provinzen erhoben wurde, 280.000 Hektar pro Jahr und am meisten betroffen waren die Provinzen Chaco, Salta und Santiago de Estero. Die Waldrodung wird häufig durch Feuer vorgenommen, und sie zielten nicht nur auf den Soja-Anbau, sondern auch auf die Gewinnung von Land zur Auslagerung von Vieh auf qualitativ minderwertigere Bö-den, in den meisten Fällen für die Zucht nach dem Feedlot-System.

Im Jahr 1994 verabschiedete die Menem-Callo-Regierung das Gesetz 24.441, welches die Figur des Fideicomiso (Fideikommiss/treuhände-rische Übereignung)5 im Land einführte, welches die ersten Saatgut-Fideicomisos aktivierte. Nach der Krise von 2001 organisierten sich dieje-nigen Produzierenden, die die Kapitalkonzentration und -akkumulation überlebt hatten durch die neue Landeigentumsform, welche während des Transformationsprozesses im Agrarsektor entstanden war: die Saatgut-Pools.

Der Saatgutpool besteht aus jeglicher möglichen Kombination, durch die der An-bau vorangetrieben wird. Eine häufige Form ist die Kombination aus einem Land-besitzer, einem Auftragnehmer und einem Agraringenieur, die eine Produktion vereinbaren, in welche jeder seine Ressourcen (Land, Arbeit und entsprechend In-

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5 Anm. d. Übers.: Ein fideicomiso oder fidecomiso (von Lat. fideicommissum, gleichzeitig von fides, „Glaube” und commissus, „Kommission”) ist ein Vertrag oder Abkommen demzufolge eine oder mehrere Personen (fideicomitente/s oder fiduciante/s genannt) Güter, eine Geldmenge oder gegenwärtige oder zukünftige Rechte über ihr Eigentum auf eine andere Peron überträgt (eine physische oder rechtliche Person, genannt fiduciaria/treuhänderisch), damit diese die Güter ver-waltet und zum eigenen Gewinn oder dem Profit dritter, genannt beneficia-rio/Begünstigter, oder einer anderen Person, genannt fideicomisario/Treuhänder, anlegt.

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put) einbringt und der Gewinn in Übereinstimmung mit seiner Beteiligung aufge-teilt wird.6

Pool de siembra es cualquiera de las combinaciones posibles por las que el cultivo se lleva adelante. Una forma frecuente es la combinación del dueño de la tierra, un contratista y un ingeniero agrónomo, que convienen una producción aportando cada un sus recursos (tierra, labores e insumos respectivamente) y se reparten utilidades de acuerdo a su participación.

Es geht also nicht so sehr darum, den Umfang des Landes selbst zu ver-größern, sondern die gepachteten Nutzungseinheiten zu steigern und sie unter einem einzigen Organisationskommando zu vereinen.

Die Daten des Agrarzensus von 2002 informieren über das Anwachsen der kombinierten Formen des Landbesitzes, der Verpachtung und der Ver-träge. Dieser Prozess hat sich in den letzten Jahren beschleunigt und die argentinische Landwirtschaft auf internationaler Ebene in einen sonderba-ren Fall verwandelt. Schätzungen zufolge stellen die Privatiers über 50 Prozent der Inhaber der Einheiten dar.

„Das Glyphosat ist wie die Bayaspirina” 7 (Gustavo Grobocopatel).

Diesen Satz formulierte der argentinische Unternehmer Gustavo Gro-bocopatel des Saatgut-Pools „Los Grobo” als ihn der Journalist Jorge Lanata in einem Fernsehinterview nach den schädlichen Folgen des Her-bizids Glyphosat von Monsanto fragte.

Die Statistiken der Kampagne 2007-2008 zeigen, dass auf das argenti-nische Territorium 180.000.000 Liter Glyphosat geschüttet werden, wodurch das Land – in den Worten des Professors und Forschers Andrés Carrasco der Universität von Buenos Aires – aus öko-toxikologischer Per-spektive zu einem „schieren Massenexperiment” wird. Weil die Dosen, die die öffentlichen Organe und Unternehmen selbst für den Gebrauch von Glyphosat zulassen, anhand ihre Auswirkungen auf die Körper von Er-wachsenen bestimmt werden, sind die Hauptopfer dieses Experiments Kinder, Heranwachsende und Neugeborene.

Fast alle durchgeführten Untersuchungen zu den Folgen des Spritzmit-teleinsatzes auf die Gesundheit der Bewohner/innen der an die Sojafelder

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6 INTA en Osvaldo Barsky-Mabel Dávila, „La rebelión del campo, historia del conflicto agrario argentino”, 2008, S.91. Übersetzung JR.

7 „Das Glyphosat ist wie die Bayaspirin” (patentiertes Schmerzmittel mit hohen Nebenwirkungen), Gustavo Grobocopatel, im Interview mit Jorge Lanata in DDT (Después de todo), Canal 26, 2009. Übersetzung JR.

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angrenzenden Regionen lassen folgende Krankheiten erkennen: Unfrucht-barkeit bei Erwachsensen (Frauen und Männern), Fehlgeburten, Missbil-dungen bei Neugeborenen, Krebs bei Kindern, Leukämie, neurologische Störungen, Atemstörungen und Kreislaufstörungen und schwere Haut-probleme. In einigen Fällen verwenden die Forscher auch den Ausdruck „Glyphozid”, um diesen Prozess zu beschreiben, der die Begriffe Gly-phosat + Genozid + Ökozid vereint. Zwei sinnbildliche Fälle für all das beschriebene sind:

1) Das Stadtviertel Ituzaingó am Stadtrand von Córdoba, wo circa

5000 Menschen leben, von denen 200 an Krebs leiden. Es gibt Fälle von Jugendlichen zwischen 18 und 25, die Hirntumore haben und einen 22- und einen 23-jährigen, die schon gestorben sind. Es gibt auch 13 Fälle von Kindern mit Leukämie. Die Mütter von Ituzaingó waren vor mehr als einem Jahrzehnt Pionierinnen der Durchsetzung der rechtlichen Klagen, indem sie die Komplizenschaft der politischen Autoritäten mit den Produzent/innen ans Licht brachten. Wie die Mütter des Plaza de Mayo nannten sie sich locas (Verrückte). Sie erreichten, dass die juristischen Behörden die Spritzmittel mit Glyphosat im Viertel verboten und erklärten diese Aktion zum Strafdelikt.

2) Der Hafen von San Lorenzo ist ein Ort von hohem Symbolwert

in der argentinischen Geschichte, denn dort, an den Ufern des breiten Paraná-Flusses besiegte der General San Martín 1813 zum ersten mal die königlichen spanischen Truppen. Heute ist er Teil eines der wichtigsten Export-Hafen-Komplexe des Landes, und er umschließt die folgenden Sparten: Getreide und seine Nebenerzeugnisse, Öle, Brennstoffe, fossile Brenn-stoffe, sowie chemische und petrochemische Mineralien. Die Lastwagenschlangen durchqueren ihn zu den Transportzeiten der Ernte in Form rund um die Uhr nicht abreißenden Verkehrs. Die Nachbarschaftsorganisation, repräsentiert durch Doktor Norma Tenaglia, ermöglichten es, diese Situation zu ändern und erreichten die Unterbrechung des Nachtverkehrs, obwohl dies der Anwältin den Entzug ihrer Lizenz zur Ausübung ihres Berufs sowie zahlreiche Drohungen einbrachte. Die Unterneh-men haben darüber hinaus eine Art „Parallelrute”, um ihren Auftrag zu erfüllen, die Lastwagen nicht zu stoppen. Die Last-

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wagenfahrer verbringen manchmal fast einen Monat neben ih-rem Fahrzeug, bis sie am Entladeort ankommen.

Die Waschmaschine

La nueva forma productiva se funda sobre un principio tecnológico que sustituye a la totalización por la recombinación. Informática y biogenética están fundadas sobre un principio de recombinación: unidades capaces de multiplicarse, proliferar, recombinarse que se sustraen a la totalización. 8

Die neue Produktionsform basiert auf einem technologischen Prinzip, das die To-talisierung durch die Neuanordnung ersetzt: gemeinsam in der Lage sich zu ver-vielfältigen, profilieren, sich neu anzuordnen, damit sie sich der Totalisierung ent-ziehen.

Con la expresión semiocapitalismo defino el modo de producción predominante en una sociedad en la que todo acto de transformación puede ser sustituido por in-formación y el proceso de trabajo se realiza a través de recombinar signos.

En sus formas tradicionales, la actividad semiótica tenía como producto específico el significado, pero cuanto la actividad semiótica se vuelve parte del ciclo de pro-ducción de valor, producir significado no es ya la finalidad del lenguaje.9

Mit dem Begriff des Semiokapitalismus beschreibe ich die vorherrschende Pro-duktionsweise in einer Gesellschaft, in der jeder Akt der Transformation durch In-formation ersetzt werden kann und der Arbeitsprozess sich über die Neuanord-nung von Zeichen realisiert.

In ihren traditionellen Formen, hatte die semiotische Aktivität das Signifikat/die Bedeutung als spezifisches Produkt, aber in soweit sich die semiotische Aktivität in einen Teil des Wertproduktionszyklus verwandelt, ist die Bedeutungsprodukti-on nicht mehr das Ziel der Sprache.

Das Rhizom des gentechnisch veränderten Soja versinkt in der ökonomi-schen Wirklichkeit Argentiniens und von dort aus organisiert es neue poli-tische Allianzen. Aber die Ausbreitung dieses Rhizoms führt auch zu enormen sozialen wie laboralen, sanitären und kulturellen Auswirkungen. Ich möchte einige Reflektionen über die letzteren teilen.

Schon in den 1990er Jahren wurde die Arbeiterkultur als obsolet be-trachtet, und die Organisation der Arbeitsbeziehungen und die nach langen

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8 INTA (2008: S. 91). Übersetzung JR. 9 Grobocopatel (in Lanata 2009). Übersetzung JR.

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Jahren des Kampfes erworbenen Rechte der Arbeiter/innen wurden vom Neoliberalismus demontiert. In diesem Sinn organisierte sich die „Soja-Republik” von einer Sprache aus die vorgibt, den letzten technischen und kommunikativen Entwicklungen und der naturwissenschaftlichen For-schung eine besondere Rolle einzuräumen. Diese Rhetorik versucht, die landwirtschaftlichen Geschäfte mit der „Wissensgesellschaft” zu verknüp-fen (Manifiestos de Aapresid/Darse Cuenta).10

Eine durchdringende, störende persönliche Unruhe breitete sich wäh-rend meiner Arbeit an den „Sojakindern” aus: Von welcher Art Wissen werden die Repräsentant/innen der Agrargeschäfte sprechen? Welche Art von Kultur kann ein entsprechendes Wirtschaftsmodell beinhalten? Wäre es uns möglich, an die Existenz einer genetisch veränderten Kultur zu denken?

Einerseits zeigt das Phänomen der argentinischen Soja-isierung in sei-ner Beziehung zur Arbeitskultur das Anwachsen des Verlusts von Arbeits-stellen und die Permanenz der informellen Arbeit im ländlichen Sektor. Andererseits: was könnten die Hauptmerkmale dieser genetisch veränder-ten Kultur sein? Die Antwort auf diese beunruhigende Frage erhielt ich durch den direkten Kontakt mit Personen und Orten aus dem Inland Ar-gentiniens und auch durch die Arbeit von Autore/innen, die über diese Fragen nachdenken. Insbesondere war es die erhellende Idee des Semi-okapitalismus von Franco Nerardi Bifo,11 der die Neuanordnung im Zent-rum der Wertproduktion in der gegenwärtigen Kultur verortet.

Ich konnte im Laufe meiner Annäherung an die Soja-Welt wiederer-kennen, dass diese Operation von der Biotechnologie geteilt wird, den neuen Arbeits- und Landbesitzbeziehungen und den Dispositiven der Ver-teilung und Zirkulation von Bildern der neoliberalen Kultur:

- Die Neuanordnung tierischer mineralischer und pflanzlicher Gene

zur Gewinnung genetisch veränderter Samen (offener Tagebau-Soja).

- Die Neuanordnung von Arbeitszeitfragmenten in unserem Leben. Das Hauptmerkmal dieser neuen Arbeiterklasse im Semiokapita-lismus ist der „cognitariado”: Ein verfügbarer und flexibler Arbei-ter/eine Arbeiterin, die/den man weder für ganze Arbeitstage an-stellen noch an festen Orten arbeiten lassen muss.

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10 http://www.congresoaapresid.org.ar/manifiesto/ 11 Vgl. Bifo (2007).

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- Die Neuanordnung aller möglichen Formen des Landbesitzes für die Entwicklung des genetisch veränderten Anbaus.

- Zuletzt die Neuanordnung von Zeichen/Signifikaten ohne den Sig-nifikanten einzuführen. Das heißt: eine perverse Inanspruchnahme der Sprache im Dienste der sozialen Infantilisierung, die an die Lo-gik des Spektakels geknüpft ist.

Die Neuanordnung ist auch Ausdruck des Bestrebens, dass die Kulturin-stitutionen und ihre Ausstellungs-, Katalogisierungs- und Verteilungsdis-positive von Bildern wie eine riesige Waschmaschine das menschliche Leiden reinigen oder ausbleichen könnten, indem sie Kriege, Genozide, Rassismus, Geschlechtergewalt, Armut ökologische Probleme etc. ausstel-len.

Ich spreche hier nicht (nur) von Geldwäsche sondern vor allem von der Konstruktion von „gutmenschlichen” Erzählungen der gentechnisch ver-änderten neoliberalen Kultur. Die neoliberale Neuanordnung führt einen Tauschhandel durch: sie gibt uns das Gedächtnis, aber sie nimmt und die Geschichte.

Sie zwingt uns, die Energien darauf zu konzentrieren, die Kämpfe der Vergangenheit zu erinnern und auszustellen als seien sie Mumien (genau wie die Mumien der als „primitiv” betrachteten Kulturen), anstatt Raum und Zeit für die Freisetzung der transformatorischen Kräfte unserer Ge-schichte zu generieren.

Die Sojakinder stellen also die Frage: Was kann die Kunst und das Schaffen von Bildern im Innern dieser Waschmaschine? Diese Fragen kann ich nur versuchen zu beantworten aus meiner Überzeugung von der Notwendigkeit heraus, die transformative Kraft der Kunst zu bejahen und auszuweiten.

Ich kann die Frage nur beantworten ausgehend von der Entfaltung ihrer Kapazitäten, nicht von der Repräsentation irgendeines sozialen oder poli-tischen Kampfes – sondern durch verkörperte Präsentation von verinner-lichten – gegenwärtigen und geteilten Energien, die ermöglichen, dass un-sere Imaginationen Realität werden.

Aus dem Spanischen von Julia Roth

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Literatur Creischer, Alice/Hinderer, Max Jorge/Siekmann,Andreas : Das Pososí-Prinzip. Wie könne

wir das Lied des Herrn im fremden Land singen? Koloniale Bildproduktion in der globa-len Ökonomie, 2010, http://www.hkw.de/de/media/publikationen/10_potosi.php (letzter Zugriff: 28.11.2014).

INTA in Osvaldo Barsky-Mabel Dávila, „La rebelión del campo, historia del conflicto agra-rio argentino”, 2008, S. 91.

Bifo, Franco Berardi: „Generación Post-Alfa, patologías e imaginarios en el semiocapita-lismo”, Tinta Limón, 2007.

Giarraca, Norma: in Rodolfo González Arzac, „Adentro!”, Ed. Marea, 2009, S. 202. Lanata, Jorge: Interview mit Gustavo Grobocopatel, DDT (Después de todo), Canal 26,

2009. Navarro, Roberto: „Ponele soja...”, Página 12/ 22. August 2010, http://www.pagina12.

com.ar/diario/suplementos/cash/17-4558-2010-08-22.html (letzter Zugriff 12.11.2014). „Manifiestos de Aapresid/Darse Cuenta”, http://www.congresoaapresid.org.ar/manifiesto/

(letzter Zugriff 12.11.2014). TV-Serie „Twin Peaks”, Kapitel 2, Regie: David Lynch, 1990.

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Teil III (Re-)Produktionen asymmetrischer

Ressourcenausbeutung und Ungleichheiten

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Neuer Entwicklungsextraktivismus, Regierungen und soziale Bewegungen in Lateinamerika Maristella Svampa1

Lateinamerika bietet ein äußerst kontrastreiches und beunruhigendes Sze-nario. Sicherlich ist die lateinamerikanische Geografie durch das Auf-kommen und die Konsolidierung fortschrittlicher Regierungen geprägt. Einige davon haben sich der Aufgabe verschrieben, den Staat zu transfor-mieren, die partizipative Demokratie zu erweitern, kurz, eine öffentliche Politik anzuwenden, die darauf abzielt, die Lebensbedingungen der ver-wundbarsten Sektoren zu verbessern. Diese Politik stützt sich auf einen kritischen Diskurs gegenüber des Neoliberalismus der 90er Jahre und übernimmt meist – früher oder später – eine national-populare2 Rhetorik, die mit Nachdruck einen popularen Pol herausbildet bei der Konfrontation mit den großen wirtschaftlichen Machtgruppen. Dennoch existiert diese national-populare Erzählung, die je nach Land bestimmte Charakteristika aufweist, neben einer Politik, die die Installierung eines neokolonialen Modells befördert und bestätigt, das auf der Aneignung und der Zerstö-rung der Naturressourcen beruht. Das heißt, dass die fortschrittlichen Re-gierungen jenseits ihrer zurzeit angesagten Rhetorik, die auf die Industrie fixiert und emanzipatorisch ist, darauf abzielen, den „neuen internationa-len Konsens” als „Schicksal” zu akzeptieren. Dies geschieht im Namen der „komparativen Vorteile” oder der reinen Unterordnung unter die geo-

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1 Forscherin bei Conicet und Professorin an der Universidad Nacional de La Plata, Argentinien. Die französische Version dieses Artikels ist 2011 in der Zeitschrift Problèmes de l’Amérique Latine veröffentlicht worden. Auszüge aus diesem Ar-tikel wurden auf verschiedenen Seminaren diskutiert, vor allem in Mexiko (im September 2010), von der UNAM organisiert, sowie in Quito (Ekuador) im März 2011, auf einem von der Rosa Luxemburg Stiftung organisierten Seminar über „Alternativen zum Extraktivismus”

2 Anm. d Übers.: Das spanische popular bedeutet weder (allein) populär, noch volkstümlich, noch populistisch, sondern geht darüber hinaus und meint damit al-les, was die unteren Schichten (aber nicht allein die Armen) betrifft; deshalb kann popular vielleicht am besten in der Negation gefasst werden: alles was nicht von der herrschenden Klasse/Schicht/Elite/Kultur ist, sondern vielmehr von brei-ten, tendenziell unteren Gesellschaftsschichten kommt beziehungsweise sie be-trifft und soll im folgenden so verstanden werden.

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politische Weltordnung, die im Verlauf der Geschichte für Lateinamerika die Rolle des Exporteurs von Natur vorgesehen hat, ohne die Struktur zer-störenden Auswirkungen auf die Bevölkerung und die enormen Folgen für die Umwelt zu berücksichtigen.

In geopolitischer Hinsicht stellt die „extraktivistische” Option, die sich heutzutage in der lateinamerikanischen Region von Mexiko bis Argentini-en zu etablieren versucht, eine Antwort dar auf die neue territoriale und globale Arbeitsteilung, die auf der unverantwortlichen Aneignung der nicht erneuerbaren Naturressourcen beruht. Dies hat neue wirtschaftliche, politische und ökologische Asymmetrien zwischen dem Norden und dem Süden mit sich gebracht. Der so entstandene Extraktivismus ist kein Schicksal, er ist eine politische und auch zivilisatorische Option, die von verschiedenen Regierungen angenommen worden ist, und die die Territo-rien und Ökonomien auf negative Art und Weise neu gestaltet, indem sie eine neue Abhängigkeit schafft: Immer mehr Rohstoffe werden exportiert, was sich in der ökonomischen Konzentration, der Spezialisierung der Pro-duktion sowie in der Konsolidierung von Exportenklaven widerspiegelt. All diese Merkmale sind im Verlauf der Geschichte sowohl von Entwick-lungstheoretikern als auch von marxistischen Strömungen kritisiert wor-den.

Somit ist ein wichtiger Punkt, den es zu berücksichtigen gilt, die Tatsa-che, dass das aktuelle Szenario nicht nur eine kontinuierliche Verkoppe-lung von neuem Entwicklungsextraktivismus und Neoliberalismus ver-deutlicht, wie in den Fällen von Peru, Kolumbien oder Mexiko. Es ver-deutlicht auch die Verkopplung von neuem Entwicklungsextraktivismus und fortschrittlichen Regierungen, vor dem Hintergrund, dass die staatli-che Leistungsfähigkeit gestärkt wird. Dies macht die Problematik noch komplexer aufgrund der Vielstufigkeit der Konflikte, in denen sich öffent-liche Politik, unterschiedliche Aktionslogiken und Territorialitäten kreu-zen.

Um die unterschiedlichen Schnittlinien dieser Problematik zu analysie-ren, schlagen wir vor, vier aufeinander folgende Momente darzulegen. Zunächst beziehen wir uns auf die Ausbreitung des Extraktivismus in der lateinamerikanischen Region, um daraufhin einen kurzen Umweg über ei-nige Auswüchse der Kategorie Entwicklung sowie ihrer neuerlichen Ak-tualisierung zu machen. Als drittes werden wir uns mit der Analyse der Bilder und Ideen beschäftigen, die in Bezug auf die amerikanische Natur entwickelt worden sind, mit dem Ziel, das hartnäckige Fortbestehen be-stimmter Vorstellungswelten aufzuzeigen, im Dienst der „komparativen Vorteile”, welche die Region heutzutage nutzt. In den letzten beiden Tei-len werden wir das Thema der neuen Kartographie von Konflikten auf

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dem Kontinent anschneiden, zusammen mit den sozialen Umweltkämp-fen, an deren Spitze indigen-bäuerliche Organisationen sowie die neuen sozialen Umweltbewegungen stehen. Eines unserer Ziele besteht darin, die aktuellen Charakteristika der öko-territorialen Wende zu beleuchten, in der sich die indigen-gemeinschaftliche Matrix mit der Sprache des Um-weltschutzes kreuzt. Schließlich versucht sich der vorliegende Artikel in einem Hin und Her zu verorten, das heißt zwischen einer Analyse der eher allgemeinen Fragen oder Charakteristika einerseits und einem Rundgang durch spezifische Szenarien, wie Argentinien, Peru, Ekuador und Bolivien andererseits. Dies dient dem Ziel, die existierenden Spannungen sowie die spezifischen Abstufungen und Unterschiede zu beleuchten.

Der Extraktivismus im Kontext der asymmetrischen Globalisierung

Um in den Begrifflichkeiten der Wirtschaftsbeziehungen zu sprechen, hat die Globalisierung eine neue internationale Arbeitsteilung entworfen, wel-che die Asymmetrien zwischen den Ländern des Nordens und des Südens noch verstärkt hat. Es handelt sich um die Bestrebungen der Länder des Nordens, die ersten Arbeitsphasen des Extraktivismus aus ihren Ländern auszulagern, womit der Schutz der eigenen Umwelt Vorrang hat. Auf glo-baler Ebene wird jedoch die Umwelt stärker geschädigt und ebenso in den Ländern des Südens, deren Territorien als Ressourcenquelle und Abfall-halde benutzt werden (Naredo 56).

Diese Nachfrage nach Primärgütern oder Konsumgütern von Seiten der abhängigen Länder hat zu einem schwindelerregenden Prozess der Rück-kehr zur rohstoffbasierten Wirtschaft in Lateinamerika geführt: Ein Be-richt der Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (Co-misión Económica para América Latina y el Caribe, CEPAL), auf den sich Gudynas bezieht (2010), spiegelt diese Tendenz wider. Mit Hilfe von In-dikatoren aus dem Jahr 2009 lässt sich eine Zunahme im Vergleich zum Vorjahr zeigen. So stieg in der Andengemeinschaft der Prozentsatz des Primärgüterexports von 81 Prozent im Jahr 2008 auf 82,3 Prozent in 2009. Im Fall des MERCOSUR war der Anstieg noch größer, dort stieg er von 59,8 Prozent auf 63,1 Prozent. In der Region steht Bolivien an der Spitze dieses Prozesses der Rückkehr zu einer rohstoffbasierten Wirtschaft (92,9 Prozent der Exporte sind Primärgüter), och die Dynamik erreicht sogar Länder wie Brasilien. Schließlich stieg der Anteil der Primärgüter am Ex-port während der beiden Präsidentschaften von Lula da Silva von 48,5 Prozent im Jahr 2003 auf 60,9 Prozent in 2009, womit die weitverbreitete Vision vom „industrialisierten Brasilien” in Frage gestellt wird (Ebd.).

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Im aktuellen Kontext muss der Extraktivismus als ein Akkumulations-modell verstanden werden, das auf der Überausbeutung von größtenteils nicht erneuerbaren Naturressourcen beruht sowie auf der Expansion in Gebiete, die zuvor als „unproduktiv” galten. Von daher berücksichtigt es nicht nur typisch extraktive Aktivitäten (Bergbau oder Erdölförderung), sondern auch andere Aktivitäten (wie den Agrarhandel oder Biokraftstof-fe), die einer extraktivistischen Logik folgen, indem sie ein Modell konso-lidieren, das auf ein einziges Produkt setzt. Außerdem umfasst es die Inf-rastrukturprojekte, die im Rahmen der IIRSA geplant sind, der Initiative für die Integration der Südamerikanischen Infrastruktur (Iniciativa para la Integración de la Infraestructura Regional Suramericana), in den Berei-chen Transport (Wasserwege, Häfen, bioozeanische Korridore3 u.a.), Energie (große hydroelektrische Staudämme) und Kommunikation. Auf dieses Programm haben sich verschiedene lateinamerikanische Regierun-gen im Jahr 2000 geeinigt, mit dem Hauptziel, eben jene Güter einfacher gewinnen und in ihre Zielhäfen exportieren zu können.

Erinnern wir uns daran, dass sich in den 90er Jahren im Zuge der neoli-beralen Reformen die Interventionsweise von Nationalstaaten in die Ge-sellschaft verändert hat. Eine Folge davon war der Kontrollverlust über die Ressourcen und die Territorien. Dennoch hat der Nationalstaat in den letzten Jahren im Zusammenhang mit dem Aufkommen neuer fortschritt-licher Regierungen, vor allem in Ländern wie Bolivien und Ekuador, insti-tutionelle Kapazitäten zurück gewonnen, indem er sich zu einem wichti-gen Wirtschaftsakteur erklärt und – in bestimmten Fällen – zu einem Ver-treter der Umverteilung. Trotz dieser Fortschritte geht der Trend im Rah-men der Global Governance Theorien nicht in die Richtung, dass der Staat wieder zu einem „Mega-Akteur” wird; vielmehr vollzieht sich die Rück-kehr des regulierenden Staates in einem geometrisch wechselhaften Raum, das heißt in einem Schema mit vielen Akteur/innenn (und einer komplexer werdenden Zivilgesellschaft, veranschaulicht durch soziale Bewegungen, NROs und andere Akteur/innen), allerdings in enger Verbindung zum multinationalen Privatkapital, dessen Anteil an den Nationalökonomien immer größer wird. Außerdem darf nicht vergessen werden, dass sich die Rückkehr des Staates zu seiner umverteilenden Rolle auf andere soziale Strukturen als früher stützt (eine Arbeiter/innen-Bauern/Bäuerinnen-Matrix mit starken bürgerlichen Inhalten). Diese sind das Ergebnis der ____________________

3 Internationale Verbindungswege, die bestimmte Regionen, städtische Zentren oder Häfen sowohl am Atlantik als auch am Pazifik miteinander verbinden, mit dem Ziel, Transport und Handel zu erleichtern, Anm. d. Übers.

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Veränderungen während der neoliberalen Jahre und stellen häufig eine Fortsetzung jener ausgleichenden Sozialpolitiken dar, die in den 90er Jah-ren von der Weltbank vorangetrieben wurden.

Eine der Konsequenzen des aktuellen extraktivistischen Wendepunkts ist die explosive Zunahme sozialer Umweltkonflikte, sichtbar in den ver-stärkten, jahrhundertealten Kämpfen um Land von Seiten der Indigenen und der Kleinbauernbewegungen sowie in den neu aufgekommenen For-men der Mobilisierung und Bürgerbeteiligung, die sich auf die Verteidi-gung der Naturressourcen (die als „Gemeingüter” definiert werden), der Biodiversität und der Umwelt konzentrieren. Unter sozialen Umweltkon-flikten verstehen wir diejenigen Konflikte, die mit dem Zugang zu und der Kontrolle über Naturressourcen in Zusammenhang stehen, die bei den miteinander in Konflikt stehenden Akteur/innenn entgegengesetzte Inte-ressen und Werte in einem asymmetrischen Machtzusammenhang4 vo-raussetzen. Die Sprachen der Bewertung von Naturressourcen weichen voneinander ab und beziehen sich auf das Territorium (geteilt oder um zu intervenieren) und allgemeiner auf die Umwelt bezüglich der Notwendig-keit, sie zu bewahren oder zu schützen. Zu der neuen territorialen und glo-balen Arbeitsteilung gesellt sich als einer der Wesenzüge der sozialen Umweltkonflikte deren Vielstufigkeit, veranschaulicht durch ein komple-xes Geflecht von sozialen, wirtschaftlichen und politischen Akteur/innenn, die sich auf unterschiedlichen Aktionsstufen und Ebenen der Rechtsspre-chung befinden. Schließlich zeigen diese Konflikte unterschiedliche Na-turkonzepte und bringen letztlich einen Disput über die Entwicklung zum Ausdruck. Aufgrund dessen bietet die Analyse der sozialen Umweltkon-flikte einen hervorragenden Zugang, um zwei eng miteinander verknüpfte Problematiken darzustellen, nämlich die Entwicklungsfrage und die Um-weltfrage.

Infragestellung und Rückkehr der Entwicklungsidee

Um zu verstehen, was wir mit neuem Entwicklungsextraktivismus mei-nen, müssen wir uns mit den wechselnden Bedeutungen der Kategorie Entwicklung befassen. Erinnern wir uns daran, dass die Vorstellung von der Entwicklung einer der Grundpfeiler des lateinamerikanischen Gedan-kenguts darstellte. Für die CEPAL, die weit davon entfernt war, darin eine

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4 Siehe auch zu dem Thema Guillaume (2003)

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Frage der Zeit zu sehen, wie es etwa bestimmte Etappenvorstellungen à la Rostow vorschlugen, hing die Entwicklungsproblematik mit der wirt-schaftlichen Struktur und der internationalen Arbeitsteilung zusammen. Folglich sollte Lateinamerika die Formeln der klassischen Ökonomie nicht befolgen, die den Subkontinent zu einer ökonomischen Spezialisierung je nach Land verdammten (die „komparativen Vorteile” der Primärgüter-Export-Produktion), um einen „eigenständigen” Weg der Industrialisie-rung einzuschlagen. Die „Modernisierungstheorie” war das Ergebnis die-ses innovativen Entwurfs, der intensive theoretische Debatten durchlief (an denen sich die verschiedenen Strömungen der Dependenztheorie betei-ligten), die wiederum eine Reihe von Ideen zu den Möglichkeiten der In-dustrialisierung in der kapitalistischen Peripherie entwickelten.5

Dennoch hat sich das Szenario in den letzten Jahrzehnten offenkundig gewandelt und die Krise der Modernisierungsidee – folglich auch die Kri-tik an der Entwicklung als große vereinheitlichende Erzählung – erschloss einen neuen Raum für die politische und philosophische Kritik. Auf inter-nationaler Ebene machten die Krise der emanzipatorischen Sprachen und der Kollaps der „Realsozialismen” Platz für die Ausbreitung eines neoli-beralen Diskurses, der staatliche Aktivitäten dämonisierte und die regulie-renden Kapazitäten des Staates auf ein Minimum zu reduzieren suchte, womit die „wohltuenden” Marktkräfte befreit würden. In Lateinamerika nimmt dieser Prozess mit dem Erbe der Militärdiktaturen der 70er Jahre Gestalt an und vor allem mit den Episoden der Hyperinflation Ende der 80er Jahre, die unter Regierungen mit demokratischem Anzeichen dem Neoliberalismus letztlich die Tür öffneten.

Außerdem führte in den vergangenen Jahrzehnten die Krise des Ent-wicklungsgedankens in seiner hegemonialen Version zur Revision des Modernisierungsparadigmas. In diesem Zusammenhang sticht die Um-weltschutz-Kritik hervor, die seit der Veröffentlichung des Meadows-Berichts über die „Grenzen des Wachstums” (1972) ihren Platz in der glo-balen Agenda gefunden hat. Dieser Bericht legte besonderes Augenmerk auf die schwerwiegenden Gefahren im Hinblick auf Kontaminierungen sowie auf die Frage nach der zukünftigen Verfügbarkeit von Rohstoffen, welche den ganzen Planeten betreffen würde, wenn Beschaffenheit und Rhythmus des Wirtschaftswachstums auf diese Art weitergehen würden. ____________________

5 Die Suche nach lateinamerikanischen Industrialisierungsmodellen enthielt Unter-suchungen des sowjetischen Modells, das in einigen Fällen als erfolgreiches al-ternatives Paradigma angesehen wurde. Mein Dank gilt der Beobachtung diesbe-züglich von G. Bataillon.

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Auf diese Art und Weise trug die beginnende Umweltschutz-Kritik dazu bei, die herrschende Modernisierungstheorie infrage zu stellen. Gleichzei-tig sandte sie klare Signale in Richtung der Länder des Südens, indem sie darlegte, dass das industrielle Entwicklungsmodell der Länder des Nor-dens weit davon entfernt war, universell angewandt werden zu können (Mealla, 2006).

Die Infragestellung der produktivistischen Sichtweise (die Gleichset-zung von Entwicklung und Wirtschaftswachstum) erforderte neue Kon-zepte, die sich in den 90er Jahren behaupten sollten. Eines davon ist die Kategorie der „nachhaltigen Entwicklung”, die in die internationale Agenda eingeführt wurde, nachdem das Dokument „Unsere gemeinsame Zukunft” (1987) veröffentlicht worden war und der Gipfel von Rio 1992 stattgefunden hatte. Abgesehen von der offenkundigen Komplexität dieser Kategorie sollen zwei recht unterschiedliche Lesarten davon hervorgeho-ben werden: einerseits eine starke Sichtweise, die Wachstum als Mittel und nicht als Ziel an sich betrachtet und folglich den Kompromiss zwi-schen den gegenwärtigen und den zukünftigen Generationen unterstreicht, ebenso den Respekt für die Integrität der natürlichen Systeme, die das Le-ben auf dem Planeten ermöglichen (politische Ökologie, wirtschaftliche Ökologie, profunde Ökologie u.a.); andererseits eine schwach vertretene Sichtweise, die die Möglichkeit eines nachhaltigen Entwicklungsstils in Betracht zieht, indem sie vom Fortschritt und der effizienten Nutzung der Technologien ausgeht. Während also die starke Bedeutung von verschie-denen sozialen Organisationen und von Umweltschutz-Kreisen vertreten wird, spiegelt die schwache Bedeutung eher die Rhetorik der Unterneh-men und der unterschiedlichsten Regierungskreise wider.

Eine weitere Vorstellung ist diejenige von der „menschlichen Entwick-lung”, die mit dem Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) in Zusammenhang steht und von Lesarten philosophischer Natur inspiriert ist, wo diese Entwicklung mit den Ideen von Gleichheit und Freiheit verknüpft ist, wie etwa bei Amartya Senn.

Ohne der ökonomistischen Version, die von dem herrschenden Neoli-beralismus aufrecht erhalten wird, einen alternativen Entwurf entgegenzu-setzen, hat die Vorstellung von der menschlichen Entwicklung dazu ge-dient, die Kategorie komplexer zu machen, indem sie weitere Indikatoren neben den wirtschaftlichen einbezogen hat, nämlich im Hinblick auf Er-ziehung, Gesundheit, Geschlechterverhältnis u.a. (Unceta, 2009).

Dazu muss angemerkt werden, dass in Lateinamerika die Linke stärker noch als in anderen Gegenden stark geprägt ist von der Modernisierungs-theorie. Unabhängig, ob es sich um die antikapitalistische oder die natio-nal-populare handelt, ist die Linke darüber hinaus einer historischen Les-

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art zugeneigt, die die Ausbreitung der Produktivkräfte an erste Stelle stellt und hervorhebt, im Rahmen eines Fabrik- und Arbeiter/innenmodells. Das erklärt vielleicht ihren beständigen Charakter gegenüber der ökologischen Problematik, die als ein Kümmernis angesehen wird, die von der Agenda der reichen Länder importiert worden ist und welche die Ungleichheiten weiter verfestigt: zwischen industrialisierten Ländern und den Ländern auf dem Weg zu (oder mit dem Streben nach) industrieller Entwicklung.

Eine der Ausnahmen dieser auf Produktion fixierten Sichtweise, die der Linken eigen ist, ist die poststrukturalistische Kritik, die unter anderem von Esteva (2000) und Escobar (2005) entwickelt wurde. Im Einklang mit den Fragestellungen der indigenistischen Strömungen zielt die genannte Lesart darauf ab, das moderne Entwicklungsmodell als Machtdiskurs zu demontieren, mit dem Ziel, die Hauptmechanismen der Herrschaft aufzu-decken: die Spaltung zwischen Entwicklung/Unterentwicklung; die Pro-fessionalisierung des Problems – die Expert/innen – und seine Institutio-nalisierung in einem Netzwerk nationaler, regionaler und internationaler Organisationen – sowie das Verbergen beziehungsweise die Unterbewer-tung von anderen Erfahrungen/lokalem Wissen und einheimischen Prakti-ken.

In der Folge und aufgrund vieler Ursachen verschwand in den 90er Jah-ren die Entwicklung als „große Erzählung”, das heißt als Ordnungsschema und emanzipatorisches Versprechen zugleich, nach und nach von der poli-tischen und akademischen Agenda, sowohl in Lateinamerika als auch auf anderen Breitengraden. Dennoch dauerte das Verschwinden der Entwick-lungskategorie nur einen flüchtigen Moment lang an – schließlich erleben wir heute ihre energische Rückkehr auf die Agenda. Obwohl dabei natür-lich klar ist, dass die Bedeutung, die sie heute annimmt, nicht so schnell angeglichen werden kann wie zu anderen Zeiten. Sicherlich ist die Mo-dernisierungstheorie als „Ideologie” und gleichzeitig als „Wirtschaftsmo-dell” zwischen den 50er und den späten 80er Jahren in verschiedenen Va-rianten aufgetreten (populistisches Modell vs. nationales Modell der Mo-dernisierungstheorie); doch in jener Periode bezog es sich auf die Bestär-kung einer industriellen, auf Produktion fixierten Tendenz, mit der Inter-vention des Staates als Protagonist (als Mega-Akteur6). Von daher ist die klassische Sichtweise der Modernisierungstheorie weit entfernt von der aktuellen Wende, da die Entwicklungsidee im Kontext der neuen Phase der asymmetrischen Globalisierung mit dem extraktivistischen Paradigma

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6 So der treffende Begriff von Brieva et al. (2002).

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verbunden zu sein scheint. Dieses wurde von den früheren Modernisie-rungstheoretiker/innen stark in Frage gestellt , während es gleichzeitig trügerische Vorstellungen mit aufgenommen hat, die breiten globalen An-klang finden – wie etwa Nachhaltige Entwicklung (in ihrer schwachen Bedeutung), Corporate Social Responsibility/Unternehmerische Gesell-schaftsverantwortung (CSR) und Governance/Gouvernementalität (Svam-pa 2008).

Zusammenfassend hat die heute verbreitete Entwicklungsidee wenig mit der Modernisierungstheorie von früher gemeinsam. Sie ist vielmehr Ergebnis des Zusammenkommens eines extraktivistischen Paradigmas, das mit der Rückkehr zu einer rohstoffbasierten Wirtschaft und dem Auf-bau von Exportenklaven einhergeht, mit einer neoliberalen Sichtweise, de-ren wichtigstes Merkmal nach wie vor die Fixierung auf die Produktivität ist, die gerade erst wieder modernisiert wurde durch die immer wieder op-portune, aber auch labile Verwendung bestimmter globaler Kategorien (nachhaltige Entwicklung, CSR, Governance). Dieses Zusammenkommen ist das, was wir als Neuen Entwicklungsextraktivismus bezeichnen, mit dem wir die aktuelle lateinamerikanische Phase charakterisieren wollen.7

Die Sichtweise auf die Natur und die modernisierungstheoretische Illusion

Die Möglichkeit, über die Gegensätze, die sich aus den neuen Dynamiken des Kapitals entwickeln, eine öffentliche Debatte anzustoßen, wird nicht selten blockiert – und zwar nicht nur wirtschaftlicher oder politischer Gründe wegen, sondern auch aufgrund kultureller und epistemologischer Hindernisse, die sich auf die Glaubensvorstellungen und die sozialen Re-präsentationen beziehen. Damit wollen wir hervorheben, wie wichtig be-stimmte nationale – und regionale – Vorstellungswelten und Erzählweisen im Hinblick auf die Entwicklung sein können, die mit einer bestimmten Auffassung der amerikanischen Natur eng verbunden sind.8

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7 Vgl. zu dem Thema auch die interessante und provokative Zusammenfassung von Gudynas über die Merkmale des vom Autor so bezeichneten „modernisie-rungstheoretischen Neo-Extraktivismus” (2009b).

8 Wenn wir von Vorstellungswelten und Erzählweisen sprechen, spielen wir auf die Konstruktion einer vereinheitlichenden Erzählung an, die auf bestimmten Identitätsmerkmalen und Ursprungsmythen ruht, die die kollektiven Darstellun-gen im Hinblick auf die Gegenwart und die Zukunft formen. Siehe Baczko (1993) und für die Kategorie der Erzählweise Koselleck (1993).

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Verschiedene Autor/innen haben den anthropozentrischen Charakter der herrschenden Sichtweise auf die Natur hervorgehoben, als „Korb vol-ler Ressourcen” und gleichzeitig als „Kapital” (Gudynas 2002). Allerdings wurde in Lateinamerika diese Vorstellung verstärkt durch den Glauben, dass der Kontinent, um auf den bolivianischen Soziologen Zavaleta zu-rückzukommen, „der Ort schlechthin für die großen Naturressourcen” sei. Die „komparativen Vorteile” der Region würden somit in ihrer (histori-schen) Fähigkeit bestehen, Natur zu exportieren.

Aus dieser Perspektive bekommen die unberührten Landschaften, die barocken Szenarien, schließlich die unendlichen Flächen, von denen so viele Reisende und Literaten aller Epochen besessen waren, eine neue Be-deutung innerhalb der verschiedenen wirtschaftlichen Zyklen. Ein Beispiel bietet der aktuelle Bergbau-Boom, der fast alle lateinamerikanischen Län-der erreicht.9 So umfasst die Ausbreitung des Großbergbaus auch die ho-hen Gebirgsketten der Anden, wo sich die Quellen wichtiger Wasservor-kommen befinden, die noch bis gestern unerreichbar waren und heute Ziel größenwahnsinniger Projekte sind (wie zum Beispiel Pascua Lama, das erste binationale Projekt der Welt, vorangetrieben von Chile und Argenti-nien; oder die Bergbauprojekte, die sich noch in der Erkundungsphase be-finden, in der Cordillera del Cóndor zwischen Ekuador und Peru). Ein an-deres Vorzeigebeispiel ist die „Entdeckung” der Fähigkeiten von Lithium: Bis vor kurzem war die Salzwüste Salar de Uyuni lediglich eine unberühr-te Landschaft, heute hat sie eine neue Bedeutung erlangt angesichts der Notwendigkeit, Ersatz-Energiequellen zu erschließen (zum Beispiel für Elektro-Autos). So verleiht das neue biotechnologische Paradigma jenen „nicht genutzten” Naturressourcen oder „unproduktiven” Gebieten neue ____________________

9 Damit beziehen wir uns auf den Großtagebau, der auf den neuen Technologien beruht, die es erlauben, das Mineral mit niedrigem Edelmetallgehalt (Karat) ab-zubauen, das noch in den Bergen vorhanden ist: mit Hilfe von chemischen Sub-stanzen, die extrem umweltverschmutzend sind. Außerdem brauchen diese Akti-vitäten allein aufgrund ihres Ausmaßes enorme Mengen an Wasser und Energie, die sowohl für die Entwicklung lokalen Wirtschaftens (Landwirtschaft und Vieh-zucht) als auch für den menschlichen Konsum gebraucht werden. Neben traditio-nellen Bergbauländern wie Chile, Peru, Bolivien und Mexiko bezieht das aktuelle Modell auch Länder und Regionen mit ein, die bisher den Großbergbau noch nicht kannten, wie Argentinien, Ekuador, Venezuela, Honduras und Guatemala. Die Ausdehnung konzentrierte sich auf Südamerika, doch es gibt immer mehr Anzeichen dafür, dass Zentralamerika in den kommenden Jahren ebenfalls einen deutlichen Anstieg von Investitionen in den Bergbau erleben wird; dieser Prozess hat bereits in Guatemala und Honduras begonnen, vor dem Hintergrund der stei-genden Nachfrage aus Ländern wie China und Indien (Bebbington, 2007: 23-24).

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Bedeutung, indem es sie in das Register der kapitalistischen Verwertung aufnimmt.

Zavaleta (1986: s.p.) zufolge schuf die Vorstellung des Subkontinents als Ort schlechthin für die großen Naturressourcen „eine[r] der grundle-gendsten und ursprünglichsten in Lateinamerika” gleichzeitig den Mythos vom Überschuss. Damit bezog sich der bolivianische Autor auf den My-thos vom „Eldorado”, das „ganz Lateinamerika in seiner Seele erwartet”. Dies sei verbunden mit dem plötzlichen materiellen Entdecken (einer Res-source oder eines natürlichen Guts), das den Überschuss auf „magische” Art und Weise erzeugt, „der in den meisten Fällen auf keine ausgewogene Art und Weise genutzt worden ist”. Soweit Zavaleta. Denn die Sorgen des Autors hatten wenig mit der Frage der ökologischen Nachhaltigkeit zu tun, die heute in unseren Gesellschaften so wichtig ist, sondern vielmehr mit der Frage nach der „Kontrolle des Überschusses” (auf dieses Thema werden wir weiter unten zurückkommen)10. Dennoch ist es legitim, Zava-leta aufzugreifen, um die aktuelle Rückkehr dieses langlebigen Grün-dungsmythos zu überdenken, vom Überschuss als Magie, verbunden mit dem Überfluss der Naturressourcen und ihrer Vorteile im Rahmen eines neuen Akkumulationszyklus.

Das Thema ist von verschiedenen lateinamerikanischen Autor/innen entwickelt worden, darunter – für den Fall Venezuelas – von Fernando Coronil (2002), der über den „Magischen Staat” und die Ertragsmentalität schrieb. In eine ähnliche Richtung und verwandt mit dem, was als „hol-ländische Krankheit” bekannt geworden ist, gehen die Reflexionen des Ekuadorianers Alberto Acosta (2009). In seinen Ausführungen zum „Fluch des Überflusses” zeigt er die Verbindung zwischen dem extrakti-vistischen Paradigma und der Verarmung der Bevölkerungen, dem An-stieg der Ungleichheit, den Verzerrungen des Produktionsgefüges sowie der Plünderung der natürlichen Güter auf.

Auch unsere Perspektive geht in eine ähnliche Richtung, beruft sich da-bei aber auf die Hartnäckigkeit bestimmter sozialer Vorstellungswelten. Zudem unterstreichen wir die Wichtigkeit des ursprünglichen Mythos vom Überfluss als Magie, der im aktuellen Kontext die modernisierungstheore-tische Illusion nährt. Diese zeigt sich in der Vorstellung, dass es dank der aktuellen wirtschaftlichen Möglichkeiten (Preissteigerung für Rohstoffe und wachsende Nachfrage, vor allem aus Asien) möglich ist, schnell den Abstand zu den industrialisierten Ländern zu verringern, um endlich die

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10 Vgl. hierzu auch den Beitrag von Tapia in diesem Band.

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stets versprochene und nie verwirklichte Entwicklung der lateinamerikani-schen Gesellschaften zu erreichen.

Im Kurzzeitgedächtnis verbindet sich die modernisierungstheoretische Illusion mit der Erfahrung der Krise, das heißt, mit dem neoliberalen Erbe der 90er Jahre, das mit dem Anstieg an Ungleichheit und Armut einher-geht, sowie mit der Möglichkeit, sich – dank der genannten komparativen Vorteile – über die Konsequenzen der aktuellen internationalen Wirt-schaftskrise hinwegzusetzen. So stützen der Haushaltsüberschuss und die hohen jährlichen Wachstumsraten in den lateinamerikanischen Ländern, verbunden mit dem Export von Primärgütern, einen euphorischen Diskurs über einen „spezifisch lateinamerikanischen Weg”, in dem sich unter-schiedslos Kontinuitäten und Brüche des Politischen, Sozialen und Öko-nomischen vermischen. So hat zum Beispiel das Ende der „langen neoli-beralen Nacht” (so die Worte des ekuadorianischen Präsidenten Rafael Correa) eine politische und ökonomische Entsprechung, die mit der gro-ßen Krise in den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts verbunden ist (Ar-beitslosigkeit, Rückgang der Chancen, Massenmigration). Dieses Schlag-wort taucht auch im Diskurs der Kirchners in Argentinien auf, welche die aktuellen ökonomischen und sozialen Indikatoren denen der neoliberalen Jahre (insbesondere der 90er Jahre während des neoliberalen Zyklus von Carlos Menem) gegenüberstellen und vor allem den Indikatoren der gro-ßen Krise, die Argentinien in den Jahren 2001/2002 erschütterte, als die Konvertierbarkeit des Peso mit dem Dollar endete.

In diesem Sinne ist eines der sinnbildlichsten – und gleichzeitig para-doxesten – lateinamerikanischen Szenarien der modernisierungstheoreti-schen Illusion das, was Bolivien darstellt. Aufgrund der Verstaatlichun-gen, die zu einer Vervielfältigung der Exporterträge für Primärgüter führ-ten, hat die Regierung von Präsident Evo Morales zu Beginn seiner zwei-ten Amtszeit vor dem Hintergrund eines schwindelerregenden Preisan-stiegs für commodities (Waren) die Erwartungen verstärkt, die Wirtschaft für neue Nutzungen zu öffnen. Vizepräsident Álvaro García Linera spricht von einem „großen industriellen Sprung” und betont dabei eine Reihe von strategischen Megaprojekten, die in Wirklichkeit auf der Ausdehnung der extraktiven Industrien beruhen (Beteiligung bei den ersten Etappen des Li-thium-Abbaus, Ausweitung des Großtagebaus zusammen mit großen transnationalen Unternehmen, Bau von großen Wasserkraftwerken und Schnellstraßen im Rahmen der IIRSA u.a.) (vgl. Svampa, 2010).

Der Diskurs von Evo Morales selbst scheint durchzogen von starken Ambivalenzen und Widersprüchen: Nach außen hin präsentiert er eine starke öko-territoriale Dimension, vor allem, wenn es um die Konsequen-zen des Klimawandels geht, oder wenn er sich auf die Philosophie des Bu-

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en Vivir, des „Guten Lebens”, beruft; doch nach innen bekräftigt er eine nationale, auf Produktion fixierte Praxis. Von daher lässt die zentrale Stel-lung, die die Thematik der Rohstoffkontrolle einnimmt (sei es von Seiten des Staates oder der Nationen oder der indigenen Bevölkerungsgruppen in ihren Territorien), Bolivien noch näher an die national-populare Perspek-tive heranrücken, die die Problematik der Ausplünderung der Naturres-sourcen betont, aber auch dazu neigt, die Frage nach den Umweltauswir-kungen unter den Tisch fallen zu lassen oder als nebensächlich darzustel-len.11 Andererseits dürfen wir nicht vergessen, dass selbst die sozialen Kämpfe, die zwischen 2000 und 2005 eine Hauptrolle spielten, stärkeren Nachdruck auf den Zugang zu und die Kontrolle über Naturressourcen legten als auf Schonung oder Schutz der Umwelt. Doch daraus resultieren die großen Schwierigkeiten der bolivianischen Regierung, ein Konzept für die sozialen Umweltkonflikte zu finden, die sich aus der Konsolidierung der genannten Produktionsstruktur ergeben. So neigt die bolivianische Regierung dazu, Umweltforderungen schnell zu diskreditieren, indem sie sie mit den Aktionen ausländischer NROs oder vermeintlicher Agenten des Imperialismus in Verbindung bringt.

Kurz gesagt gibt es eine Vielfalt von Strömungen zum Umweltschutz, doch eines der Hauptprobleme in Hinblick auf die Umweltfrage in Latein-amerika, in diesem Fall in Bolivien, ist nicht nur die existierende Vielfalt, sondern sind auch die Spuren der modernisierungstheoretischen Illusion. Noch größer sind die symbolische Wirkung der modernisierungstheoreti-schen Vorstellungswelt sowie das Naturkonzept, das sie vermittelt und das gegenwärtig in einem Kontext der komparativen Vorteile aktualisiert wird.

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11 Es ist kein Zufall, dass Evo Morales eine einseitige Kritik an der aktuellen Pro-duktionsstruktur übt, indem er die Umweltproblematik auslagert, als ob sie Erbe und exklusive Verantwortung der reicheren und stärker entwickelten Länder sei (abhängig von den ökologischen Schulden) und die Wirtschaftsdynamik seiner eigenen Regierung nicht miteinbezieht. An dieser Stelle gibt es verschiedene Fragen, die dabei helfen, den Knoten dieser Widersprüche aufzulösen. Eine da-von hat damit zu tun, dass die extraktivistische Vorstellungswelt in Bolivien mit der Figur der wiederholten Ausplünderung – von Ländereien und Reichtümern – verbunden ist; das heißt, mit der Unmöglichkeit, den Überschuss, wie Zavaleta es nannte, in „staatliches Material” zu verwandeln. Diese Besessenheit erklärt, wa-rum das zentrale Thema der Regierung die Kontrolle des Überschusses ist und nicht gerade die Diskussion über die Konsequenzen, die die Ausdehnung eines bestimmten Entwicklungsstils mit sich bringen könnte, der auf dem extraktivisti-schen Paradigma beruht.

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Die öko-territoriale Wende der Kämpfe

Über spezifisch nationale Merkmale hinaus legt die Dynamik der sozialen Umweltkämpfe in Lateinamerika die Grundlage für eine gemeinsame Sprache der Bewertung von Territorialität, die immer mehr von der inno-vativen Kreuzung zwischen der indigen-gemeinschaftlichen Matrix und dem Umweltschutzdiskurs berichtet. Diese Zusammenkunft zeigt sich in dem, was wir als öko-territoriale Wende bezeichnen können: Sie veran-schaulicht die Art und Weise, auf welche die aktuellen sozialen Umwelt-kämpfe – die sich auf die Verteidigung des Landes und des Territoriums konzentrieren – aus der Perspektive der sozialen Akteur/innen gedacht und dargestellt werden.

Vielleicht könnte man meinen, dass die Konsolidierung einer alternati-ven Sprache der Bewertung von Territorialität naheliegender für die indi-genen und Kleinbauern-Organisationen sei, da sie als Lebensgemeinschaft eine enge Verbindung zwischen Land und Territorium entwerfen, und da die gemeinschaftliche indigene Matrix in den letzten Jahrzehnten offen-kundig reaktiviert wurde. Dennoch ist es längst nicht so, dass die Umwelt-thematik lediglich in den Regionen mit einer starken Präsenz indigener Gemeinschaften die Kämpfe prägt; sie erreicht auch andere Länder, wie zum Beispiel Argentinien, wo sich der Widerstand der Kleinbauern und Indigenen und vor allem die sozialen Umweltkämpfe in den letzten Jahren vervielfältigt haben.

Von daher ist die wichtigste Neuerung die Verbindung zwischen ver-schiedenen Akteur/innenn, was zu einem produktiven Dialog zwischen Disziplinen und Wissensbeständen geführt hat, der durch eine Wertschät-zung des lokalen Wissens und der Herausbildung eines unabhängigen Ex-pert/innenwissens über die dominanten Diskurse gekennzeichnet ist. Das ist keine Kleinigkeit, schließlich haben die Organisationen und Bewegun-gen ausgehend von dieser Verbindung gemeinsame Diagnosen erstellt, die über die lokale und nationale Problematik hinausgehen. Ebenso haben sie ihre Kampfstrategien vervielfältigt, indem sie die Basismobilisierung und den Aufbau sozialer Netzwerke damit kombinieren, verschiedene techni-sche und juristische Instrumente (kollektive Schutzmaßnahmen, neue Verordnungen und Gesetzte zum Umweltschutz und zu den Rechten der indigenen Gemeinschaften) zu entwickeln und anzuwenden.

Es erweist sich als unmöglich, die selbstorganisierten nationalen Um-weltnetzwerke, die es heute in Lateinamerika gibt, neben den bereits vor-her existierenden indigenen und Kleinbauernorganisationen aufzulisten. Als Beispiel können wir CONACAMI erwähnen (Confederación Nacional de Comunidades Afectadas por la Minería/Nationaler Verband der vom

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Bergbau betroffenen Gemeinden, 1999 in Peru gegründet), die Vereini-gung der Bürgerversammlungen (Unión de Asambleas Ciudadanas, UAC, Argentinien), die 2006 entstand und etwa 70 Basisorganisationen verei-nigt, die das Bergbau- und Agrarindustriemodell infrage stellen, sowie die Nationale Versammlung der von Umweltschäden Betroffenen (Asamblea Nacional de Afectados Ambientales, ANAA, Mexiko), 2008 in Räumlich-keiten der UNAM (Nationale Autonome Universität von Mexiko) gegrün-det, die von der Union von Wissenschaftler/innen im Dienste der Gemein-schaft (Unión de Científicos Comprometidos con la Sociedad, UCCS) un-terstützt wird. Im Hinblick auf die transnationalen Netzwerke können wir die CAOI erwähnen (Coordinadora Andina de Organizaciones In-dígenas/Andenkoordination der Indigenen Organisationen), die seit 2006 Organisationen aus Peru, Bolivien, Kolumbien, Chile und Argentinien versammelt.

Diese Netzwerke und sozioterritorialen Bewegungen haben eine ge-meinsame Sprache erschaffen, die dem auf Effizienz fixierten Diskurs und der modernisierungstheoretischen Vision der herrschenden Erzählweise entgegensteht beziehungsweise davon abweicht. Dabei treten folgende gemeinsame Punkte auf:12

1) Gemeingüter: Die Verteidigung von Naturressourcen, die eine

neue Bedeutung als „Gemeingüter” bekommen, die die Lebens-formen in einem bestimmten Territorium garantieren und auf-rechterhalten. Das Konzept, das in den sozialen Bewegungen weit verbreitet ist, vereint verschiedene Sichtweisen, die auf der Notwendigkeit bestehen, diejenigen Ressourcen von den Marktbeziehungen auszunehmen, die aufgrund ihrer Eigen-schaft als natürliches, soziales und kulturelles Erbe einen Wert besitzen, der jedweden Preis übertrifft. Diese Eigenschaft der „Unveräußerlichkeit” tritt zusammen mit der Vorstellung des Gemeinsamen, des Geteilten und daher mit der eigentlichen Definition von Gemeinschaft oder gemeinschaftlichen Berei-chen auf (Esteva 2007).

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12 Wir haben beschlossen, nur vier dieser gemeinsamen Rahmenthemen zu entwi-ckeln, die außerdem in der Dynamik der Kämpfe selbst unterschiedlich gewichtet sind. Eine ausführlichere Charakterisierung müsste das Konzept der „Ernäh-rungssouveränität” enthalten, die wir hier nicht aufgenommen haben, die aber von der Mehrheit der Kleinbauernbewegungen angeführt wird.

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Dieser Bezug auf die Gemeingüter steht im engen Zusammen-hang mit dem Territorium13: Somit handelt es sich nicht nur um einen Disput in Hinblick auf die „Naturressourcen”, sondern auch um den Aufbau einer bestimmten „Art von Territorialität”, die auf dem Schutz des „Gemeinsamen” beruht (natürliches, soziales und kulturelles Erbe). Dabei gibt es verschiedene Pfei-ler, auf die sich diese Sprache im Hinblick auf das „Gemeinsa-me” stützt. In einigen Fällen ist die Bewertung des Territoriums unter anderem mit der Geschichte der Familien, der Gemein-schaft und sogar der Vorfahren („geerbtes Territorium”) ver-bunden. In anderen Fällen bezieht es diejenigen ein, die die großen urbanen Zentren des Landes verlassen und Orte gewählt haben, die heute bedroht sind („gewähltes Territorium”). Schließlich läuft das Konzept vom „geerbten” und/oder vom „gewählten” Territorium mit dem Konzept vom Territorium zu-sammen, das mit den Indigenen- und Kleinbauerngemeinden verbunden ist („angestammtes Territorium”).

Auf einer Ebene mit dem „angestammten Territorium” befindet sich das Recht auf Selbstbestimmung der indigenen Gemein-schaften. Dessen Verteidigung, die im internationalen Rahmen durch das Abkommen 169 der ILO (Internationale Arbeitsorga-nisation) geregelt ist, wird immer wichtiger. Alle lateinameri-kanischen Verfassungen haben das Recht aufgenommen. Es ist zu einem wichtigen Werkzeug geworden, um die Kontrolle/die Wiedergewinnung des Territoriums zu erlangen, das vom aktu-ellen Entwicklungsmodell bedroht wird, wie die Fälle Peru und Ekuador, in jüngster Zeit auch Bolivien, zeigen.

2) Umweltgerechtigkeit: Die öko-territoriale Wende zeigt bedeut-

same Kontakte mit der „Bewegung der Umweltgerechtigkeit”, wie sie die Akteur/innen selbst bezeichnen und die in den 1980er Jahren in afroamerikanischen Gemeinschaften in den Vereinigten Staaten entstand. Der Begriff der Umweltgerech-tigkeit „beinhaltet das Recht auf eine sichere, gesunde und pro-

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13 Trotz seines weit verbreiteten Gebrauchs und obwohl er eng mit dem Thema Ter-ritorium verbunden ist, hat es in Lateinamerika keine größeren Debatten über den Begriff der Gemeingüter selbst gegeben. Tatsächlich kommt der Begriff aus der angelsächsischen Tradition. Zu dem Thema siehe auch Helfrich (2008).

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duktive Umgebung für alle, bei dem die Umwelt in ihrer Ge-samtheit betrachtet wird, einschließlich ihrer ökologischen, physischen, gebauten, sozialen, politischen, ästhetischen und wirtschaftlichen Dimensionen. Somit bezieht sie sich auf die Bedingungen, unter denen dieses Recht frei gewährt werden kann, das somit die individuellen und kollektiven Identitäten, die Würde und die Autonomie der Gemeinschaften schützt, respektiert und vollständig umsetzt.” (Akselrad 2004: 16). Dieser Ansatz betont die ungleichen Umweltkosten, den Man-gel an Demokratie und Beteiligungsmöglichkeiten sowie den Umweltrassismus gegenüber den indigenen Völkern, die im Namen von nicht nachhaltigen Projekten von ihren Territorien vertrieben wurden, sowie die Ungerechtigkeit von Geschlech-terverhältnissen und die Umweltschulden. Dieser Ansatz steht am Anfang von verschiedenen Netzwerken zu Umweltgerech-tigkeit, die sich heute in Lateinamerika herausbilden, in Län-dern wie Chile (OLCA, Observatorio Latinoamericano de Con-flictos Ambientales/Lateinamerikanisches Observatorium für Umweltkonflikte) und Brasilien (Rede Brasileira de Justiça Ambiental/Brasilianisches Netzwerk für Umweltgerechtig-keit)14.

3) Das Buen Vivir (das Gute Leben): Eine der Losungen, die die

aktuelle öko-territoriale Wende am stärksten belebt haben, ist die des Buen Vivir, Suma Kawsay oder Suma Qamaña, verbun-den mit der indigenen, andinen Kosmovision (der Quechua und der Aymara). Zweifellos ist dies einer der in der Region ent-standenen Aspekte, die am besten mobilisieren. Dieser Aspekt neigt dazu, andere zu verdrängen (etwa das Konzept der Um-weltgerechtigkeit), indem er Brücken zwischen der Vergangen-heit und der Zukunft baut, zwischen der gemeinschaftlichen Matrix und dem ökologischem Blick. Welche Bedeutungen bekommt das Buen Vivir in den aktuellen Debatten, die vor allem in Ekuador und Bolivien geführt wer-

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14 Siehe auch folgende Websites dazu: www.olca.cl/oca/justicia/justicia 02.htm und www.justicaambiental.org.br/_justicaambiental, letzter Zugriff: 14.11.2014.

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den? Alle stimmen darin überein, dass es ein „Konzept im Auf-bau” ist. Für den Bolivianer Xavier Albó (2009) stehen hinter dem Konzept die Logik der Gemeinschaften vieler indigener Gemeinschaften, die den dominanten Gesellschaften und Mäch-ten gegenüberstehen, sowie ihre Darstellung als Teil des Lan-des. Diese öko-gemeinschaftliche Ebene wird von dem Bolivi-aner David Choquehuanca veranschaulicht ein Aymara-Intellektueller, der sich viel in der Welt der NGOs bewegt hat. Andererseits beruht der Begriff des Buen Vivir der ekuadoria-nerin Magdalena León zufolge „auf Reziprozität, auf Koopera-tion, auf Komplementarität” und geht mit der öko-feministischen Vision der Sorge für das Leben und der Sorge für den Anderen einher (León 2009). Zwei lateinamerikanische Verfassungen, die ekuadorianische und die bolivianische, haben die Perspektive des Buen Vivir aufgenommen. Im Fall Ekuadors entwickelte die Regierung mit dem SENPLADES (Secretaría Nacional de Planificación y Desarrollo/Nationales Planungs- und Entwicklungssekretariat) den Plan des Guten Lebens, 2009-2013. Neben der „Rückkehr des Staates” entwirft dieser Plan einen Wandel im Akkumulati-onsmodell, der über den Primärgüterexport hinausgeht, hin zu einer endogenen, biozentrierten Entwicklung, die auf der Nut-zung der Biodiversität, auf Wissen und Tourismus beruht. Da-bei stellt der Plan fest, dass „der Wandel nicht sofort eintritt, vielmehr stellt das Programm des ‚buen vivir’ eine Marschroute dar” (Ospina 2010). Es ist wichtig hervorzuheben, dass Ekuador über eine lange Traditionslinie der Philosophie des Buen Vivir verfügt (die von Aristoteles bis hin zum Öko-Sozialismus und Öko-Feminismus reicht), während sie in Bolivien, dessen Prozess stärker auf sich selbst konzentriert verläuft, nur mit der Vision der indigenen Gemeinschaften verbunden ist. Dennoch, da die aktuellen De-batten so wichtig sind, bietet im Moment das Buen Vivir eine breite Fläche, auf der sich verschiedene emanzipatorische Be-deutungen einschreiben. Im Rahmen dieses Konzeptes er-scheint das Gemeinschaftliche als Inspirationsquelle und ge-meinsamer Kern, unabhängig von der Schwierigkeit, dies in Er-fahrungen zu übersetzen (die gemeinschaftliche indigene Welt kann nicht idealisiert werden, ebenso wenig können die ver-

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schiedenen Abwandlungen des Gemeinschaftlichen in Latein-amerika ignoriert werden) oder angesichts des herrschenden Extraktivismus in konkrete Politikmaßnahmen umzusetzen. Si-cherlich besteht die Gefahr, dass das Konzept frühzeitig ausge-höhlt wird, wenn es den Regierungen als legitimierende Rheto-rik überlassen wird, oder es von Seiten der internationalen Or-ganismen „ausgesaugt” wird, wie es in anderen Epochen mit anderen Begriffen mit großem politischen Potenzial passiert ist.

4) Naturrechte: Diese juristisch-philosophische Perspektive, die

auf der Tiefenökologie beruht, erscheint zum ersten Mal in der neuen ekuadorianischen Verfassung, deren innovativer Charak-ter von der „biozentrischen Wende” – wie Eduardo Gudynas (2009a) es nannte – zeugt, womit die Verschiebung von einer anthropozentrischen Sichtweise der Natur hin zu einer anderen unterstrichen wird, in deren Zentrum die Natur als Rechtssub-jekt steht. Auf dieser Ebene würden außerdem verschiedene Typen von Staatsbürgerschaft entworfen werden (Umwelt-Staatsbürgerschaft und ökologische Meta-Staatsbürgerschaft) oder zwei Arten von unabhängiger Rechtssprechung: die Um-weltjustiz, die gerechte soziale Bedingungen sowie eine gesun-de und nicht verschmutzte Umwelt fordert, und die ökologische Justiz, die sich auf das Überleben der Arten und der Ökosyste-me als Lebensnetzwerke bezieht (Gudynas, 2009b; Acosta, 2010). In Übereinstimmung mit dieser Sichtweise ist eine der Haupt-äußerungen der Vorschlag der ekuadorianischen Regierung im Mai 2007 gewesen, im Yasuní-Nationalpark (Block 43) kein Erdöl zu fördern, das heißt das Rohöl in der Erde zu belassen. Dahinter stand die Idee, den Klimawandel zu bekämpfen, die Biodiversität zu schützen und die in Abgeschiedenheit lebenden Kulturen zu unterstützen, kurz, eine Art von sozialer Entwick-lung zu betreiben, die auf dem Erhalt der Natur und der alterna-tiven Energien beruht. Die internationale Gemeinschaft hätte sich mit Kompensationszahlungen beteiligen sollen, indem ein Fonds geschaffen worden wäre, dessen Kapital von den Verein-ten Nationen verwaltet worden wäre – mit Beteiligung des ekuadorianischen Staates und der Zivilgesellschaft sowie der Beitragszahler/innen. Dabei muss erläutert werden, dass der Yasuní, im Amazonas im Osten Ekuadors gelegen, der Wald

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mit der größten Biodiversität des Planeten ist: „auf einem ein-zigen Hektar des Waldes gibt es so viele Baumarten wie in den ganzen USA und Kanada zusammen.”15 Organisationen der indigenen Gemeinschaften, wie die CONAIE (Confederación Nacional de Indígenas del Ekua-dor/Nationale Vereinigung der Indigenen Ekuadors), und Um-welt-NGOs, wie Acción Ecológica/Ökologische Aktion), die sehr aktiv in diesem Bereich sind, verdeutlichen die öko-territoriale Wende der Kämpfe – nicht nur, weil wir von dem Land reden, in dem juristische und verfassungsmäßige Innova-tionen wie die bereits vorgestellte entworfen worden sind, son-dern weil diese kollektiven Akteur/innen vor dem Hintergrund starker Spannungen mit der Regierung von Rafael Correa un-aufhörlich auf die Vertiefung der Debatte über das Entwick-lungsmodell und den Aufbau einer Alternative zum herrschen-den Extraktivismus abzielen.

Auf dem Weg zu einer Alternative?

Inwiefern diese gemeinsamen Rahmenpunkte, die die indigenen Organisa-tionen und die sozioterritorialen Bewegungen durchlaufen, per se eine Al-ternative zum dominanten Extraktivismus darstellen, ist von unserer Per-spektive aus eine schwierige Frage mit unvollständiger Antwort. Eine ers-te Frage, die hervorzuheben wäre, bezieht sich darauf, ob wir uns auf den Aufbau von Rahmenpunkten kollektiver Aktion16 beziehen, die wie pro-testierende und alternative Bedeutungsstrukturen und Interpretations-

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15 Der Yasuní-Nationalpark ist außerdem das Zuhause der Huaorani und von eini-gen der letzten indigenen Gemeinschaften, die noch in totaler Abgeschiedenheit leben. In diesen Gebieten befinden sich die größten Erdölvorkommen Ekuadors, in dem Block Ishpingo-Tambococha-Tiputini (ITT) mit 900 Millionen Barrel.

16 Goffman (1991) definiert die Punkte als „Interpretationsschemata, die die Indivi-duen und Gruppen dazu befähigen, die Tatsachen ihrer eigenen Welt und der all-gemeinen Welt zu lokalisieren, wahrzunehmen, zu identifizieren und zu benen-nen” (Goffman 1991: 186-87). Von einer konstruktivistischen Perspektive be-trachtet, die auch die Wechselwirkungen berücksichtigt, gibt es jedoch unter-schiedliche Fragestellungen im Hinblick auf die „Prozesse der Einrahmung” (Goffman 1991). Zu dem Thema siehe auch Gamson (1999), Rivas (1998) und Snow (2001).

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schemata funktionieren, wenn wir von der öko-territorialen Wende spre-chen. Diese Rahmenpunkte neigen dazu, wichtige Mobilisierungskapazitä-ten zu entwickeln, neue Themen, Sprachen und Losungen zu setzen, wäh-rend sie gleichzeitig der Dynamik der Wechselwirkung hin zum Aufbau einer gemeinsamen kollektiven Subjektivität die Richtung weisen. Damit wollen wir den Begriff nicht in ein akademisches Konzept (oder ein ledig-lich analytisches Instrument) einschließen, sondern in der Tat die Auf-merksamkeit auf die Art und Weise lenken, wie die sozialen Bewegungen und Organisationen ihre Kämpfe einschreiben und ihnen Bedeutung ver-leihen. Schließlich ist dies der Kontext, in dem in Lateinamerika Theorie gedacht und entworfen wird. Von daher liegt es auf der Hand, dass dieser gemeinsame Bedeutungsrahmen auf die Erweiterung der Rechtsgrenzen abzielt, in deutlicher Opposition zum herrschenden Modell. Dies wird deutlich an der Art und Weise, wie sie einen gesellschaftlichen Disput aufzeigen im Hinblick auf die Frage, was unter „wahrer Entwicklung” verstanden wird oder verstanden werden soll und noch allgemeiner, was unter Demokratie verstanden wird, vor dem Hintergrund der ausgeschlos-senen Bevölkerungsgruppen. Sei es in einer Sprache der Verteidigung des Territoriums und der Gemeingüter, der Menschenrechte, der Naturrechte oder des Buen Vivir – die Forderung zielt auf eine Demokratisierung der Entscheidungen, mehr noch: auf das Recht der Gemeinschaften, „NEIN” zu sagen zu Projekten, die starke Auswirkungen auf die Lebensbedingun-gen der verwundbarsten Sektoren haben und zukünftige Generationen ge-fährden.

Die öko-territoriale Wende der Kämpfe spiegelt wider, wie die beteilig-ten Organisationen und sozialen Bewegungen in Hinblick auf die gemein-samen Rahmenpunkte alternatives Wissen erschaffen. Das ist zweifellos eine notwendige Bedingung, sie reicht aber nicht aus, um von Alternativen zum herrschenden Entwicklungsmodell sprechen zu können.

Abseits der lokalen Erfahrungen, die sich zum Modell erklären könnten (wie im Fall von Intag, im Kanton Cotacachi, Ekuador), oder gemein-schaftlicher Erfahrungen, die vom akademischen Betrieb kaum systema-tisch erfasst worden sind, sind in letzter Zeit Vorschläge debattiert wor-den, die auf einer eher makrosozialen Ebene17 Auswege aus dem Extrakti-

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17 In diesem Sinne gilt es die Beiträge von Gudynas (2010) und Acosta (2009) her-vorzuheben, sowie verschiedene Debatten und Diskussionsworkshops über Al-ternativen zum Extraktivismus, die in unterschiedlichen lateinamerikanischen Ländern stattgefunden haben.

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vismus suchen, die bisher von den sozialen Organisationen selbst noch nicht ausreichend debattiert (und wiederangeeignet) worden sind.

Dennoch steuern die meisten Organisationen und mobilisierten Netz-werke auf die Ausarbeitung einer gemeinsamen Diagnose sowie einer Reihe von Kampfstrategien zu, deren Ziel eindeutig defensiv ist: Es gilt zu versuchen das – dazu noch schwindelerregende – Fortschreiten der extrak-tiven Projekte anzuhalten und zu neutralisieren. Die neuen Bedeutungs-strukturen sind gleichfalls noch weit davon entfernt, gesamtgesellschaftli-che Debatten zu sein. Sicherlich finden diese Themen einen gewissen so-zialen Widerhall, indem sie in die politische und parlamentarische Debatte aufgenommen worden sind. Doch die wirtschaftlichen und politischen Erwartungen, die viele lateinamerikanische Bürger/innen an die öffentli-che Politik und die sozialen Transformationsprozesse der fortschrittlichen Regierungen haben, verschleiern die Macht dieser Protestpunkte, machen sie zu einem untergeordneten Gegenstand und neutralisieren sie.

Hinzu kommen weitere Hindernisse, die nicht nur mit dem asymmetri-schen Charakter der Kämpfe oder der Art von Regierung, der sie gegen-überstehen, verbunden sind, sondern auch mit den Schwierigkeiten der Widerstandsbewegungen selbst, die von den widersprüchlichen Forderun-gen der Organisationen herrühren, wie zum Beispiel dem Andauern be-stimmter sozialer Vorstellungen im Hinblick auf die Entwicklung.

Eine der Schwierigkeiten spiegelt sich in dem Spannungsverhältnis der Territorialitäten wider. Von daher ist es notwendig anzuerkennen, dass sich der aktuelle Prozess des Aufbaus von Territorialität in einem komple-xen Raum vollzieht, in dem sich verschiedene Aktionslogiken und Ratio-nalitäten, die bestimmte Bewertungen mit sich bringen, kreuzen. Schema-tisch gesagt kann festgestellt werden, dass es verschiedene Logiken der Territorialität gibt, je nachdem, ob wir uns auf die großen WirtschaftsAk-teur/innen (Körperschaften, ökonomische Eliten), auf die Staaten (auf ih-ren verschiedenen Ebenen) oder auf die verschiedenen sozialen Ak-teur/innen, die organisiert sind und/oder in den Konflikt eingreifen, bezie-hen.

Während sich die territorialen Logiken der Körperschaften und wirt-schaftlichen Eliten deutlich in ein ökonomistisches Paradigma einfügen, das darauf hinweist, wie wichtig es ist diese Räume, in denen sich die als strategisch erachteten Naturressourcen befinden, in effiziente und produk-tive Territorien zu verwandeln, fügt sich die staatliche Logik auf ihren verschiedenen Ebenen in einen Raum mit variabler Geometrie ein. So gibt es zum Beispiel in Argentinien und Peru im Hinblick auf den transnatio-nalen Großtagebau – trotz der Unterschiede hinsichtlich politischer Re-gimes und Interventionsmodi – viele Ähnlichkeiten: Bei beiden handelt es

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sich um Modelle der Enteignung, bei denen die ökonomistische Logik der transnationalen Körperschaften an erster Stelle steht, die wiederum von der nationalen und regionalen öffentlichen Politik begünstigt und vertieft wird. Im Fall Bolivien verhält es sich anders, da während der ersten Re-gierungszeit von Evo Morales die neue staatsmännische Logik mit der Logik der Unternehmen selbst in Konflikt geriet, womit der Staat in einen Zwiespalt geriet: Einerseits betrieb er eine Nationalisierungspolitik, die auf die staatliche Kontrolle der Erträge abzielte; andererseits zeigte er eine Rationalität, die eine rein ökonomistische Sichtweise des Territoriums of-fenlegte. Gleichzeitig wurde versucht, beide Logiken mit einem breiter angelegten Prinzip zu verbinden, das zum Teil umverteilende Elemente hatte (über das Verhältnis zwischen extraktivistischen Erträgen und Sozi-alprogrammen). Die Frage gestaltet sich noch komplexer, wenn wir uns auf die indigenen Gemeinschaften und ihre Organisationen beziehen; schließlich ist die Problematik des Territoriums immer stärker an die For-derung nach Autonomie gekoppelt, die als Selbstbestimmung verstanden wird, was – wie Polanco (2008) feststellt – die Anerkennung der kulturel-len Vielfalt und Unterschiede bedeutet, sowie die Festschreibung der kol-lektiven, wirtschaftlichen und sozialen Rechte innerhalb des Territoriums. Insofern schreibt sich die Territorialität in einen Raum der variablen Ge-ometrie ein. So stehen die indigenen Gemeinschaften und ihre Organisati-onen selbst für multiple Territorialitäten – jenseits der tatsächlich beste-henden Widerstände gegen die neuen Akkumulationsmodalitäten des Ka-pitals. Denn die kollektiven Rechte, wie sie in der internationalen Gesetz-gebung (ILO-Konvention 169, universelle Erklärung der VN über die Rechte der indigenen Gemeinschaften) und der Neuen Verfassung des Plurinationalen Staats [in Bolivien] dargestellt sind, sich zusammenkom-men und sich überkreuzen mit dem territorialen Recht, die wirtschaftli-chen Erträge der verschiedenen extraktiven Projekte zu bekommen und zu genießen. Dies erfolgt nicht immer auf harmonische Art und Weise.

Dieser Zusammenprall von unterschiedlichen Konzepten von Territo-rialität scheint für verschiedene Konflikte der zweiten Regierungszeit Evo Morales charakteristisch zu sein – im Hinblick auf die territoriale Logik der ländlichen indigenen Organisationen (beispielhaft in Gestalt der Orga-nisationen CIDOB – Coordinadora Indígena del Oriente Boliviano/Dach-verband der indigenen Gemeinschaften des Tieflandes und CONAMAQ – Confederación Nacional de Ayllus y Markas del Qollasuyo/Nationaler Verband der Ayllus und Markas des Qullasuyo). Diese verlangen, dass ih-re Autonomie respektiert wird (vor allem die Autonomie von indigenen Kleinbauern), so wie sie im Verfassungstext und den darin festgehaltenen kollektiven Rechten erscheinen: als Recht, mittels der gesetzlich festge-

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legten Strukturen befragt zu werden, wenn es um Projekte geht, die Aus-wirkungen auf die Territorien der indigenen Gemeinschaften haben kön-nen; als Recht, die wirtschaftlichen Erträge aus der Ausbeutung der nicht erneuerbaren Naturressourcen zu nutzen; kurz und gut, als Recht, ein ge-sundes Umfeld auf ihren Territorien zu verwalten. Zusammengefasst und in Übereinstimmung mit Bebbington und Bebbington (2009) ordnet die Problematik der Kontrolle über die Naturgüter im Fall Bolivien die Dis-kussion in verschiedene Konfliktstufen ein und ermöglicht Abstufungen im Hinblick auf den Gegensatz zwischen dem aktuellen Entwicklungsmo-dell und den indigenen Kleinbauern-Organisationen.18

An zweiter Stelle muss hinzugefügt werden: Obwohl der Extraktivis-mus, besonders der Bergbau, eine dunkle Geschichte in Lateinamerika hat, gibt es in jenen Ländern mit einer starken Bergbautradition eine ausge-prägte Widerspenstigkeit dagegen, Bergbau und Entwicklung zu entkop-peln; so geschieht es etwa in Bolivien und Peru, wo es in ein und dersel-ben Organisation gleichzeitig Anklagen wegen Enteignung als auch ein Interesse an besseren Erträgen der wirtschaftlichen Ausbeutung geben kann. Die extraktivistische Vorstellungswelt ist sehr präsent, mit Hilfe von Erzählweisen, die vom Staat und den großen Körperschaften aktualisiert werden können.

Schließlich ist eines der größten Probleme die fehlende Verbindung zwischen Organisationen, die gegen den Extraktivismus kämpfen und eher im ländlichen Bereich und in kleinen Ortschaften angesiedelt sind und den städtischen Organisationen zum Thema Territorium und vor allem den Gewerkschaftsbewegungen, die wichtige Sektoren der städtischen Gesell-schaft repräsentieren. Sicherlich bildet sich ein Großteil der Organisatio-nen, die in die sozialen Umweltkämpfe einbezogen sind, in ländlichen, teilweise sehr isolierten Territorien heraus, in denen indigene Bevölkerung und Kleinbauern leben. Die Ausdehnung der Gebiete mit extraktivisti-scher Nutzung bedroht diese Territorien, deren Wahrnehmung sich oft auf die Misere beschränkt („rückständige” Bevölkerung, Schattenwirtschaft) oder die als Gebiete wahrgenommen werden, die geopfert werden können („Wüsten” oder „Territorien, die sozial geleert werden können”, insofern, als sie außer den strategischen Ressourcen keine Elemente oder Güter ent-

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18 Die genannten Autoren analysieren im Fall der Gasförderung im bolivianischen Chaco, wie diese Konflikte die Überschneidung und Überlappung von neuer staatlicher Territorialität, den Forderungen nach Autonomie von Seiten der regi-onalen Eliten sowie der territorialen Forderungen der indigenen Organisationen und Gemeinschaften aufzeigen.

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halten, die vom Kapital verwertet werden könnten). Gleichzeitig breiten sich die Megaprojekte über kleine und mittlere Ortschaften aus, die – im Vergleich zu den Großstädten – dem weniger entgegensetzen können und leichter verwundbar sind. Auf jeden Fall hat die Entfernung von den gro-ßen städtischen Zentren dazu beigetragen, die Grenzen zwischen Stadt und Land, zwischen Gebirge, Urwald und Küste zu verstärken, etwa in Peru und Kolumbien; oder auch zwischen den kleinen Ortschaften und den Großstädten, etwa in Argentinien, insofern, als diese Megaprojekte (Berg-bau, Agrargeschäfte, Staudämme u.a.) auf die Städte lediglich indirekte Auswirkungen haben. Dies wird selbstverständlich verstärkt durch Prozes-se der territorialen Fragmentierung, die die Umsetzung der extraktivisti-schen Projekte und die Konsolidierung der Exportenklaven mit sich ge-bracht hat.

Dynamik der Kämpfe und Erweiterung der Rechtsgrenzen

Die Rolle der sozialen Bewegungen ist nicht unwichtig: Es geht darum, die öffentliche und politische Debatte zu öffnen, sowie dazu beizutragen, einen neuen normativen Rahmen zu schaffen und/oder geltende Gesetze zu modifizieren: Wir beziehen uns auf Gesetze, die das Recht auf verbind-liche Konsultation der indigenen Gemeinschaften anerkennen, oder auf diejenigen, die bestimmte extraktive Aktivitäten verbieten. Ein Beispiel für letztere sind die Gesetze zum Verbot des Bergbaus in Argentinien (auf Provinzebene), das Verbot des Großtagebaus in Costa Rica oder jüngst die Aufhebung des Bergbaugesetzes in Panama. Diese Gesetze entwerfen eine neue Rechtsgrenze und skizzieren von daher eine Vorgehensweise in Richtung einer alternativen Umwelt-Institutionalität, deren Wege in jedem einzelnen Land unterschiedlich sind.

Natürlich kennt jedes Land vielfältige politische Dynamiken. So fand im Fall Peru die öko-territoriale Wende ihren ersten Ausdruck mit der CONACAMI; doch erst nach dem Massaker von Bagua (im Juni 2005) sah sich die neoliberale Regierung von García gezwungen, die nationale Agenda zu öffnen: für die Forderungen nach dem Recht auf Konsultation von Seiten der Gemeinschaften aus dem Amazonas. So beschloss im Mai 2010 das Parlament dieses Landes ein Gesetz zur Konsultation in Über-einstimmung mit der internationalen Gesetzgebung. Doch der Präsident legte sein Veto dagegen ein – er führte „Beobachtungen” durch und gab das Gesetz an das Parlament zurück. Die fraglichen Punkte bezogen sich sowohl auf den verbindlichen Charakter der Konsultation als auch auf sei-ne Reichweite, da der Präsident dagegen war, dass dieses Gesetz auch für

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die kleinbäuerliche Bevölkerung der Anden galt.19 In Folge dessen bestä-tigt das Veto des Präsidenten den Vormarsch des Enteignungsmodells, der durch die kontinuierliche Konzessionsvergabe für extraktive Aktivitäten (Erdöl, Bergbau, Forstwirtschaft) und Infrastruktur-Megaprojekte (Was-serkraftwerke, Schnellstraßen) auf indigenem Territorium gestützt wird.

Im bolivianischen Fall ist die Dynamik gleichfalls rekursiv, hat aber in letzter Zeit einige Veränderungen erfahren. So reagierten im letzten Jahr Organisationen wie CIDOB und CONAMAQ auf den Vormarsch einer starken staatsmännischen Logik mit einer viel klareren Wendung hin zum Recht auf Konsultation als Hauptwerkzeug.20 Die zweite Amtszeit von Evo Morales spiegelt die Konsolidierung dieser neuen Staatlichkeit wider, nachdem die regionalen Oligarchien eine Niederlage erlitten hatten. Er-gänzend dazu wurden verschiedene strategische Gesetze erlassen, die das Recht auf Konsultation und die territoriale Autonomie der indigenen Ter-ritorien einschränken, mit dem Ziel, die Entwicklung der extraktivisti-schen Projekte zu erleichtern.21 So ist es vor dem Hintergrund einer defen-siven Mobilisierung zu erklären, dass CIDOB und CONAMAQ zu fordern begannen, das Recht auf Konsultation zu respektieren, wie es in der boli-vianischen Verfassung enthalten ist. Außerdem verlangten sie Respekt für

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19 Im Juni 2010 schlug García in einem achtseitigen Brief vor, den zweiten Absatz von Artikel 15 des Gesetzesprojekts zu ändern, das auf den verpflichtenden Cha-rakter der Abkommen verwies sowie auf die Aufgabe des Staates – falls kein Abkommen zustande kommt – die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um die kollektiven Rechte der indigenen Gemeinschaften zu schützen; gleichzeitig stellte er die Einbeziehung der kleinbäuerlichen Bevölkerung aus dem Gebirge und von der Küste in Frage.

20 In Interviews, die wir mit Sprecher/innen von CIDOB und CONAMAQ Mitte 2009 führten, betonten sie ausdrücklich, dass das Hauptwerkzeug ihrer Organisa-tionen die Kontrolle und die Verwaltung der Naturressourcen in ihren Gebieten sei und nicht unbedingt die Ausübung des Rechts auf Konsultation. Diese Situa-tion änderte sich jedoch nach dem Gipfel zum Klimawandel in Cochabamba.

21 Darunter fallen: das Rahmengesetz zur Autonomie (das die Autonomie derjeni-gen indigenen Territorien verweigert, die sich über zwei oder mehrere Departe-ments erstrecken, da dies erfordern würde, die Grenzen zwischen den Departe-ments neu festzulegen; gleichzeitig bestimmt es, dass das Statut zur indigenen Autonomie per Referendum angenommen werden müsse und nicht auf Grundla-ge der Sitten und Gebräuche, wie es CIDOB verlangt hatte); das Wahlgesetz (das die Repräsentanten der indigenen Gemeinschaften auf insgesamt sieben be-schränkt, anstelle der 18 Sitze, die gemeinsam von CIDOB und CONAMAQ ver-langt worden waren); schließlich das Gesetz der Pachamama, das das Recht auf verbindliche Konsultation enthält und das bis jetzt nur in Auszügen vom Parla-ment behandelt worden ist.

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die organischen Strukturen (und die Ablehnung von Abstimmungen und Erklärungen von parallelen indigenen Autoritäten) sowie „Kohärenz zwi-schen dem Diskurs zur Verteidigung der Mutter Erde und der extraktivis-tischen Praxis der Regierung”.22 Zweifellos war die Durchführung des Gegengipfels zum Klimawandel in Cochabamba (im April 2010) der Wendpunkt für die Organisationen; dort brachte die Arbeitsgruppe 18 (die nicht von der Regierung autorisiert worden war) all jene Organisationen an einen Tisch, die vorschlugen über die Umweltproblematik in Bolivien zu debattieren. Der Wandel im politischen Szenario erforderte, die Strate-gie der ländlichen indigenen Organisationen neu zu bestimmen. Dabei verbinden sich die Interessenskonflikte mit der MAS-Regierung auf natio-naler Ebene mit der konstanten Wechselwirkung mit anderen Organisatio-nen, die ähnliche Interessen haben, auf regionaler Ebene. Die MAS-Regierung geht nämlich nicht auf die Forderungen der genannten Organi-sationen ein, weil außerdem mit Erdgas- und Erdöl-Explorationen sowie mit Energieprojekten und Straßenbau begonnen worden ist und weil Bergbaukonzessionen auf indigenem Territorium vergeben worden sind, bei denen vorherige Konsultationen entweder gar nicht stattgefunden ha-ben oder bei denen es Unregelmäßigkeiten gegeben hat. Dies erfolgt in-nerhalb eines lateinamerikanischen Raums von Aktivist/innen, der von der genannten Sprache geprägt ist, zu der wiederum – und es ist wichtig, da-ran zu erinnern – die bolivianische Erfahrung selbst beigetragen hat, sie zu erschaffen und zu verstärken.

Gleichfalls muss hinzugefügt werden, dass die Diskussion über die Reichweite des Rechts auf Konsultation nicht nur in Bolivien geführt wird. In Ekuador wurde das ILO-Abkommen 169 im Jahr 1998 in der Verfassung verankert, doch in der Praxis wird es nicht angewandt und läuft Gefahr von anderen Rechtsfiguren eingegrenzt und umformuliert zu werden, zum Beispiel von der prä-legislativen Konsultation oder auch über die Unkenntnis der regulären Kanäle der Konsultation, die vorausset-zen, dass die repräsentativen Institutionen der indigenen Gemeinschaften anerkannt werden. Ein anderes hervorzuhebendes Element im ekuadoria-nischen Fall ist die aktuelle Kriminalisierung der sozialen Umweltkämpfe, unter dem Straftatbestand „Sabotage und Terrorismus”, die etwa 180 Per-sonen betrifft, die vor allem mit dem Widerstand gegen die Ausbreitung des Großtagebaus zu tun haben.23 Die Erklärungen von Correa zum „kin-____________________

22 Vgl. www.cidob-bo.org, letzter Zugriff: 14.11.2014. 23 Erinnern wir uns daran, dass im Jahr 2008 die Verfassunggebende Versammlung,

die in Montecristi (Ekuador) tagte, 700 angeklagte Personen amnestierte.

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dischen Umweltschutz” der Organisationen haben den Dialog nicht beför-dert, in einem Szenario der offenen Konfrontation zwischen indigenen und sozialen Organisationen und der Regierung.

Zu guter Letzt ist in Argentinien eine der Neuheiten das Aufkommen selbsteinberufener Versammlungen gegen den Großtagebau, die es in zwölf Provinzen gibt und die sich in der UAC zusammengeschlossen ha-ben. In diesem Land ist das institutionelle Instrument par excellence nicht die öffentliche Konsultation, sondern die parlamentarische Gesetzgebung. So haben zwischen 2003 und 2008 in Argentinien sieben Provinzen Ge-setze erlassen, die den Großtagebau, der bestimmte chemische Substanzen verwendet, verbieten. Der jüngste Vorfall in der Reihe dieser Kämpfe war die Diskussion über das nationale Gesetz zum Schutz der Gletscher, gegen das Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner 2008 ihr Veto einlegte. Trotz des starken Drucks der Bergbauunternehmen und bestimmter Pro-vinzregierungen wurde die Richtlinie, die auf den Schutz der Süßwasser-quellen und -Reserven abzielt, schließlich vom Parlament im September 2010 genehmigt: Sie verfügt das Verbot jeglicher extraktiven Aktivität in den Gletschergebieten und ihrer direkten Umgebung, die ein Prozent des argentinischen Territoriums ausmachen und wo ein wichtiger Teil der großen Bergbauprojekte vorgesehen war (Svampa/Viale 2010). Trotzdem wurde eine schnelle juristische Überprüfung des Gesetzes veranlasst und seine jüngste Reglementierung bestätigt den geringen Willen der Regie-rung und der verschiedenen staatlichen Institutionen, es wirksam werden zu lassen, wodurch somit der Vormarsch der Bergbauprojekte ermöglicht wird.

*** Die sozialen Bewegungen haben schon immer Dimensionen der Amtsent-hebung mit anderen Dimensionen kombiniert, die eher Gründungscharak-ter haben; defensive Reaktionen mit der Schaffung von neuartigen „Expe-rimentierfeldern” (de Sousa Santos 2000: s.p.), in denen neue gesellschaft-liche Alternativen gewebt und wieder aufgetrennt werden.

Aus unserer Perspektive hat Lateinamerika in den letzten Jahren im Hinblick auf die Diskussion über Bedeutungen und Alternativen der Ent-wicklung einen gemeinschaftlichen Raum mit alternativen Kenntnissen geschaffen, die noch auf einem bescheideneren Niveau interpretiert wer-den sollten, als es einige der beteiligten Akteur/innen tun: Wir wohnen ei-ner Strukturierung von Themen, Losungen und Grenzkonzepten bei, die einen Rahmen für kollektive Protestaktionen bilden im Hinblick auf die die dominierende Modernität und die den Debatten über Auswege aus dem Extraktivismus und über eine alternative Modernität Nahrung geben. Diese Punkte sind nicht einfach nur Diskurse und noch viel weniger ledig-

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lich analytische Werkzeuge. Doch sie laufen Gefahr, dies zu werden, nicht nur aufgrund der schwindelerregenden Geschwindigkeit und der Größen-ordnung der laufenden extraktiven Projekte sowie der dringenden Not-wendigkeit auf dieses Fortschreiten zu reagieren, es aufzuhalten oder zu neutralisieren. Sondern auch, weil sich jene Projekte in einen Raum mit sich widersprechenden Tendenzen einfügen, die verdeutlichen, wie sich aktuell fortschrittliche Sprache und dominierendes Entwicklungsmodell gegenseitig ergänzen.

Der Weg der Gesetze ist seinerseits ein unvollständiger und stets ge-wundener Weg, auch wenn er beim Schaffensprozess einer neuen Um-welt-Institutionalität notwendig ist. Mit all seinen Schwierigkeiten und Rückschlägen verdeutlicht dieser Weg die Möglichkeit, dem herrschenden Extraktivismus Grenzen zu setzen, und hat innerhalb der Netzwerke und Bewegungen zu einer Wertschätzung des Rechts als Kampfwerkzeug ge-führt – auch wenn dieser Prozess aufgrund der defensiven Umstände noch weit davon entfernt ist, in den Aufbau eines neuen „Natur-Regimes” (Escobar 2005) zu münden. Andererseits zeigen die innovativen Fälle E-kuador und Bolivien mittels der Entwicklungspläne oder der Pläne für das Buen Vivir die Grenzen und Widersprüche dieses Prozesses, eine „neue staatliche Natur” zu schaffen auf, die neben dem neuen Entwicklungsext-raktivismus existiert und zweitweise dahinter verschwindet. Aus dem Spanischen von Britt Weyde Literatur Albo, Xavier: „Suma Qamaña = el buen convivir”, Revista Obets, Buen Vivir, Desarrollo y

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Privados de la posibilidad técnica de fabricar imágenes, obligados a la estética de un arte sin imagen, sometidos a la obligación teórica de descalificar las imágenes, asignados a no leer imágenes sino como un lenguaje, nosotros podríamos ser ent-regados, atados de pies y manos, a la fuerza a otras imágenes – políticas, comerci-ales − sobre las cuales no tenemos poder. Michel Foucault

Der technischen Möglichkeit beraubt, Bilder anzufertigen; zur Ästhetik einer bild-losen Kunst gezwungen; der theoretischen Verpflichtung unterworfen, die Bilder zu disqualifizieren; angewiesen, die Bilder nur als eine Sprache zu lesen, so kam es, dass wir, an Händen und Füßen gefesselt, die Kraft anderer – politischer, kommerzieller – Bilder ausgeliefert wurden, über die wir keine Macht haben.1

Der Kapitalismus kommt zuerst mit Worten, Zeichen und Bildern.

Lazzarato, 2006 (Übersetzung MB)

Die semiotische Macht des globalen Kapitals: Hegemoniale (Geo)Graphien

In Lateinamerika entwickelten sich in den letzten Jahren eine Vielzahl von asymmetrischen soziopolitischen Konflikten, welche mit der Ausweitung der sogenannten mega-minería2 in Zusammenhang stehen. Bereits vor ei-niger Zeit hatten wir in unseren Nachforschungen die Gründungsakten ei-nes globalen Diskurses in den Blick genommen, der einen positiven he-gemonialen Konsens über die Wirtschaftsform des Extraktivismus3 her-stellt und gleichzeitig die Verbindungen und Allianzen zwischen beteilig-

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1 Michel Focault, „Die photogene Malerei”, ders., Schriften in vier Bänden – Dits et Ecrits –Band II -1970-1975, Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2002, S. 875.

2 Mit dem Begriff mega-minería wird der meist von transnationalen Unternehmen betriebene Bergbau in Großprojekten beschrieben.

3 Mit dem Begriff des Extraktivismus wird ein Wirtschaftsmodell beschrieben, dass sich auf die Ausbeutung (begrenzter) natürlicher Ressourcen für den Export konzentriert.

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ten Staaten und Unternehmen der mega-minería unsichtbar macht.4 Unter Gründungsakten verstehen wir dabei etwa Berichte und Erzählungen über die mega-minería, Kodizes und Handbücher über „good practices” im Bergbausektor sowie internationale Zeitschriften in diesem Feld, mit de-ren Hilfe die transnationale Agenda „Entwicklung durch Bergbau” diskur-siv vorangetrieben werden soll (Antonelli 2009). Durch diese Dokumente wurde der Diskurs über die mega-minería auf pragmatischer wie symboli-scher Ebene kolonisiert und somit rechtlich-normativ, epistemisch und kulturell unter Kontrolle gebracht (Antonelli 2007).

Die Organisationen und Agenturen, die diese Dokumente herausgeben und in den Diskurs einbringen, sind globalen Institutionen zuzurechnen, die ihrerseits die großen metallurgischen Bergbauunternehmen repräsen-tieren und die weltweite Expansionspolitik dieses Sektors definieren und betreiben. Auf diese Weise konnten die transnationalen Unternehmen auf globaler Ebene als entscheidende Gesprächspartner für Politik und Gesell-schaft installiert werden. Die institutionellen und informellen Netzwerke, mit denen die extraktivistischen Industrien verflochten sind,5 zielen dabei auf die Kontrolle und Domination der Imaginarien, Erzählungen, Rhetori-ken und Semantiken von „Entwicklung.” Hierbei spielen etwa Sichtbar-keits-Regime und akteursbezogene Wahrnehmungsmuster eine entschei-dende Rolle. Sie sind somit im engeren Sinne Teil der auf verschiedenen Ebenen ablaufenden und durch viele Akteur/innen getragenen Produkti-ons-, Zirkulations- und Machtentfaltungsprozesse hegemonialer Repräsen-tationen bezüglich der transnationalen mega-minería. Unter den Ak-teur/innenn finden sich nicht zuletzt neoliberale think tanks und deren lo-kale und globale Partner (Mato 2005; Mato/Alvear 2007).

Diese Art der diskursiven Rahmungen ist seit etwa einer Dekade im Umlauf, genauer gesagt seit 2002, als von den weltweit größten Goldför-

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4 Die Nachforschungen fanden im Rahmen des Forschungsprojektes „Dispositivos Hegemónicos y construcción de (neo)mapas en la Argentina actual. Modelo mi-nero y proyectos de sociedad” statt, welches am Centro de Investigaciones der Facultad de Filosofía y Humanidades – CIFFyH der Universidad Nacional de Córdoba angesiedelt ist und durch SeCyT gefördert wurde.

5 Es bleibt diesbezüglich hervorzuheben, dass die Programme, welche mit wissen-schaftlicher Unterstützung durch Anthropolog/innen, Soziolog/innen sowie Re-präsentant/innen und Investor/innen des Bergbausektors aufgelegt werden, seit 2008 auf systematische Weise verschiedene Instrumente zur Datengewinnung anwenden, um lokal Informationen über die Wahrnehmung und Bewertung des Bergbaus durch die betroffenen ländlichen Dorfgemeinschaften, städtischen Nachbarschaftsorganisationen und indigenen Gemeinschaften zu erheben.

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derunternehmen sowie anderen Bergbauunternehmen der International Council on Mining and Metals (ICMM) ins Leben gerufen wurde. Zu-sammen mit Regierungen, Stiftungen und global agierenden Investment Fonds haben die transnationalen Unternehmen mit Hilfe des ICMM ein Dispositiv der Invention6 [Erfindung] mit großer Schlagkraft kreiert. Es ist das Dispositiv einer Globalen Ära der totalen Ausbeutung der Natur, einer semiotischen Maschinerie die mächtiger ist als die Staaten, die sie sich zu Eigen macht. Es ist das Dispositiv einer subjektivierenden Produktion von Bevölkerungen und sozialen Gruppen, die es auszubeuten gilt, deren Energien abgeschöpft und deren Wünsche, Körper und Wahrnehmungen modelliert werden sollen. Das natürliche und nicht erneuerbare Erbe des Raumes kann somit als „natürliche Ressource” angeeignet werden und stellt daher den „natürlichen Vorteil” einer jeweiligen Region dar.

Diese „Vorteile” – auch commodities genannt – sind die beträchtlichen bekannten Mineralienvorkommen, die seit den 1990er Jahren eine nahezu risikolose Ausbeutung ermöglichen. Auch wenn diese Vorkommen der Öffentlichkeit derzeit als „neue Funde” präsentiert werden, wurden sie größtenteils bereits bei Forschungen vor mehr als zwanzig Jahren ent-deckt. Damit waren sie bereits zehn Jahre vor der beschrieben semioti-schen Invention7 bekannt. Auch die juristischen Werkzeuge, mit deren

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6 Unter Dispositiv lässt sich mit Foucault ein Netz von Beziehungen zwischen he-terogenen Instanzen und Elementen verstehen: Diskurse, Institutionen, Architek-turstile, Regelungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Äu-ßerungen, philosophische Positionen, Moralvorstellungen, Philanthropien, des Gesagten und des Nicht-Gesagten. Das Dispositiv etabliert die Art der Bezie-hung, die zwischen den verschiedenen Elementen besteht. Dies schließt unserer Meinung nach auch die Art und Weise ein, wie diese Beziehungen den Staat durchdringen. Die „Kolonisation” der sozialen Repräsentation durch die transna-tionalen Unternehmen hat Prozesscharakter. Und dieser Prozess wird durch Ge-schwindigkeit, Fokussierung auf die wirkmächtigen Zentren sowie die Fähigkeit zur Saturation und Verschmelzung von auf den ersten Blick getrennten sozialen Diskursen charakterisiert, welche durch Institutionen und Akteur/innen aus ver-schiedenen Räumen, Sphären und Handlungsfeldern produziert werden (Foucault 1973).

7 Dies bestätigt der Fall des „Lithiums”, der in den Jahren 2010 und 2011 insbe-sondere in Bolivien und Argentinien auf der Agenda stand, da sich die größten bekannten Reserven in diesen Ländern befinden. Nach offiziellen Daten wurden die sich über tausende Quadratkilometer erstreckenden Lagerstätten bereits 1992 durch die NASA entdeckt und kartiert. In Argentinien stammten die wichtigsten Funde von Vorkommen anderer Mineralien, wie etwa Gold, Kupfer oder Uran, ebenso aus den 1990er Jahren. Wobei diese in erster Linie auf die Arbeit von

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Hilfe die mega-minería die Privatisierung des Bergbausektors während der neoliberalen Regierungen der 1990er Jahre und unter Rückgriff auf die „Rhetorik der Globalisierung” vorantrieb, wurden erst nach der eigentli-chen Entdeckung der Lagerstätten eingesetzt (Chaparro Ávila 2002; 2003; Blanco 2003; Sánchez Albavera 2004; Robilliard 2006).

Demnach ist das Dispositiv, welches wir untersuchen, eine koloniale Erfindung, die die Staaten der Region durchdringt und dabei eine Sprache verwendet, mit der die beschriebene Welt auch gleichzeitig begründet wird. Seither wird versucht, diese Sprache und die durch sie erzeugte Welt als die einzig sprech- und denkbare durchzusetzen und somit als common language zu installieren. Dabei zeigt sich ihre Wirksamkeit an ihrer Flexi-bilität und gleichzeitigen Unnachgiebigkeit, mit der sie sich innerhalb we-niger Jahren weltweit im kulturellen wie institutionellen Bereich einge-schrieben hat. Die Sprache der mega-minería wurde global wie regional in vorauseilendem Gehorsam übernommen. Dies trifft nicht zuletzt auch für Argentinien zu, wo sie – wie an vielen anderen Orten des globalen Südens auch – über umfassende und ambivalente Argumentationsketten und Be-weisführungen im Sprachgebrauch implementiert wurde (Svampa/Anto-nelli 2009; Voces de Alerta 2011).

Seit den ersten Ausformulierungen zeigt der Diskurs der mega-minería seine charakteristischen Züge: Zum einen handelt es sich um einen nahezu „immunen” Diskurs, dessen Grammatik eine glaubwürdige Fiktion etab-liert, welche die ihm zu Grunde liegende Gewalt ausblendet und negiert. Zum anderen zeichnet er sich durch seine Ruchlosigkeit aus. Damit ordnet er sich in eine Linie von Diskursen ein, deren Instrumentalisierung durch den Kapitalismus und die damit verbundenen territorialen Konsequenzen oft unbeachtet bleiben.

Die Bezeichnungen „Verantwortungsvoller Bergbau” und „Nachhaltige Entwicklung” finden sich in den offiziellen Veröffentlichungen und bei Auftritten der Unternehmen im Bergbausektor wie auch in den Wortbei-trägen von Regierungen und Wissenschaft. Sie fungieren dabei als Rück-versicherungen a priori um die transnationale Ökonomie des Extraktivis-mus unter der Figur der Corporate Social Responsibility (CSR) und dem neusten Begriff der „Verpflichtung gegenüber der sozio-produktiven Umwelt” zu fassen. Dies findet unter Rückgriff auf das juristische Prinzip der Verantwortung gegenüber Dritten statt und unterstreicht, wie die Un-

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Geologen der öffentlichen Universitäten zurückgehen, also durch öffentliche Mittel finanziert und durch Organe des Staats selbst realisiert wurden.

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ternehmen eine philanthropische Natur postulieren, indem sie sich als sen-sibel gegenüber den Bedürfnissen und Wünschen der Gesellschaft und der Gemeinden zeigen, in deren Umfeld der Bergbau stattfindet. Dabei wer-den die Gier des Marktes, die Logik des Kapitals und die seiner territoria-len, ökonomischen und kulturellen Ausdehnung inhärenten Gewalt außen vor gelassen (Antonelli 2009).

Damit schreibt sich die mega-minería unter Rückgriff auf die von ihr versprochene zukünftige Entwicklung umfangreich in einen „politisch korrekten” Menschenrechtsdiskurs ein. Dieser wird von einer breiten Alli-anz aus nationalen und regionalen Akteur/innenn geführt und vorangetrie-ben. Dies sind unter anderem Unternehmen aus dem Bergbausektor, Fi-nanzgesellschaften, internationale Kommissionen im Bereich von Kultur und Wirtschaft, Beraternetzwerke, Anwaltskanzleien, Umweltstiftungen Nichtregierungsorganisationen. Darüber hinaus sind auch Forschungsein-richtungen und -netzwerke, sowie Agenturen für Innovation und Techno-logietransfer Teil dieser Allianz, welche einen immer höheren Grad an In-tegration, Verflechtung und internen Verbindungslinien aufweist.8

Dieses semiotische Makro-Universum treibt mithilfe seiner eigens er-fundenen Sprache nahezu unbemerkt die Kolonisation des Diskurses, der Epistemologie und der Werturteile voran. Um sich so als eine Art globaler Monolinguismus zu installieren, gilt es, die eigene Sprache „zu naturali-sieren”. Dieser Prozess begann in den späten neunziger Jahren und inten-sivierte sich ab 2002, als eine weltweite Zirkulation einsetzte. Vorange-

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8 Im lateinamerikanischen Kontext findet sich hier beispielsweise das Netzwerk des Organismo Latinoamericano de Minería (OLAMI) und des Red Ciencia y Técnica para el Desarrollo (CyTeD) zusammen mit Investoren (wobei die spani-sche Regierung mit über 50 Prozent der Anteile stark vertreten ist), Stiftungen der „Entwicklungszusammenarbeit” wie die Fundación Futuro Latinoamericano, welche als Dachorganisation für Stiftungen und NGOs aus verschiedenen Län-dern Lateinamerikas und der Karibik sowie öffentliche und private Forschungs-institutionen und Universitäten in Lateinamerika und Spanien und Portugal fun-giert. Seit 1995 ist das CyTeD Programm formell Teil des Programa de Coopera-ción de las Cumbres Iberoamericanas de Jefes de Estado y de Gobierno. Neben den genannten Institutionen lassen sich diesen Netzwerken auch Berufsvereini-gungen- und Verbände, beispielsweise der Geologen, zurechnen, welche auf Dienstleistungen für die Bergbauunternehmen ausgerichtet sind. Dabei verbinden diese ihre Funktion als assoziierte Mitglieder der staatlichen geologischen Diens-te mit Lobbyarbeit und Qualitätsmanagement für die transnationalen Unterneh-men. Siehe: http://www.cyted.org/ (letzter Zugriff: 14.11.2014) und die Webseite der Asociacíon de servicios de geología y minería iberoamericanos http://asgmi. igme.es, letzter Zugriff 13.11.2014.

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trieben wurde er etwa durch Berichte und Papiere, welche auf Arbeitstref-fen formuliert wurden, die von den weltweit neun größten Bergbauunter-nehmen ins Leben gerufen worden waren. Damit gelang es, regional wie auf globaler Ebene, politische und kulturelle Akzeptanz gegenüber der mega-minería zu generieren und an die in den 1990er Jahren dominante Erzählung der „ausländischen Direktinvestitionen” (FDI) anzuknüpfen.9

Spuren und Körper der Invention: Die Asymmetrie eines theatralisierten Szenarios

Im Rahmen der Global Mining Initiative (GMI) und über den World Bu-siness Council for Sustainable Development (WBCSD) beauftragten Bergbauunternehmen das International Institute for Environment and De-velopment (IIED) damit, das Programm Mining, Minerals & Sustainable Development (MMSD) aufzulegen. Damit sollte ein „kultureller Wandel” in der Wahrnehmung von Großprojekten im Bergbau angestoßen werden, um diesen als einen Faktor für „nachhaltige Entwicklung” zu präsentieren. Die involvierten Akteur/innen, welche die oben genannten Initiativen und Programme unterstützen, sind als auf globaler Ebene äußerst einflussreich einzuschätzen. Unter ihnen befanden sich eine Reihe der weltweit größten Bergbauunternehmen – allen voran aus dem Sektor des Goldabbaus – wie etwa Anglo American, Río Tinto, MIM Holdings, Newmont, das kanadi-sche Unternehmen Barrick, etc. Darüber hinaus waren internationale

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9 Seit den 1990er Jahren lässt sich in den Ländern der Region eine voranschreiten-de, an den Interessen des Bergbaus ausgerichtete Institutionalisierung beobach-ten, welche die Exploration von abbaubaren Ressourcen zum Ziel hatte. Diese fand nach Bebbington unter anderem in der Gesetzgebung und Finanzierung- und Schuldenpolitik durch die Staaten in der Region, den Ausbau der nötigen Infra-struktur sowie die Kooptation und Finanzierung des Wissenschafts- und Tech-niksektors für den transnationalen Bergbausektor ihren Ausdruck (Bebbington 2007, in Svampa/Antonelli 2007: 19). Dies zeigte sich unter anderem an der Tat-sache, dass in der Zeitspanne von 1990-1997 die Investitionen in die Exploration von Mineralienvorkommen in Lateinamerika um 400 Prozent gestiegen waren, während sie weltweit lediglich um 90 Prozent anwuchsen (in Peru war gar ein Anstieg um 2000 Prozent zu verzeichnen). Zwischen 1990 und 2001 lagen vier der zehn Länder mit den höchsten Investitionen im Bergbausektor in Lateiname-rika. Chile lag dabei an erster Position, Peru an sechster, Argentinien an neunter und Mexico an zehnter. Zwölf der weltweit größten Investitionsvorhaben in die-sem Sektor befanden sich in Lateinamerika: Zwei in Peru, neun in Chile und eins in Argentinien. Siehe diesbezüglich Bridge (2004: 413).

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Geldgeber und Finanzinstitute wie die Weltbankgruppe, die Regierungen Kanadas, Großbritanniens und Australiens – ihrerseits Herkunftsländer ei-nes großen Teils des in den globalen Bergbausektors investierten Kapitals – sowie die Rockefeller Stiftung und das Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP) und andere involviert.10

Bei der Schöpfung einer einheitlichen Sprache hat sich der Begriff des „verantwortungsvollen Bergbaus” (minería responsable) als zentrale Worthülse herausgebildet, die es mit Inhalt zu füllen gilt. Dies soll etwa mithilfe von Forschungsvorhaben über die Reduktion von durch die mega-minería verursachten Schäden und den aus ihr entstehenden Kosten ge-schehen. Auch sollen Maßnahmen zur öffentlichen Teilhabe bei der Pla-nung und Durchführung von Bergbauprojekten umgesetzt werden, welche den Unternehmen die soziale Legitimation für ihre Aktivitäten liefern. Auf diese Weise wird der conflicto antiminería – der gegen Bergbauprojekte gerichtete Protest – generell und fälschlicherweise als Blockade des anvi-sierten und prognostizierten gesellschaftlichen Fortschritt dargestellt, ohne Ursachen und Formen des jeweiligen Widerstandes genauer in den Blick zu nehmen. Es genügt, sich die einseitige Konzeption von Entwicklung vor Augen zu führen, die dem Begriff minería responsable zu Grunde liegt, um festzustellen, dass dieser nahezu ausschließlich durch die mäch-tigsten Akteur/innen in diesem sozialen Szenario definiert wird. Die Idee, dass in diesem sozialen Szenario horizontale Kommunikation oder gar ein Dialog auf Augenhöhe zustande kommen könnte, ist letztendlich nur vor-getäuscht. Denn die Modelle einer „kommunikativen Interaktion” zwi-schen den großen transnationalen Bergbauunternehmen, informellen Schürfern, die Bergbau auf niedriger Stufe betreiben und den indigenen Gemeinschaften zeichnen sich durch eine tief verankerte Asymmetrie und die Vielfältig- und Gegenläufigkeit der Interessenlagen aus. Hierbei ist

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10 Unter den Förderern aus der Wirtschaft finden sich Alcan, Alcoa, Anglo-American, Anglovaal, Barrick, BHP Billiton, Codelco, De Beers, Freeport-McMoran, Gold Fields, Lonmin, MIM Holdings, Mitsubishi Materials-Mitsubishi Corporation, Mitsui Mining and Smelting, Newmont, Nippon Mining & Metals, Noranda, Normandy Mining, Norsk Hydro ASA, Pasminco, Phelps Dodge, Placer Dome, Rio Tinto, Sibirsky Aluminium Group, Somincor, Sumi-tomo Metal Mining, Teck Cominco, Western Mining. Unter den nicht kommer-ziellen Förderern befinden sich die Comisión Chilena del Cobre, die Colorado School of Mines, Conservation International, DFID, die Regierungen Großbri-tanniens, Australiens und Kanadas sowie die Global Reporting Initiative, ICEM, IUCN-The World Conservation Union, die Mackay School of Mines, Pricewa-terhouseCoopers, die Rockefeller Stiftung, UNEP und die Weltbankgruppe.

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auch noch auf die Rolle der Lobbyarbeit leistenden Koordinator/innen solcher Dialoge hinzuweisen, welche oftmals während der Liberalisierung des Bergbaus im Verlauf der 1990er Jahre als staatliche Funktionär/innen im Öl-, Gas- und Bergbausektor aktiv waren (Antonelli 2009).

Im Abschlussbericht von 2002 wie auch in anderen Teilberichten des Mining, Minerals and Sustainable Development Projektes (MMSD) wer-den die Auswirkungen dieser gigantischen und deregulierten Form des Bergbaus wie der massive Einsatz von toxischen Chemikalien im Förder-prozess als „Herausforderungen” für die Minenindustrie bezeichnet (vgl. IIED: 2002a und 2002b). Dabei wird auf der einen Seite eingeräumt, dass diese Form des Bergbaus Umweltschäden verursachen kann. Auf der an-deren Seite wird aber auch auf implizite Weise suggeriert, dass durch die Anwendung bestimmter Strategien und Maßnahmenbündel den Konflikt-konstellationen und anderen erwartbaren „Herausforderungen” oder „Hin-dernissen” des Bergbaus begegnet werden könne und diese somit kontrol-lierbar seien. Diese Thematik wird weiterhin auf Arbeitstreffen des MMSD-Projektes diskutiert, wobei auch auf den „glücklichen Zufall” verwiesen wird, dass andere Initiativen sich ebenso mit diesen Fragestel-lungen auseinandersetzen und man mit diesen zusammenarbeite. Auf die-se Weise wird der Begriff der „Verantwortung” (responsabilidad) mit In-halt gefüllt und es werden Parameter entwickelt, um sie messbar zu ma-chen. Die Entwicklung des International Cyanide Management Code (CMC), mit dessen Hilfe der Einsatz von Zyanid im Goldbergbau regle-mentiert werden soll, ist ein passendes Beispiel für diese Vorhaben. In Auftrag gegeben und finanziert von Minenunternehmen sowie Zyanidpro-duzentinnen und -zulieferinnen bestätigt der CMC auf der einen Seite die schwerwiegenden verschiedenartigen Folgen der Abbauprozesse und die sozialen und ökologischen Rechtsstreitigkeiten im Zusammenhang mit dieser Form des Bergbaus. Auf der anderen Seite diente der CMC, dessen Anwendung auf Freiwilligkeit beruht, bereits drei Jahre später dazu, die Firmen, welche sich zu seiner Anwendung verpflichtet hatten, für ihr der Umwelt gegenüber verantwortungsvolles Handeln auszuzeichnen. Damit kann der CMC als Baustein der ununterbrochenen strategischen Suche der Unternehmen nach Legitimierung gesehen werden, denn die Erfindung der Parameter des Kodex suggeriert eine letztendlich illusorische Kontrol-lierbarkeit der Risiken. Gleichzeitig ist der CMC Teil des Versuchs, die desaströse Geschichte der Umweltschäden durch Bergbau-Großprojekte zu verschleiern. Denn der CMC wurde auf verschiedenen Arbeitstreffen als „zukünftiges Korrektiv” beschrieben, an dem sich die Unternehmen sukzessive ausrichten würden. Ebenso ist zu beachten, dass viele der „un-abhängigen Beobachter,” die die Einhaltung des CMC überwachen, den

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Bergbauunternehmen gleichzeitig Dienst- und Beratungsleistungen im Be-reich der Boden- und Wasserverwertung, sowie für die Installation der für die Mineraliengewinnung nötigen Schwemmbecken anbieten. Die Prü-fer/innen, welche die Umsetzung des Kodex überwachen sollen, profitie-ren also auch gleichzeitig von den Gewinnen der Unternehmen.

Der Verweis auf die Zukunft und den Übergangscharakter der Gegen-wart stellt einen zentralen Bestandteil der Strategien der Bergbauunter-nehmen dar. Um herausarbeiten zu können, wie diese vergangene Zukunft – im Sinne Reinhart Kosellecks (1988)11 – generiert wird, muss aus Sicht des Zeithistorikers eine kritische Distanz gewahrt werden. Die treibende Idee hinter den für die kommenden Jahre geplanten Maßnahmen ist das Konzept des „verantwortungsvollen Bergbaus”, der die verbundenen Auswirkungen und Schäden verwaltet. Auf diese Weise kann die Gegen-wart als „Übergang zur nachhaltigen Entwicklung” dargestellt werden, und dieser „Übergang” dauert nunmehr schon mehr als zehn Jahre an. Die Berater des MMSD unterstreichen dabei, dass ein „Kulturwandel” im Bergbau vonnöten sei um den erklärten „Herausforderungen” gerecht werden zu können. Mithilfe dieses „Kulturwandels” könne die Dichoto-mie zwischen den grenzenlosen Interessen der mega-minería und des Wi-derstandes von Gemeinden und Teilen der Bevölkerung – meist als „Na-tur-” oder „Umweltschützer” bezeichnet und damit bereits diskreditiert – überwunden werden.

So werden Akteur/innen, die sich gegen die Politik der Bergbauunter-nehmen stellen, als ignorante, fortschrittsfeindliche und nicht anpassungs-fähige Fundamentalisten und nuevos barbaros („neue Barbaren”) charak-terisiert, womit ihre Legitimität in Zweifel gezogen wird. Beispielsweise werden kritische Anwohner/innen sowie ihre Netzwerke in Verruf ge-bracht, und somit das alternative Wissen, dass diese Akteur/innen über die Auswirkungen des Bergbaus generieren, delegitimiert. Denn dieses Wis-sen problematisiert die Auswirkungen der mega-minería auf verschiedene Formen von Kulturerbe und prangert den ökologischen Raubbau, den exorbitanten Verbrauch von Wasser und Energie, Korruption, soziale Kontrolle und Fragmentierung sowie die Unterminierung öffentlicher In-stitutionen an.

Darüber hinaus werden kritische Stimmen von unabhängigen Intellek-tuellen und Wissenschaftler/innen diffamiert, die die unübersehbaren ____________________

11 Im Sinne Reinhart Kosellecks, Anm. d. Übers. in Absprache mit der Autorin. Vgl Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1979.

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Auswirkungen der mega-minería thematisieren, technische und juristische Einwände gegen diese Form des Bergbaus ins Feld führen, die Verletzung des Selbstbestimmungsrechts der Völker anklagen und somit das positive Bild der Großprojekte konterkarieren (Voces de Alerta 2011).

Unabhängig von der Tatsache, ob dieser von der Bergbau-Lobby ange-strebte „kulturelle Wandel” erreicht und die mega-minería öffentlich in ein positiveres Licht gestellt wird, werden die Bodenschätze der Region weiterhin ausgebeutet. Die Staaten der Region – unter ihnen auch Argen-tinien, Chile und Peru – haben den legalen Rahmen des Bergbaus in den vergangenen Dekaden im Interesse der transnationalen Unternehmen an-gepasst.12 Ein Jahrzehnt nach der Veröffentlichung des Abschlussberichts des MMSD Projektes und seiner vielversprechenden Vision der „Risiko-kontrolle” lässt sich eine Vielzahl von Fällen anführen, in denen die Natur in Abbaugebieten irreversibel geschädigt und die dort lebende Bevölke-rung in Mitleidenschaft gezogen wurde. Diese Fallsammlung kann leicht mit aktuellen Beispielen für massive Umweltschäden und Gewaltanwen-dung im Kontext von Minen-Großprojekten ergänzt werden. Dabei ist es weder den Vereinten Nationen noch dem kanadischen Parlament in der Vergangenheit gelungen, die Aktivitäten der transnationalen Bergbauun-ternehmen – die nicht zuletzt auch durch den kanadischen Staat subventi-oniert werden – zu kontrollieren und zu regulieren. Daran scheint auch der Fakt nichts zu ändern, dass seit mehr als zehn Jahren eine Reihe von schwer zu ignorierenden Berichten und Aussagen vorliegen, die die Berg-bauunternehmen für Menschenrechtsverletzungen verantwortlich ma-chen.13

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12 Für eine Analyse der diesbezüglichen Gesetzgebung in Argentinien, Bolivien, Brasilien, Chile, Kolumbien, Costa Rica, Kuba, Ekuador, Guatemala, Honduras, Mexiko, Peru, Uruguay und Venezuela siehe Chaparro Ávila (Hrsg.) http://www. eclac.org/publicaciones/xml/6/10 756/LCL1739-P-E.pdf, letzter Zugriff: 14.11.2014.

13 Die Vereinten Nationen räumten im Jahr 2010 ein, dass seit 2005 ein Szenario der Gewaltanwendung im Bergbausektor existiert und es nicht gelungen sei, die zugrunde liegenden Aktivitäten der Bergbauunternehmen zu regulieren. Ebenso wurde im Jahr 2010 nach langwierigen Beschwerden, Sonderkommissionen, und einem starken Aktivismus von Netzwerken kanadischer und lateinamerikanischer sozialer Organisationen das Gesetzgebungsvorhaben C-300 ins Leben gerufen. Auf diese Weise sollten die transnational aktiven kanadischen Bergbauunterneh-men in Kanada für im Ausland begangene Menschrechtsverletzungen zur Ver-antwortung gezogen werden können. Auch der Entzug von staatlichen Subven-tionen wurde in diesem Kontext als Sanktionsmöglichkeit angedacht. Der Ge-setzentwurf C-300 stellte dabei Normen für den Bergbau auf der Grundlage der

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Der Begriff der „Transition” ist eine schwer zu fassende Worthülse in der beständigen Erzählung der mega-minería. In dieser Erzählung wird das Versprechen auf eine bessere Zukunft insoweit aufgegeben, als dass die Zeit lediglich in den Einheiten gemessen wird, die es bedarf, um eine Lagerstätte vollständig auszubeuten. Die Erzählung der mega-minería steht also vor dem zeitlichen Dilemma, dass auf der einen Seite Ressour-cenvorkommen möglichst schnell und umfassend ausgebeutet werden müssen, während auf der anderen Seite deren Endlichkeit zu einer Bedro-hung für die mega-minería wird, insbesondere wenn diese Wirtschafts-form von der Wissenschaft ohne Begrenzung in die Zukunft projiziert wird.

Einige Vorwände: Zukunftsentwürfe zwischen Mineralien und Politik

Im Abschlussbericht des MMSD, der den suggestiven Titel „Breaking New Ground” trägt – zu Deutsch „Neue Felder eröffnen” –, wird versi-chert, dass die mega-minería kein Problem darstelle sondern vielmehr „Möglichkeiten” eröffne und „Herausforderungen” für alle beteiligten Ak-teur/innen mit sich bringe, so etwa auch für die Universitäten (vgl. IIED 2002a: s.p.). Mit dem Begriff „Herausforderungen” werden dabei die fest-gestellten und bekannten, durch die mega-minería verursachten Schäden umschrieben, die sich in der Vergangenheit nicht verhindern ließen und in

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Menschenrechte, des Arbeitsrechts und des Umweltschutzes auf. Kanadische Bergbauunternehmen, die in Entwicklungsländern aktiv sind und diese Subven-tionen erhalten, hätten diesen Normen entsprechen müssen. Darüber hinaus sollte eine Beschwerdestelle eingerichtet werden, an die sich Mitglieder der vom Berg-bau betroffenen lokalen Gemeinden sowie kanadische Bürger/innen hätten wen-den können, um Regelverstöße der Unternehmen gegen das Gesetz anzuzeigen. Den Unternehmen drohte somit der Wegfall finanzieller Subventionen und politi-scher Unterstützung durch den kanadischen Staat. Am 27.10. 2010 stimmte das kanadische Parlament mit 140 zu 134 Stimmen gegen den Gesetzentwurf. Siehe: Red Mexicana de Afectados por la Minería: http://rema.codigosur.et/, letzter Zu-griff: 14.11.2014. Über die Klagen in Kanada an die Minenbetreiber in diesem Land: http://www.miningwatch.ca/en/country_categories, letzter Zugriff: 14.11. 2014. Bezüglich der mit Bergbau in Zusammenhang stehenden Menschrechtsver-letzungen in Argentinien siehe unter anderem „Informe Cátedra UNESCO en Sostenibilidad” der Universidad Politécnica de Cataluña. Der Bericht enthält eine Aufstellung, die in Zusammenarbeit mit dem Movimiento Indígena Argentino und unabhängigen Nachbarschaftsnetzwerken erarbeitet wurde. Siehe http://la vaca.org/notas/soja-mineria-y-derechos-humanos/, letzter Zugriff: 14.11.2014.

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Zukunft zu minimieren seien. So werden Umweltverschmutzung, Zerstö-rung der Biodiversität, Aufbrauchen von Ressourcen und Wasser unter anderem als „vergangenes Erbe des Bergbaus” (sic) bezeichnet. Diese ne-gativen Effekte sollen durch die Kooperation zwischen den verschiedenen „verantwortlichen” Akteur/innenn überwunden werden, während die Bergbauprojekte in ihrer bisherigen raumgreifenden Dimension forstge-setzt würden. Das Modell des Extraktivismus hat sich somit teleologisch konfiguriert und setzt geographisch auch auf eine neue globale Kartogra-phie der Kolonisation mit einem Blick auf die „Welt als Steinbruch” (mundo cantera). Argentinien als Schwellenland wurde vom Extraktivis-mus einverleibt und spielt im Bieterwettbewerb auf den globalen Roh-stoffmärkten mit. Damit ist das Land in den Rahmen eines drastischen Neuentwurfs der biopolitischen Kontrolle eingebettet: Sicherheit, Territo-rium und Bevölkerung.

Neben den Umweltschäden wird in den Arbeiten des MMSD die politi-sche Korruption als eine der Ursachen für das negative Bild der mega-minería in der Öffentlichkeit ausgemacht. Dieses trage zum Entstehen von Konflikten bei. Im Final Report und anderen Berichten des MMSD wer-den lateinamerikanischen Ländern etwa „schwache und unterentwickelte staatliche Institutionen” attestiert (vgl. IIED 2002a: s.p.). Dies wiederum rechtfertigt auf zynische Weise die Verwendung des Begriffs der Gover-nance – und nicht etwa der Gouvernementalität [im Sinne Foucaults] – als Schlüsselkonzept für eine effektive institutionelle Autorität, die der mega-minería die soziale Lizenz zum operieren gewähre. Mit dieser Argumenta-tion impliziert der MMSD, dass die reine Gesetzgebungskompetenz des Staates, mit deren Hilfe die politischen Klassen die Interessen der Berg-bauunternehmen unterstützt haben, nicht ausreiche, um die Abbautätigkei-ten ohne soziale Konflikte ausführen zu können. Vor diesem Hintergrund sei ein „kultureller Wandel” (vgl. IIED 2002a: s.p.) im Kontext der mega-minería notwendig.

Der zentrale Punkt hierbei ist, dass sich mithilfe des Begriffes Gover-nance, der die Gesamtheit von vermachteten Regierungsformen/-feldern über die staatliche Dimension hinaus beschreibt, die Rolle des Staates ent-lang der eigenen Erwartungen an denselben umreißen lässt. Governance dient dabei als eine Pragmatik im linguistischen Sinne; ein strategischer Betrieb von politischen Regeln in bestimmten Situationen und lokalen Kontexten, welcher unternehmerische Strategien mit staatlichen Entschei-dungen und Handlungsmustern verbindet. Die Konsolidierung der mega-minería als eine im kulturellen wie sozialen Feld anscheinend alternativlo-se Realität basiert auf eben diesen, von staatlichen Funktionär/innen auf

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verschiedenen Ebenen umgesetzten, Entscheidungen und Handlungsmus-tern (Antonelli 2009).

So definiert, produziert der Begriff der Governance einen politisch fak-tischen und symbolischen Zugriff auf die Realität und bekräftigt, dass die mega-minería eine alternativlose Notwendigkeit darstelle. Der Staat wie-derum wirkt im Hinblick auf die mit dem Bergbau verbundenen sozialen Konflikte als Operator der Regeln eines scheinbaren Interessenausglei-ches zwischen Unternehmen und Gemeinden. Dieser Ausgleich bleibt aber letzten Endes weiterhin asymmetrisch und damit vorgetäuscht. So ist zu beobachten, dass Governance in immer mehr Fällen die weniger ver-mittelnde Form der Kriminalisierung, juristischen Verfolgung und Re-pression des Widerstandes annimmt, der sich gegen die mit der mega-minería einhergehende Verschmutzung und Plünderung der Natur bildet. Dabei ist zu berücksichtigen, dass lange nicht alle Fälle staatlicher Gewalt gegenüber Gegnern der mega-minería in den angeführten Statistiken und Berichten erfasst sind. In den virtuellen Netzwerken und Plattformen der Umweltorganisationen und sozialen Bewegungen vor Ort werden fast täg-lich neue Beispiele für den langen Arm des Staates und staatlich verübte Gewalt dokumentiert. Die transnationalen Bergbauunternehmen verste-cken sich still und heimlich hinter dieser staatlichen Repression als eine nicht öffentliche Lobbygruppe.

Der gesamte beschriebene Arbeitsprozess des MMSD einschließlich des Abschlussberichtes kann als ein Manifest für die Zukunft verstanden werden: In Zukunft werde der Bergbau verantwortungsvoll betrieben und die mega-minería werde zu dem werden, was sie bisher noch nicht ist: Ein „Faktor der Entwicklung”. Diese Ankündigung setzt natürlich auf eine be-stimmte Wirtschaftspolitik, die die Bergbauunternehmen dementspre-chend von den staatlichen Verwaltungen einfordern. Denn im Endeffekt zieht der Eintritt von Ländern in die „Welt als Steinbruch” (mundo cante-ra) eine Umleitung von Investitionen in den Bergbausektor nach sich, die einen Prozess der spezifischen und umfassenden Festschreibung und Insti-tutionalisierung der mega-minería einleitet. Teil dieses Prozesses ist die Vergabe von Schürfrechten an Mineralienvorkommen, die teilweise auf il-legale Weise geschieht. In diesem Kontext okkupieren Bergbauunterneh-men immer weiter reichende Territorien und fordern im nächsten Schritt eine Legalisierung des Bergbaus in sämtlichen geeigneten Regionen. Da-bei wird auf den „Kampf gegen die Armut” durch den Export von Roh-stoffen und das „Recht auf Entwicklung” rekurriert, das auf diesem Wege garantiert sei.

Die transnationalen Bergbauunternehmen teilen diesbezüglich die Län-der Lateinamerikas derzeit in zwei große Gruppen ein: Die erste Gruppe

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sind die „radikalisierten Staaten”, welche sich nur bedingt kooperativ zeigten und versuchten, beim Verkauf ihrer nicht erneuerbaren Ressour-cen einen größeren Nutzen für den Staat zu generieren. Dies sei Ausdruck eines „unspezifischen und vagen Wunsches” (Jones 2006: s.p.) nach Fort-schritt. Unter diese Gruppe fänden sich Ekuador, Bolivien und Venezuela. Daneben stehe die Gruppe der „an einem Dialog orientierten” Staaten, welche eine Synergie mit den transnationalen Bergbauunternehmen und Investoren anstrebten. Darunter fielen die Staaten Chile, Argentinien und Peru. Die beiden letztgenannten Länder wurden in den 1990er Jahren als „Magneten für Investitionen” im Bergbausektor beschrieben, da sie im Vergleich zu anderen Staaten ihre Wirtschaft am stärksten liberalisiert hat-ten, um Direktinvestitionen aus dem Ausland (FDI) „anzulocken”.

Der „blinde Fleck” des 2002 veröffentlichten Berichtes besteht darin, dass er nicht thematisiert, dass die mega-minería in welcher Weltregion auch immer bisher nie zu einer Entwicklung der „armen Anrainergemein-den” beigetragen hat. Auch zehn Jahre nach Veröffentlichung des Ab-schlussberichtes des MMSD wird dieser Aspekte vom florierenden räube-rischen Extraktivismus und seinen politischen Unterstützer/innen und Lobbygruppen weiterhin ignoriert.

Die prospektierte Zukunft: Chrono-Kartographien der Ausweitung der Grenzen des Bergbaus

Die transnationalen Bergbauunternehmen sind auf neue Funde von Lager-stätten angewiesen, um bei zukünftigen Investitionen die vom MSSD be-schriebenen „Herausforderungen” meistern zu können. Neben der derzei-tigen Kontrolle und Repression des Widerstandes der Bevölkerung der Abbaugebiete zielt die Strategie der Unternehmen auch auf die Erschlie-ßung von Territorien für den Bergbau, die diesem in vielen Ländern bisher verschlossen waren: Nationalparks, Naturschutzgebiete, als Kulturerbe ausgewiesene Landstriche, das Land indigener Gemeinschaften etc. Ein Jahr nach Veröffentlichung des Abschlussberichtes des MMSD wurden diese Forderungen auf globaler Ebene diskutiert, dieses Mal aber mit deut-lich mehr Nachdruck. Der MMSD forderte eine globale Neufassung der Kategorien für Schutzgebiete im Sinne einer „einheitlichen Begrifflich-keit”. Derzeit arbeitet die Lobbygruppe der mega-minería auf verschiede-nen Ebenen daran, die Begrenzungen für Bergbauaktivitäten aufzuheben.

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Dazu gehört auch die angestrebte Neudefinition des Status der „indigenen Gemeinschaften” und comunidades originarias14. So wird versucht, die Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) auszuhe-beln. Auf diese Weise soll verhindert werden, dass indigene Gemeinschaf-ten von ihrem Recht Gebrauch machen und sich gegen die Verwirklichung von Bergbauprojekten auf ihrem Land aussprechen und diese damit ab-wehren.15

Ebenso werden juristische Werkzeuge geschaffen, meist in Form einer ad hoc Gesetzgebung im Unternehmensrecht. So werden etwa mithilfe ei-ner „Alibi-Politik” Gebiete als Kulturerbe deklariert und Territorien in be-stimmte Zonen eingeteilt, um so im Umkehrschluss neue Abbaugebiete in einem „offenen Regionalismus” zur Ausbeutung freizugeben, und zwar ohne Einschränkungen und Limitierungen. Im Jahr 2001 bildete das Lei-tungsgremium des MMSD den International Council Mining & Metals (ICMM) und etablierte damit ein weiteres Organ für die Lobbyarbeit der mega-minería. Der Sitz des Sekretariats des ICMM befindet sich in Lon-don.16 Derzeitig setzt sich der Vorstand und der Aufsichtsrat aus leitenden Managern von weltweit im Bergbausektor tätigen Firmen und Organisati-onen zusammen, unter ihnen die der mächtigsten Unternehmen der Me-tall-fördernden Industrie (Antonelli 2009).17

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14 Anm. d. Übers.: indigene Gemeinschaften. 15 Dies ist der unterschwellige Auftrag des Projektes Gestión y Control de Conflic-

tos Mineros, GECOMIN, das von OLAMI und CyTed vorangetrieben wird. Auf dem Treffen in La Paz in Bolivien wurde eine spezifische Agenda bezüglich die-ser Frage formuliert.

16 Auf der offiziellen Webseite des ICMM wird bestätigt, dass „unsere Mitglieder daran glauben, dass sie durch die Umsetzung besserer Geschäftspraktiken bevor-zugten Zugang zu Land, Kapital und Märkten erhalten und somit zu hohen Ei-gentumswerten beitragen und das Anwerben von talentierten Mitarbeiter/innen ermöglichen.” („Our members believe that by demonstrating superior business practices they will gain preferential access to land, capital and markets, thus con-tributing to high equity values and enabling recruitment of talented employees.”, Vgl. http://mansurtest.wordpress.com/page/93/, letzter Zugriff: 14.11.2014 (Übersetzung: MB)

17 Wie etwa der Unternehmen Freeport McMoRan Copper & Gold, BHP Billiton, Alcoa, Anglo American, Anglo Gold Ashanti, Barrick, Eurometaux, Lihir Gold, Lonmin, Minerals Council of Australia, Mitsubishi Materials Corporation, Newmont, Nippon Mining & Metals, OZ Minerals, Rio Tinto, Sumimoto Metal Mining, Teck Cominco, Vale y Xstrata.

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Die Kluft zwischen der semiotischen Invention, der Techno-Wissenschaft und der Macht der Tatsachen der mega-minería

In den Herkunftsländern des Kapitals der mega-minería wirken die unter-nehmerischen Selbstpräsentationen – etwa auf Webseiten der Unterneh-men – deutlich elaborierter was ihre soziale, ökonomische und ökologi-sche Verantwortung betrifft als dies etwa in Lateinamerika der Fall ist. Dies lässt auf die Art von Verantwortung und nachhaltiger Entwicklung schließen, an der die mega-minería vor allem interessiert ist. So werden von den transnationalen Bergbauunternehmen etwa Forschung und Tech-nologietransfer zum Einsatz von Zyanid finanziert. Auch fördern sie Pro-jekte zur Konservierung und Archivierung von Naturerbe, soweit es sich dabei um kleine und für die Unternehmenspolitik unproblematische Ge-biete handelt. Daneben werden Forschungsprojekte zur Biodiversität im Umkreis von stillgelegten Minen und dem Verschwinden von Arten unter-stützt oder aber Projekte zur Reduzierung des Energie- und Wasserbedarfs oder der Verlangsamung der globalen Erwärmung finanziert. Aktivitäten dieser Art listen die Firmen dann in ihren Berichten für Investoren unter dem weniger idyllischen Punkt der Kostenreduktion je geförderter Unze Metall auf.

Die mega-minería und ihre Folgen werden außerhalb der Anstrengun-gen der Lobbygruppen für die Etablierung eines einheitlichen Sprachge-brauchs auch von anderen Akteur/innenn thematisiert, wie etwa von An-wohner/innen und Beobachter/innen von Umweltkonflikten, in nicht staat-lichen Berichten über Menschenrechtsverletzungen, von kritischen Wis-senschaftler/innen, Vertreter/innen der Vereinten Nationen oder Rechts-anwält/innen. Auch kanadische Parlamentsausschüsse beschäftigten sich mit Vorwürfen gegenüber kanadischen Bergbauunternehmen und ihrer Tätigkeit in „Entwicklungsländern.” Ungeachtet dieser Stimmen, veröf-fentlichte der ICMM als Beweis für seine „Vertrauenswürdigkeit” die „Good Practice Guidance for Mining and Biodiversity.” (ICMM 2006: s.p.) In diesem pseudo-wissenschaftlichen Verhaltenskodex wird der be-ständige Charakter des hegemonialen Diskurses deutlich. Das Handbuch zeigt, wie Schäden für Menschen und Umwelt, die untrennbar mit der Durchführung von Bergbauprojekten im großen Stil verbunden sind, sys-tematisch negiert werden. Gleichzeitig kann der Kodex als Beweis für die Kooptation einer kritischen Masse von Wissenschaftler/innen in die mega-minería gelesen werden. Die Einbindung dieser Wissenschaftler/innen macht es möglich, den Kodex als „Innovation in Forschung und Technik” zu präsentieren. Dieser Prozess besteht seit den 1990er Jahren fort, als Geolog/innen und Bergbau- Ingenieur/innen mit ihrem Expert/innen-

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wissen die Lagerstätten prospektiert [erforscht] hatten, für deren Ausbeu-tung die Bergbauunternehmen anschließend auf der Grundlage neuer regu-lativer Rahmen weltweit die Konzessionen erwarben.

Im seinem Bericht zu Südamerika räumt der ICMM ein, dass es nicht das Ziel des zweijährigen, insgesamt mit acht Millionen Dollar geförder-ten Workshops war, zu diskutieren, ob Bergbau nachhaltig sei oder nicht. Ebenso wenig sollte die Nachhaltigkeit der einzelnen Bergbauaktivitäten erörtert werden. Es war vielmehr angedacht, ausgehend von der sozioöko-nomischen Situation der südamerikanischen Staaten die Frage zu diskutie-ren, wie Bergbau zukünftig nachhaltig für die Gesellschaft gestaltet wer-den könne. Unter den Expert/innen, die der MMSD für Südamerika ver-sammelte, findet sich Daniel Meilán. Meilán war während der Präsident-schaft Carlos Menems (1989-1999) als Staatssekretär für nationalen Berg-bau in Argentinien tätig. Nach Aussagen des Berichtes zeichnet Meilán sich verantwortlich für den „Wandel” der bis heute gültigen Gesetzgebung im Bergbausektor Argentiniens während der 1990er Jahre. Ebenso gehört Eduardo Chaparro – seinerseits Mitglied des Bereiches „Natürliche Res-sourcen und Infrastruktur” in der Comisión Económica para América La-tina y el Caribe (CEPAL) – dieser Gruppe an. Chaparro präsentiert sich als erklärter Verteidiger, Lobbyist und Vertreter der Bergbauunternehmen und setzt sich auf diesem Weg für die „Entwicklung” der Region ein.18 Die CEPAL ist einer der großen Förderer von Projekten zur technischen und wissenschaftlichen Innovation im Bergbau, die eine Ausweitung der mega-minería garantieren sollen. In diesem Kontext ist die CEPAL auch in die regionalen Anstrengungen zu Kontrolle der Konflikte im Kontext des Bergbaus eingebunden.

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18 Der Bericht trägt den Titel „Minería, Minerales Desarrollo Sustentable en A-mérica del Sur” und wird unter anderem herausgegeben vom Centro de Inves-tigación y Planificación del Medio Ambiente (CIPMA), dem Centro Internacio-nal de Investigaciones para el Desarrollo (IDRC) und der Iniciativa de Investiga-ción sobre Políticas Mineras (IIPM). Die Arbeit wurde zusammen mit dem World Business Council for Sustainable Development (WBCS) mit Sitz in Genf in der Schweiz und dem International Institute for Environment and Develop-ment (IIED) mit Sitz in London und Großbritannien sowie der Institución cofi-nanciadora en la Región, Secretaria de Minas y Metalurgia del Ministério de Minas y Energia de Brasil erstellt.

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Der Diskurs und die Sprache des Übergangs: Die semiotische Macht des Kapitals in den lokalen Politiken

Gegen Ende der 1990er Jahre, als der MMSD und „assoziierte” Einrich-tungen begannen, die Bedeutungszuschreibung für die Begriffe „Verant-wortungsvoller Bergbau” und „Nachhaltige Entwicklung” zu kontrollie-ren, waren die Minen La Alumbrera in der Provinz Catamarca im Nordos-ten Argentiniens und Cerro Vanguardia in der Provinz Santa Cruz im Sü-den des Landes bereits in Betrieb. La Alumbrera wurde mehrheitlich durch das transnationale Unternehmen Xstrata Inc. Corp betrieben, das auch bereits in Peru die Umwelt zerstörte. Cerro Vanguardia wurde durch das in Verruf geratene südafrikanische Unternehmen Anglo Gold Ashanti ausgebeutet (Taddei/Seoane/Algranati 2011). Beide Firmen profitierten von den Gesetzespaketen des argentinischen Staates, der in dieser Dekade den Bergbau unter der widersinnigen Prämisse einer „Produktivitätsrevo-lution und Modernisierung” massiv förderte. Diese fügte sich in die popu-listische Rhetorik der Regierung Carlos Menems (1989-1999) ein, die im Verlauf eines Jahrzehnts das im weltweiten Vergleich seinerzeit schnellste und umfangreichste Privatisierungsprogramm umsetze (Nun 1995). In den zwei genannten Provinzen erfuhr der argentinische Bergbau eine Neuaus-richtung, welche die traditionelle Beziehung von Souveränität und Territo-rium in eine Krise stürzte. Wie sich später zeigte, wurden im Zuge dieses Prozesses auch die sogenannten „strategischen Ressourcen”, wie etwa die Wasser-Reservoirs der Andenkordillere, die Uran- und Lithiumvorkom-men und ihre Sicherung im Zuge des „Energie-Booms”, neu geordnet.

Die Art und Weise, wie die mega-minería in Argentinien staatlich ge-fördert wurde, unterscheidet sich dabei in einem Aspekt grundlegend von anderen Staaten: Der argentinische Staat weigerte sich, selbst bei der Ex-ploration/Erschließung und der Ausbeutung der Bodenschätze auf seinem Gebiet aktiv zu werden. Bei dieser Weigerung handelt es sich um einen per Gesetz verordneten staatlichen Verzicht auf Souveränität. Argentinien trat damit während der 1990er Jahre in einen Wettstreit mit Peru um den ersten Platz im Ranking der bereits erwähnten sogenannten Magnet-Länder für ausländische Direktinvestitionen in der Region.

Vor diesem Hintergrund lässt sich verdeutlichen, dass sich mega-minería nicht mehr primär an den Grenzen der Nationalstaaten orientierte, sondern eine supra-nación [supra-Nation] des Bergbaus entwarf. Damit rekurriert die mega-minería auf ein neues Verständnis von Territorium, das nicht mehr an staatliche Souveränität gebunden ist. Diese supra-nación weist den argentinischen Bürger/innen die Rolle der „Nutznießer” (superficiarios) an den Bodenschätzen zu, die den „Begünstigten” (benefi-

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ciarios) gegenüber stehen, der seinerseits fast ausschließlich durch trans-nationale Unternehmen repräsentiert wird.

An diesem Punkt stellt sich die Frage, wie Politik gedacht werden kann und welche Bedingungen und Lebensumstände entstehen, wenn die Bo-denschätze eines Landes per Gesetz an Unternehmen des Privatsektors abgetreten werden. Was bedeutet es, wenn das Wasser in den Bergrücken, welches der sierra mit ihren Natur-Reservaten und ländlichen indigenen Gemeinden wie auch den Städten im Tiefland Leben verleiht, privatisiert wird? Was bleibt von der Beziehung zwischen Souveränität und Territori-um, von der Idee der Nation, wenn der Staat sich selbst die untergeordnete Rolle des Wächters und Garanten einer Raumordnung zuweist, die ein ge-samtes Land zum „Steinbruch” für die extraktive Industrie macht, von der per Gesetz nur private Unternehmer/innen profitieren? Haben dann viel-leicht die staatlichen Institutionen ihren Anspruch, die Realität im Land zu gestalten, aufgegeben? Und wenn dem so ist, mit welcher Rhetorik und mit welcher Inszenierung versuchen dann Staat und politische Klasse die Beibehaltung ihres derzeitigen Selbstverständnisses als Lotse der Unter-nehmen durchzusetzen?

Die Bauchredekunst des Staates: Das Private durchdringt das Öffentliche

Der Erfolg der mega-minería in der Region und den Nationalstaaten wur-de erst durch Liberalisierung der Regulierung für die ausländischen Direk-tinvestitionen (FDI) möglich gemacht (CIDSE 2009, Bebbigton 2007, Svampa/Antonelli 2009). Die FDI lassen sich als die „heilige Institution” der neoliberalen Regierungen beschreiben, die den Fluss des internationa-len Kapitals durch die Einbindung trans- und multinationaler Einrichtun-gen wie der Weltbank, der Vereinten Nationen, und eines mächtigen Netzwerks von globalen, nationalen, regionalen und lokalen Ak-teur/innenn unter dem Motto „Rechtssicherheit und Privateigentum” kon-solidieren konnten. Eine Begleiterscheinung dieses Prozesses war die „in-direkte Aneignung” von Eigentum, bei der sich nicht zuletzt Bergbauun-ternehmen hervortaten.19 Ebenso profitierten diese von der Institutionali-

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19 Die gesamten Investitionen eines Projektes lassen sich von den auf den Gewinn fälligen Steuern absetzen (hierbei werden etwa die Kostenpunkte für die Lager-stättensuche und -erkundung, Detailstudien, Probegrabungen und Forschung gel-tend gemacht). Neben diesen Steuervergünstigungen lässt sich die Entrichtung der Umsatzsteuer über 12 Monate aufschieben. Außerdem ist die Besteuerung

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sierung internationalen Rechts, auf dessen Grundlage seither über die Inte-ressenkonflikte zwischen Unternehmen, Regierungen und Anwoh-ner/innengemeinden entschieden wird. Hierbei komm das Centro Integral de Arreglo de Diferencias relativas a Inversiones (CIADI) zum Zuge, das als Schiedsgericht bei Rechtsstreitigkeiten aktiv wird. Dieser regulative Rahmen und seine Definitionsmacht über den „Rechtszustand” korres-pondiert mit den sogenannten „Gesetzen der ersten Stunde”.20 Zusammen-fassend lässt sich sagen, dass der pro mega-minería Diskurs – beispiels-weise in Form der CEPAL-Verordnung „Area de Recursos Naturales e Infraestructura”21 – auf die umfassende Privatisierung des Staates zielt.

Mithilfe zweier Begriffe lässt sich dieser Typus des staatlichen Extrak-tivismus im Neoliberalismus der 1990er Jahre greifen: Zum einen der des

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über einen Zeitraum von dreißig Jahren festgeschrieben und kann damit nicht er-höht werden. Die Unternehmen werden von Einfuhrzöllen für Investitionsgüter befreit, können ihre Kosten für die Umweltauflagen absetzten und sind von Re-gelungen im Minensektor sowie Verordnungen zum Arbeitsschutz ausgenom-men. Die vom Staat erhobene Lizenzgebühr für Abbaurechte ist in Argentinien auf 3 Prozent begrenzt. In Chubut liegt sie bei 2 Prozent des Wertes der aus der Mine geförderten Mineralien, etwa 50 Prozent des angenommenen Wertes der förderbaren Mineralien der Mine kann als Gewinn abgeschöpft werden. Dies wirkt sich nicht auf die Besteuerung des Gewinns aus, sondern hebt lediglich die Kreditwürdigkeit des Unternehmens. Eine Auflistung der Vergünstigungen findet sich unter http://www.noalamina.org, letzter Zugriff: 14.11.2014. Siehe ebenso den Bericht „Mito 6. Los beneficios de la minería se quedan en los países donde se extraen los minerales, y las empresas contribuyen con el pago de diferentes impuestos”. In Voces de Alerta (2011: 43-58).

20 Unter den wichtigsten Verordnungen und Gesetzen, die diesbezüglich zwischen 1993 und 2001 in Argentinien verabschiedet wurden, finden sich unter anderem: Ley 24.196 de Inversiones Mineras (April 1993); Ley 24.224 de Reordenamiento Minero (Juni 1993), Ley 24.227 de creación de la Comisión Bicameral de Mi-nería (Juli 1993), Ley 24.228 de ratificación del Acuerdo Federal Minero (Juli 1993), Ley 24.402 Régimen de Financiación e IVA para minería, Ley 24.466 Banco Nacional de Información Geológica (April 1995), Ley 24.498 Actualiza-ción del Código de Minería (Juli 1995), Ley 24.523 Sistema Nacional de Comer-cio Minero (August 1995), Ley 24.585 Impacto Ambiental (November 1995), Tratado de Integración y Complementación Minera Chile–Argentina (Juli 1996), Ley 25.161 Valor Boca Mina (Oktober 1999), Ley 25.429 de Actualización Mi-nera (Mai 2001). Neben diesen Gesetzen wurden auf nationaler wie regionaler Ebene unzählige Verordnungen und Richtlinien erlassen, einschließlich eines Abkommens mit Chile über die Ausbeutung von grenzüberschreitenden Lager-stätten wie etwa des Pascua Lama. Für ein umfassendes Bild siehe Svam-pa/Bottaro/Álvarez (2009).

21 Vgl. http://www.cepal.org/cgi-bin/getProd.asp?xml=/drni/agrupado-res_xml/aes 14. xml&xsl=/agrupadores_xml/agrupa_listado.x, letzter Zugriff: 14.11.2014.

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„meta-regulierenden Staates” (Estado meta-regulador) (vgl. de Sousa Santos 2007) und zum anderen der des „technisch-administrativen Staa-tes” (Estado técnico-administrativo) (vgl. Lewkowicz 2004). Es ist diese Neuausrichtung von Staatlichkeit, die eine Zweiteilung der Rechtsfiguren in „Nutznießer” (superficiario) und „Begüstigte” (beneficiario) an den Bodenschätzen generiert, welche ihrerseits wiederum den regulativen Rahmen setzt. Der Staat weist sich damit selbst die Rolle des reinen Ad-ministrators und Verwalters bei der Abtretung der natürlichen Ressourcen zu, was einer Untergrabung seiner eigenen Souveränität gleichkommt. Im Fall der Mine Pascua Lama nimmt diese Verschiebung dramatische Aus-maße an. Pascua Lama ist das weltweit erste binationale Minenprojekt in dem die beteiligten Staaten – Argentinien und Chile – ihre Souveränität über das Territorium zu Gunsten eines „dritten Staates”, der Barrick Gold, Corp., abgetreten haben. Barrick ist eines der größten Unternehmen in der Goldförderung weltweit und wird mit kanadischem Kapital betrieben.22

Etwa fünf Jahre nach der Verabschiedung der Gesetzespakete zur Libe-ralisierung des Bergbausektors, wurde der zuvor beschriebene sogenannte „Kulturwandel” im Bereich des transnationalen Bergbaus strategisch im-plementiert. Dies ging einher mit der Einrichtung von Organisationen, die eben diesen „Kulturwandel” auf globaler Ebene repräsentieren. Der ge-samte Prozess wurde von internationalen Finanzinvestoren gestützt. In Argentinien führte dieses Szenario der Gesetzgebung 1994 zu einer strate-gischen Verfassungsreform. Diese wies auf der einen Seite die Verantwor-tung für die Bodenschätze den Provinzen zu, was das Zusammenspiel der Bergbauunternehmen mit den lokalen Regierungen und der Justiz verein-fachte. Auf der anderen Seite wies sie der Figur des Konsumenten/der Konsumentin den gleichen juristischen Status wie dem Bürger/der Bürge-rin (ciudadano) zu. Für Lewkovitz (2006) bestand darin die Essenz der Reform der 1990er Jahre. Der Markt sicherte sich damit seinen Platz im Inneren des Nationalstaates selbst, was ohne Umschweife die Auflösung

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22 Das von und für Barrick privatisierte Gebiet befindet sich in einer Gletscherregi-on der Andenkordilleren zwischen Chile und Argentinien. Das binationale Pas-cua Lama Projekt steht am Anfang des Abkommens über Minengeschäfte zwi-schen beiden Ländern, welches in der Zwischenzeit durch ergänzende Artikel erweitert wurde. In seiner jetzigen Form gibt es die Kordilleren für die Ausbeu-tung durch transnationale Bergbauunternehmen frei, was auch die Wasserreser-voirs einschließt, die das andine Ökosystem regulieren und zahlreiche Flüsse speisen.

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staatlicher Prinzipien oder zumindest der Imaginarien von Staatsbürger-schaft und Rechtsstaat impliziert.

Chronotopie der glokalen Szenarien

Die deregulierte mega-minería mit ihren toxischen hydro-chemischen Verfahren befindet sich in Argentinien auf einem immer schnelleren Vormarsch von den Bergrücken der Anden in die tiefer gelegenen Regio-nen des Landes. Wie auch in verschiedenen anderen Regionen Lateiname-rikas und der Karibik zu beobachten ist, wird diese Form des Bergbaus sukzessive auf das ganze Land ausgeweitet.23

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23 Die Zeitschiene wie auch die räumliche Dimension des globalen Expansionspro-zesses der mega-minería weisen Besonderheiten auf, die es zu beachten gilt. Auf der einen Seite muss bezüglich der einzelnen Länder differenziert werden. So un-terschieden sich die Szenarien etwa zwischen Staaten, in denen bereits ein großer Bergbausektor besteht – wie in Chile, Bolivien und Peru, und Staaten, in denen die massive Ausweitung des Bergbaus jüngeren Datums ist und sich konfliktiver gestaltet – wie etwa in Costa Rica, Ekuador und Argentinien. Zu letzterer Gruppe ist seit kurzem auch Uruguay zu zählen, wo der Versuch unternommen wird, das dortige Aratirí Vorkommen auszubeuten. Auf der anderen Seite gibt es – wie et-wa im argentinischen Fall – bezüglich der Chronologie und Kartographie der Ausbreitung der mega-minería in den jeweiligen Provinzen eine Reihe unter-schiedlicher Faktoren und Bedingungen, die den sozialen Widerstand gegen die Minenprojekte beförderten oder behinderten. Ebenso hing die Möglichkeit, die Pläne der Regierung für den Bergbausektor auf die öffentlichen Agenden zu set-zen, von regional sehr diversen Grundvoraussetzungen ab. Für einen diesbezügli-chen Überblick für Argentinien siehe Svampa/Antonelli (2009) und Voces de Alerta (2011). Im Jahr 2010 wird das Szenario in Argentinien durch die enorme Reichweite und Geschwindigkeit der Implementierung des Extraktivismus be-stimmt. Rodríguez Pardo zählt: „[…] 74 Bergbau-Großunternehmen, zum größ-ten Teil britisch und kanadisch, 165 Minenprojekte warten 2010 auf das grüne Licht für die Bewilligung ihrer Erkundung, Erhebung, Konstruktion und Ausbeu-tung. 66 dieser Projekte liegen in Jujuy, Salta, Catamarca und la Rioja, 43 in San Juan, San Luis, Mendoza y Neuquén, und 56 in Santa Cruz, Chubut und Río Negro. Neben diesen Projekten finden tausende Probebohrungen und -grabungen statt, um Mineralienvorkommen in riesigen Gebieten zu prospektieren/erforschen und zu quantifizieren und auf ihre Ausbeutbarkeit zu untersuchen. Hierbei wird nahezu in einem rechtsfreien Raum agiert. Dies lässt erschauern, da es den Be-ginn einer kommenden Verwüstung der Umwelt darstellt. Ausgehend von den bisherigen Berichten über die Auswirkungen dieser Form des Bergbaus auf die Umwelt, können wir damit rechnen, in Mondlandschaften leben zu müssen. Die Auswirkungen wären riesige Gebiete übersät mit hunderten von Kratern von vier Kilometern Durchmesser und 700 Metern Tiefe, die im Fachjargon ‚open pit’ ge-

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Diese seit den 1990er Jahren uneingeschränkte und ungebrochene Vor-herrschaft des Extraktivismus stellt heute einen der klarsten soziopoliti-schen Widersprüche Lateinamerikas und auch Argentiniens dar. Denn der Gründungsmythos und Ausgangspunkt der sogenannten wirtschaftspoliti-schen „Rückausrichtung auf die Primärgüter” (fundación de la reprimari-zación), in den sich auch die mega-minería einschreibt, ist weiterhin wirkmächtig. In Argentinien stellt sie seit 2004 per Dekret Néstor Kirch-ners (2003-2007) gar erklärte Staatspolitik dar. Die Regierungen Nestor Kirchners und später Cristina Fernández de Kirchners haben, obwohl sie zur „Neuen Linken” in Lateinamerika gerechnet werden, unter dem Motto des „öffentlichem Interesses” eine klar am extraktivistischen Modell ori-entierte Politik verfolgt. So wird die staatsrechtliche Leitlinie vorgegeben, den öffentlichen Verwaltungsapparat in den Dienst der transnationalen Bergbauunternehmen zu stellen und eine dem Bergbau zuträgliche Rechtssituation zu schaffen. Im Endeffekt handelt es sich dabei auf der Ebene der nationalen Politik um die Legalisierung eines produktiven Mo-dells – juristisch, wissenschaftlich-technisch, wie soziokulturell – das von den in den 1990er Jahren implementierten Normen ausgeht. Somit wird die definitive Implementierung und Sichtbarmachung der mega-minería als zentrales Wirtschaftsprofil eines Landes angestrebt, das auf keine nen-nenswerte Bergbaugeschichte und -Identität zurückblicken kann.

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nannt werden. [...]” Siehe Rodríguez Pardo „Un año de conflictos mineros”, Crítica, 4 Februar, zitiert nach Antonelli (2010, 59). Um einen Eindruck zu gewinnen, sei auf den Geologen Dr. Carlos Seara hinge-wiesen, der davon ausgeht, dass sich die durchschnittliche Höhe der argentini-schen Andenkordilleren um 500 Meter absenkt, würden die bis ins Jahr 2009 vom Bergbauministerium bewilligten Minenprojekte in die Tat umgesetzt. Als die Präsidentin Fernández de Kirchner ihr Veto gegen das von beiden Parla-mentskammern angenommene Gesetz zum Gletscherschutz einlegte, trat das Thema mega-minería in Medien und Politik in den Fokus der Öffentlichkeit. Die Entscheidung Kirchners wurde als „Veto Barrick” bekannt und auf den durch das kanadische Bergbauunternehmen Barrick Gold ausgeübten politischen Druck zu-rückgeführt. Barrick betreibt in Gletscherzonen der Andenkordilleren die Mine Veladero und ist in das dort geplante Projekt Pascua Lama eingebunden. Die Lobbyarbeit des Unternehmens wurde im Bereich der nationalen Exekutive durch den Gouverneur der Provinz San Juan, in der beide Projekte liegen, unter-stützt und verstärkt. Dabei muss erwähnt werden, dass Gouverneur José Luis Gioja und seine beiden Brüder während der Präsidentschaft Carlos Menems (1989-1999) als Abgeordnete und Mitglieder der Kommission für Bergbau an der Ausarbeitung der heute gültigen Gesetzgebung für den Bergbau beteiligt waren, durch die der Staat seine Souveränität über die kontinentalen und maritimen Bo-denschätze aufgegeben hat (Svampa/Antonelli 2009).

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Das diesbezügliche normative Universum beschränkt sich dabei nicht auf das reine Verabschieden von Rahmengesetzen, sondern schließt auch Urteile zum Schutz der Interessen der Unternehmen in verschiedenen Rechtsstreitigkeiten mit ein.24 In diesem Sinne muss die juristische Di-mension, der eine Schlüsselrolle bei der Implementierung des „Argentini-ens der Minen” zukommt, berücksichtigt werden. Denn sie garantiert nicht nur die bereits etablierten rechtlichen Rahmenbedingungen, sondern for-muliert neue Normen für ihre Anwendung und sichert damit derzeit die Privilegien und Vorteile der mega-minería über die Rechtsprechung ab. Denn Richter wenden Gesetze nicht lediglich eindimensional an, sondern interpretieren diese, und ihre Urteile sind damit Teil einer effektiven Pra-xis der Rechtsprechung (Lyons 1989). Durch seinen restriktiven Charakter stellt das Rechtswesen demnach den langen Arm des Staates für die Deak-tivierung kritischer Diskurse und die Demarkation von Dissidenten in den verschiedenen Rechtsgebieten und Institutionen dar. So können soziale Kontrolle ausgeübt und Nachbarschaft- und Anwohner/inneninitiativen kriminalisiert werden, die gegen die Ausweitung der mega-minería mobi-lisieren. Im Besonderen werden indigene Gemeinschaften unterdrückt, die ihre Territorien verteidigen. Diese repressive Funktion geht einher mit un-durchsichtigen Neuordnungsprozessen im territorialen25 und infrastruktu-rellen Bereich, bei denen sich die Ungereimtheiten bei der Verwendung von Finanzmitteln und der Ausschreibung von Aufträgen häufen. So pro-fitieren hier in erster Linie Firmen aus dem Regierungsumfeld, bestimmte Posten in den anvisierten Budgets sind keiner klaren Funktion zugewiesen und dergleichen. In viele dieser Abläufe ist das Ministerio de Planifica-ción Federal e Inversión Pública involviert, dem unter beiden Regierungen Kirchner der gleiche Minister vorstand.

Auch das Wissenschaftssystem und die Universitäten sind ein Bereich, in dem der Staat in besonderem Maße das Vordringen der transnationalen Bergbauunternehmen ermöglicht hat. Hierfür ist in erster Linie eine drasti-sche Politik der Kommerzialisierung von Wissensbereichen verantwort-

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24 Über das „Gletscher-Gesetz”, die diesbezüglichen Prozesse, Szenarien und Aus-wirkungen auf Regierungshandeln siehe unter anderem „Declaración. Defenda-mos nuestra fábrica de agua. Diez razones para apoyar la ley de glaciares sancio-nada por la Cámara de Diputados” in Voces de Alerta (2011: 162-165).

25 Die derzeitige Strategie zur Einführung der mega-minería in der Provinz Chubut in Patagonien ist die gebietskörperschaftliche Neuordnung nachdem sich die Be-völkerung 2003 in einem Plebiszit mit 81 Prozent Stimmenanteil gegen die Be-willigung von Bergbau-Großprojekten ausgesprochen hatte. Siehe Marín (2009).

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lich, die die soziale Verantwortung, öffentliche Expertise und die Ausrich-tung der Universitäten auf das Gemeinwohl einschränken. Die den Inte-ressen der Unternehmer/innen dienende Marktlogik existiert im Bildungs-bereich seit den 1990er Jahren, ist aber weiterhin und auf verstärktem Druck von Wirtschaftsverbänden hin auf dem Vormarsch (Antonelli 2010). Besonders die Kooptierung von Expert/innen, Techniker/innn und Akademiker/innen durch die mega-minería verdient genauere Betrach-tung. Auf diese Weise soll zum einen die Legitimität von Bergbau-Großprojekten erhöht werden, indem von verbesserter „Risikokontrolle” und den „positiven Auswirkungen auf das ökonomische Wachstum” die Rede ist. Zum anderen stehen besonders die soziale Kontrolle, die Demo-bilisierung von Widerstand und die Unkenntlichmachung von Menschen-rechtsverletzungen im Fokus dieser Politik der Kooptation. Denn mit ihrer Hilfe lässt sich die „Autorität” des an den Interessen der Bergbauunter-nehmen ausgerichteten legislativen Rahmens durchsetzen.

Anhand dieser Beispiele wird deutlich, dass das extraktivistische Mo-dell nicht „das Schicksal Argentiniens” oder gar Lateinamerikas ist, son-dern eine politische Entscheidung. Und über diese politische Weichenstel-lung wurde bisher jegliche kritische Debatte verhindert, die über das dem derzeitigen offiziellen politischen Diskurs innewohnende Credo der „Rückkehr des Staates” nach der „schrecklichen Dekade” des Marktlibera-lismus der 1990er Jahre hinausgeht. Auch wenn zwischen den argentini-schen Regierungen der 1990er und 2000er Jahre keine generelle Kontinui-tät besteht, so muss was die mega-minería betrifft, doch festgestellt wer-den, dass sich ausschließlich der Fortbestand und die Vertiefung der in den 1990er eingeschlagenen Weichenstellung beobachten lässt.

Asymmetrische Konflikte, ungleiche Wahrheiten

In Argentinien entwickelte sich im Zuge der Ausweitung des Extraktivis-mus ein vielfältiges und aktives Feld von Bürgerinitiativen, Expert/innen und Organisationen, die die Folgen und Schäden der mega-minería doku-mentierten. Dabei wurde der Fokus auch auf den in erster Linie transnati-onalen Charakter dieses Wirtschaftssektors gelegt,26 sowie auf die Art und

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26 Derzeit organisieren sich die Großunternehmen im Bergbausektor, welche welt-weit den Raubbau an Bodenschätzen betreiben, in Argentinien in einem Anfang der 1990er Jahre gegründeten Verband mit dem unscheinbaren Namen Cámara

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Weise, wie dieser durch den Nationalstaat und die Provinzen strategisch unterstützt wird.

Dieses Wissen wurde wiederum zu einem schlagkräftigen sozialen Me-chanismus des Widerspruchs gegenüber den hegemonialen Stimmen des Diskurses. Zuerst richtete sich die Kritik gegen die Selbstbezeichnung der transnationalen Großunternehmen als minería („Bergbau”), ist dieser Be-griff in Argentinien doch traditionell mit dem durch kleine und mittlere Unternehmen betriebenen Abbau von Baustoffen (Sand, Kies, Stein etc.) verbunden. Es sollte deutlich gemacht werden, dass die Abbauprozesse der mega-minería stattdessen die Sprengung ganzer Berge und das Aus-waschen des Metalls aus den Gesteinsbrocken mit hochgiftigen chemi-schen Substanzen bedeuten, wodurch sich ganze Berge, Hügel und Hoch-ebenen absenken. Ebenso sollte gezeigt werden, dass dies in einer Dimen-sion betrieben wird, die einen Verbrauch von Süßwasser und Energie nö-tig macht, der den Bedarf der Bevölkerung um ein Vielfaches übersteigt.27

Dieses gigantische Ausmaß des Bergbaus und die dafür notwendigen Technologien und Verfahren generieren weitreichende Folgen für die Ökosysteme, die öffentliche Gesundheitsvorsorge und den Bereich des Kulturerbes. Darüber hinaus wirkt sie sich auch negativ auf die lokale Wirtschaft in den Abbauregionen aus, während auf der anderen Seite gleichzeitig extreme Profite mit endlichen natürlichen Ressourcen erzielt werden. Diese Spielart des Extraktivismus, die des massiven Einsatzes von Natur bedarf, hat besonders in zwei Bereichen drastische Konsequen-zen.28

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Argentina de Empresarios Mineros, was fälschlicherweise auf die bereits zuvor bestehende mittlere und kleinere nationale Bergbauindustrie verweist.

27 Es ist schwer einzuschätzen, wie viel Wasser und Energie von der mega-minería verbraucht werden. Horacio Machado Aráoz von der Universidad Nacional de Catamarca, und Stipendiat der CLACSO, bestätigt, dass Minera Alumbrera – das erste in Argentinien ab 1997 ausgebeutete Goldvorkommen – von der Regional-regierung in Catamarca die Erlaubnis erhielt, bis zu 1200 Liter Wasser pro Se-kunde zu fördern (was in etwa 100 Millionen Liter pro Tag entspricht). Dieses Wasser wird einem natürlichen unterirdischen Speicher in einem Naturschutzge-biet entnommen. Die Mine liegt in einer ariden und semi-ariden Region der An-denkordilleren. Im Jahr 2003 verbrauchte die Mine 764,44 Gigawatt, was 170 Prozent des gesamten Energieverbrauchs der Provinz Catamarca und 87 Prozent der Provinz Tucumán entspricht (Machado 2009: 221-225).

28 Auch wenn dieser Artikel den Fokus auf die erzabbauende mega-minería legt, bleibt zu erwähnen, das gleiches auch für den Abbau von Kalium, Uran und Li-thium zutrifft. Gerade im Bereich der noch jungen Lithiumförderung bleiben Hintergründe und Auswirkungen des Abbaus im Dunkeln.

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Auf der einen Seite hängen diese Folgen mit der irreversiblen Ver-schmutzung des Wassers, des Bodens und der Luft und der unumkehrba-ren Schädigung der Biodiversität zusammen. Diese lassen sich nicht – wie im Diskurs der Unternehmen kolportiert – „beheben” oder „abschwä-chen”. Auf der anderen Seite produzieren die Folgen enorme ökonomische Kosten. Denn hunderttausende Tonnen mit Chemikalien versetztes Ge-stein und offene Tagebau-Bergwerke, die permanent Schadstoffe freiset-zen, stellen in Zukunft ein massives Problem dar. Die damit zusammen-hängenden „Kosten”, nicht zuletzt für das Gesundheitssystem, das die Versorgung der in Folge des Bergbaus erkrankten Menschen garantieren muss, fallen der öffentlichen Hand anheim.29

In diesem Sinne ist die Unumkehrbarkeit dieser Form des Bergbaus der Ausgangspunkt für den sozialen Widerstand und die Wertedebatte, die den Konflikten zugrunde liegt. Zum einen stellt der Extraktivismus ein breit-angelegtes Unterfangen zur Kontrolle von Territorien dar. So strebt die mega-minería zusammen mit anderen extraktiven Wirtschaftsformen wie der Gas- und Ölförderung und den landwirtschaftlichen Monokulturen der Soja-, Palmöl-, und Holzproduktion eine Umgestaltung der Raumordnung in der Region an.30 Diese überschreitet die politischen und geographischen ____________________

29 Der von den Unternehmen etablierte Diskurs folgt dem Anschein nach der Prä-misse: „Derjenige der verschmutzt, muss zahlen.” Dieser Grundsatz wird auch von den staatlichen Funktionär/innen gegenüber Kritiker/innen der mega-minería öffentlich vertreten. Damit ignorieren sie auf zynische Weise das Umweltrecht und seine an der Generationengerechtigkeit orientieren Prinzipien der Vorsicht bei Eingriffen in die Umwelt und der Prävention. Denn die tatsächlichen Auswir-kungen der mega-minería sind nicht zu leugnende Umweltschäden. Als einfaches Beispiel können die derzeit umgesetzten Pläne für den Umgang mit Umwelt-schäden gelten (PASMA, Planes para el Manejo de Pasivos Ambientales). So werden in der gleichen Logik die „Kosten des Bergbaus” durch den Staat „inter-nalisiert”, obwohl die ihnen zugrunde liegenden Schäden als unumkehrbar be-trachtet werden müssen. An fünfter Stelle der Prioritätenliste zum Thema „Ge-sundheit und Kindheit” steht die Behandlung von Kindern mit Bleivergiftung in der Provinz Jujuy im Norden Argentiniens. 81 Prozent der Kinder und Jugendli-chen mit Blei im Blut wurden durch eine Mine in Abra Pampa in dieser Provinz vergiftet. Siehe hierzu den Informe Cátedra UNESCO en Sostenibilidad, Univer-sidad Politécnica de Cataluña, in Antonelli (2010a).

30 In Lateinamerika und der Karibik finden sich 25 Prozent der weltweiten Wald-fläche und 40 Prozent der Biodiversität. Darüber hinaus liegen etwa 30 Prozent der Reserven zum Beispiel an Kupfer und Silber auf dem Kontinent. „Im Boden Lateinamerikas befinden sich 27% der Kohlereserven, 24% der Erdölvorkom-men, 8% des Erdgases und 5% des Urans. Und 35% des weltweiten Potentials zur hydraulischen Energieproduktion liegt in den Flüssen des Kontinents.” Siehe Seoane (2005).

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Grenzen der Nationalstaaten. Die sogenannten „Pläne zur territorialen Neuordnung” stehen somit im Kontext einer auf die Produktion und den Abbau von Primärgütern und damit auf die Ausbeutung der Natur ausge-richteten Wirtschaft. Die „Initiative für eine überregionale Infrastruktur für Südamerika” (Iniciativa para la Integración de la Infraestructura Regi-onal Suramericana, IIRSA) bietet eine neue „Kartographie” des Konti-nents an, an der sich eine Zukunftsvision für zwölf lateinamerikanische Länder ablesen lässt. Diese Zukunftsentwurf wird durch den Rückgriff auf Imaginarien der „lateinamerikanischen Integration”, des „Großen Vater-landes” (patria grande), des Fortschritts, der Entwicklung und der sozia-len Inklusion legitimiert (vgl. Antonelli 2009). Mit der Referenz auf diese Imaginarien wird somit erreicht, die Repräsentationen der kollektiven Zeit zu kontrollieren als Teil der „Govermentalisierung” von Staatsbürger-schaft.

An dieser Stelle kann auf die Rhetoriken dieses Diskurses nicht im De-tail eingegangen werden. Es bleibt aber zu rekapitulieren, dass mit ihrer Hilfe versucht wird, eine Fiktion von kontinentaler Einigkeit herzustellen. Diese stellt die Gegenwart als „Zeit des Übergangs” zu einem allgemeinen und homogenen Fortschritt dar, in dessen Zuge das Wirtschaftswachstum über den sogenannten trickle-down Effekt allen zu Gute komme. Innerhalb dieser Zukunftsvision werden – was nicht weniger beunruhigend ist – re-gionale Asymmetrien negiert. So deutet die Ausweitung der Vorherrschaft Brasiliens in der Region, die sich in der Kontrolle der Rohstoffvorkom-men anderer Länder widerspiegelt, darauf hin, dass von einer gemeinsa-men Identität, Symmetrie und Bruderschaft in Lateinamerika keine Rede sein kann. So lässt sich etwa die Abwesenheit Brasiliens wie auch Chinas im CIADI als Indiz dafür deuten, dass die Rolle Brasiliens in Lateiname-rika den Charakter eines regionalen Imperiums annimmt.

Nach Arias Toledo (2009) bilden die multilateralen Finanzorganisatio-nen Banco Interamericano de Desarrollo (BID), Corporación Andina de Fomento (CAF) und Fondo Financiero para el Desarrollo de la Cuenca del Plata (FONPLATA) zusammen mit den beteiligten Staaten die IIRSA. Die IIRSA wurde, wie aus deren offiziellen Berichten hervorgeht, im Jahr 2000 auf dem Ersten Gipfeltreffen der Präsidenten Lateinamerikas in Bra-silia gegründet. Ausgehend von den auf dem Treffen gefassten Beschlüs-sen wurde ein Arbeitsplan mit dem Titel „Iniciativa para la Integración de la Infraestructura Regional Suramericana. Conceptos básicos y lineamien-tos estratégicos” aufgestellt, der als Referenzrahmen für die Aktivitäten der Organisation dient (Bericht der BID 2003: 1; in Toledo 2009: 110). Wie aus der Webseite der IIRSA hervorgeht, sind folgende Staaten Teil

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der Initiative: Argentinien, Bolivien, Brasilien, Chile, Kolumbien, Ekua-dor, Guyana, Paraguay, Peru, Surinam, Uruguay und Venezuela.

Um nachvollziehen zu können, welchen realen Gehalt der Begriff „La-teinamerika” hinsichtlich der „Inwertsetzung” seiner Räumlichkeit (espa-cialidad commoditizada) hat, ist es nötig, den südamerikanischen Raum, den die IIRSA entlang multinationaler Linien gefasst hat, geographisch zu kontextualisieren. Diese „Linien” werden von der IIRSA „Integrations- und Entwicklungsachsen” (Ejes de Integración y Desarrollo, EID) ge-nannt,31 und implizieren einen weitreichenden und drastischen Umgestal-tungsprozess des Raumes.

Dies schließt auch eine Neuordnung des existierenden physischen Raumes mit ein. Für Mara Rodríguez e Iván Alvarenque (2006) bedingt diese Form der Integration einen tiefgreifenden Verlust von kultureller und biologischer Diversität wie auch die „Emigration und spätere Agglo-meration von Menschen in den großen urbanen Zentren, die Ausweitung von Armenvierteln in denselben und die steigende Ungerechtigkeit in Umweltfragen” (2006: 6). Dies seien

einige der Symptome, die über unsere Form zu leben und zu handeln Auskunft geben. Es besteht kein Zweifel, dass diese Entwicklungen die Folge einer Politik sind, die eine neue Ordnung aufstellt und neue Formen des menschlichen Seins und Zusammenlebens rahmt (2006: 6).

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31 In diese neu gezeichnete Landkarte werden eine Vielzahl von „Achsen” der wirt-schaftlichen Rückausrichtung auf den Primärsektor eingeschrieben: Anden-Achse; Südliche Anden-Achse (vom Norden bis Süden Argentiniens und Chiles); Amazonas-Achse (über Kolumbien, Ekuador, Peru und Brasilien); Steinbock-Achse (entlang der Städte Antofagasta in Chile, Jujuy in Argentinien, Asunción in Paraguay und Porto Alegre in Brasilien); Achse des Guayana-Schildes (über Venezuela, Brasilien, Surinam und Guyana); Achse des Wasserweges von Para-guay-Paraná; Zentrale interozeanische Achse (über Brasilien, Bolivien, Paraguay, Peru und Chile); Mercosur-Achse (Chile); Achse Peru-Brasilien-Bolivien und Südachse (von Talcahuano-Concepción in Chile nach Neuquén-Bahía Blanca in Argentinien). Die einzelnen Achsen wiederum werden in Teilräume je nach Ent-wicklungsstand untergliedert. Danach wird festgelegt, welche Projekte für wel-chen Typus von Teilraum „notwendig” seien. Die Projekte unterteilen sich dabei in sieben sektoriale Integrationsprozesse, die zusammen mit den EIDs verspre-chen, die „Hindernisse für Entwicklung zu beseitigen und die Infrastruktur effi-zient für die Integration der Region einzusetzen.” Alle in den verschiedenen Ach-sen umgesetzten Projekte zielen auf die Umsetzung dieses Programms. In diesem Sinne konstituieren die Ejes de Integración y Desarrollo die neuen Grenzen, wel-che die bis dahin gültigen Limitierungen von nationaler Souveränität und natio-nalem Territorium ersetzen (Toledo 2009, 103-119).

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Diese geopolitische Strategie (Aguilar/Ceceña/Moto 2007) entwirft ein Lateinamerika entlang von Strömen und Kreisläufen inwertgesetzter Natur und zeichnet eine Zukunftsvision für den Kontinent, die diesen zu einem Exporthafen für die schmutzigen Technologien des Nordens macht und damit die Lebensumstände seiner Bewohner/innen in Mitleidenschaft zieht. Sie benötigt auf der lokalen wie nationalen Ebene eine betrügerische politische Rhetorik, mit deren Hilfe die systemische Dimension der ange-strebten Reformen und die mit diesen einhergehende, steigende öffentli-che Verschuldung und weitreichende Einschränkung der territorialen Sou-veränität verschleiert werden können. Der Diskurs der IIRSA wird daher nahezu ausschließlich von Vertreter/innen der involvierten Geldge-ber/innen geführt, welche Informationen über die Initiative zurückhalten. Daher stellt es sich oftmals als äußerst schwierig dar, die Etappen und Projekte der Initiative im Detail zu identifizieren, zu lokalisieren und zu untersuchen. Dieser Umstand kann als Ausdruck für die Kontrolle der öf-fentlichen Information und des Rechtssystems durch die mega-minería und die ihr zuarbeitenden Organisationen gewertet werden – ein für das Modell des Extraktivismus typischer Aspekt.

Um die verschiedenen Phasen der territorialen Intervention der mega-minería zu rechtfertigen, rekurrieren die staatlichen Administrationen und die beteiligten Organisationen regelmäßig auf im kollektiven Gedächtnis der Bevölkerung verankerte Themen, Bilder und Symbole. Sie zielen da-bei auf die soziokulturellen und historischen Imaginarien und Erwartun-gen der Bevölkerung in der von den Arbeiten betroffenen Regionen. So werden die Infrastrukturprojekte etwa von Funktionär/innen verschiedener Gebietskörperschaften rhetorisch als Erfüllung von bisher verwehrten Versprechungen und Träumen dargestellt, etwa der Anbindung von länd-lichen Gebieten an die Stadt, neuen Verbindungslinien zu weit entfernten Zentren, der Revitalisierung und Entwicklung der Gemeinden, etc. Hin-sichtlich der Logik der Macht und aus Sicht der Regierung reicht der Rückgriff auf diese Art von Imaginarien aber nicht aus, um der Mobilisie-rung und dem Widerstand der Bevölkerung gegen geplante Infrastruktur-projekte erfolgreich zu begegnen. Denn diese begehrt, sobald sie der Ausmaße und Nebenfolgen der Baumaßnahmen gewahr wird, auf. Beson-ders bei Staudammprojekten und dem Bau von Überlandstraßen setzt sich die lokale Bevölkerung zur Wehr,32 wobei die diesbezüglichen Rechts-____________________

32 In einigen bedeutenden Fällen sind Staudammprojekte durch den Widerstand der Bevölkerung verhindert worden. Ein Beispiel ist das geplante und dann nicht ge-baute Wasserkraftwerk Belo Monte in Brasilien, dessen Staubecken eine größere

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streitigkeiten und die anschließende Kriminalisierung der Anwohner/innen in vielen Fällen der Region, wie etwa in Chile, Bolivien und Argentinien, sichtbar werden.

Die Vision der IIRSA zur physischen Integration Südamerikas zielt auf die Sicherstellung und Optimierung der Produktivität sowie der Wettbe-werbsfähigkeit der Region auf den internationalen Rohstoffmärkten und im globalen Finanzsystem. Damit stellt sie ein breitangelegtes koloniales Unterfangen dar, gegen das sich in jüngster Vergangenheit eine Vielzahl von Gemeinschaften und Dörfern zur Wehr gesetzt haben und dessen Konfliktpotenzial auf strategische Weise unsichtbar gemacht wird. Dieses Szenario scheint im Hinblick auf derzeitige Regierungen in der Region, die eine hohe Legitimität genießen, paradox. Denn die von eben diesen Regierungen vorangetriebene, extraktivistische Politik bricht sich mit ih-ren „progressiven” Diskursen. So folgt etwa die argentinische Regierung dem Leitsatz nacional y popular – was sich in etwa mit „national und an den Interessen des Volkes orientiert” übersetzen lässt – Evo Morales in Bolivien führt den Diskurs der „Mutter Erde” (Pachamama) und der „Ethnizität der Macht” (etnicidad al poder) und die Regierung Correa in Ekuador setzt auf das Konzept des Buen Vivir (das Gute Leben), das sie als Grundsatz in die nationale Verfassung schreiben ließ (Gudynas 2009, Acosta 2009). Daher gilt es, die Imaginarien der „Emanzipation”, der „In-tegration” und der „Bruderschaft”, die sich in das kollektive Langzeitge-dächtnis und die kulturellen Repräsentationen eingeschrieben haben und den verschiedenartigen aktuellen „Lateinamerikanismen” zugrunde liegen, zu dekonstruieren. Dies bedeutet, die verheißungsvollen Erzählungen ei-ner glücklichen Zukunft zu denaturalisieren, die noch auf den Entwick-lungsmodellen der 1970er Jahre beruhen (Antonelli 2008; 2009). So lässt sich die mega-minería als Faktor kapitalistischer Akkumulation global wie regional sichtbar machen und es kann über Auswege aus diesem Raubtier-Extraktivismus diskutiert werden. ____________________

Ausdehnung als der Panamakanal gehabt hätte und dem mindestens 400.000 Hektar Regenwald zum Opfer gefallen wären. 40.000 indigene und nicht indige-ne Anwohner/innen hätten das Gebiet verlassen müssen und ein Naturraum mit hoher Biodiversität wäre zerstört worden. Die brasilianische Regierung hat den Bau des Staudamms abgebrochen, hat aber ebenso wenig einen Plan zum effekti-veren Einsatz von Energie vorgelegt, der die derzeitige Verschwendung von Strom einschränken könnte. Ein anderes Beispiel ist die endgültige Entscheidung gegen den Bau des Wasserkraftwerks Inambari in Peru. Dieses Staudammprojekt hätte voraussichtlich drei Regionen im Süden Perus betroffen: Cusco, Puno und Madre Dios. Dieser Staudamm war eines der Megaprojekte der IIRSA.

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Der derzeitige Diskurs der „neuen lateinamerikanischen Linken” – ein Sammelbegriff mit dem sich auf die Regierungen Ekuadors, Boliviens, Argentiniens Venezuelas und jetzt Uruguays bezogen wird, die sich ge-genüber dem ungebremsten Neoliberalismus der 1990er Jahre absetzen – beinhaltet eine Reihe von pseudo-argumentativen Komponenten. So re-kurrieren die Regierungen oftmals auf den Begriff der „Produktion” und den dazugehörigen Sprachkomplex, wobei die Zukunft Lateinamerikas als Lieferant des Nordens gesehen wird. Lateinamerika wird dabei etwa als „Hoffnung der entwickelten Welt” dargestellt. Oder aber es wird – ausge-hend von der weit zurückreichenden Idee eines „mestizischen Amerikas” (América mestiza) – die Vorstellung vertreten, dass auf lange Sicht und Dank der angenommenen „Unerschöpflichkeit” des natürlichen Reichtums Lateinamerikas eine „nachholende Entwicklung” umgesetzt werden kön-ne. Letzteres Modell lässt sich in immer stärkerem Maße in Argentinien beobachten. Dieser Gedanke dominierte bereits vor fünfzig Jahren die la-teinamerikanischen Nationalismen und wissenschaftlich-technologischen Entwicklungsmodelle.

Die „Hoffnung auf ein Lateinamerika des Extraktivismus für den Nor-den” wird zum Beispiel von Evo Morales propagiert.33 Die Verteidigung des Entwicklungsgedanken, der zuvor abgelehnt und sich nun wiederum über den Neo-Extraktivismus zu eigen gemacht wurde, dominiert dement-sprechend auch die Diskurse der Union Südamerikanischer Nationen (UNASUR).34 So lässt sich auch die Schärfe der Reaktion von Vertre-____________________

33 Bei der Verleihung des Ehrendoktors der Universidad Nacional de Córdoba an Evo Morales am 11. Juni 2011 hielt dieser eine Rede, in der er die Rolle der me-ga-minería diskutierte. Dabei forderte Morales nicht die Nationalisierung des Bergbaus sondern unterstrich die Notwendigkeit einer „wissenschaftlichen Soli-darität” für das auf Bergbau beruhende Entwicklungsmodell. So könne die mega-minería die interne Entwicklung vorantreiben und gleichzeitig eine Hoffnung für „Europa und den gesamten entwickelten Norden” darstellen. Dabei ging er nicht mit einem Wort auf die sozialen Konflikte, den wachsenden indigenen Wider-stand und die weitreichenden Umweltschäden im Kontext der mega-minería, ein. Die Rede ist auf der Seite der Universidad Nacional de Córdoba zu finden: http://www.unc.edu.ar/seccion/novedades/2011/junio/honoris-causa-a-evomora-les-ayma, letzter Zugriff: 14.11.2014.

34 Die UNASUR beschreibt die eigenen Ziele auf ihrer Webseite folgendermaßen: „Es soll die Entwicklung eines integrierten Raumes in den Bereichen der Politik, der Gesellschaft, der Kultur, der Wirtschaft, des Finanzwesens, der Umwelt und der Infrastruktur angestrebt werden. Dieses Integrationsmodell schließt alle Er-rungenschaften und Fortschritte des Mercosur und der Andengemeinschaft mit ein, wie auch die Erfahrung Chiles, Guyanas und Surinams. Das übergeordnete Ziel ist die Ermöglichung einer gleicheren, harmonischeren und integrativen

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ter/innen der UNASUR einordnen, die im Kontext eines vom Europäi-schen Parlament vorgeschlagenen Gesetztes zum Verbot des Einsatzes von Zyanid im Bergbau im Mai 2010 von einer „europäischen Verschwö-rung” sprachen.35

In Argentinien entstehen derzeit im Kontext dieses Entwicklungspara-digmas legitimierende Lesarten seitens regierungsnaher Intellektueller und Wissenschaftler/innen, die als Wiederaufkommen des sogenannten wis-senschaftlichen desarrollismo36 gewertet werden können. Dieser schließt, wie sich im März 2011 im Zuge der Nuklearkatastrophe von Fukushima erkennen ließ, die Verbindung der argentinischen Wissenschaft mit der nuklearen Energiegewinnung ein. Die Atomkraftwerke des Landes befin-den sich derzeit in erster Linie in der Hand transnationaler Unternehmen und ihrer Tochtergesellschaften. Daneben beinhaltet der argentinische desarrollismo die Vorstellung, dass die technische und wissenschaftliche Fortschrittlichkeit Argentiniens einst der Ruhm des Landes gewesen sei, dann aber verloren gegangen wäre und nun wieder gewonnen werden könne. Dieses Imaginarium orientiert sich am Modell Kanadas und seiner

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Entwicklung Südamerikas.” http://www.msal.gov.ar/observatorio/index.php/com ponent/content/article/77, letzter Zugriff: 14.11.2014. Bezüglich der derzeitigen in erster Linie transnationalen Modelle des Extraktivismus besteht ein weiterer Gegensatz zu den Deklarationen zu einer „Verteidigungsdoktrin für die Region zum Schutz der natürlichen Ressourcen”, die vom Centro de Estudios Est-ratégicos para la Defensa des Consejo de Defensa Suramericano (CDS) aufge-setzt wurde. Dieser sieht die Doktrin als „ein grundsätzliches Werkzeug zur Un-terstützung der UNASUR, unserer Präsidenten und des regionalen Integrations-prozesses”, wie Puricelli erläutert. http://www.ecoportal.net/EcoNoticias/La _Unasur_formula_estrategias_para_proteger_los_recursos_naturales_de_la_region, letzter Zugriff: 14.11.2014.

35 Am 5. Mai 2010 nahm das Europäische Parlament einen Gesetzesantrag (RC-B7-0238/2010) an, auf dessen Grundlage der Bergbau unter Zuhilfenahme von Zya-nid in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union verboten werden sollte. Die Annahme des Gesetzesantrages wurde von einer klaren, alle politischen Lager übergreifenden Mehrheit des Parlaments gefasst (488 Ja-Stimmen zu 48 Nein-Stimmen und 57 Enthaltungen). Diese Resolution wurde im Parlamentsblatt ver-öffentlicht, muss aber, um in ein Gesetzgebungsverfahren einzutreten, von der Europäischen Kommission angenommen und an das Parlament zurück überwie-sen werden. Die Europäische Kommission ihrerseits wies den Antrag ab. Schon im Vorfeld dieser Ablehnung reagierte UNASUR mit dem Vorwurf, Europa würde mit diesem Antrag konspirativ agieren, fördere es doch nach eigener Aus-sage die „Entwicklung” Lateinamerikas.

36 Der Begriff des desarrollismo setzt sich aus desarrollo für Fortschritt und dem Suffix „-ismus” zusammen, lässt sich also in etwa als die Lehre oder Ideologie der Entwicklung verstehen.

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extraktiven Industrien, welches es aus argentinischer Sicht zu studieren, zu verstehen und nachzuahmen gelte. So könnten Wissenschaft und Tech-nik die entscheidenden Faktoren für die notwendige und mögliche Ent-wicklung Argentiniens sein, da sich mit ihrer Hilfe der rohe Reichtum Ar-gentiniens an Bodenschätzen (Antonelli 2010) für eine nationale Entwick-lung instrumentalisieren ließe. Dieses Modell setze seinerseits starke Insti-tutionen – welche der Staat bereithalten müsse – voraus, stieße dabei aber auf breite Zustimmung in der Bevölkerung und wäre letztlich technisch und wissenschaftlich abgesichert. Zu einer kritischen Reflektion dieser Erzählung könnte eine Analyse der Politik und der Strategien Kanadas in Argentinien sowie der Synergien mit den transnationalen Bergbauunter-nehmen im Bereich der Wissenschaft, der Kultur und der Diplomatie bei-tragen (Antonelli, 2011).

Wie Gudynas (2009) herausarbeitet, setzen die Regierungen der Neuen Linken – nachdem sie mit dem radikalen Neoliberalismus der 1990er Jah-re gebrochen haben – derzeit unter anderem im Bereich der Gas- und Öl-förderung und des Bergbaus auf einen extraktivistischen neo desarrol-lismo. Aus einer kritischen regionalen Perspektive schließt diese Phase damit immer noch an den Raubtier-Extraktivismus an, innerhalb dessen eine Vermeidung der hiermit einhergehenden Umweltschäden und eine Lösung der provozierten sozialen Konflikte unmöglich sind. Dieser Um-stand kann auch nicht durch den Übergang dieses Modells in die Hände demokratisch breit legitimierter Regierungen verändert werden.

Vor Jahrzehnten stellte Michel Foucault die These auf, dass die neue Macht, welche das Territorium erfand, gleichzeitig auch die Mechanismen entwarf, dieses für den Souverän des 16. und 17. Jahrhunderts zu kontrol-lieren (vgl. Foucault 1982). Dabei bediente sie sich des Wissens der Kar-tographen, Ingenieure und Geographen, die die biopolitischen Technolo-gien bereithielten und umsetzten. Die Regierungen der 1990er Jahre, wel-che nicht auf die gleiche bereite symbolische Legitimität der derzeitigen Regierungen zurückgreifen konnten, schrieben sich in diese Neu-Kartierung des Territoriums ein. Es bleibt zu analysieren, wie genau sich die Kontinuitäten und Brüche im Bezug auf die derzeitigen Regierungen in den einzelnen Ländern gestalten. Auf diese Weise ließe sich die feti-schisierte Erzählung der 1990er Jahre in Lateinamerika überprüfen.

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Kritische Chrono-Kartographien

Die neue Landkarte des Extraktivismus und der mega-minería37 zeigt ge-radezu überdeutlich die der Rückausrichtung der Wirtschaft auf Primärgü-ter innewohnende Gewalt auf. Diese Gewalt ist Teil des aktuellen Kapita-lismus, der auf dem Abbau von nicht erneuerbaren Ressourcen beruht. Wie Harvey (2004) beschrieben hat, zeichnet dieser sich durch die „Ak-kumulation durch Enteignung” aus und findet in der Rationalität des Technischen und Wissenschaftlichen den Zugang zur materiellen und ökonomischen Dominanz. Dies bedeutet die Technologisierung der fakti-schen Herrschaft über Territorien im Sinne der Logik des Marktes.

Ein großer Teil die Autorität und Legitimität dieses drastischen Prozes-ses der Instrumentalisierung der Natur und der Entfaltung des biopoliti-schen Dispositivs liegt eben genau in dieser Rationalität begründet, die dem Raubbau an der Natur ein langes Leben voraussagt. Denn diese zer-störerische Rationalität beruhigt die öffentliche Meinung und den Ge-meinsinn, indem sie auf Glaubenssätze und Imaginarien rekurriert, die tief in das Erbe der westlichen Modernisierung und die neuen Mythen des Fortschritts eingeschrieben sind und wie Phantome den Diskurs des Kapi-tals bevölkern und durchwandern. 38

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37 Wir schließen uns hier der Definition Gudynas’ an, für den diese Bezeichnung in weitem Sinne für „[...] die Aktivitäten steht, die große Mengen von natürlichen, unverarbeiteten [und begrenzten] Ressourcen bewegen, um diese zu exportieren.” Auch wenn er davon ausgeht, dass derzeit in Lateinamerika ein „neuer Extrakti-vismus” vorherrscht, weist er darauf hin, dass dieser „[...] ein Entwicklungsmo-dell verfolgt, das auf der Aneignung von Natur basiert, welche ein Geflecht von wenig diversifizierten Produktionszweigen antreibt, und stark abhängig von der internationalen Nachfrage nach Rohstoffen ist. Auch wenn der Staat dabei eine zentrale Rolle spielt und über Umverteilung eines Teils der Überschüsse einen höheren Grad an Legitimität herstellt, wiederholen sich doch die negativen Aus-wirkungen dieses Modells auf Natur und Gesellschaft.” (Gudynas, 2009a: 188) (Übersetzung: MB).

38 Zwar befinden sich ein großer Teil der in Lateinamerika aktiven transnationalen Bergbauunternehmen in kanadischer Hand – in Argentinien mehr als 60 Prozent – oder diese haben ihren Sitz in den Vereinigten Staaten, Großbritannien, China und seit Neuerem auch Indien und den Arabischen Emiraten. Europa hat demge-genüber jedoch einen entscheidenden Einfluss auf das globale Finanz- und Ban-kensystem. Die größten Investoren – die die Rentabilität ihrer Investitionen ein-schätzen und voraussagen – waren zwischen 2000 und 2006 in US Dollar: Crédit Suisse mit 14,477 Milliarden, ABN Amro, mit 14,306 Milliarden, die Deutsche Bank mit 13,232 Milliarden, BNP Paribas mit 12,245 Milliarden, Société Générale mit 11,150 Milliarden, die Royal Bank of Scotland (RBS) mit 7,132

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Die mega-minería zeigt damit nicht nur eine monokulturelle Tendenz, sondern nimmt in ihren extremsten Ausdrucksformen einen totalitären Charakter an. Dies zeigt sich in Peru, wo die Aktivitäten des Unterneh-mens Xstrata, des Mehrheitseigners der Mine Bajo La Alumbrera,39 die Umwelt derartig verschmutzt und die Gesundheit der Anwohner/innen in einem Ausmaß beeinträchtigt haben, dass drei Städte in dem Abbaugebiet für unbewohnbar erklärt werden mussten. Es entstanden also sozial zu lee-rende Räume, die sich auch als geopferte Territorien beschreiben lassen (Svampa 2008) und deren Bewohner/innen per Gesetz umgesiedelt wur-den (Antonelli 2010). Territorium und Territorialität stehen damit im Zentrum der Konflikte und bilden die Grundlage für die anhängenden Rechtsstreitigkeiten (Zibechi 2003; Galafassi 2008; Svampa 2008). Daher kann die Ausweitung der Großprojekte zur Förderung von Metallen als ein paradigmatisches Beispiel für die Friktion von Territorialitäten verstanden werden (Svampa 2008; Galafassi 2008), wobei transnationale Unterneh-men und Regierungen eine binäre Konzeption des Territoriums propagie-ren, die zwischen den Dimensionen „rentabel” und „unrentabel” unter-scheidet. Diese Konzeption mündet in zwei zentrale Ideen: Auf der einen Seite wird ein leistungsfähiges Territorium gesetzt; auf der anderen Seite wird ein ausschöpfbares Territorium konzipiert, das in letzter Instanz zu einem verzicht- oder opferbaren Territorium wird (Svampa 2008). Diese binäre Konzeption begleitet die derzeitigen Prozesse der „Gebietsauftei-lung”/„Zonierung” (zonificación).

Wie Svampa feststellt, liegen die Expansion des extraktivistischen Mo-dells und die Ausweitung seiner Grenzen den sozialen Kämpfen in Argen-tinien um Land und Territorium zugrunde. Diese Kämpfe werden von so-zialen Umweltbewegungen geführt, die in der Tradition der Bürgerbewe-gungen stehen, welche sich im Zusammenhang mit der Krise und des Zu-sammenbruchs der Dollarbindung des Peso in den Jahren 2001 und 2002 bildeten.40 ____________________

Milliarden, ING mit 6,454 Milliarden und Dresdner Kleinwort mit 5,331 Milliar-den. Ohne das Kapital dieser Banken würde die mega-minería in ihrer jetzigen Form nicht existieren. Deswegen sind die europäischen Investitionen, auch wenn sie oft im Hintergrund bleiben, für die Folgen und Schäden der mega-minería in unserer Region mit verantwortlich.

39 Für einen detaillierteren Einblick in die sozio-territorialen Transformationen in Catamarca im Zuge des Baus der Mine La Alumbrera, die der erste Tagebau in Peru war, siehe Machado Araoz (2009: 205-228).

40 Juan Alberto Robles (2002) vom Instituto del Mundo del Trabajo geht davon aus, dass sich in den letzten Januartagen 2001 im gesamten Land etwa 174 selbstor-

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Der Protest wurde anschließend durch die lateinamerikanischen Klein-bauern und indigenen Bewegungen potenziert und es entstanden neue Formen der Mobilisierung und Partizipation der Bevölkerung, die für den Schutz der natürlichen Ressourcen, der Biodiversität und der Umwelt ein-tritt. So entwickelt sich in der Region eine wachsende Landschaft von so-zialen Umweltbewegungen (CIDSE 2009) und ganze Landstriche (Zibechi 2003) und territoriale Netzwerke (Svampa 2008) setzen sich gegen die mega-mineriá unter asymmetrischen Bedingungen zur Wehr. In Argenti-nien wurden zwischen 2003 und 2007 in sieben Provinzen (Chubut, Río Negro, Tucumán, Mendoza, La Pampa, Córdoba und San Luis) regionale Gesetze über Verbote und Restriktionen für Bergbau-Großprojekte verab-schiedet. Der soziale Protest war für den Erfolg dieser Gesetzgebungsver-fahren entscheidend. Tatsächlich hat sich in Argentinien mit der Unión de Asambleas Ciudadanas (UAC) im Jahr 2006 eine nationale Instanz zur Koordination der verschiedenen Protestforen gebildet. In der UAC arbei-ten soziale Umweltbewegungen und Bürgerinitiativen aus den verschiede-nen Teilen des Landes wie auch aus Uruguay und Chile mit diversen sozi-alen und territorialen Organisationen, Kunstkollektiven und alternativen Medien (Cerutti/Silva 2011) und lokalen, gegen das Entwicklungsmodell des „Extraktivismus und Exports” (Antonelli 2009, 99) kämpfenden Or-ganisationen zusammen.

Die UAC ist ein Netz der Territorien, ein „Rahmen für Widerstandsge-flechte” und im Zentrum ihrer Aktivität steht der Streit um das Territori-um und das Gemeingut (Cerutti/Silva 2011; Scribano/Schuster 2001: 20). Da die Organisation eine Reaktion auf die „Generalisierung” des extrakti-vistischen Modells ist (Svampa/Bottaro/Álvarez, 2009: 31), finden sich in

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ganisierte Versammlungen (asambleas) bildeten, die Hälfte von diesen in der Hauptstadt Buenos Aires. In diesen Foren waren nach Schätzungen des Autors etwa 50.000 Menschen in unterschiedlichen Graden aktiv. Robles stellt fest, dass die Vitalität der asambleas parallel zum langsamen Rückgang der cacerolazo-Demonstrationen abnahm. Dennoch war es schwer vorstellbar, dass diese Ver-sammlungen verschwinden könnten, ohne Spuren in der Gesellschaft zu hinter-lassen. Im Besonderen, da die asambleas darauf zielten, ihre Beziehungen zu den Nachbarschaften über die Einrichtung thematisch orientierter Kommissionen zu stärken (etwa im Bereich der Kultur, Gesundheit, Presse, etc.). Ebenso setzen sie auf die Etablierung gemeinschaftlicher Aktionen (Arbeits- und Tauschbörsen, Kunstfestivals, Protestaktionen, Nachbarschaftszeitungen, etc.). In den letzten Jahren entstanden so multiple, nicht traditionelle, solidarische und politische Ak-tionsformen (Gemeinderäte, gemeinschaftliche Essenssäle, Solidarunterkünfte und Tauschbörsen etc.).

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ihr mehr als siebzig soziale Umweltbewegungen aus Argentinien wieder,41 die sich im bereits erwähnten Kontext der rund um den Extraktivismus aufkommenden Konflikte im städtischen und ländlichen Raum bildeten.

An den Treffen, Debatten und Aktionen der UAC nehmen auch aktiv Kollektive Teil, die genau wie die Bürgerversammlungen horizontal und selbstbestimmt organisiert sind. Eine Vielzahl dieser Kollektive, wie bei-spielsweise die Red de Acción Ecologista (Renace), Movimiento Cam-pesino de Santiago del Estero (Mocase), Grupo de Reflexión Rural (GRR), Pañuelos en Rebeldía, la Universidad Trashumante, oder Agua Manda nehmen aktiv am UAC teil. Der von allen geteilte Leitspruch ist:

NEIN ZUR AUSPLÜNDERUNG UND VERSCHMUTZUNG – JA ZUM LE-BEN UND ZUR WÜRDE DER MENSCHEN

NO AL SAQUEO Y LA CONTAMINACIÓN, SÍ A LA VIDA Y LA DIGNIDAD DE LOS PUEBLOS

Im Laufe der Jahre wurde diese generelle Leitlinie durch detailliertere Rechtfertigungen für den Widerstand präzisiert (Cerutti/Silva 2011) wobei die Verteidigung des Gemeingutes und die Sicherstellung der Generatio-nengerechtigkeit im Zentrum standen. In ihrer Mehrzahl erhielten die so-zialen und ökologischen Bewegungen im Prozess der „Konstruktion von Territorialität” eine neue Bedeutung und integrierten ein neues Verständ-nis des Konzeptes Territorium, das direkt in den von der mega-minería be-troffenen Gemeinden zum „Lokus des Konfliktes” wird (Svampa 2009: 45). Die Kartographien dieses Widerstandes sind die fleischgewordene Umkehrung, die lebendige Gegenschrift (Antonelli 2010c) des Prozesses der Über-Ökonomisierung der Welt. Sie stellen sich gegen das Muster ei-____________________

41 Im Laufe des Jahres 2003 bildete sich das „Netz der vom Bergbau betroffenen Gemeinden” (Red de Comunidades Afectadas por la Minería – Red CAMA). In dieses Netzwerk setzte sich aus Gruppen aus San Juan und Tucumán zusammen, hatte aber auch Mitglieder aus Catamarca, Chubut und Río Negro. (Svam-pa/Bottaro/Álvarez 2009: 46). 2006 wiederum erhielt der Konflikt über die Loka-lisierung von Zellulosefabriken am Ufer des Río Uruguay die Aufmerksamkeit von Medien und Politik. In diesem Kontext gründete sich die Umweltorganisati-on Asamblea Ambientalista de Gualeguaychú, die den kollektiven und gleichen Zugang zu Wasser auf die Agenda der Proteste setzte und damit zu einer Proble-matisierung der Beziehung zwischen Gesellschaft und Natur im Sinne Foucaults beitrug (Antonelli 2007a). Ebenso gründete sich im selben Jahr ausgehend vom Treffen der Präsidenten der MERCOSUR Staaten in Córdoba im August die Unión de Asambleas Ciudadanas (UAC), deren erstes Treffen in Colonia Caroya als eine Art „Gegengipfel” zum MERCOSUR-Treffen stattfand. Im selben Jahr wurde das Minenprojekt Esquel der Meridian Gold Corp. durch ein Plebiszit mit 81 Prozent Nein-Stimmen abgelehnt (Marín 2009: 181-204).

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ner Produktion und eines Konsums, das eine „in der ökologischen und kulturellen Diversität begründete globale Nachhaltigkeit” unmöglich macht (Leff 2005: 2).

So interagiert die UAC etwa mit Gruppen in Chile, Peru und Uruguay, transnationalen Beobachternetzwerken in Lateinamerika, Aktivist/innen von Menschenrechtsorganisationen aus den Herkunftsländern des Kapitals der mega-minería wie etwa den USA und Kanada, sowie wissenschaftli-chen Einrichtungen, etc. Das Akteursfeld, welches Antonelli als Comun-idades del No beschreibt, zeichnet sich also durch große Heterogenität aus (Antonelli 2008; 2009). Der gemeinsame Nenner der diversen Ak-teur/innen ist ihre geteilte Ablehnung der mega-minería. Die Comunid-ades del No schließen also die sozialen und ökologischen Bewegungen und ihre regionalen Vernetzungen wie auch die Akteur/innen mit ein, die nicht im strengeren Sinn Teil einer speziellen sozialen Bewegung sind. Denn all diese Akteur/innen teilen die gleichen ethischen Werte und epis-temischen Positionen und stehen für eine Sensibilisierung der Bevölke-rung hinsichtlich der Gefahren der mega-minería ein. Sie führen in ihren jeweiligen Bereichen Aktionen zur Etablierung eines kritischen Diskurses gegenüber dem Raubtier-Extraktivis-mus durch. An diesem Prozess sind Expert/innen, Akademiker/innen, Journalist/innen, Künstler/innen und an-dere beteiligt (Antonelli 2009). So greift das Konzept der Comunidades del No über eine territoriale Abgrenzung der jeweiligen Bewegungen hin-aus und bezieht die dritten Akteur/innen – unter denen den Kulturschaf-fenden eine besondere Bedeutung zukommt – als zentrale Komponente mit ein (Antonelli 2011).

Auf diese Weise lässt sich der soziale Widerstand als eingebettet in das kulturelle Gemeingut kartographieren, und es kann in den Blick genom-men werden, wie sich beide gegenseitig beeinflussen. Das Wirken von Künstler/innen spielt dabei eine wichtige Rolle, denn diese tragen ent-scheidend zu der Gestaltung einer einfachen Sprache und wirkmächtigen Zeichen des Widerstandes bei. Die Analyse der sozio-ökologischen Be-wegungen und Versammlungen in Argentinien macht diesbezüglich sicht-bar, wie unabhängige Kulturschaffende und Dokumentarfilmende, Thea-tergruppen, Bildungsinitiativen, Grafiker/innen und visuelle Künstler/in-nen, Kommunikator/innen, Musiker/innen und Hochschulgruppen im Wi-derstand gegen die mega-minería mitwirken. Diese Akteur/innen steuern den kulturellen Kit zu einem semi-politischen Horizont bei. Sie entwi-ckeln eine Sprache, die hilft, die ökologischen und sozialen Probleme zu kommunizieren und den Widerstand zu legitimieren und auszuweiten. Dies geschieht ausgehend von einem Verständnis der Wertepluralität über informative, visuelle, kinematographische und andere Diskurse in denen

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soziale und ökologische Rechte eingefordert werden. Dabei werden die Forderungen gegenüber der Öffentlichkeit, der Politik, den Universitäten und den Medien artikuliert.

Die Forschung zu Sozialräumen (socio-spatial studies) bietet einen ana-lytischen Zugang zu diesen kollektiven Praktiken und Findungsprozessen einer kommunikativen Ästhetik. Denn ihr Ansatz erlaubt es, die Macht des Raumes und die Räume der Macht über die Disziplinen und Sprachen hinweg in den Blick zu nehmen, von der Geographie bis zur Literatur und Kunst. Dabei wird den biopolitischen Prozessen besondere Relevanz zu-gemessen, wie etwa der Subjektivierung, die das hegemoniale Dispositiv generiert. Auf dem Weg zu einer breiten gesellschaftlichen Problematisie-rung der derzeitigen Konflikte sind eine breite und vielschichtige öffentli-che Zirkulation der Thematik und die verschränkten Aktionen von nicht an das Territorium des Protests gebundenen dritten Akteur/innenn – wie Expert/innen, Akademiker/innen, Journalist/innen, Priester/innen etc. –zentral.42

Es geht darum, die Stimmen der Anwohner/innen und Bürger/innen – ihre Erzählungen, Aussagen und Beweise – sichtbar und hörbar zu ma-chen. So lassen sich das kritische Feld und seine Argumente in der öffent-liche Agenda stärken und vor allem kann so zur Konsolidierung von Zu-kunftsentwürfen beigetragen werden, die sich gegen die Ratio des Extrak-tivismus und die technokratischen Märkte stellen und einen Horizont der Wertepluralität entwerfen. Aus dem Spanischen von Martin Breuer ____________________

42 Foucault hat den Begriff der „Problematisierung des Sozialen” als Kategorie ein-geführt, die sich auf das Aufkommen oder den Durchbruch einer sozialen Prob-lematik in einem Netz von Diskursen und Institutionen bezieht. Es geht also um das „in den Diskurs setzen” dieser Problematik, indem sie in bestimmten sozialen Räumen zirkuliert und Eingang in die Beziehungen der Macht findet, um in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden zu können (Foucault 1990b). Die dritten Akteur/innen, die den Raum der sozialen und ökologischen Bewegungen erwei-tern, sind entscheidend, um eine Umkehrung der Asymmetrie zwischen Subjek-ten und sozialen Diskursen erreichen zu können. Sie sind entscheidend dafür, dass die sozialen und ökologischen Auswirkungen der mega-minería in einen Prozess der „sozialen Problematisierung” eintreten können, indem sie Stimmen und Narrative der Bevölkerung autorisieren und den von der mega-minería koop-tierten Experte/innen und Institutionen ihre Legitimität streitig machen.

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Sozialordnung und Beziehung zur Natur: Widersprüche zwischen Territorialität und Staatskapital am Beispiel Boliviens, oder die Rekonfiguration der ursprünglichen Form Luis Tapia

Ich möchte mit einer allgemeinen Betrachtung der Dimension der natürli-chen Ressourcen beginnen, auf der Ebene des sogenannten konstitutiven Moments. Ich betrachte diejenige geopolitische Dimension als erstrangig, welche sich auf die Produktion der sozialen Ordnung bezieht, das heißt darauf, wie die sozialen Beziehungen oder eine Form des Soziallebens hervorgebracht werden durch die Art und Weise, in der sich die Menschen auf die Natur beziehen und diese verändern. In diesem Sinn gibt es eine soziale Produktion von Raum und eine starke Beziehung zwischen dieser Art der Beziehung zur Natur und der Form der existierenden sozialen Ordnung.

Ich werde einen Ansatz benutzen, den der Bolivianer René Zavaleta vorgeschlagen hat, um die Beziehungen zwischen der Sozialordnung und der Beziehung zur Natur – oder der Produktion und Reproduktion der so-zialen Ordnung und der Transformation von und Beziehung zu der Natur – zusammen zu denken. Dabei handelt es sich um eine Erweiterung in Be-zug auf den ursprünglichen Inhalt, bei dem es um die Beziehungen zwi-schen Staat und Zivilgesellschaft geht oder darum, wie sich in jedem his-torischen Prozess diese Beziehungen etablieren und wie sie sich verän-dern. Eine zweite nützliche Erweiterung für die Betrachtungen, die ich hier vornehmen möchte, liegt darin, diesen Ansatz zu nutzen, um über die Art und Weise nachzudenken, auf die sich die verschiedenen Gesell-schaftsformen auf einem Gebiet, im gleichen Land, aufeinander beziehen, das heißt, unter multigesellschaftlichen Bedingungen wie in Bolivien.

Die Vorstellung von Naturressourcen macht dann Sinn, wenn mindes-tens zwei Dinge zusammenkommen: Erstens, wenn ein Übergang stattfin-det von einem zyklischen Zeitkonzept (, welches im allgemeinen agrari-schen Kulturen zu eigen ist, die sich den Jahreszeiten der Natur folgend organisieren) zu einer historisch nach vorne schnellenden Zeit (wie sie die Einführung der Industrie vorangetrieben hat). Diese trennt tendenziell die Rhythmen der sozialen Produktion von der Reproduktion nach den Jah-reszeiten der Natur, obwohl sie niemals aufhören kann, damit verbunden zu sein. Das hat mit dem Aufkommen und der Implementierung des Kapi-

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talismus an seinen Ursprungsorten zu tun und mit seinen weltweiten Aus-dehnungsprozessen durch den Kolonialismus und den Imperialismus.

Der andere Faktor, den ich aufzeigen möchte, hängt damit zusammen, dass die Vorstellung von Naturressourcen eng verknüpft ist mit einer geo-politischen Aufteilung. Diese vollzieht sich sowohl innerhalb jedes Lan-des als auch in der Konfiguration eines Weltsystems. Durch dieses Welt-system gibt es Ökonomien, die zu Primär-Exporteuren werden und andere, die zu industriellen Ökonomien werden. Die industriellen Länder absor-bieren die Naturressourcen derjenigen Regionen, die Ökonomien und Länder hervorbringen, die sich wiederum in Peripherien des Weltsystems verwandeln. In diesem Sinn ist die Vorstellung von Naturressourcen stark verbunden mit einer geopolitischen Konfiguration der Welt, die sich um einige Zentren intensiver Industrialisierung herum organisiert, wo sich der Mehrwert auf weltweiter Ebene konzentriert und einem breiten Rand von Peripherien, die mehrheitlich aus Primärgüter-exportierenden Ökonomien bestehen.

Bolivien ist seit der Kolonialzeit ins Weltsystem als Exporteur von Mi-neralien und später von Naturressourcen wie fossilen Brennstoffen einge-gliedert. Dies ist seit der Gründung der Republik beibehalten worden, und hat bedeutet, dass der im Land produzierte Reichtum oder Überschuss zu-rückgehalten worden ist, um ihn in die politische und soziale Konstruktion und die interne ökonomische Diversifikation zu investieren. Dies blieb so bis zur Revolution von 1952, durch die die erste große Verstaatlichung im Land erfolgte. Darauf folgte das Abschöpfen des Überschusses, welche die Finanzierung der Konstruktion der Spanne des Nationalstaates erlaubt, ebenso wie den Aufbau von Institutionen, die auf die Anerkennung von vor allem politischen und sozialen Rechten reagieren.

Die Verstaatlichung des Bergbaus war begleitet von der Errichtung ei-niger neuer Produktionsstätten, vor allem für Lebensmittel oder verbunden mit der agrarischen Entwicklung. All diese Betriebe wurden in neolibera-len Zeiten privatisiert oder geschlossen. Man könnte den Neoliberalismus als eine Strategie der Zerschlagung der primordialen Form sehen, in Zei-ten der Verstaatlichung oder der Konstruktion des Nationalstaates auf der Grundlage des verstaatlichten Überschusses und der Kontrolle über die Naturressourcen durch eine Schwächung der Autonomie des Nationalstaa-tes. Auf dem Wege der Privatisierung verfestigt sich die Kontrolle der dy-namischsten Kernbereiche der Ökonomie, in deren Zentrum weiterhin die Förderung von Naturressourcen steht.

In gewissem Sinne impliziert die Privatisierung die Spaltung des Lan-des und die Tendenz zur sozialen Desintegration. Man kann sehen, dass die Komponente der Verstaatlichung, die Teil des politischen Projekts und

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die am meisten konsensfähige Komponente im Kreise der politischen Mo-bilisierung ist, die sich in Bolivien seit dem Jahr 2000 entfalten, auf einen Wiederaufbau des Nationalstaates ausgerichtet ist. Dadurch sollte die Kontrolle über die Ausbeutung der Naturressourcen wiedererlangt werden, welche als Möglichkeitsbedingung der Finanzierung irgendeines Grades an politischer Autonomie gedacht wird, zu der die Landreform gehört. In letzter Zeit kreuzt sie sich darüber hinaus mit der Forderung der Anerken-nung von Multikulturalität oder der existierenden kulturellen Diversität, welche die Idee eines plurinationalen Staates mit sich bringt. In diesem Sinne generiert sich nach der Krise, die diese Mobilisierung produziert und in die konstituierende Versammlung getragen hat, eine Konjunktur da diese Versammlung zur Hauptaufgabe hatte, die Verstaatlichung zu kon-solidieren und, andererseits, einen plurinationalen Staat zu entwerfen.

Ich beschränke mich auf die Analyse von denjenigen Facetten, die in direkterer Weise mit dem Thema Naturressourcen und dem Entwick-lungsmodell zu tun haben. Eine der Hauptfacetten des aktuellen Verstaat-lichungsprozesses ist die Ausweitung des Kontrollbereichs über den Pro-zess des Abbaus von Naturressourcen auf der Ebene des Eigentums. Der Staat ist zum Mehrheitsaktionär der Unternehmen für fossile Brennstoffe geworden und hat folglich begonnen, die Kommerzialisierungsprozesse zu kontrollieren. Er hat begonnen, einige Unternehmen zu gründen, die für die Industrie der fossilen Brennstoffe Input generieren, aber zum Großteil bleibt der Arbeits- und Naturressourcenabbauprozess weiterhin Sache der transnationalen Unternehmen, die Partner des Staates geblieben sind. Die Veränderung hat sich hauptsächlich auf der Ebene des Eigentums und der Machtkorrelation oder dem Grad der Kontrolle ereignet, welche der Staat und die transnationalen Unternehmen haben, die ihre Verträge neu ver-handelt haben und im Land bleiben.

Die politische Autonomie der neuen Regierung oder der MAS-Regierung1 und einige Reformen, die sie durchgeführt hat, sind über den Überschuss finanziert, welcher durch die Reformen vergrößert wurde. Dies hat die teilweise Verstaatlichung der fossilen Brennstoffindustrie be-deutet, die viel bescheidener ist als die, die 1952 durchgeführt worden war, als der Staat die totale Kontrolle über die Prozesse übernahm. Der Staat befindet sich in einem langsamen und gewundenen Prozess des

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1 MAS: Movimiento al Socialismo (más bedeutet auf Spanisch „mehr”) ist der Name einer linksgerichteten Sammelbewegung in Bolivien. Sie stellt mit Evo Morales seit Ende 2005 den Präsidenten von Bolivien. Anm. d. Übers.

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Wiederaufbaus von Yacimientos Petrolíferos Fiscales Bolivianos.2 In je-dem Fall erleben wir heute eine teilweise Wiederaufnahme des Verstaatli-chungsprozesses von 1952. Es wurde nicht an Alternativen zur Reform der ökonomischen Struktur des Landes gearbeitet. Auf diese Weise ver-schiebt sich das Gewicht weg von den fossilen Brennstoffen. Es werden eher Bedingungen entstehen, den anderen kulturellen Formen, die in der neuen Verfassung anerkannt werden, größeres Gewicht zu verleihen. Ich gehe nun dazu über, diese Differenzen aufzuzeigen, sowie einige Wider-sprüche.

Der Vereinigungsprozess von über 30 Gemeinschaften, die historisch das Gebiet bewohnen, das wir in Bolivien Tiefland nennen, löste eine breite Mobilisierung aus. Eine ihrer Hauptforderungen seit den 1990er Jahren ist die Anerkennung ihrer Territorialität. Territorialität impliziert die Gesamtheit der Artikulation ihrer Kultur, ihres Gedächtnisses, ihrer Sprache, ihrer Arbeits- und sozialen Reproduktionsformen sowie auch ih-rer Autoritätsstrukturen. Unter der Vorstellung von Territorialität bean-spruchen sie für sich so etwas wie soziale Totalität, oder Formen der (gleichzeitigen) Artikulation einer Kultur und einer sozialen Ordnung mit dem Raum. Bei diesen zurückgeforderten Formen von Territorialität ist nicht das Privateigentum Organisationsprinzip, sondern vielmehr die kol-lektive Position desselben. Die neue Verfassung und das neue Rechtspa-ket, welches die Regierung in einer zweiten legislativen Phase verabschie-det hat – oder in der ersten des neuen Legislativorgans – erkennt einerseits den Artikel 2 zur Territorialität der diversen, im Land existierenden Kultu-ren an. Weiter untenstehend werden jedoch die Entscheidungen über den Untergrund/Boden [subsuelo] nicht anerkannt oder über die Naturressour-cen, die der exekutiven Macht zugewiesen bleiben. Es wurde ausführlich die Notwendigkeit einer verpflichtenden Anhörung diskutiert, um Ent-scheidungen hinsichtlich der Ausbeutung der indigenen Territorien zu treffen. Sie wurde weder in die Verfassung noch in die neue Gesetzgebung aufgenommen. Es wird von Anhörung gesprochen, aber sie ist nicht ver-pflichtend und es gibt auch keine Möglichkeit des Vetos, was meiner Meinung nach notwendig wäre. In diesem Sinne ist es eine partielle Aner-

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2 Yacimientos Petrolíferos Fiscales Bolivianos (YPFB) ist ein staatliches Erdöl- und Erdgasunternehmen Boliviens. YPFB wurde 1936 gegründet, während der Präsidentschaft von Gonzalo Sánchez de Lozada privatisiert und nach der Wahl von Evo Morales neu gegründet, um die Gewinne aus der Erdöl- und Erdgas-Förderung für die Steigerung der Staatseinnahmen zu verwenden und Sozialpro-gramme zu finanzieren. Anm. d Übers.

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kennung der Territorialität und es werden bereits die ersten großen Wider-sprüche sichtbar zwischen der Errichtung eines plurinationalen Staates und dem Weiterbestehen eines Modells der primär exportierenden, extrak-tivistischen Entwicklung.

Zu den zentralen Punkten des Regierungsprogramms zählt deshalb die Entwicklungspolitik, welche die MAS während der letzten Wahlen vorge-stellt hat. Eines ihrer Programme war der Bau von Staudämmen im Ama-zonasgebiet. Dabei folgte sie der Initiative und den Anforderungen der brasilianischen Regierung, welche die Überflutung und Zerstörung indi-gener Territorien impliziert. Deshalb ist sie schon fortgeschritten in der Ausweitung der Öl- und Gasförderung im Norden von La Paz, in Territo-rien wo der Neoliberalismus noch keinen Einzug erhalten hatte. Insofern es Nichteinverständnis und Widerstand von indigenen Organisationen gab, dachte man daran, diese zu trennen, um sie zum Teil über Pfründe einzu-gliedern. Es gibt eine Autobahn, welche einen der Nationalparks im Madidi durchquert, was auch Transformationen und kulturelle Zerstörung der indigenen Gebiete bedeutet. Zu den Arbeiten zählt der Bau von Stra-ßen, Staudämmen und Infrastruktur zur Ölförderung. Sie sind der Kern des Entwicklungsprogramms der Regierung, und sie alle werden die indi-genen Territorien ernsthaft und direkt betreffen, und somit stehen sie im direkten Widerspruch zur Anerkennung der Territorialität. Dies ist eine der Hauptspannungen in der neuen bolivianischen Verfassung, und dar-über hinaus zwischen den Forderungen nach Territorialität der indigenen Gemeinschaften und der Politik der Regierung.

Die Art und Weise, wie die Regierung die Anerkennung der indigenen Territorialität denkt und praktiziert gleicht eher einer Verminderung der Formen der Selbstverwaltung auf Gemeindeebene, das heißt, dass nicht zentral über Themen wie den Ressourcengebrauch entschieden wird. Tat-sächlich bestand die Regierungslinie direkt vor der Verabschiedung der neuen Verfassung darin, Fristen und Bedingungen so einzurichten, dass nur wenige indigene Gemeinschaften indigene Autonomie reklamieren konnten. Die Regierung hat veranlasst, dass diese zu „indigenen Lokal-verwaltungen” werden sollen.

Vor dem Hintergrund der ökonomischen Struktur des Landes könnte man sich als Ergebnis der Zyklen von Mobilisierung und Kampf die fol-gende Situation vorstellen: einen Verstaatlichungsprozess der die Rück-gewinnung der durch die ansteigende Privatisierung ausgeübte Kontrolle bedeutet, nicht nur von fossilen Brennstoffen und Mineralien sondern auch von Wasser und anderen öffentlichen Gütern. Davon ausgehend soll-te eine Regierung aufgebaut werden, die mehr auf die internen kollektiven Bedürfnisse reagiert als auf die Anforderungen der weltweiten Akkumula-

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tion. Der so zurückeroberte Überschuss sollte dazu dienen, den Übergang zu anderen ökonomischen Strukturen zu finanzieren. Diese gehen einer-seits auf die Form der Territorialität ein, die verfassungsrechtlich aner-kannt war, und berücksichtigt andererseits implizit eine Politik, um öko-nomische Alternativen zur Zerstörung der Umwelt durch die Förderpro-zesse der Naturressourcen und Alternativen des sozialen Zusammenlebens aufzubauen.

Das Maß der begonnenen Verstaatlichung hat auf effektive Weise dazu gedient, den Regierungswechsel zu finanzieren, der ein Wechsel des sozi-alen Blocks zu Lasten der Führung der zentralen Regierung und der eini-ger Regionen des Landes war. Er dient aber nicht für den Wechsel zu ei-ner anderen Form der Wirtschaft oder zur Strukturierung der verschiede-nen wirtschaftlichen Formen, die im Land existieren oder der Schaffung einiger anderer. Die Verfassung spricht auch von der lokalen Wirtschaft. Es geht um die Übersetzung struktureller Heterogenität, aber es gibt dafür keine explizite Strategie. Denn im Kern des Regierungsprogramms stehen große Projekte, welche die Infrastruktur für die Ausweitung der markt-wirtschaftlichen und kapitalistischen Beziehungen im Land schaffen sol-len. In gewissem Sinne übernimmt die MAS die Verwirklichung der Ar-beiten, welche die IRSA3 für den Kontinent erdacht hatte. Das heißt, die Infrastruktur für die nachrangige Wiedereingliederung zu schaffen zu-gunsten der regionalen und weltweiten Akkumulationsprozesse. In diesem Sinne besteht zwischen der Anerkennung der Territorialität derjenigen Kulturen und Gemeinschaften, die keine Unterscheidung zwischen Natur-ressourcen oder kontrollierbarer und ausbeutbarer Natur machen ein Spannungsverhältnis und ein Widerspruch zu einer staatlichen Wirtschaft oder einem Projekt des staatlichen Kapitalismus, das grundsätzlich im Kern die Intensivierung des Extraktivismus verfolgt, vor allem von fossi-len Brennstoffen. Dieses Projekt wird ergänzt durch große Infrastruktur-projekte in Verbindung mit Energieerzeugung und Autobahnbau, die vor-nehmlich mit Industrialisierungsprozessen verbunden sind.

Also bietet es sich an zu berücksichtigen, dass die Industrialisierung Teil der Forderungen oder Klagen gewesen ist, die im Rahmen von Mobi-lisierung gegen das neoliberale Modell stattfanden. Sie gingen von mehre-ren stärkeren arbeiter/innengewerkschaftlichen Zellen aus, von national-popularen Sektoren. Und auch von Seiten der Kräfte der Landarbei-

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3 Die Minengesellschaft Inti Raymi Mining Company S.A. (IRSA), Anm. d. Übers..

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ter/innen (campesinos) und ihrer gewerkschaftlichen Zentrale und der MAS sprach man von Verstaatlichung und Industrialisierung oder von ei-ner auf Industrialisierung gerichteten Verstaatlichung. Jedoch wurde diese Ideen nicht von Vorschlägen dazu begleitet, welche Form die Industriali-sierung in welchen Gebieten haben solle. Die Grundidee war, vom Primär-Exporteur zu einer breiteren, aber modernen ökonomischen Diversifizie-rung überzugehen.

Anhand dieses Themas werden die Widersprüche innerhalb der öffent-lichen Sektoren sichtbar. Es handelt sich nicht nur um eine Linie der Re-gierungsführung. Im Fall von Bolivien war die Verbindung zwischen Ver-staatlichung und Industrialisierung Teil des politischen Projekts der Orga-nisationszentren der Landarbeiter/innen. Aber eine stärkere Verbindung als mit dem Industriellen stellt die Verbindung zwischen den Landarbei-ter/innen und dem Kommerziellen dar. Viele zentrale agrarische Arbeits-bereiche unterliegen Prozessen der Einfügung in eine Ökonomie des Marktes und der Akkumulation, Diese zwingen sie, sich in den kommerzi-ellen und Dienstleistungssektoren auf eine Art und Weise einzufügen, dass vor allem Aymara- und Quechua-Migrant/innen einen guten Teil des Handels kontrollieren, auch im Osten und Süden des Landes. Für diese sind die Handelswege offensichtlich Teil ihres Interesses, insofern es die Ausweitung der Räume bedeutet, in denen sie bedingt durch private Ak-kumulation intervenieren können.

Tatsächlich ist die einheitliche Gewerkschaftszentrale der Campesino-Arbeiter/innen von Bolivien heute von einem starken Widerspruch durch-drungen zwischen den Sektoren, die für eine Verteilung des Landes als Privatbesitz sind und Sektoren, die für kollektives Land oder kollektiven Landbesitz sind. Im allgemeinen entsprechen diese den Kernbereichen der indigenen Versammlungen und den Bündnissen indigener Gemeinschaf-ten, die mit den harten Campesino-Kerngruppen konfrontiert sind. Es gibt einen starken Anti-Indígena-Diskurs in einigen wichtigen gewerkschaftli-chen Campesino-Zellen und auf noch viel schärfere Weise in der Regie-rung, die diese Campesino-Kerngruppen in Zusammenhang mit dem Thema des Landmanagements zugunsten der privaten Landverteilung be-teiligt. Hierbei muss daran erinnert werden, dass die Verfassung die Durchsetzung einer Agrarreform verhindert hat. In jedem Fall erfolgt die Verteilung von staatlichen Ländereien, die zurückgewonnen wurden, weil sie nachweislich auf korrupte Weise angeeignet worden waren. So sehen wir, dass die Regierung sowohl beim Thema Land als auch beim Thema Naturressourcen strenggenommen anti-indigene Politiken entwickelt und dabei mit einigen Campesino-Kerngruppen zusammengeht, die das Ziel der kapitalistischen Modernisierung verfolgen. In diesem Sinne, kann man

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denken, dass sich in Bolivien ein Projekt der Wiederherstellung eines Na-tionalstaates um einen Staatskapitalismus herum anbahnt, wo wirtschaft-lich-staatliche Agenten größte Präsenz und ökonomisches und politisches Gewicht haben: kleine, mittlere und große Unternehmer/innen. In der Tat sind die Regierungsprogramme der MAS von 2005 und 2009 im Grunde Angebote an die unternehmerischen Sektoren.

Ich möchte einige Betrachtungen über die Kontinuität des primär-(Güter)-exportierenden und extraktivistischen4 Modells in Bolivien anstel-len. Einerseits gibt es Aspekte die Teil der gleichen Dynamik der fossilen Brennstoffindustrie sind, die zur Folge haben, dass man Schürfungen vor-nehmen muss, um sich auf dem Markt zu erhalten. Insofern Bolivien keine besonders diversifizierte Ökonomie besitzt und von fossilen Brennstoffen abhängig ist, müssen Schürfungen langfristig weiter durchgeführt werden. Jedoch könnte dies geschehen, indem man die indigenen Gebiete respek-tiert, zumindest diejenigen, die noch nicht von vorherigen Prozessen be-einträchtigt worden sind. Dies geschieht trotz der kulturellen Anerken-nung nicht. Andererseits gibt es stärker politische und partikulare Fragen. Die Macht der Regierungspartei ist unter den gegenwärtigen Bedingungen abhängig von der Entwicklung eines bedeutsamen Grads an National-staatsbildung oder Verstaatlichung des aus fossilen Brennstoffen ent-stammenden Überschusses. Die Steigerung ihrer politischen Macht hängt teilweise von ihrer wirtschaftlichen Macht ab. Auf diese Weise setzt sie auf eine Ausweitung des Abbaus fossiler Brennstoffe, was zu politischer Macht führen soll. Diese bezieht sich vor allem auf die Handhabung wirt-schaftlichen Überschusses. Dieser ermöglicht, die Netze des Zusammen-hangs von Pfründen und Korporativen zu reproduzieren und auszuweiten. Darüber hinaus ermöglicht sie den mehr oder weniger auf Pfründen ge-stützten korporativen politischen Austausch. Beide haben sich zu einem Mediationsmechanismus zwischen Staat und Zivilgesellschaft verbunden als Form der Kontrolle der popularen Sektoren. Die Art und Weise, auf die dies vorkommt erzeugt widersprüchliche Tendenzen, die sich viel-leicht in starker Form periodisieren lassen. Die Verstaatlichung hat zur anhaltenden Zerschlagung der primordialen Form geführt und diese Form ausgehend von den Forderungen und der Präsenz interner Subjekte stärker neu miteinander verbunden. Das heißt, die Verstaatlichung hat die Finan-zierung der politischen Reform ermöglicht und den Entwurf einer schon ____________________

4 Im Original: Modelo primario exportador y extractivista. Extraktivismus be-schreibt die kurzfristige Ausbeutung von Bodenschätzen ohne Rücksicht auf die Umweltbedingungen, Anm. d. Übers.

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schwachen Modalität eines plurinationalen Staates im Land. Die Form, in der die MAS die Monopolmechanismen des politischen Lebens, der Re-präsentation des popularen und des indigenen Sektors im Land organisiert und die Repression derjenigen Sektoren, die mit ihren Politiken und Ent-scheidungen nicht einverstanden sind – mit dieser Politik des Beharrens auf der Expansion des extraktivistischen Modells – resultiert jedoch in ei-nem Prozess des Bruchs oder der Zerschlagung des Netzes an Allianzen, das eine Wählermehrheit ermöglicht hatte.

Die Hauptspannungs- und Bruchlinie bezieht sich auf die Beziehung zwischen der Regierung und der CIDOB5, der Vereinigung indigener Ge-meinschaften im Osten Boliviens. Die Politik der Regierung hat gezeigt, dass sie die Meinung, die Opposition und die Territorialität dieser großen Diversität indigener Gemeinschaften nicht anerkennt und auf rassistische und autoritäre Weise über und gegen ihre Vorstellungen, Interessen, Be-dürfnisse und Willen entscheidet. In diesem Sinne könnte man zusammen-fassend sagen, dass der Prozess der Konstruktion und Rekonstruktion des Nationalstaates um das Model der Entwicklung des Staatskapitals herum geschieht. Dieses hat im Kern noch ein primär-(Güter)-exportierendes Modell und innerhalb dessen einen stärkeren oder intensiveren extraktivis-tischen Kern, der gegen die Konstruktion eines plurinationalen Staates operiert. Dieser wird zwar in der Verfassung erwähnt, ist in Anbetracht der materiellen Gegebenheiten und Prozesse aber mit Hindernissen kon-frontiert. Im Moment bestehen diese in der Wirtschaftspolitik und dem Wirtschaftsprogramm der derzeitigen Regierung.

Aus dem Spanischen von Julia Roth

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5 La Confederación de Pueblos Indígenas de Bolivia, Anm. d. Übers.

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Der unglückselige Rohstoffreichtum: Warum Rohstoffextraktion das Gute Leben erschwert Elmar Altvater

In Bhutan verwendet die Regierung Glücksindikatoren, um Wohlstand be-ziehungsweise Wohlergehen der Menschen zu messen. Das monetär in Euro oder Dollar ausgedrückte Bruttoinlandsprodukt (BIP) gehört genau so wenig zu den wichtigsten Indikatoren wie in Tonnen, Kubikmetern o-der Barrels gemessener Rohstoffreichtum. In Deutschland, einem roh-stoffarmen Land (die einstigen Rohstoffreichtümer sind längst verzehrt), streitet sich eine Enquete-Kommission des Bundestages bis 2013 über sinnvolle Maße von „Wachstum, Wohlstand und Lebensqualität”. Schon seit Langem und nicht nur in Bhutan oder Deutschland sind Zweifel an der Sinnhaftigkeit von monetären Größen laut geworden. Glück und Lebens-qualität ändern sich nicht im Gleichschritt mit der Wachstumsrate des BIP. Doch gehören Bhutan und Deutschland zur Weltwirtschaft, und die funktioniert nach den Regeln von Inwertsetzung, Wert, Verwertung in ei-ner kapitalistischen Produktionsweise, und darin ist Geld das Maß aller Werte. Glücksindikatoren haben es daher schwer und noch schwerer hat es die Gestaltung eines „Guten Lebens” gegen die Sachzwänge von geld-vermittelten Marktmechanismen.

Das gilt auch für Lateinamerika. Doch scheint mit dem 21. Jahrhundert eine neue Zeit angebrochen zu sein, und die hat erstens nicht nur mit den aufkommenden Zweifeln an der monetären Messung des Wohlstands und der Suche nach den Bedingungen und Ausdrucksformen eines „Guten Le-bens” zu tun. Denn zweitens macht die Integration des Subkontinents Fortschritte, auch gegen den Willen der USA. Der für die USA prioritäre „Krieg gegen den Terror” hat den lateinamerikanischen Nationen seit 2001 einen größeren Spielraum eigenständiger Politik geschaffen und das ist nicht unwesentlich für Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl der Menschen Lateinamerikas. Die kontinentale Integration ist zwar nicht so weit und so tief wie in Europa. Es mag sich aber herausstellen, dass sie robuster ist, weil sie nicht einer neoliberalen Linie der „negativen Integra-tion” durch den Abbau aller regulierenden Schranken zur Herstellung der Marktfreiheit für Waren, Dienstleistungen, Kapital und Arbeitskräfte ver-traut (die als „Hayek’sche Variante der Integration” bezeichnet wird – vgl. Gowan 2005), sondern – wie Friedrich List (1841/1982) schon in der ers-

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ten Hälfte des 19. Jahrhunderts für das sich vereinigende Deutschland an-regte – auf einer materiellen Basis gemeinschaftlicher „produktiver Kräf-te” beruht. Dazu gehören gemeinsame Infrastrukturprojekte im Transport-sektor, in der Energieversorgung oder in der Telekommunikation sowie Ansätze einer lateinamerikanischen Governance, das heißt der Kooperati-on von Regierungen und zivilgesellschaftlichen Organisationen (vgl. die Beiträge in: Viana/Barros/Calixtre 2011).

Neu sind drittens auch wirtschaftliche Strategien, die in einer Reihe la-teinamerikanischer Länder bei der wirtschaftlichen Nutzung des Rohstoff-reichtums angewendet werden und die als „Neo-Extraktivismus” bezeich-net werden (Gudynas 2011; FDCL 2012). Über den Neo-Extraktivismus weisen Konzepte hinaus, die auf den ersten Blick der Glückssuche in Bhutan ähnlich sind: Das „Gute Leben”, el Buen Vivir, Sumak Kawsay stehen in einigen lateinamerikanischen Ländern nicht nur auf dem Pro-gramm, sondern in der Verfassung (vgl. Cortez/Wagner 2011) und die Prinzipien des Buen Vivir und der Achtung vor der Natur (Pachamama) sollen in internationale Abkommen eingebracht werden. All das wirkt sich viertens weltpolitisch aus. Das größte lateinamerikanische Land, Brasilien ist Teil der BRICS-Gruppe (Brasilien, Russland, Indien, China und Südaf-rika), jener Schwellenländer also, die von Rating-Agenturen eher ironisch mit den Anfangsbuchstaben der Ländernamen so bezeichnet worden sind, aber immer mehr die äußere Zuschreibung als Auftrag zur faktischen Gruppenbildung angenommen und Selbstbewusstsein, und Durchset-zungsmacht gewonnen haben (zum Hintergrund und der Bedeutung von BRICS vgl. Trein 2011). Die BRICS-Gruppe ist dabei, den alten Groß-mächten der G7 Paroli zu bieten. Dass der Kontinent Gewicht zugelegt hat, zeigt sich auch im Internationalen Währungsfonds, bei der Aufteilung der Beiträge zu den Rettungspaketen in der Finanz- und Währungskrise Europas im Jahre 2012, und bei der anstehenden Neuverteilung der Stimmrechte.

Diese Zeichen der neuen Zeit sind nicht unabhängig voneinander zu be-trachten. Die Ausbeutung von mineralischen, energetischen und auch landwirtschaftlichen Rohstoffen gilt im 21. Jahrhundert nicht mehr wie in den Jahrzehnten zuvor als Zeichen der ökonomischen Unterentwicklung und politischen Subalternität, sondern als eine neue, zukunftsweisende wirtschaftliche Strategie. Es ist daher angebracht, die Frage nach der – mit einem Modewort – Resilienz, einer auf Rohstoffausbeutung beruhenden Wirtschaftsweise, zu stellen. Was ist also das Neue am „Neo-Extraktivismus” im Vergleich zum Extraktivismus Lateinamerikas in den vergangenen Jahrhunderten?

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Der Rohstofffluch

Beim Rückblick auf die Rohstoffausbeutung in Lateinamerika kommen biblische Begriffe auf, die in der gegenwärtigen Debatte über den (Neo)-Extraktivismus niemals fehlen. In den vergangenen Jahrhunderten wurde die Erfahrung gemacht, dass Rohstoffreichtum sich nicht wie von selbst in den „Wohlstand der Nationen” verwandelt, sondern sehr häufig deren Missstand vergrößert, so als ob auf dem Rohstoffreichtum ein göttlicher Fluch laste. Reichtum macht arm – dieses „Ressourcenparadox” ist viel-fach beschrieben worden, etwa am Beispiel des von Mythen umwobenen Cerro Rico, des „Silberbergs” von Potosí in Bolivien (vgl. dazu Crei-scher/Hinderer/Siekmann 2010). Mit dessen Edelmetall konnten in den Frühzeiten des Kolonialsystems die spanischen Eroberer zwar ihre Säcke und Schiffsbäuche füllen, aber der indigenen Bevölkerung brachten sie kein Glück, sondern die zivilisatorischen Errungenschaften von Zwangs-arbeit, Plünderung und Armut. Auch das Gold der Inkas im andinen Raum oder die Schätze von Mayas und Azteken in Mittelamerika waren keines-wegs ein Segen für die indigenen Gemeinschaften.

Der Fluch wurde auch in modernen Zeiten nicht aufgehoben und er be-traf nicht nur Lateinamerika und die edlen Metalle. Das Rohstoffparadox hat inzwischen einen Namen, es heißt seit den 1960er Jahren „holländi-sche Krankheit”. Erdgasfunde in den Niederlanden lösten einen Erdgas-boom aus, der aber Landwirtschaft und verarbeitendem Gewerbe nicht gut bekam. Denn auf unregulierten Märkten haben Rohstoffe, die nicht im Land selbst verarbeitet sondern als Massengüter exportiert werden, eine Aufwertung der Währung zur Folge. Importierte Industrieprodukte werden dann billiger und die heimischen verarbeitenden Wirtschaftszweige verlie-ren an Wettbewerbsfähigkeit. Im ungünstigsten Fall werden sie vom Markt verdrängt. Devisen zur Bezahlung der Importe können dann nur noch mit Rohstoffexporten verdient werden und das führt unweigerlich in monostrukturelle Abhängigkeit und in den Verlust der wirtschaftspoliti-schen Souveränität (vgl. Bruckmann 2011: 197). Auf dem inneren Markt ist der Sog der Rohstoffe so groß, dass Arbeitskräfte wegen höherer Löhne und das Anlagen suchende Kapital wegen höherer Profitraten in den Roh-stoffsektor gelenkt werden. Holland stand in der Gefahr, wie andere roh-stoffreiche Länder eine „Rentenökonomie” zu werden, in der die Ein-kommen aus der Rohstoffextraktion stammen und nicht im produzieren-den Gewerbe erzeugt werden müssen (vgl. Sinnott u.a. 2011: 15, Box 3.1 und S. 20 ff.).

Auf dem Weltmarkt herrschten Bedingungen, die vor allem von den Nachfragern nach Rohstoffen diktiert wurden, also von transnationalen

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Konzernen und von den großen und mächtigen Industrieländern, von de-ren Regierungen und von internationalen Organisationen, die von den ökonomischen Interessen der Industrieländer beherrscht werden. Dies hat dazu geführt, dass die Preisbildung von Rohstoffen und Industriegütern sich gegenläufig entwickelt hat: Rohstoffexporteure haben in realen Grö-ßen immer weniger von den Verbraucherländern der Rohstoffe, von den Industrieländern also, zurückerhalten. Die Terms of Trade haben sich sä-kular verschlechtert, und zwar – unter Berücksichtigung zyklischer Schwankungen – im Verlauf des gesamten 20. Jahrhunderts. Um dieser Tendenz entgegen zu wirken, war es unumgänglich, dass der Staat len-kend in die Wirtschaftsentwicklung eingreift. Dazu sind besonders im Rahmen der Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen für Latein-amerika und die Karibik (CEPAL) Strategien ausgearbeitet worden, die als desarrollismo in die Wirtschaftstheorie eingegangen sind. Entwicklung wird gleichgesetzt mit Industrialisierung, und die kann, wie der General-sekretär der CEPAL, von 1950 bis 1963, Raúl Prebisch (und mit ihm viele andere lateinamerikanische Ökonomen) überzeugt war, nur durch einen aktiven „Entwicklungsstaat” vorangebracht werden und nicht dadurch, dass die Entwicklung dem Wirken des Marktmechanismus überlassen wird (Vgl. Prebisch 1950).

In vielen Fällen ist die Ausbeutung des Rohstoffreichtums nichts ande-res als Plünderung und Verwandlung der reichen Rohstofflager (hier: La-teinamerikas) in den „Wohlstand der Nationen” der Kolonialmächte. Er erleichterte, wie Karl Marx beschrieb (MEW 23, 24. Kapitel), die „ur-sprüngliche Akkumulation des Kapitals”, das heißt den take-off der Kapi-talakkumulation in den kapitalistischen Kernländern, insbesondere in Eng-land. In den Rohstoffländern hingegen blieb ein schwarzes Loch.

Zu den „in Wert gesetzten”, das heißt in Waren verwandelten und auf dem Weltmarkt verkauften mineralischen Rohstoffen sind sehr bald auch agrarische und forstwirtschaftliche Produkte wie Korn, Fleisch, Nüsse und pharmazeutische Pflanzen sowie Kautschuk und natürlich tropisches Edelholz hinzu gekommen. Seit dem Beginn des Ölzeitalters sind auch die Ölländer vom oil curse betroffen, in Lateinamerika in erster Linie Vene-zuela, Mexiko und Ekuador (über Ölreichtum und den oil curse vgl. Ross 2012). Der Ölreichtum konnte bei der Vermarktung auf dem Weltmarkt nicht in Wohlstand für die Bevölkerung umgesetzt werden: Zurück blie-ben eine ölverseuchte Umwelt, Mondlandschaften, wo einst artenreiche Regenwälder wuchsen, kontaminiertes Gelände, auf dem Menschen, wenn sie dort leben müssen, krank werden (vgl. auch Zalik 2009 und 2010 für den Golf von Mexiko und Nigeria).

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Die „holländische Krankheit” hat aber noch weitere negative Sympto-me und Nebenwirkungen. Die verzerrten Preisrelationen sind auf „freien” Märkten für Preissignale verantwortlich, die die MarktAkteur/innen und die Ökonomie insgesamt auf einer vom Ressourcenreichtum verfluchten Entwicklungsbahn in die Irre führen. Rohstoffreichtum unterminiert viele Voraussetzungen wirtschaftlicher Rationalität. Das führt unweigerlich im Zeitverlauf zu einer ökonomischen Monostruktur, die sich auch auf den politischen Bedeutungszuwachs der Rohstoffsektoren auswirkt. Große Öl-konzerne verhalten sich dann wie ein Staat im Staate. Beispiele sind die mexikanische Pemex, die venezolanische PDVSA oder die brasilianische Petrobras, die zeitweise einflussreicher als ihre Regierungen waren. Dass Minengesellschaften zur Plünderung mineralischer Rohstoffe oder Groß-grundbesitzer beim plantagenförmigen Anbau landwirtschaftlicher Roh-stoffe politische und militärische Macht einsetzen, manchmal brutale Ge-walt ausüben und immer Geld zur petty and grand corruption spielen las-sen können, ist eine Erfahrung in ganz Lateinamerika (aber nicht nur dort). Auch die Staatseinnahmen (Steuern und Royalties) stammen zu ei-nem sehr großen Teil aus dem Rohstoffsektor und begründen die Abhän-gigkeit der Politik von ökonomischer Macht. Ein sicheres Einfallstor für Korruption und andere Formen von Bad Governance, die dann zum Hin-dernis einer gesellschaftlichen Modernisierung wird. Mit dem Rohstoff-fluch werden also ganze Gesellschaften in die Entwicklungsfalle gelockt und als Rentenökonomie in die Unterentwicklung entlassen (vgl. Elsen-hans 1984).

Inzwischen sind auch „nicht-konventionelle” Agrarprodukte wie Blu-men, tropische Früchte, exoische Tiere, moderne pharmazeutische Pro-dukte im Angebot, und – im neuen Jahrhundert besonders wichtig – Bio-masse für energetische Zwecke, vor allem Zuckerrohr, Soja, Mais, Palmöl. In jüngster Zeit richtet sich die Nachfrage auch auf seltene Erden und Me-talle, ohne die eine „grüne Ökonomie” der Zukunft nicht funktionieren könnte (vgl. dazu OECD 2011a und 2011b; UNEP 2011; Serrano Mancil-la/Martín Carrillo 2011). Davon gibt es in Lateinamerika genug, darunter Lithium, das in den Salares, in den Salzseen der Anden von Bolivien bis Argentinien und Chile gefördert wird.

„Unter Extraktivismus”, so schreibt Maristella Svampa (2012: 14), „ist jenes Akkumulationsmodell zu verstehen, das auf einer übermäßigen Ausbeutung immer knapper werdender, meist nicht erneuerbarer, natürli-cher Ressourcen beruht, sowie auf der Ausdehnung dieses Prozesses auch auf Territorien, die bislang als ‚unproduktiv‘ galten”. Sie werden aus dem unproduktiven Zustand in den der „Produktivität” befördert, sie werden also „in Wert gesetzt”. Inwertsetzung von Rohstoffreserven durch deren

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Plünderung ist eine Methode, die in großem Stil in Lateinamerika prakti-ziert wurde und wird (vgl. Bruckmann 2011: 197-241).

Die Inwertsetzung

Der Prozess der Inwertsetzung ist komplizierter als es die „verfluchte” Ressourcenplünderung vermuten lässt. Der Raum des charming circle der kolonialen und imperialen Ausbeutung wird nicht nur „produziert”, wie Sozialgeografen entdeckt haben, sondern – in Wert gesetzt und dabei grundlegend entsprechend den historischen Bedingungen der Kapitalak-kumulation transformiert. Die Transformation des Raums verläuft entlang einer „Inwersetzungskette” (dazu vgl. ausführlicher Altvater/Mahnkopf 2006, 4. Kapitel). Upstream beginnt die Inwertsetzung mineralischer und energetischer Rohstoffe mit der Exploration der Rohstoffreichtümer als Ressourcen und als Reserven. Letztere sind die bekannten und vermesse-nen Ressourcen. Ob Rohstoffe extrahiert werden, ist auch von den zur Verfügung stehenden Techniken und von den Kosten der Extraktion und den Preisen, die für die Ressourcen auf Märkten erzielt werden können, aber auch vom Zugang zu Krediten und von deren Kosten, also von den Finanzmärkten und von den darauf tonangebenden Akteur/innenn abhän-gig.

Bevor die Vermarktung von extrahierten Ressourcen beginnen kann, müssen Eigentumsrechte erworben werden. Dazu ist eine minimale staat-liche Infrastruktur notwendig, die sowohl die Eigentumsrechte definiert, diese garantiert und sie auch zu schützen in der Lage ist. Denn Eigentums-rechte sind notwendigerweise Ausschlussrechte. Diese müssen wohl defi-niert sein, etwa durch einen Grundbucheintrag oder in anderen Katastern. Dabei taucht die Frage auf, ob die Eigentumsrechte und die Maßnahmen zu ihrem Schutz als legitim akzeptiert werden, ob sie überhaupt legal sind, das heißt durch Gesetz und Recht gerechtfertigt werden können. In vielen Fällen, auch in Lateinamerika, konkurrieren tradiertes und modernes Recht, und daher Eigentumstitel auf das gleiche Stück Land. So kommt es, dass die Inwertsetzung von mineralischen, energetischen und agrari-schen Ressourcen sowie die Kolonisierung und Bebauung des Landes au-ßerordentlich konfliktreich sind. Landkonflikte sind in bestimmten Regio-nen Lateinamerikas an der Tagesordnung und sie werden häufig gewalt-förmlich ausgetragen. Wenn private Gewalt eingesetzt wird oder privati-sierte öffentliche Gewalt, sind immer diejenigen im Vorteil, die über die meisten Mittel, also Geld und politischen Einfluss verfügen. Entgegen den Versprechen von Nachhaltigkeit, Effizienz und Gerechtigkeit sind daher

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Umweltschäden größten Ausmaßes und die systematische Verletzung von Arbeits- und Menschenrechten die Folge.1

Diesen Fehlleistungen der privaten Nutzung von Eigentum lässt sich nur entgegenwirken, wenn entweder der Staat oder aber Kommunen, Ge-nossenschaften und andere Kollektive als Eigentümer auftreten. Auch hier hat sich im 21. Jahrhundert im Vergleich zu der vorangegangenen Ge-schichte Lateinamerikas ein grundlegender Wandel vollzogen. Denn ers-tens haben soziale Bewegungen und die Staatsbürgerinnen und Staatsbür-ger mit Stimmzettel die Regierungen dazu veranlasst und manchmal ge-zwungen, die Entwicklung in Richtung kollektiver Eigentumsformen zu sanktionieren. Zweitens sind als unmittelbare Folge der vermehrten Land-nutzung zur Erzeugung von Agroenergie neue Landkonflikte um die alter-native Nutzung von Land für die Erzeugung von food or fuel ausgelöst worden (vgl. Fritz 2008 und 2009). Drittens hat auch ein ideologischer Umschwung stattgefunden. Gemeineigentum, genossenschaftliches Eigen-tum oder indigene Eigentumsformen werden mit neuem Leben erfüllt. Da-für sorgen in den meisten lateinamerikanischen Ländern die Bewegungen für eine solidarische Ökonomie (vgl. die Beiträge in Altvater/Sekler 2006).

Wenn die Eigentumsrechte auf die eine oder andere Weise geklärt sind, können Rohstoffe als Waren auf den Markt geworfen und an einen Käufer irgendwo in der Welt gegen Geld übereignet werden. Es ist allerdings nicht gleichgültig, in welchem geographischen Horizont die Tauschakte auf Märkten ablaufen. Die Ressourcen können downstream in der Region (beziehungsweise im Land) weiterverarbeitet werden und regionale linka-ges ausbilden, die die Wirtschaftsstruktur diversifizieren und die Entwick-lung mithin fördern. Die linkages können durch den Markt zustande kommen, aber auch außermarktmäßig als external economies entstehen oder politisch erzeugt werden (Hirschman 1981). Diese für die regionale Entwicklung positiven linkages fehlen dann, wenn Ressourcen auf den Weltmarkt geworfen, in anderen Regionen weiterverarbeitet werden und die Deviseneinnahmen nicht im Lande bleiben, sondern irgendwo in den globalen Finanzzentren angelegt werden, wo eine höhere Rendite lockt.

Die Inwertsetzung von Ressourcen hat also nicht die selbstverständliche Folge wachsenden Wohlstands und beschleunigter Entwicklung. Denn ____________________

1 Vgl. zum Beispiel die vom „Permanenten Tribunal der Völker” auf seinen Sit-zungen in Wien, Lima und Madrid seit 2009 dokumentierten Fälle: http://www. enlazandoalternativas.org/IMG/pdf/TPP-verdict_es.pdf, letzter Zugriff: 15.11. 2014.

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wenn man die Inwertsetzung den MarktAkteur/innenn überlässt, kann dies wohl formspezifisch zu mehr Wert und zur Verwertung und Akkumulati-on von Kapital beitragen, aber nicht unbedingt Wachstum stimulieren oder zu größerer Gleichheit bei der Verteilung von Lebenschancen, gar zu ei-nem „Guten Leben” führen. Märkte müssen daher reguliert werden, um den Rohstofffluch unwirksam und die Inwertsetzung als Entwicklung er-folgreich zu machen. Die Politik kommt auf diese Idee nicht von selbst, sie muss dazu gebracht werden, erstens durch wissenschaftliche Expertise und zweitens durch soziale Bewegungen.

Viele der Schritte der Inwertsetzung führen über den nationalstaatlichen Bereich hinaus, und daher folgt nach der nationalstaatlichen Entwick-lungsplanung bis Ende der 1960er Jahre und dem neoliberalen Glauben an die Wohltaten des freien Marktes ein theoretisch begründetes strategisches Denken, das als „skeptischer Regionalismus” bezeichnet werden könnte. Der US-amerikanische Vorstoß, eine Freihandelszone von Alaska bis Feuerland (Free Trade Area oft the Americas – FTAA) zu errichten, schei-terte in Mar del Plata 2005. Die Alternative, die vor allem vom venezola-nischen Präsidenten Hugo Chávez vorgeschlagene Gründung der ALBA (Alianza Bolivariana para los Pueblos de Nuestra América – Tratado de Comercio de los Pueblos, ALBA-TCP), um die Infrastrukturen auf dem lateinamerikanischen Kontinent zu vernetzen, wird nur halbherzig unter-stützt. Denn die auf diese Weise geknüpften linkages sind politisch, be-treffen die nationale Souveränität, entstehen also nicht wie im Modell von Hirschman durch Marktbeziehungen quasi spontan. Sowohl im Mercosur (dem „Markt des Südens” zwischen Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay sowie einer Reihe assoziierter Mitglieder), als auch innerhalb des ALBA-Projekts, und auch in dem brasilianischen PAC, dem „Wachs-tumsbeschleunigungsprogramm”, sind konzertierte Maßnahmen zur För-derung der Biomasse-Produktion vorgesehen. Gleichzeitig wird die Förde-rung von fossiler Energie (Kohle in Kolumbien, Erdgas und Öl in den meisten anderen lateinamerikanischen Staaten), zum Teil die Förderung nicht-konventionellen Öls, vor allem in Brasilien (offshore in der Tiefsee innerhalb der brasilianischen Hoheitsgewässer und onshore im tropischen Regenwald) und Venezuela (Teersande im Orinoko-Becken) vorangetrie-ben. Hier wird schon sichtbar, dass das Agroenergieprojekt weniger als Einstieg in eine post-fossile Zukunft verstanden wird denn als Kompensa-tionsmaßnahme für das nicht mehr leicht zu steigernde Angebot konventi-oneller fossiler Energieträger. Im Rahmen von ALBA ist die energetische Vernetzung durch Pipelines von Venezuela bis Argentinien vorgesehen. All dies dient der Fristverlängerung des fossilen Energiesystems.

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Die Energieversorgung ist also umkämpft. Das war so lange nicht der Fall, wie Energie für die ökonomische, sprich: kapitalistische Entwicklung im Überfluss verfügbar war. Erst angesichts des offenbaren (fossilen) Energiemangels seit Beginn der 1970er Jahre rückt ins Bewusstsein, dass die ökonomische Entwicklung nicht ein „Wunder” ist, sondern durch harte Arbeit und, wenn deren Produktivität gesteigert werden soll, durch exter-ne, die Arbeit unterstützende Energiezufuhr zunächst aus den fossilen Re-serven zustande kommt (vgl. auch Houtart 2009: 14-19). Die Grenzen der so bequemen fossilen Energieträger sind inzwischen bekannt. Die Atom-kraft sollte ihre Rolle zu einem Teil (nämlich zur Elektrizitätserzeugung) übernehmen. Das ist nicht überzeugend gelungen, auch in Brasilien nicht. Die erneuerbaren Energien gelten als Ersatz. Sie sind es aber nicht bezie-hungsweise sie könnten es sein, wenn auch die Art und Weise des Ener-gieverbrauchs mit der Maßgabe einer beträchtlichen Reduktion verändert würden.

Die Unwertsetzung

Inwertsetzung heißt immer, dass natürliche Ressourcen aus Naturräumen in die Welt der Werte transponiert werden. Doch dabei kann sich der Na-turraum als ein gegenüber der ökonomischen Inwertsetzung höchst wider-ständiges soziales und ökologisches Feld herausstellen, auf dem einerseits immer neue Mythen von enormen Reichtümern sprießen und auf dem sich andererseits die in Wert gesetzten Naturreichtümer immer wieder und für die Inwertsetzer frustrierend als Unwerte herausstellen. Die Inwertsetzung endet als Unwertsetzung, vor allem, wenn nicht mineralische und energe-tische Rohstoffe aus der Erdkruste gefördert werden, sondern wenn agrari-sche Rohstoffe angebaut werden müssen. Dann ist Konkurrenz um die Fläche unausweichlich.2 Wenn diese zum Nutzungskonflikt ausartet, ist es nicht gewährleistet, dass der Inwertsetzungszyklus erfolgreich mit der Verwandlung der in Wert gesetzten Ressourcen in Geld abgeschlossen werden kann.

Ein faszinierendes Beispiel ist der Kautschukboom in Amazonien zu Beginn des 20. Jahrhunderts, weil die prekäre Artikulation von industriell-fordistischer Arbeitsteilung in einer entwickelten Produktionsökonomie ____________________

2 Vgl. dazu den Bericht über Konkurrenz im Raum und Landkonflikte http://www. umweltbuero-klagenfurt.at/sos/wp-content/uploads/Teilbericht%202_SOS_Alt vater-Geiger_12012011.pdf, letzter Zugriff: 15.11.2014.

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und Inwertsetzung von Rohstoffen in einer wenig entwickelten Extrakti-onsökonomie besonders deutlich hervortritt. Der Kautschuk sollte nicht mehr wie seit Jahrhunderten von der isoliert im Regenwald wachsenden Hevea von Kautschuksammlern (seringueiros) gezapft, sondern in die Moderne der rationellen Plantagenwirtschaft befördert werden. Also schuf Henry Ford in Amazonien am Ostufer des Rio Tapajós, etwa 150 Kilo-menter von Santarém flussaufwärts eine Plantage, auf der Kautschuk mit „fordistischer Rationalität” für die Produktion von Reifen für die fordis-tisch am Fließband in Dearborn produzierten Ford-Automobile gewonnen werden sollte.

Fordlândia, wie die fordistische Enklave in Amazonien genannt wurde, wird paradigmatisch für einen fast zwei Jahrzehnte währenden Konflikt zwischen ökonomischer, fordistischer Effizienz und ökologischer, amazo-nischer Redundanz. Die Effizienz wird vor allem betriebswirtschaftlich verstanden. Der Kautschuk aus Fordlãndia wird zu administrierten Verre-chungspreisen, nicht zu Weltmarktpreisen geliefert. Die betriebswirt-schaftliche Rationalität war der makroökonomischen Rationalität der „freien” Preisbildung auf dem Weltmarkt hinsichtlich der erzielbaren Pro-fite überlegen. Sie war aber nicht in Übereinstimmung zu bringen mit der ökologischen und sozialen Rationalität Amazoniens, die auch Redundanz verlangt.3

Bei der Übertragung der fordistischen Betriebsweise und ihrer Prinzi-pien in den amazonischen Naturraum hat Ford nicht berücksichtigt, dass auch „physisch perfekte” Menschen Tropenkrankheiten und Seuchen aus-gesetzt sind. Ökonomisch rationelle Monokultur gleich welcher landwirt-schaftlicher Produkte ist sowohl für die Arbeitskraft als auch für die Natur schädlich. Das zeigt sich auch in Fordlãndia. Eduardo Sguiglia (2002) be-____________________

3 Die Art und Weise der Effizienzsteigerung ist von Henry Ford mit zynischem Fanatismus in seinen Autofabriken und an ihren Fließbändern exemplifiziert worden. Er unterscheidet 7.882 verschiedene Arbeitsgänge zur Produktion eines Ford-Automobils. Davon erforderten nach seiner Einschätzung 949 „strong, able-bodied and practically physically perfect men”, 670 Arbeitsgänge könnten auch von Arbeiter/innen ohne Beine erledigt werden, 2.637 von Arbeiter/innen mit nur einem Bein, 2 von Menschen ohne beide Arme, 715 von Einarmigen und 10 von Blinden (Ford 1922, 108 nach: Grandin 2009, 294) und wahrscheinlich alle 7.882 Arbeitsgänge von hirnlosen „hands”, wie die Arbeitskräfte in den Fabriken Eng-lands im 19. Jahrhundert genannt wurden. Andererseits verfügte Ford auch in seinen US-amerikanischen Fabriken über ein „sociological department”, das für die Einpassung der Menschen in die nach fordistischer Rationalität gestalteten Arbeitsabläufe und in die Gesellschaft zu sorgen hatte (dazu vgl. Gramsci 1967; Gottl-Ottlilienfeld 1926).

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schreibt, dass und wie die angeheuerten indigenen Arbeitskräfte aus den fordistisch geplanten Arbeitsverhältnissen ebenso fliehen wie es die indi-gene Bevölkerung schon in der gesamten Kolonialgeschichte getan hat, wenn sie sich der Rationalität europäischer Welteroberer entzog. Davon zeugen die vielen Aufstände, die Bildung von Republiken der geflüchteten Sklaven oder indigenen Einwohner, die sich manchmal eine geraume Zeit gegen die Staatsgewalt behaupten können: Palmares im Nordosten, die Cabanagem in Amazonien und die vielen befreiten Walddörfer, die Qui-lombos, überall in Brasilien.

Also wurden in Fordlãndia die indigenen Arbeitskräfte gegen afroame-rikanische Arbeitskräfte ausgetauscht. Die angeworbenen und eingesetz-ten Afroamerikaner aus der Karibik konnten zwar die Stellen der entflo-henen indigenen Arbeitskräfte einnehmen. Jedoch wurde die regelmäßige und mengenmäßig ausreichende Versorgung der US-Fabriken Henry Fords mit Kautschuk nicht besser. Denn die Afroamerikaner konnten sich weder mit dem amazonischen Klima noch mit dem fordistischen Arbeits-regime anfreunden.

Zu Beginn des Fordlândia-Experiments allerdings wird es von seinem Urheber Henry Ford eher als ein alternatives Projekt zur Überwindung der Frustrationen verstanden, die ihm die kapitalistische Moderne in den USA bereitet (vgl. Grandin 2010, 4). Am Schluss obsiegt der Regenwald gegen die plantagenförmige Massenproduktion, amazonische Redundanz erweist sich der fordistischen Effizienz als überlegen. Die monokulturellen Kaut-schukplantagen waren gegen Schädlingsbefall nicht widerstandsfähig ge-nug; die Kautschukerträge blieben hinter den Erwartungen und Planungen weit zurück. Die Aufgabe der ökologischen und sozialen Redundanz zu Gunsten einer abstrakt kalkulierten Effizienzstrategie endet als Misserfolg.

Das zeigt sich auch in der so genannten „Kautschukschlacht” während des Zweiten Weltkriegs. Die Malayischen Kautschukplantagen waren von den Japanern besetzt und daher versuchte man, das amazonische Experi-ment wiederzubeleben. Es wurden dazu arme Nordestinos, Bauern aus dem Nordosten Brasiliens, angeworben. Nach Beendigung der „Schlacht” wurden nach Angaben Eduardo Galeanos 50.000 Tote gezählt, die, „von Seuchen und Hunger besiegt, inmitten der Gummiwälder verwesten” (Ga-leano 1973, 107). Die Natur in Wert setzen zu wollen, scheitert an der Na-tur selbst. Sie ist eigensinnig und widerständig. Die Inwertsetzung von Natur kann als Unwertsetzung, als Desaster enden.

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Der Neo-Extraktivismus

Dies scheint sich im 21. Jahrhundert ins Gegenteil verkehrt zu haben; die Rohstoffpreise sind seit dem Jahrhundertwechsel im Vergleich zu den Preisen der Industriegüter stärker gestiegen, die säkulare Tendenz sinken-der Terms of Trade hat sich umgekehrt. Rohstoffländer haben nun die Chance, steigende Überschüsse aus Rohstoffexporten auf dem Weltmarkt zu erzielen. Diese sind in der Vergangenheit vor allem von Transnationa-len Konzernen angeeignet worden. Doch die politischen Klassen der la-teinamerikanischen Staaten sind inzwischen selbstbewusster geworden, zumal während der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts in vielen Ländern Linksregierungen an die Macht gekommen sind, die nun eine inzwischen so genannte „neo-extraktivistische” Politik verfolgen. Der Rohstoffreich-tum ist immer noch die Grundlage der ökonomischen Entwicklungsstrate-gien. Im andinen Raum liegt der Anteil der Rohstoffexporte an den ge-samten Exporten bei mehr als 50 Prozent, in Brasilien, Mexiko und Ar-gentinien ist er geringer (vgl. das Schaubild in IMF 2012, Kap. 4: 3).

Im Unterschied zum traditionellen Extraktivismus werden nun die (De-visen)einnahmen durch den Staat und nicht von den Konzernen angeeig-net und zur sozialpolitischen Umverteilung verwendet. Dann bleibt der soziale Fortschritt des „Guten Lebens” von Deviseneinnahmen aus Roh-stoffexporten abhängig, die aber – und das macht einen Unterschied - nicht nur transnationale Konzerne bereichern, sondern auch für soziale Projekte der ärmeren Bevölkerung verwendet werden. Mindestlöhne wer-den eingeführt, die Alterssicherung verbessert, die Schulbildung gefördert, Universitäten errichtet, Nachbarschafts- und Stadtteilgruppen werden fi-nanziert, Genossenschaften auf dem Lande werden subventioniert, öffent-liche Dienste werden wiederbelebt, privatisierte öffentliche Güter werden re-kommunalisiert oder nationalisiert. Neo-Extraktivismus lohnt sich. Rohstoffreichtum und die Extraktion von mineralischen und energetischen Rohstoffen und der Anbau agrarischer Produkte scheinen sich aus einem Fluch in einen Segen gewandelt zu haben. Wie kann dieser historische Wandel erklärt werden?

Wie immer bei Marktprozessen müssen zwischen Angebot und Nach-frage differenziert und die externen Bedingungen und die internen öko-nomischen und politischen Konstellationen berücksichtigt werden. Die Nachfrage nach Rohstoffen ist unersättlich, daran haben bislang keine ökologischen Beschränkungen etwas ändern können. Die Gründe sind vielfältig, nur wenige können hier benannt werden. In erster Linie ist die Globalisierung des westlichen, energieintensiven Konsum- und Mobili-tätsmodells verantwortlich für die steigende Nachfrage nach Rohstoffen

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und insbesondere nach Öl, das die hohe Mobilität als wichtigstes Kenn-zeichen der westlichen, imperialen Lebensweise möglich macht und die so attraktiv ist, dass alle Welt den westlichen Ländern zu folgen versucht. Die Schwellenländer sind dabei, es zu übernehmen und ihren Energiever-brauch pro Kopf zu steigern. Heutige Entwicklungsländer folgen mit ge-wisser Zeitverzögerung nachholend diesem Trend, auch in Lateinamerika.

Zweitens zwingen die Finanzmärkte mit ihren, die Renditen steigernden spekulativen Kreationen die Wachstumsraten des BIP nach oben. Das geht gegen den Trend der historischen Wachstumsbedingungen der realen Ökonomie, der überall in der Welt bei allen Niveauunterschieden in der langfristigen Tendenz eine negative Neigung hat. Dies kann auch die „har-te Budgetrestriktion” des Geldes und der Finanzen (der Begriff stammt von Kornai 2006) nicht ändern. Die realen Wachstumsraten können trotz technischen Fortschritts nur gesteigert werden, wenn auch der Energie- und Rohstoffverbrauch zunimmt – jedenfalls auf der vorherrschenden technologisch und sozial bestimmten Entwicklungsbahn. Also hat der Energieverbrauch auch etwas mit der deregulierten Wirkungsweise der Finanzmärkte und mit dem Druck zu tun, der von ihnen auf die „Realwirt-schaft” ausgeübt wird.

Allerdings ist die Wirkungsweise der Finanzmärkte widersprüchlich. Als ein externer Sachzwang bewirkt die „harte Budgetrestriktion”, dass die ökonomische Effizienz steigt und dass dort, wo sie (wie einst in den real-sozialistischen Gesellschaften) nicht existiert, die ökonomische Effi-zienz gering ist. Sie kann aber so hart sein, dass die Befolgung unmöglich wird. Dies ist in der Finanz- und Wirtschaftskrise nach 2008 geschehen. Bei zu hohen Zinssätzen, die durch MarktAkteur/innen spekulativ nach oben gepeitscht worden sind, können verschuldete Unternehmen oder Länder (wie die lateinamerikanischen Länder während der Schuldenkrise der 1980er Jahre oder in den Finanzkrisen der 1990er Jahre oder wie eu-ropäische Länder heute) nicht mehr den Schuldendienst leisten. Dann werden die Wachstumsraten durch die harte Budgetrestriktion nicht ange-regt, sondern gedämpft. Die „harte Budgetrestriktion” wird zur harten „fi-nanziellen Repression”.

Drittens hat auch der Zwang zur Verbesserung der Wettbewerbsfähig-keit in der globalen Konkurrenz der „Standorte” diese Wirkung. Denn Wettbewerbsfähigkeit wird in aller Regel durch Produktivitätssteigerun-gen verbessert und letztere sind ceteris paribus nur möglich, wenn fossile Energie zur Beschleunigung aller Abschnitte des Produktions- und Zirku-lationsprozesses von Kapital genutzt wird und wenn Rohstoffinputs zur Verfügung stehen. Alle diese ‚Sachzwänge’ haben zur Folge, dass – wie in der Vergangenheit – auch im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts die

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Nachfrage nach fossiler Primärenergie um 25 Prozent, und bis 2030 um schätzungsweise 44 Prozent zunehmen wird (Maggio/Cacciola 2009: 8) – trotz steigender Effizienz und großer Anstrengungen des Recycling.

Obendrein sind im Zuge der Liberalisierung der Finanzmärkte auch Termin- und Futuresmärkte für Zertifikate auf Rohstoffe entstanden, die ihrerseits die Preise treiben und deren Volatilität steigern. Diese hat aber zur Folge, wie Sinnott u.a. (2011) schreiben, dass die Konzentration in der Wirtschaft zunimmt, weil kleine Unternehmen – und kleine Länder – nicht die Möglichkeiten wie große Unternehmen haben, Preisschwankungen auszugleichen oder diese gar zur Spekulation auszunutzen.

Auf der Angebotsseite werden die nicht erneuerbaren Ressourcen knapp. Das ist wegen der Irreversibilität aller Stoff- und Energietransfor-mationen unvermeidlich. Allerdings muss zwischen ökonomischer Knappheit und ökologischem Mangel unterschieden werden. Knappheit ist eine in der ökonomischen Theorie geläufige, weil zentrale Kategorie: In Bezug auf die Bedürfnisse eines ökonomischen Akteurs und angesichts des Aufwands, der zur Produktion von Gütern zur Befriedigung der Be-dürfnisse geleistet werden muss, ist das Geld- oder Zeitbudget immer be-schränkt. Die Güter sind knapp, und nur deshalb ist jemand bereit, dafür auf dem Markt einen Preis zu zahlen. Ohne Knappheit wäre die Ökonomie als Wissenschaft der rationalen Allokation von Ressourcen und ihrer al-ternativen Verwendung überflüssig. Preise sind daher Knappheitspreise. Auch der Zins für geliehenes Kapital ist ein Knappheitspreis, er fungiert als eine „harte Budgetrestriktion”, deren Abwesenheit für die Ineffizienz der realsozialistischen Ökonomien vor 1989 verantwortlich gemacht wird (Kornai 1986).

Der Mangel hingegen ist unerheblich für die Theorie der Allokation. Er erhält seinen Stellenwert im Rahmen einer dynamischen Theorie des Wachstums der Wirtschaft oder der Akkumulation von Kapital. Denn es ist unvermeidlich, dass in einer endlichen Welt eine wachsende Wirtschaft auf Grenzen stößt. Auf der „Oberfläche der Erde […] als Kugelfläche” ist es nicht möglich, dass die Menschen sich „ins Unendliche zerstreuen kön-nen” und Ressourcen wie aus einem unendlichen Füllhorn schöpfen, so Immanuel Kant 1795 (Kant 1984). Im global organisierten Stoffwechsel zwischen Menschen, Gesellschaften und der planetaren Natur nähert sich die Welt dem von Richard Heinberg (2007) so genannten „Peak Everyth-ing”. Dem rohstoff- und energieverzehrenden kapitalistischen Moloch geht also die Nahrung aus. Gleichzeitig sind die Deponien und Senken des Planeten Erde überlastet, in denen seine Ausscheidungen bislang abgela-gert worden sind. „Planetary boundaries” (Rockström et al. 2009) sind er-reicht. Die Gewässer, von kleinen Bächen bis zum großen Ozean, sind

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verschmutzt und vermüllt. Auch die Böden werden knapp und die noch verfügbaren sind degradiert. Nicht nur „Peak Oil” ist daher zu thematisie-ren, wenn wir die Folgen des Mangels begreifen wollen, sondern ebenso „Peak Soil” (vgl. dazu Fritz 2009). Der „ökologische Fußabdruck” wird größer, der Umweltraum schrumpft – und wir erleben dies als Energie-mangel, Wassermangel, Ressourcenmangel.

Die Inwertsetzung von Land und Ressourcen stößt spätestens dann an Grenzen, wenn bei der Erzeugung von Energie mehr Energie verbraucht als geerntet wird, wenn der energy return on energy invested (EROEI) un-ter 1 sinkt. Das extraktivistische Unterfangen wird dann irrational. Der EROEI ist keine feststehende Größe, sondern er verändert sich über Zeit und Raum. Für den EROEI von Biotreibstoffen gibt es sehr unterschiedli-che Kalkulationen, da eine „objektive” Messung schwer oder gar unmög-lich ist: der Energiegehalt des verwendeten Rohstoffs, die Hektarerträge, der (fossile) Energieverbrauch bei der Produktion der Biomasse (für Ma-schinerie, Dünger, Pflanzenschutz) und bei der Umwandlung in Treibstoff in den Raffinerien, der Energieverbrauch beim Transport zwischen An-baugebiet und Raffinerie und zu den Verbrauchsorten etc. sind sehr ver-schieden (vgl. Carvalho Macedo 2004; Smeets et al. 2008). Die EROEI-Daten vermitteln daher nur eine grobe Orientierung und sie verändern sich, wenn beispielsweise durch die Übernutzung der Böden die Erträge sinken, wenn Wasservorräte geplündert oder verseucht werden, wenn kli-mabedingte Wetterereignisse die Möglichkeiten der Landnutzung zur Pro-duktion und zum Transport von Rohstoffen verändern, wenn immer tiefer gebohrt werden muss, um an die Reserven von Öl oder Gas zu gelangen.

Technische Verbesserungen bei der Produktion von alternativen Ener-gierohstoffen sind möglich. In Brasilien produziertes Zuckerrohr-Ethanol hat eine deutlich bessere Energiebilanz als andere Biotreibstoffe, die in anderen Ländern, an anderen Standorten gewonnen werden. Nach Carval-ho Macedo et al. (2005, 10) liegt der „brasilianische” EROEI im Durch-schnitt bei 8,1:1; unter optimalen Produktionsbedingungen kann er sogar bis auf 10,2:1 angehoben werden. Doch werden die langen Transportstre-cken für den Export berücksichtigt, sinkt der EROEI auf 6,6 bis 6,7:1 (Smeets et al. 2008, 793). Für den EROEI von Biodiesel gibt es unter-schiedliche Angaben. Aktuelle Studien gehen davon aus, dass Soja-Biodiesel durchschnittlich nur 93 Prozent mehr Energie bereitstellt als in die Produktion investiert werden muss, also einen EROI von 1,93:1 auf-weist; andere Berechnungen kommen auf einen EROEI von 3,5:1 (Hein-berg 2009, 51). Nur der EROEI von Palmöl-Biodiesel wird mit 9:1 we- sentlich höher veranschlagt (ebd.), was am höheren Ölanteil des Rohstoffs liegt.

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Der EROEI fossiler Brennstoffe (vor allem von Öl und Gas) ver-schlechtert sich, weil mit der Erschöpfung von Reserven deren Förderung energetisch aufwändiger und daher auch ökonomisch kostspieliger wird. Nicht konventionelles Öl aus der Tiefsee zu fördern wie im Golf von Me-xiko (man erinnert sich an die Deepsea Horizon-Katastrophe im Frühjahr 2010) oder vor der brasilianischen Küste, mag technisch möglich sein. Der Energieaufwand und die ökonomischen Kosten der Extraktion von tough oil sind aber wesentlich höher als die der Extraktion des easy oil – und der EROEI ist niedriger. Auch bei der Produktion von Agrotreibstoffen muss eine Art „Gesetz des abnehmenden Ertragszuwachses” unterstellt werden. Nicht nur die Flächenausdehnung ist begrenzt, auch die Möglichkeiten der Produktivitätssteigerung stoßen auf immer größere Schwierigkeiten. Dar-aus ergibt sich, dass eine globale Allokation der Biomasseproduktion ent-sprechend dem Kriterium des möglichst hohen EROEI nicht durchführbar ist. Und noch etwas wird deutlich: der Steigerung der Produktivität bei der Energieproduktion (bei der Produktion anderer Rohstoffe gilt Vergleich-bares) sind Grenzen gesetzt, also bleibt nur der Rückgriff auf die Fläche, auf der die Roh- und Treibstoffe produziert beziehungsweise extrahiert werden. Die Konkurrenz um die Landnutzung ist daher – bei den gegebe-nen Produktions- und Verbrauchsmustern – unvermeidbar.

Nun zeigt es sich, dass eine neo-extraktivistische Strategie nicht nur von den Preissteigerungen der Rohstoffe aus den Gründen, die hier ge-nannt worden sind, profitiert und Spielräume zur sozialen Umverteilung von Einkommen und Reichtümern gewinnen kann, sondern auch dem Mangel Rechnung zu tragen hat. Dieser ist das Zeichen dafür, dass das fossile Zeitalter ans Ende kommt und andere, auch erneuerbare Agroener-gien an die Stelle der fossilen Energieträger treten – bevor sich heraus-stellt, dass die im fossilen Zeitalter herausgebildeten ökonomischen, sozia-len und politischen Strukturen und Verhältnisse mit dem Wechsel der Energiequelle auch geändert werden müssen. Ein „grüner Kapitalismus” oder „grünes Wachstum”, die von UNEP (2012) oder von der OECD (2012) angestrebt werden, können als Versuche interpretiert werden, nur die Energiequellen auszutauschen und Effizienzverbesserungen zu reali-sieren, nicht aber die sozialen und politischen Transformationen von Pro-duktions- und Lebensweise einzuleiten, die für eine Energiewende not-wendig sind.

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Buen Vivir

Ist das Konzept des „Guten Lebens” möglicherweise eine Antwort auf die Herausforderungen, die auch eine neo-extraktivistische Strategie aufwirft? Alternativen zur kapitalistischen Marktwirtschaft und zum (Neo-)Extraktivismus sind notwendig. Aber reicht dazu die vom Weltwirt-schaftsgipfel 2003 angeregte Extractive Industries Transparency Initiative (EITI) aus, die immerhin auf Transparenz der monetären Flüsse aus Roh-stoffgeschäften abzielt? Wohl kaum, denn nur einige Rohstoffländer betei-ligen sich daran, fast kein lateinamerikanisches Land ist dabei. Darüber hinaus müssen die Arbeits- und Lebensbedingungen und die politischen Institutionen mehr als die Transparenz der Geldflüsse aus Rohstoffverkäu-fen unter internationaler Governance im Rahmen der EITI garantieren, nämlich politische Partizipation zulassen. Die Natur bleibt andernfalls Ob-jekt der Inwertsetzung, eine „auszubeutende Mine” (Anders 1992: 32). Der Markt darf nicht mehr als „entbetteter Markt” auf Gesellschaft und Natur als ein Sachzwang wirken, sondern wieder in die Gesellschaft ein-gebettet werden. Die Idee der linearen Entwicklung in Richtung eines te-leologisch gesetzten Fortschrittsideals muss aufgegeben werden (dazu Au-trey 2011; Gudynas 2011a), wenn in Rohstoffländern mehr als Transpa-renz hergestellt werden soll.

Dieses „mehr” könnte eher mit einem Rekurs auf das alte Erbe der in-digenen Bevölkerung Lateinamerikas gelingen als mit „noch einem” in-ternationalen Abkommen. Es geht um Solidarität und Kooperation gegen die Konkurrenz des Marktes im gesellschaftlichen Zusammenleben (vgl. dazu auch Altvater 2012). Es eröffnet sich also eine überraschende „neue Vision” (Barkin und Lemus 2011): Sumak Kawsay, das „Gute Leben” in „Vielfalt und Eintracht mit der Natur” (so in der Präambel der ekuadoria-nischen Verfassung von 2008), ohne sich dem individuellen und kurzfris-tigen Gewinnstreben zu verschreiben (Cortez/Wagner 2010). Die Plünde-rung des Ressourcenreichtums des Kontinents, die Ausbeutung der Men-schen, die Respektlosigkeit gegenüber den indigenen Traditionen, die Missachtung der politischen Souveränität durch die imperialistischen Mächte in den vergangenen Jahrhunderten bis in unsere Tage werden nicht mehr akzeptiert. Das „Gute Leben” (Buen Vivir oder Vivir Bien) wird in Bolivien und Ekuador als Verfassungsprinzip verankert. Mehr noch: die Natur wird als eigenständige Rechtsperson (Cortez 2012) ver-standen. Das ist ein Bruch mit der abendländischen Tradition, in der die Menschen sich die Natur untertan machen, und in der das weibliche Ge-schlecht dem männlichen untergeordnet ist. Das Buen Vivir ist also umfas-sender als das „Gute Leben” bei Aristoteles (vgl. auch die Interpretation

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von Fatheuer 2011). In der andinen Tradition ist das Glück der Menschen unvollkommen, wenn es nicht in Harmonie mit der Natur erreicht werden kann. Die Natur ist aber anders als in der europäisch-okzidentalen Traditi-on ein Rechtssubjekt.

Dieses Verständnis von Mensch und Natur und des Menschen in der Natur hat praktische Auswirkungen. Die Rechte beispielsweise von Un-ternehmen an der Ausbeutung von Ressourcen, enden gemäß der Verfas-sung des Buen Vivir an den Rechten der Natur – jedenfalls im Prinzip. Dieses Verständnis des Mensch-Natur-Verhältnisses überschreitet das ra-tionalistisch geprägte und dann im Kapitalismus in globalisierter Praxis realisierte Modell der Herrschaft über die Natur, der ununterbrochenen Inwertsetzung von Naturressourcen, der Verwandlung von Naturreichtü-mern aller Menschen in den individualisierbaren und in Geld gemessenen und auf dem Markt transferierbaren ökonomischen Wohlstand einzelner, die damit glücklich werden können – oder auch nicht.

Das „Gute Leben” gerät in Konflikt mit der Permanenz der Inwertset-zung. Der Gegenstand des Konfliktes ist das Modell beziehungsweise Pa-radigma der Entwicklung. In der Verfassung Ekuadors heißt es im Artikel 395: „Der Staat garantiert ein nachhaltiges und in Bezug auf die Umwelt ausgeglichenes Entwicklungsmodell, das die kulturelle Diversität respek-tiert, das die Biodiversität und die Fähigkeit der natürlichen Erneuerung der Ökosysteme erhält und das die Befriedigung der gegenwärtigen und zukünftigen Generationen sichert” (nach Cortez 2012). Der Verfas-sungstext des Buen Vivir in Ekuador und Bolivien ist zwar nicht gleichbe-deutend mit der Verfassungswirklichkeit des „neuen Extraktivismus” (Gudynas 2011; Zelik 2011) der gleichen Regierungen. Aber er deutet doch eine Alternative zu den extraktivstischen und neo-extraktivistischen Inwertzungsstrategien an.

Die Natur mit ihren „Rechten”, die man ja als Begrenzungen des menschlichen Handelns interpretieren kann, muss respektiert werden. Die Grenzen des Umweltraums, die planetary boundaries, der zu große öko-logische Fußabdruck lassen keine andere Wahl. Die Gesetze der Evolution oder die thermodynamischen Hauptsätze, die Mengenbeschränkungen bei erschöpflichen Ressourcen oder die Schwellenwerte für toxische Substan-zen sind wie Fallgruben, in die man unweigerlich gerät, wenn die Bedin-gungen des Buen Vivir nicht eingehalten werden. Das Gute Leben ist also kein Schlaraffenland. Die natürlichen, gesellschaftlichen, ökonomischen und kulturellen Restriktionen sind ein Hinweis darauf, dass die morali-schen Ressourcen in einer kapitalistischen Erwerbsgesellschaft aufge-braucht werden und dann eine moralische Ökonomie errichtet werden

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muss, die sich angesichts der natürlichen und gesellschaftlichen Restrikti-onen selbstbegrenzt.

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Verzeichnis der Autor/innen, Übersetzer/innen, Mitwirkenden

Mirta Alejandra Antonelli studierte Philosophie an der Universidad Naci-onal de Córdoba und promovierte in Soziologie an der École des Hautes Études en Sciencies Sociales (EHSS) in Paris. Sie ist unabhängige For-scherin für CONICET Argentinien mit Arbeitssitz an der Universidad Na-cional de General Sarmiento. Sie veröffentlichte zahlreiche Publikationen zu Neoliberalismus und Privatisierung und zu sozialen Bewegungen, unter anderem mit Maristella Svampa Minería transnacional, narrativas de desarrollo y resistencias sociales 2010. Elmar Altvater ist Politikwissenschaftler, Autor und emeritierter Professor für Politikwissenschaft am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Ber-lin. Außerdem ist er Mitglied im wissenschaftlichen Beirat von Attac, und er war im Jahr 2006 Vorsitzender des Ständigen Volkstribunals gegen eu-ropäische transnationale Unternehmen. Er ist Experte in Sachen Rohstoffe und Weltmarkt und Inwertsetung von Natur und arbeitet seit vielen Jahren zu, in und mit Lateinamerika, vor allem Brasilien. Zu seinen Publikatio-nen zählen: 1987: Sachzwang Weltmarkt. Verschuldungskrise, blockierte Industrialisierung, ökologische Gefährdung – der Fall Brasilien; 1992: Der Preis des Wohlstands oder Umweltplünderung und neue Welt(un)ordnung. Münster; 2005: Das Ende des Kapitalismus, wie wir ihn kennen. Eine radikale Kapitalismuskritik. Münster; 2009: Elmar Altvater (u.a.): Privatisierung und Korruption: Kriminologie von Globalisierung, Neoliberalismus und Finanzkrise. Hamburg, 2010: Der große Krach: oder die Jahrhundertkrise von Wirtschaft und Finanzen, von Politik und Natur. Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 2010. Liliana Bordet absolvierte einen M.A. in interdisziplinären Lateinameri-kastudien. Sie ist Fagottistin, Musik- und Erziehungswissenschaftlerin und Spanischlehrerin. Derzeit promoviert sie am Lateinamerikainstitut der Freien Universität Berlin zur Schnittstelle von Musik und Literatur am Beispiel von Julio Cortázars Werk.

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Verzeichnis der Autor/innen, Übersetzer/innen, Mitwirkenden

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Martin Breuer studierte Geschichte, Politik und InterAmerikanische Stu-dien in Berlin und Bielefeld und ist derzeit als wissenschaftlicher Mitar-beiter am Center for InterAmerican Studies (CIAS) an der Universität Bielefeld beschäftigt. Dort betreut er die Publikationsprojekte des BMBF-Forschungsprojekts „Die Amerikas als Verflechtungsraum” und promo-viert an der Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theolo-gie. Ana Esther Ceceña ist Koordinatorin des Observatorio Latinoamericano de Geopolítica am Instituto de Investigaciones Económicas der Univer-sidad Nacional Autónoma de México. Der vorliegende Text ist Teil eines breiteren Forschungsprojektes, das im Rahmen des Programms UNAM-DGAPA-PAPIIT IN301012 durchgeführt wird. Brand, Ulrich; Ceceña, Ana Esther. Reflexionen einer Rebellion. „Chiapas” und ein anderes Poli-tikverständnis. Münster 2000. Ceceña, Ana Esther. El Gran Caribe. Umb-ral de la Geopolítica mundial. Quito. Fernando Coronil war zuletzt Presidential Professor für Anthropologie am Graduate Center, City University New York. Er gehört zu den Prota-gonisten dekolonialer Ansätze aus lateinamerikanischer Perspektive und arbeitete zu Ressourcen, Okzidentalismus und Dekolonisation. Er schrieb das wegweisende Buch zur Rolle des Öls in Venezuela The Magical State. Nature, Money and Modernity in Venezuela. Chicago, 1997. Auf Deutsch erschien „Unterwegs zu einer Kritik des Globalzentrismus. Mutmaßungen über das Wesen des Kapitalismus” (in: Kritik des Okzidentalismus, hgg. von Gabriele Dietze, Caudia Brunner, Edith Wenzel, 2009) sowie „Jen-seits des Okzidentalismus. Unterwegs zu nichtimperialen geohistorischen Kategorien” (in: Conrad, Sebastian/Randeria, Shalini (Hg.): Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kul-turwissenschaften. Frankfurt, 2002: S. 176-219). Juan Carlos „Gipi” Fernández ist Koordinator der sozialen Arbeitslosen-bewegung Union de Trabajadores Desocupados (UTD) im nordargentini-schen General Mosconi. Er hielt Vorträge an der Universität Universidad de Buenos Aires (UBA), der Universidad FLACSO (Facultad Latinoame-ricana en Ciencias Soiciales), der Universidad de las Madres de la Plaza de Mayo in Buenos Aires, Universidad de Rosario, UNSA SALTA, UN-SA TARTAGAL, Universidad de Yacuiva Bolivia, an der Universidad de Paraguay und beim internationalen solidarischen Sozialkongress in Porto Alegre, Brasilien.

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Laura Kemmer ist Doktorandin im Graduiertenkolleg „Lose Verbindun-gen. Kollektivität im urbanen und medialen Raum” an der Universität Hamburg. Sie arbeitet unter dem Titel „Bonding” zu Prozessen von An-eignung, Anpassung und Widerstand in Straßenaufwertungsprozessen. Zuvor studierte sie Politikwissenschaft und Internationale Beziehungen in Hamburg und Berlin. Sie betreute – in Lektorat und Layout – Publikatio-nen wie die desiguALdades.net Working Paper Series, das kritische Re-zensionsmagazin Crolar, sowie von Julia Roth (2014): Occidental Rea-dings, Decolonial Practices A Selection on Gender, Genre, and Coloniali-ty in the Americas. Chacho Liempe ist einer der leitenden politischen Koordinator/innen der Mapuchegemeinschaft im südargentinischen Río Negro und politischer Referent des Nationalrats der Mapuche in Argentinien, dem Consejo Asesor Indígena (CAI). Gabriela Massuh leitet als Autorin und Herausgeberin den unabhängigen Verlag Mardulce. Sie promovierte zur Ästhetik des Schweigens bei Jorge Luis Borges, arbeitete als Universitätsdozentin, Kulturjournalistin und übersetzet unter anderem Kafka, Schiller, Brecht und Enzensberger. Lan-ge Jahre leitete sie die Kulturabteilung am Goethe-Institut Buenos Aires, deren Arbeit sie stark prägte und von wo aus sie daran mitwirkte, ein Netzwerk aus Wissenschaftler/innen, Künstler/innen und Protago-nist/innen sozialer Bewegungen aus Lateinamerika und Europa zu knüp-fen, die über neue Formen des politischen, sozialen und kulturellen Zu-sammenlebens reflektieren. Gabriela Massuh co-kuratierte unter anderem die Ausstellung und Publikation „Ex Argentina. Schritte zur Flucht von der Arbeit zum Tun” (2004), „La Normalidad” 2006), „Bicentenarios Otros” (2011), „El trabajo por venir” (2008). 2008 erschien ihr Roman La Intemperie. Eduardo Molinari ist Künstler und arbeitet am Archivo Caminante [„wan-dernden Archiv”] in Buenos Aires. In Berlin stellte er 2003 in der Neuen Gesellschaft für bildende Kunst (NBGK) seine Installation „Alltag und Vergessen – Argentinien 1976-2003” aus, 2007 war führte er künstleri-sche Interventionen in Chemnitz und 2014 in Stuttgart durch. Er arbeitete an der Ausstellung „La Normalidad-Ex Argentina” 2006 in Argentinien mit, und seine Arbeiten sind Teil der Ausstellung „Das Potosí-Prinzip” 2010/2011 im Haus der Kulturen der Welt in Berlin.

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Gabriela Romano ist Lehrerin sowie Mitglied und Aktivistin der sozialen Bürgerbewegung „Asamblea Ciudadanos por la Vida de Chilecito”, die unter anderem gegen die zerstörerische Goldminenausbeutung im nordar-gentinischen Chilecito, La Rioja, kämpft. Julia Roth lehrt und forscht am Center for Inter-American Studies der Universität Bielefeld im Forschungsnetzwerk „Die Amerikas als Verflech-tungsraum”. Zuvor war sie Postdoctoral Fellow im Forschungsnetzwerk „desiguALdades.net – interdependente Ungleichheiten in Lateinamerika” an der Freien Universität Berlin. 2006 hospitierte sie am Goethe-Institut Buenos Aires im Bereich kulturelle Programmarbeit. Seit 2007 kuratiert und organisiert sie kulturpolitische Veranstaltungen in Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut, der Bundeszentrale für politische Bildung, dem Haus der Kulturen der Welt und dem Hebbel-am-Ufer (HAU) unter ande-rem das Symposium „Rethinking Humboldt – Humboldt neu denken” und „Lateinamerikas koloniales Gedächtnis. Vom Ende der Ressourcen, so wie wir sie kennen”. Andreas Schug, M.A., Jahrgang 1969, hat in Lüneburg Angewandte Kul-turwissenschaften studiert. Er arbeitet als freier Journalist mit dem Schwerpunkt Umwelt und Erneuerbare Energien. Maristella Svampa ist Forscherin bei CONICET Argentinien und Profes-sorin für Soziologie an der Universidad Nacional de La Plata, Argentinien. Die französische Version des hier abgedruckten Artikels ist 2011 in der Zeitschrift Problèmes de l’Amérique Latine veröffentlicht worden. Aus-züge aus diesem Artikel wurden auf verschiedenen Seminaren diskutiert, vor allem in Mexiko (im September 2010), von der UNAM organisiert, sowie in Quito (Ekuador) im März 2011, auf einem von der Rosa Luxem-burg Stiftung organisierten Seminar über „Alternativen zum Extraktivis-mus”. Zu ihren Publikationen zählt Minería transnacional, narrativas del desarrollo y resistencias sociales (2009, hgg. mit Mirta A. Antonelli). Luis Tapia ist Philosoph und leitet das Doktorandenprogramm in Entwick-lungspolitik an der CIDES-Universidad Mayor in San Andrés, Bolivien (UMSA), wo er von 1986 bis 1990 und von 1994 bis heute forscht und lehrt. Er ist eines der Gründungsmitglieder von Grupo Comuna. Er hat zahlreiche Bücher und Aufsätze zu den Themen Nationalstaat, Zivilgesell-schaft, Demokratie und Ethik publiziert.

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Britt Weyde, geb. 1972, Regionalwissenschaftlerin Lateinamerika und Übersetzerin, Redakteurin bei „ila”, der Zeitschrift der Informationsstelle Lateinamerika (Bonn); Mitherausgeberin von Uruguay, ein Land in Be-wegung, übersetzte zusammen mit Katja Rameil Wer Beton sät, wird Zorn ernten. Mexikos Umweltbewegung von unten von Luis Hernández Na-varro. Raúl Zibechi ist uruguayischer Autor, Journalist und militanter Forscher zu sozialen Bewegungen in Lateinamerika. Er hat zehn Bücher veröffent-licht, darunter in deutscher Übersetzung Bolivien. Zersplitterung der Macht (Nautilus, 2007); Territorios en resistencia. Cartografía política de las periferias latinoamericanas (2008) und Política y miseria. El combate a la pobreza en América Latina. Zibechi war Autor der „Briefe aus La-teinamerika” für das Lateinamerika-Dossier der Bundeszentrale für politi-sche Bildung (bpb).