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Ganz normale OrganisationenOrganisationssoziologische
Interpretationen simulierter Brutalitäten
Ordinary OrganizationsSociological Reinterpretations of
Simulated Brutalities
Stefan Kühl*Helmut-Schmidt-Universität, Universität der
Bundeswehr Hamburg, Institut für
Gesellschaftswissenschaften,Holstenhofweg 85, D-22043 Hamburg
Zusammenfassung: Dieser Artikel liefert eine Neuinterpretation
zentraler sozialpsychologischer Experimente zur
Ge-horsamsbereitschaft. Durch das Soda-Cracker-Experiment von
Frank, das Milgram-Experiment, das Stanford-Prison-Experiment und
das Deportationsexperiment wird nicht, wie häufig impliziert,
allgemeines Verhalten in der modernenGesellschaft reproduziert.
Vielmehr können, so die These des Artikels, aus den Experimenten
nur Rückschlüsse auf dasVerhalten in Organisationen gezogen werden.
Es lässt sich zeigen, dass durch die Experimente das Aufwerfen der
Mit-gliedschaftsfrage, die Selbstbindung an eine einmal getroffene
Eintrittsentscheidung, das Verhalten innerhalb einer
Indif-ferenzzone und die Resistenz innerhalb von Kontrolllücken
abgebildet wurden und so – eher ungewollt denn gewollt –in den
Experimenten das Verhalten in „ganz normalen Organisationen“
simuliert wurde.
Summary: This article proposes a reinterpretation of important
social psychological experiments about obedience. Thethesis of this
article is that the Soda Cracker Experiment of Frank, the Milgram
Experiment, the Stanford Prison Experi-ment, and the Deportation
Experiment do not represent general behavior in modern society. On
the contrary, the experi-ments only allow conclusions about
behavior in organizations. It is possible to show that the
experiments reproduce –more by chance than on purpose – typical
characteristics of organizational behavior: the membership
question, the pro-cess of the self binding of members, and behavior
within a typical zone of indifference.
1. Einleitung: Wozu Organisationen fähig sind
Der Schwerpunkt der Organisationssoziologie liegtseit der
Ausbildung dieses Forschungszweiges aufalltäglichen
Organisationsereignissen. Sie analysiertdas alltägliche
Entscheidungsverhalten von Füh-rungskräften in öffentlichen
Verwaltungen (Koch1993), arbeitet heraus, wie der „funktionale
Dilet-tantismus“ von Organisationen des Non-Profit-Sektors wirkt
(Seibel 1992), bietet Erklärungen dafür
an, weswegen es in Produktionsunternehmen immerwieder zum
„erfolgreichen Scheitern“ von Gruppen-arbeitskonzepten kommt (Kühl
2002). Oder sie ar-beitet heraus, weshalb es für
Entwicklungshilfeinsti-tutionen funktional ist, sich bei der
Abwicklungihrer Projekte nicht allzu genau über die Details
in-formieren zu lassen (Rottenburg 2002).
Es fällt auf, dass sich die Organisationssoziologie –von sehr
wenigen Ausnahmen abgesehen – bisherkaum den Themen gewidmet hat,
die aufgrund ih-rer Monstrosität als zentrale Brüche in der
moder-nen Gesellschaft interpretiert werden (vgl. auch dieKritik
bei Bauman 1989: 8ff.). Wie ist es möglich,dass in der modernen
Gesellschaft Ereignisse statt-finden, die dem Selbstverständnis der
Modernisie-rung zutiefst zuwiderlaufen? Welche organisatori-schen
Entwicklungen, so beispielsweise eine bishersoziologisch kaum
behandelte Frage, waren nötig,damit 1915 innerhalb von wenigen
Monaten derGenozid an den Armeniern ausgeführt werdenkonnte (vgl.
Dadrian 1995)? Wie lässt sich dieFunktionsweise der Gulags
soziologisch erklären(vgl. Applebaum 2003)? Welche
organisations-
90 © Lucius & Lucius Verlag Stuttgart Zeitschrift für
Soziologie, Jg. 34, Heft 2, April 2005, S. 90–111
* Die Thesen dieses Artikels habe ich in Seminaren an derVenice
International University, der Universität München,der Universität
Hamburg, der Universität der BundeswehrHamburg, der Universität
Bielefeld und der UniversitätKiel vorgestellt. Adrian Itschert,
André Kieserling, Bar-bara Kuchler, Boris Holzer und Veronika Tacke
sowie vierGutachtern der Zeitschrift für Soziologie sei für die
teil-weise ausführliche Kritik früherer Fassungen dieses Arti-kels
gedankt. Mein ganz besonderer Dank gilt Christophvon Lowtzow, der
nicht nur eine frühe Fassung dieses Ar-tikels ausführlich
kommentiert hat, sondern mich vor überzwei Jahrzehnten mit den
sozialpsychologischen Experi-menten zur Gehorsamsbereitschaft
vertraut gemacht hat.
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soziologischen Erkenntnisse kann man aus denMassenmorden an
geistig Behinderten und psy-chisch Kranken während des
Nationalsozialismusziehen (vgl. Schmuhl 1987, Bock 1991)? Weswe-gen
konnten die Massendeportationen von Juden,Roma und Sinti in die
Vernichtungslager in Ost-europa ohne große Proteste abgewickelt
werden?Wie konnte die „Ordnung des Terrors“ in
denKonzentrationslagern der Nationalsozialisten auf-rechterhalten
werden (vgl. Sofsky 1997)? Welcheorganisatorischen Prozesse
spielten beim „Kriegohne Gnade“ zwischen den USA und Japan
einewichtige Rolle (vgl. Dower 1986)? Wie lassen sichdas My Lai
Massaker oder andere Morde der US-Armee an der Zivilbevölkerung
während des Viet-nam-Kriegs erklären (vgl. Kelman 1973,
Kotek/Ri-goulot 2000)?
Im Gegensatz zur Organisationssoziologie – undletztlich der
Soziologie insgesamt – hat die experi-mentelle Sozialpsychologie
überraschend wenig Be-rührungsängste gegenüber diesen
Fragestellungen.Unter kontrollierten Bedingungen werden in
derSozialpsychologie Testpersonen zu Reaktionen ver-leitet, die aus
der Außenperspektive als „moralischhöchstproblematisch“ angesehen
werden. Hinterzentralen sozialpsychologischen Experimenten
stecktdie Frage, ob das Individuum für Verhaltensweisenwie
Gewaltbereitschaft oder Brutalität disponiertist oder ob es durch
die Übernahme von Rollen zueinem solchen Verhalten gebracht wird
(vgl. Sabini/Silver 1983: 147, Bauman 1989: 153).
Ziel dieses Artikels ist es, zentrale sozialpsychologi-sche
Experimente zur Gehorsamsbereitschaft
einerorganisationssoziologischen Neuinterpretation zuunterziehen.1
Bei der Interpretation des Soda-Cra-cker-, des Milgram-, des
Stanford-Prison- und desDeportationsexperiments wird, so die
Kritik, derfür die Interpretation von Laborexperimenten typi-sche
Fehler einer Übergeneralisierung der Ergebnis-se gemacht: Die
Interpretation der Experiment-ergebnisse wird nicht auf ein
spezifiziertes sozialesSystem (zum Beispiel informelle
Gruppensituatio-nen) beschränkt, sondern die Aussagen werden
für
das Verhalten in der Gesellschaft insgesamt (also inspontanen
Interaktionen, in Gruppen, in sozialenBewegungen, in Organisationen
etc.) generalisiert.2
Die These dieses Artikels lautet, dass bei diesen
vierExperimenten zur Gehorsamsbereitschaft unge-wollt das Verhalten
in Organisationen simuliertwurde und deswegen aus den Experimenten
zwarRückschlüsse auf das Verhalten von Personen inOrganisationen
möglich sind, nicht aber auf ihrVerhalten in der modernen
Gesellschaft generell. Esliegt in der Natur des Laborexperiments,
dass diehier vorgestellte Argumentation zur Reichweite
derExperimente zur Gehorsamsbereitschaft (nur) aufPlausibilitäten
aufbauen kann.3 Bei sozialpsycholo-gischen Experimenten in Laboren
handelt es sichimmer erst einmal „nur“ um eine Interaktion
zwi-schen einem Wissenschaftler und einer oder mehre-ren
Versuchspersonen. Das Verhalten in Experi-menten interessiert aber
nur insofern – und hier
Stefan Kühl: Ganz normale Organisationen 91
1 Die soziologische (Re-)Interpretation von sozialpsycho-logisch
angelegten Experimenten mag sowohl für einenSoziologen als auch für
einen Psychologen ungewohnteKost sein. Schon in den siebziger
Jahren stellte JohanGoudsblom (1979: 22f.) fest, dass die
soziologische Inter-pretation von Experimenten, die in
psychologischen La-bors durchgeführt wurde, von der Zunft lediglich
mit Na-senrümpfen zur Kenntnis genommen wird. An dieserHaltung, die
sich nur durch die etablierte Arbeitsteilungzwischen Soziologie und
Psychologie erklären lässt, hatsich in den letzten dreißig Jahren
nichts geändert.
2 Vgl. zu typischen Fehlerquellen beim LaborexperimentKühl 2005.
Neben der angeführten Fehlerquelle einerÜbergeneralisierung lassen
sich weitere typische Fehler-quellen bei Laborexperimenten
benennen. Eine Fehler-quelle in der Interpretation von Experimenten
betrifft diestatistische Validität. Es muss hinterfragt werden, ob
diestatistischen Prüfverfahren richtig angewandt wurden
undausreichen, um die These zu bestätigen. So lässt sich
beimStanford-Prison-Experiment fragen, ob man aufgrund dernur
einmaligen Durchführung des Experiments die Ergeb-nisse
generalisieren darf. Überraschenderweise spielt die-ses Experiment
trotz des „n = 1“ in der ansonsten auf hoheFallzahlen fokussierten
Sozialpsychologie eine zentraleRolle und wird deswegen von mir auch
in die Argumenta-tion einbezogen. Eine weitere Fehlerquelle
betrifft den Zu-sammenhang zwischen der statistischen Hypothese
undder Sachhypothese. Es ist vorstellbar, dass die
statistischenVerfahren korrekt angewandt wurden, die bestätigten
Hy-pothesen aber – aufgrund von Fehlern in der Operationali-sierung
– nicht die Sachhypothesen belegen. Beim Mil-gram-Experiment oder
beim Stanford-Prison-Experimentlässt sich beispielsweise fragen, ob
die – hoffentlich – rich-tig gerechneten statistischen Ergebnisse
wirklich ein Indizfür Gehorsamsbereitschaft sind oder ob sie
vielleicht ehereine angeborene oder ansozialisierte
Brutalitätsbereit-schaft widerspiegeln.3 Methodisch betrachtet
handelt es sich bei den in diesemArtikel angestellten Überlegungen
um Ad-hoc-Hypothe-sen, die aus dem Datenmaterial der vier
Experimente ge-wonnen werden. Im Rahmen der quantitativ
orientiertenExperimentalforschung ist die Aufstellung von
Ad-hoc-Hypothesen ein wichtiger Schritt bei der Interpretationvon
Experimenten. Die aufgestellten Ad-hoc-Hypothesenkönnen jedoch
nicht durch die Ergebnisse der Experimen-te als bestätigt oder
falsifiziert angesehen werden, sondernmüssten, wenn man dem
Paradigma der Sozialpsychologiefolgen wollte, in einem zweiten
Schritt durch neue Experi-mente geprüft werden.
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liegt ein Paradox dieser Methodik – als das Verhal-ten im
Experiment für Verhalten außerhalb derexperimentellen Situation
charakteristisch ist. Undgenau diese Verbindung zwischen der
sozialen Si-tuation in einem Experiment und den sozialen
Si-tuationen außerhalb des Labors kann selbst nichtexperimentell
belegt werden, sondern lediglich übereinen gut begründeten
Experimentaufbau oderüberzeugende Gründe in der Interpretation des
Ex-periments plausibilisiert werden (Greenwood 1989:175ff.).
Nachdem im folgenden zweiten Abschnitt
FranksSoda-Cracker-Experiment, das Milgram-Experi-ment, das
Stanford-Prison-Experiment und das De-portationsexperiment in aller
Kürze vorgestellt wer-den, werden im dritten Abschnitt die
Experimenteunter dem Gesichtspunkt der Mitgliedschaft ana-lysiert.
Im Mittelpunkt des vierten Abschnitts stehtdie Frage, wodurch die
Bindungsbereitschaft an dieMitgliedschaftserwartungen hergestellt
wird. StattGeldzahlungen scheinen die Selbstbindungen derMitglieder
an einmal getroffene Eintrittsentschei-dungen eine zentrale Rolle
zu spielen. Im fünftenAbschnitt wird herausgearbeitet, weswegen in
denExperimenten die Verhaltenserwartungen an dieTestpersonen
permanent gesteigert werden können.Eine wichtige Rolle nimmt dabei
die Indifferenzzo-ne ein, auf die sich die Testpersonen bei der
Einwil-ligung zum Experiment einlassen. Im sechstenAbschnitt wird
aufgezeigt, wie die Testpersonen„Kontrolllücken“ nutzen, um sich
den Anforderun-gen wenigstens teilweise zu entziehen. Im
siebtenAbschnitt werden weitere
Forschungsperspektivenherausgearbeitet. Es spricht einiges dafür,
dass Or-ganisationen, die auf der Freiwilligkeit von
Mit-gliedschaften beruhen, in der Formalisierung
vonVerhaltenserwartungen weiter gehen können alsOrganisationen, die
auf den Mechanismus derZwangsmitgliedschaft zurückgreifen.
2. Sozialpsychologische Experimente zurGehorsamsbereitschaft:
Die mehr oderminder ungewollte Simulation vonVerhalten in
Organisationen
In der Frühphase der Sozialpsychologie standen, be-sonders
aufgrund der Prägung durch die Arbeitenvon Kurt Lewin, Fragen des
Anpassungsdrucks imMittelpunkt. Muzafer Sherif zeigte
beispielsweise,wie sich die Einschätzungen von Testpersonen
ver-ändern, wenn diese durch andere anwesende Per-sonen beeinflusst
werden. In seinem Experimentmussten Testpersonen die Bewegung eines
Licht-
punktes in einem dunklen Raum beschreiben. DieAnwesenheit von
anderen Personen führte dazu,dass die Testperson häufig nicht mehr
den eigenenEinschätzungen folgte, sondern sich vielmehr anspontan
etablierten Normen, also den Entscheidun-gen der anderen anwesenden
Personen, orientierte(Sherif 1936: 93f.). Solomon E. Asch zeigte in
ei-nem anderen maßgeblich durch Lewin beeinfluss-ten Experiment,
wie stark Personen sich dem Druckanderer Personen unterordnen. In
seinem Experi-ment wurden sieben Personen aufgefordert, dieLänge
dreier Linien einzuschätzen. Sechs der siebenPersonen waren
Mitglieder des Forschungsteams,die – ohne dass es die siebte Person
wusste – ledig-lich die Rolle von Testpersonen spielten und
syste-matisch falsche Einschätzungen abgaben. Das Er-gebnis war,
dass unter dem Druck der sechsPersonen die eigentliche Testperson
den falschenEinschätzungen der anderen Personen folgte (Asch1951:
177ff., 1955: 31ff.). Inspiriert durch die frü-hen von Sherif und
Asch durchgeführten Experi-mente entwickelte sich in der
Sozialpsychologie einstarkes Interesse für Fragen der
Gehorsamsbereit-schaft und der Autoritätshörigkeit – ohne dass
aberdarüber reflektiert wurde, ob durch die neuen Ex-perimente nach
wie vor spontane Interaktionenoder vielleicht andere soziale
Phänomene simuliertwurden.4
Eines der ersten Experimente zur Untersuchung
vonGehorsamsbereitschaft war das Soda-Cracker-Expe-riment des
Lewin-Schülers Jerome D. Frank (1944).Die Studie wurde Mitte der
dreißiger Jahre durch-geführt, um den Widerstand von Kindern gegen
dieNahrungsmittelaufnahme näher zu untersuchen. ImExperiment
verlangte der Experimentleiter von er-wachsenen Testpersonen, zwölf
ungesalzene, wenigschmackhafte Kekse zu essen. Einer ersten
Gruppevon Testpersonen wurde mitgeteilt, dass das
wis-senschaftliche Experiment das Essen von Soda-Cra-ckern nötig
mache. Diese Testpersonen aßen dieCracker in der Regel, ohne offene
Ablehnung zuzeigen (Situation 1). Einer zweiten Gruppe
wurdemitgeteilt, dass es für das Experiment keinen Unter-schied
mache, ob die Testpersonen die Soda-Cra-cker essen oder nicht, dass
aber der Experimentlei-ter versuchen werde, die Testpersonen zum
Essendieser Cracker zu bringen. In dieser Gruppe kam essehr schnell
zu verschiedenen Formen des Wider-standes gegen die teilweise
gewaltsamen Bestrebun-
92 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 34, Heft 2, April 2005, S.
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4 Zu Recht wirft Kieserling (1999: 17, auch 343) die Fra-ge auf,
ob die frühe experimentelle Kleingruppenfor-schung wirklich
Gruppenprozesse untersucht hat odernicht vielmehr einmalige
Face-to-face-Interaktionen.
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gen des Experimentleiters, die Testperson zum Es-sen zu bekommen
(Situation 2). Den Testpersonender dritten Gruppe wurde diese
Information erstmitgeteilt, nachdem sie zusammen mit dem
Experi-mentleiter einen ersten Keks verspeist hatten. Indiesem Fall
war die typische Reaktion der Testper-sonen große Unklarheit
darüber, ob sie mit dem Es-sen des Kekses fortfahren sollten oder
nicht (Situa-tion 3).
Inspiriert durch das Soda-Cracker-Experiment führ-te Stanley
Milgram in den frühen sechziger Jahrendas wohl bekannteste
Experiment zur Autoritäts-hörigkeit durch.5 In dem Grundexperiment
erklärteein mit zentralen Insignien der wissenschaftlichenAutorität
ausgestatteter Experimentleiter der Test-person, dass diese im
Rahmen eines Experimentszur Lernfähigkeit von Schülern die Rolle
eines Leh-rers zu übernehmen habe. Wenn ein im Nebenraumsitzender
Schüler eine falsche Antwort gab, solltedie Testperson diesem
Elektroschocks in kontinu-ierlich zunehmender Stärke verabreichen.
Die Test-person wusste nicht, dass der Schüler von einemMitarbeiter
des Forschungsteams gespielt wurdeund seine Reaktionen auf die
Stromstöße, wieSchmerzensschreie, Proteste und plötzliches
Ver-stummen, lediglich simuliert waren. Sowohl in demdurch Milgram
durchgeführten Grundexperimentals auch in Reproduktionen des
Experiments durchandere Forscher war ein überwiegender Teil
derTestpersonen bereit, Stromschläge von 450 Volt zuverabreichen,
Stromstöße also, die beim Schüler ex-treme Schmerzen hervorgerufen
hätten (vgl. Mil-gram 1963; siehe auch Ancona/Pareyson
1968,1971/1972, Rosenhan 1969, Edwards et al. 1969,Mantell 1971a,
1971b, Kilham/Mann 1974: 699,Burley/McGuiness 1977, Shanab/Yahya
1978, Mi-randa et al. 1981, Schurz 1985, Meeus/Raaijma-kers
1986).6
Das Stanford-Prison-Experiment, das von einerForschungsgruppe um
Philip Zimbardo durch-geführt wurde, erlangte eine ähnliche
Prominenzwie das Milgram-Experiment. In diesem Experi-ment, das
lediglich einmal Anfang der siebziger Jah-re durchgeführt wurde,
teilte der Experimentleitereine Gruppe von „normalen“ Männern nach
demZufallsprinzip in eine Gruppe von Gefängniswär-tern und eine
Gruppe von Gefangenen auf. In einemfiktiven Gefängnis in der
Universität von Stanfordsollten die beiden Gruppen für einige Tage
die Rol-len von Gefängniswärtern und Gefangenen spielen.Dafür
wurden die Wärter mit Uniformen, Sonnen-brillen, Pfeifen und
Knüppeln ausgestattet, wäh-rend den Gefangenen eine
Gefangenenkleidung mitIdentifikationsnummern auf der Vorder- und
Rück-seite angezogen wurde. Das für zwei Wochen ge-plante
Experiment wurde von den Experimentlei-tern nach sechs Tagen
abgebrochen, weil sich beider Hälfte der Gefangenen starke
Anzeichen vonPassivität und Depression ausbildeten, während ei-nige
Wärtern sadistische Verhaltensweisen ent-wickelten (vgl. Haney et
al. 1973: 69ff.; fernerZimbardo et al. 1973, Zimbardo et al.
1975).
In der Literatur bisher weitgehend unbeachtet ge-blieben ist das
ursprünglich als Planspiel konzipier-te Deportationsexperiment
(vgl. Kraus 1987: 50ff.,
Stefan Kühl: Ganz normale Organisationen 93
Abb. 1 Anteil der Versuchsper-sonen, die sich vor dem Verzehr
dessechsten Kekses geweigert haben,die Nahrungsaufnahme
fortzuset-zen, und auch durch direkten Drucknicht dazu zu bewegen
waren, denVerzehr fortzusetzen (nach Frank1944: 28).
5 Vgl. für die Referenz zu Franks Experiment Milgram1963: 372.6
Aufgrund eines anderen Experimentaufbaus können dieForschungen von
Meeus/Raaijmakers 1986 nur mit Ein-
schränkung hinzugezogen werden. Es geht in dieser For-schung
nicht um die körperliche Bestrafung eines Schülers,sondern um die
ungerechtfertigte Ablehnung eines ver-meintlichen Bewerbers für
eine Arbeitsposition. Die Studievon Kilham und Mann ist nur
begrenzt vergleichbar, weilnicht das Baseline-Experiment von
Milgram durchgeführtwurde, sondern eine Variation des Experiments,
in dem einPeer die Stromstöße setzt und die Versuchsperson
lediglichdie Anweisung zum Stromstoß geben muss. Für Jordanienwurde
aus Vergleichbarkeitsgründen das Sample mit jungenErwachsenen und
einer Gehorsamkeitsbereitschaft von62,5 % (Shanab/Yahya 1978)
herangezogen und nicht dieVorläuferstudie mit Kindern und einer
Gehorsamkeits-bereitschaft von 73 % (Shanab/Yahya 1977). Die
Ergebnis-se der Studie über Südafrika (Edwards et al. 1969)
konntennur über die Sekundärliteratur erschlossen werden.
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Berg 1988: 121ff.).7 Dabei handelt es sich um dieSimulation
einer Deportation von mehreren hun-derttausend Gastarbeitern aus
dem Osten Deutsch-lands in ein radioaktiv verseuchtes Gebiet in
Süd-deutschland. Für diese Massendeportation musseine Gruppe von
Testpersonen nächtliche Transpor-te durch Deutschland planen, die
Bahnwaggons fürden Transport einer großen Anzahl von
Personenentwickeln und ausstatten, eine möglichst kosten-günstige
Verpflegung organisieren und die Arbeits-fähigkeit der Personen
nach ihrer Ankunft imstrahlenverseuchten Gebiet untersuchen. Die
Test-personen nehmen verschiedene Stellen im Rahmender Operation
ein und dürfen nur schriftlich mit-einander kommunizieren, die Züge
werden im Spieldurch Formulare symbolisiert. Anders als beim
Milgram-Experiment und beim Stanford-Prison-Experiment sind die
„Opfer“ des organisatorischenVerhaltens also „virtuell“. Diese
Distanz zumOpfer entspricht weitgehend der Situation in
denVerwaltungen, die für die Abwicklung der Massen-deportationen
während des Nationalsozialismusverantwortlich waren.8 Als Ziel der
simuliertenOperationen wird den Teilnehmern die
offizielleZweckformulierung eines Bahnunternehmens, alsodie
möglichst effektive Abwicklung von Güter- undPersonentransporten,
genannt. Dass es sich bei denTransporten um Zwangsdeportationen von
Auslän-dern in ein strahlenverseuchtes Gebiet handelt,kann jeder
Stelleninhaber aber aus den mitgeliefer-ten Informationen
erschließen. Das Experimentwurde seit den frühen siebziger Jahren
mit 350 ver-schiedenen Gruppen mit durchschnittlich
fünfzehnTeilnehmern durchgeführt. Nur in einem einzigenFall wurde
der Widerstand so stark, dass das Spielvon den Teilnehmern selbst
abgebrochen wurde. Inallen anderen Fällen wurde das Spiel von der
Spiel-leitung beendet, nachdem eine signifikante Anzahlvon Zügen
unter Beteiligung aller Teilnehmer dieBahnhierarchie durchlaufen
hatte und in den strah-lenverseuchten Gebieten angekommen war
(Kraus2003: 3).9
94 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 34, Heft 2, April 2005, S.
90–111
Abb. 2 Ergebnisse des ursprüng-lichen Baseline-Experiments von
Mil-gram (1963) und dessen Replikatio-nen: Anteil der
Versuchspersonen, dieStromstöße bis zur Obergrenze von450 Volt
versetzten (siehe auch dieÜbersichten bei Smith/Bond 1993:20, Blass
2000b: 59, Neubacher2002: 54). In seinen späteren Studiennutzte
Milgram (1974: 56ff.) ein neu-es Baseline-Experiment (weniger
ele-gantes Gebäude, Erwähnung einesHerzproblems durch den
Schüler),das aber ebenfalls bei 65 % der Per-sonen die Bereitschaft
erzielte, Strom-stöße von 450 Volt zu setzen.
7 Auf die methodischen Unterschiede zwischen Experi-ment,
Rollenspiel und Planspiel kann hier nicht im Detaileingegangen
werden; siehe Berg 1988: 149f. Unterschiedescheinen aber nicht
vorrangig im Aufbau dieser drei Me-thoden zu legen, sondern im
Erkenntnisinteresse. Wäh-rend bei Experimenten explizit der
wissenschaftliche Er-kenntnisgewinn im Mittelpunkt steht, werden
Rollen- undPlanspiele häufig bei einem vorrangig didaktischen
Inte-resse eingesetzt. Franks Soda-Cracker-Experiment und
dasMilgram-Experiment ähneln stark dem Idealtyp eines
so-zialpsychologischen Experiments, beim Deportations-experiment
finden sich viele Elemente des Planspiels.
DasStanford-Prison-Experiment liegt mit seinen starken
Rol-lenspielanteilen zwischen diesen beiden Polen. Wichtig
istsowohl bei Experimenten als auch bei Planspielen, dassdas
Verhalten nicht mit dem Hinweis „es war doch nurein Experiment“
oder „es ist doch nur ein Spiel“ gerecht-fertigt werden kann. Beim
Deportationsexperiment wirddies dadurch sichergestellt, dass die
Teilnehmer zu Beginnaufgefordert werden, im Spiel so zu handeln,
wie sie glau-ben, dass sie sich auch in der Realität verhalten
würden,und wie sie es verantworten können; vgl. Kraus 1987: 75,Berg
1988: 154.
8 So unternahm Franz Novak, der Transportoffizier AdolfEichmanns
im Reichssicherheitshauptamt, beispielsweisein der Zeit von 1940
bis zu seiner Versetzung nach Ungarnim März 1944 keine einzige
Dienstreise in die erobertenGebiete im Osten. Es spricht vieles
dafür, dass er in derZeit, in der er für die Zugplanungen der
Massendeporta-tionen nach Auschwitz und in die anderen
Vernichtungs-lager verantwortlich war, kein einziges Mal bei
einemTransport anwesend war; vgl. Pätzold/Schwartz 1994: 30.9 Weil
das Deportationsexperiment in der Regel unter Ge-sichtspunkten der
politischen Jugend- und Erwachsenen-bildung durchgeführt wurde,
wurden die Ergebnisse nie so
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Aus soziologischer Perspektive ist die
dominierendeInterpretation dieser Experimente interessant.
DieForschungen sind für die Sozialpsychologie zentral,weil durch
sie experimentell eine Art DurkheimscheUrerkenntnis bewiesen werden
konnte, die besagt,dass Verhaltensweisen nicht primär auf
Charakter-eigenschaften von Personen zurückgeführt werdenkönnen,
sondern als Ergebnis „situativer Zwänge“zu verstehen sind (vgl.
Milgram 1974: 138; sieheauch Blass 2000a: xiii). Die Experimente
zeigten,dass nicht primär ein ansozialisiertes oder gar
ange-borenes Verhalten der Testpersonen wichtig war,sondern ein den
jeweiligen Situationen entsprechen-des rollenadäquates Verhalten,
das nur wenig nachAlter, Geschlecht, kulturellem Hintergrund und
po-litischer Einstellung variierte.10
Besonders die Forschergruppen um Philip Zimbar-do und Stanley
Milgram tendierten bei der Diskus-
sion der Reichweite dieser „Urerkenntnis“ dazu,die Ergebnisse
ihrer Experimente als Aussagen überGehorsamsbereitschaft und
Autoritätshörigkeit ins-gesamt zu generalisieren. Zimbardo nimmt
seinExperiment zum Anlass, auf die Wirkung von „Eti-kettierungen“
in der modernen Gesellschaft hin-zuweisen, und suggeriert, dass aus
den Experimen-ten Erkenntnisse nicht nur über das Verhalten
inGefängnissen, sondern in der modernen Gesell-schaft insgesamt
gewonnen werden können (vgl.Zimbardo et al. 1975: 280ff.). Milgram
erklärt dasVerhalten der Versuchspersonen damit, dass sie inseinem
Experiment in gesellschaftliche Strukturenwie Wertsysteme und
Autoritätsbeziehungen einge-bunden sind, aus denen sie nur mit
großen Schwie-rigkeiten aussteigen können. Charakteristisch fürden
breiten Erklärungsanspruch ist Milgrams Fra-ge, wozu eine Regierung
mit all ihrer Autorität undihrem Prestige fähig ist, wenn bereits
ein unbekann-ter Experimentleiter Erwachsene dazu bringenkann,
einen fünfzigjährigen Mann zu unterdrückenund ihm schmerzhafte
Elektroschocks zu verset-zen.11
Die Methodenkritiker des Milgram-Experimentsspürten, dass es
Probleme mit der Generalisierungder Erkenntnisse aus den
Experimenten gab.12 So
Stefan Kühl: Ganz normale Organisationen 95
präzise dokumentiert, dass sich Zeitreihen oder
Vergleich-barkeiten zwischen Teilnehmergruppen herstellen
ließen.Die Spielsitzungen konnten nicht so stark
standardisiertwerden, dass der Verlauf hätte kontrolliert variiert
werdenkönnen, um die Auswirkungen von Variablen auf denSpielverlauf
zu beobachten. Einzelne Spielverläufe lassensich noch durch
„Archivarbeiten“ rekonstruieren, weil dieDienstwegnachrichten, die
Zuglaufzettel und Lebensmit-telzettel von diesen Spielen aufbewahrt
wurden. Besondersauffällige Spielsituationen wurden mittels
Experteninter-views mit den Spielleitern rekonstruiert. Die (bisher
nurvorläufige) Auswertung basiert auf insgesamt fünf
durch-geführten Deportationsexperimenten. Bei einem Experi-ment
handelt es sich um die sehr gut dokumentierten Er-gebnisse eines
Experiments aus dem Jahr 1987 (Kraus1987, Berg 1988). Bei zwei
weiteren Experimenten ausden Jahren 2001 und 2002 sind die
Zuglaufzettel, dieschriftliche Kommunikation und ein Teil der
Auswer-tungsdokumentation erhalten geblieben, so dass es mög-lich
war, den Spielverlauf zu rekonstruieren. Zwei weitereExperimente
wurden in Kooperation mit Eric Treske undUrsula Bohn in den Jahren
2000 und 2002 mit zwei unter-schiedlichen Studierendengruppen
durchgeführt; vgl.Hansjakob 2003, Taffertshofer 2003.10 Siehe die
Replikationen des Milgram-Experimentsdurch Shanab/Yahya 1977: 534
(Einfluss Alter, Ge-schlecht), Mantell 1971a (Einfluss kultureller
Hinter-grund, politische Einstellung), Schurz 1985 (Einfluss
vonzwanzig Persönlichkeitsmerkmalen). Insgesamt zeigen
ver-schiedene Follow-Ups zum Milgram-Experiment in Bezugauf die
Gehorsamsbereitschaft wenig Variationen nachGeschlecht, Alter,
Rasse, Bildung oder politischer Einstel-lung; siehe aber
Sheridan/King 1972: 165f., Kilham/Mann1974: 700ff. Nur vereinzelt
wurden positive Korrelatio-nen von Gehorsamsbereitschaft mit
niedriger Ich-Stärke(vgl. Larsen et al. 1976) und der Unfähigkeit
sich in ande-re Personen zu versetzen (vgl. Burley/McGuiness
1977)festgestellt. Sie stellen aber die situationalistische
Grund-erklärung des Experiments nicht in Frage.
11 Vgl. Milgram 1965: 75. Eine typische Verallgemeine-rung
findet sich bei Kroners (1988: 19) Anwendung aufdie
Friedensforschung.12 Man kann bei jedem Experiment den Vorwurf
erheben,dass es nur Ausschnitte der sozialen Wirklichkeit
wieder-gibt. Aber deswegen, so die methodische Erwiderung, istes ja
„auch nur ein Experiment“ und nicht die „gesell-schaftliche
Realität“. Die vier hier vorgestellten Experi-mente unterscheiden
sich in Hinblick auf den Grad der„Verfälschung“ der Realität. Gegen
die Validität des De-portationsexperiments könnte man vorbringen,
dass unterden Rollen- und Planspielbedingungen
Verhaltensweisenentstehen können, die in „richtigen Organisationen“
nichtauftreten würden. Dieses Argument wurde auch gegen
dasStanford-Prison-Experiment verwendet, weil es nur umdie
Simulation eines Gefängnisses ging. Auffällig ist je-doch, dass die
Verhaltensweisen im Experiment kaum mitdem Spielcharakter begründet
wurden (in die Richtung:„Super, endlich kann ich mal Ausländer
verseuchen spie-len.“; „Toll, ich wollte immer schon Gefangene
verprü-geln.“). Der spielerische Charakter wird erst in der
Aus-wertung hervorgehoben, wenn es um die Rechtfertigungder
Verhaltensweisen geht. Milgram umschifft dieses Pro-blem geschickt,
indem er durch seinen Experimentaufbauden Testpersonen die
Rechtfertigungsmöglichkeit nimmt,dass es sich ja nur um ein Spiel
handelt. In der Wahrneh-mung der Testperson werden den Schülern ja
reale Strom-stöße versetzt (siehe die trotzdem erhobene Kritik an
derbegrenzten Aussagefähigkeit durch Orne/Holland
1968).Interessanterweise setzt genau an diesem Punkt in der So-
-
behauptete beispielsweise Erich Fromm (1973: 74),dass die
Erkenntnisse von Milgram nicht für das„reale Leben“ generalisierbar
seien. Die Experi-mente würden lediglich zeigen, dass in der
moder-nen Gesellschaft Wissenschaft einen so hohen Kre-dit genieße,
dass sich kaum eine Person vorstellenkann, dass im Namen der
Wissenschaft „falsch“ ge-handelt wird. Genauso wie Abraham sich
nicht vor-stellen konnte, dass Gott irrte, als er von ihm
ver-langte, seinen Sohn zu töten, hätten sich dieTestpersonen im
Milgram-Experiment nicht vor-stellen können, dass im Namen der
WissenschaftUnrecht geschehe. Eine ähnliche Auffassung
vertrittSteven Patten, der argumentiert, dass in
MilgramsVersuchsaufbau die Autorität von Experten
lediglichsimuliert wurde und es sich deswegen verbiete,Rückschlüsse
beispielsweise auf das Verhalten vonEichmann während des Holocaust
oder von Calleywährend des My Lai Massakers in Vietnam zu zie-hen
(vgl. Patten 1977a: 438f., auch 1977b: 350ff.).13
Die These, dass Gehorsamsbereitschaft in den Ex-perimenten mit
der Gehorsamsbereitschaft gegen-über wissenschaftlichen Autoritäten
zusammen-hängt, lässt sich jedoch nur schwer
plausibilisieren.Milgram konnte im so genannten
Bridgeport-Expe-riment zeigen, dass die Verlagerung in Gebäude
au-ßerhalb der Universität und der Verzicht auf einigeInsignien der
wissenschaftlichen Autorität die Ge-horsamsbereitschaft nicht
signifikant reduzierte(Experiment 10; vgl. Milgram 1974: 72ff.).14
Einesder auffälligsten Phänomene beim Stanford-Prison-Experiment
sind die Konflikte, die sich zwischenWärtern und den mäßigenden
wissenschaftlichenExperimentleitern ausbildeten (vgl. Zimbardo et
al.1973: 55ff.). Bei einem Großteil der Deportations-experimente
wurde auf jede Form der Simulation
von wissenschaftlicher Autorität verzichtet, und imKontext von
Lehrerfortbildungen hatte die Experi-mentleitung eine geringere
universitäre Ausbildungals die Testpersonen.
Die Hauptfrage, die durch die verschiedenen
sozial-psychologischen Experimente aufgeworfen wird,bleibt also,
weswegen Personen bereit sind, Dingezu tun, die sie unter
„normalen“ Umständen nie-mals tun würden. Weshalb essen Personen
zwölfäußerst geschmacklose Soda-Cracker, nur weil
einExperimentleiter dies von ihnen verlangt? Wie lässtsich
erklären, dass Personen bereit sind, auf Anwei-sung einer Autorität
Schülern schwerste Stromstößezu versetzen? Wie kommt es, dass
Personen, diesich selbst als Pazifisten bezeichnen, in der Rolledes
Gefängniswärters Gefangene stundenlang exer-zieren lassen? Wie ist
zu erklären, dass sich nach allder Aufklärung über die
Grausamkeiten des Holo-caust Testpersonen an einer simulierten
Deporta-tion von Minderheiten in strahlenverseuchte Gebie-te
beteiligen?
3. Das experimentelle Aufwerfen derMitgliedschaftsfrage
In der Interpretation besonders des Milgram-Expe-riments und des
Deportationsexperiments gibt eseinen, wenn auch schwach
ausgeprägten Erklä-rungsstrang, der auf Webers
Bürokratiekonzeptionzurückgreift. Die hohe Folgebereitschaft wird
mitder Arbeitsteilung zwischen verschiedenen Hierar-chiestufen oder
der Arbeitsteilung auf der gleichenhierarchischen Ebene erklärt.
Stanley Milgramkonnte in seinem Experiment „A Peer
AdministersShocks“ nachweisen, dass eine weitere Aufsplittungder
Aufgabe die Folgebereitschaft auf 93 % erhöh-te. Wenn die
Testperson nur Zuarbeiten leistet undeine andere Person die
Stromstöße setzt, entstehtdie größte Gehorsamsbereitschaft aller
Experiment-variationen.15 Perdita Berg erklärt die hohe
Folge-bereitschaft im Deportationsexperiment mit
den„scheinobjektiven, funktionalen Zwängen undStrukturen der
bürokratischen Organisation“, indie die Teilnehmer eingegliedert
werden. Das De-portationsexperiment lege nahe, dass auch ohne
96 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 34, Heft 2, April 2005, S.
90–111
zialpsychologie die Kritik an der Forschungsethik an. Essei doch
nicht möglich, dass man die Versuchspersonennicht nur über die
eigentlichen Ziele des Versuches täu-sche, sondern ihnen auch noch
vorspiele, sie würden ernst-haft Menschen verletzen; vgl. Baumrind
1964. Die Ideegespielter Experimente („ich erzähle Ihnen jetzt den
Auf-bau des Milgram-Experiments und bitte Sie dann, sich sozu
verhalten, als ob Sie das alles nicht wüssten“)
führteverständlicherweise nicht zu den gleichen Ergebnissen wiedie
ursprünglichen Experimente.13 Diese Form der Kritik hat in der
Sozialpsychologie Tra-dition. Experimente, so der generalisierte
Verdacht, bildenprimär das Verhalten in Experimenten ab und besagen
we-nig über das Leben außerhalb des Laboratoriums; vgl.Greenwood
1989: 177ff.14 Die Einschätzungen von Milgram (1963: 373) sind
hierwidersprüchlich. In seinem ursprünglichen Artikel deuteter
„consequences for performance“ durch die Verlagerungdes Experiments
nach außerhalb der Universität an.
15 Vgl. Milgram 1974: 122, Experiment 18; siehe auchden
ursprünglichen Antrag Milgrams an die National Sci-ence Foundation,
Milgram 1962: 22ff. Wesley Kilhan undLeon Mann (1974: 699) stellten
in ihrer Experimentseriefest, dass die Gehorsamsbereitschaft höher
ist, wenn dieVersuchsperson lediglich die Anweisung zum Setzen
einesStromstoßes geben muss, als wenn sie selbst den Knopffür einen
Stromstoß drücken muss.
-
Gruppendruck, ohne massenpsychologische Auf-heizung und ohne die
Wirkungen persönlicher Au-toritätsbeziehungen, alleine aufgrund
„situativerEinflüsse und Bedingungen“, dem „Faschismus
ver-gleichbare Vorgänge möglich sind“.16
Hier werden offensichtliche Parallelen zu
WebersBürokratietheorie hergestellt (vgl. z.B. Bauman1989: 160ff.).
Bürokratien bestehen nach Max We-ber aus einem kontinuierlichen,
regelgebundenenBetrieb von Amtsgeschäften, dem Prinzip der
Hie-rarchie, einem Set von Regeln, nach denen verfah-ren wird, und
einer aktenmäßigen Dokumentationder Abläufe und Entscheidungen. Die
Mitglieder ei-ner Bürokratie gehorchen folglich nur ihren
sachli-chen Amtspflichten. Sie haben genau definierteKompetenzen,
sind in eine eindeutige Hierarchieeingebunden und unterliegen einer
durch diese Hie-rarchie kontrollierten Amtsdisziplin (vgl.
Weber1976: 548ff.). Weber begreift bürokratische Ver-waltungen als
Maschinen, die ihre Aufgaben sach-lich, präzise und seelenlos
erledigen. Die technischeÜberlegenheit dieses bürokratischen
Mechanismussteht dabei für Weber genauso fest wie die tech-nische
Überlegenheit der Produktionsmaschine ge-genüber der klassischen
Handarbeit (vgl. Bardmann1994: 280).
Aber reicht diese Weberianische Erklärung für dieAnalyse dieser
Experimente aus?
Die Gemeinsamkeit aller vier Experimente ist, dasssie testen,
was Personen bereit sind zu tun, um ih-ren (Selbst-)Ausschluss aus
dem Experiment – zudem sie sich ohne Kenntnisse genauer Details
ver-pflichtet haben – zu verhindern. Die Konzeptiondes
Milgram-Experiments zielt darauf ab zu mes-sen, ob die Testperson
bereit ist, ein zentralesWenn-dann-Programm (Wenn der Schüler
einenFehler macht, dann setze einen um 15 Volt gestei-gerten
Stromstoß) zu ignorieren, wissend, dass die-se eine Verweigerung zu
einem sofortigen Aus-schluss in Form der Beendung des
Experimentsführt. Die Testpersonen werden bei einem Zögernmit den
Aufforderungen „Bitte fahren Sie fort“,„Das Experiment verlangt,
dass Sie fortfahren“,„Es ist absolut notwendig, dass Sie
fortfahren“ und„Sie haben keine Wahl, Sie müssen weitermachen“in
gesteigerter Form darauf hingewiesen, dass eineWeigerung eine
Verletzung der Experimentbedin-gung bedeutet (vgl. Milgram 1963:
372ff.). BeimDeportationsexperiment wird versucht, Personen,die
Zweifel am Zweck der Operation anmelden,
durch Verzögerungen, Beschwichtigungen und Zu-geständnisse zum
Verbleib in der Organisation zubewegen. Die Frage der Fortsetzung
wird also be-wusst nicht durch die Experimentleitung aufgewor-fen,
sondern es wird ausgetestet, ob es zu eigenstän-digen „Kündigungen“
kommt (vgl. Berg 1988:236). Dass beim Stanford-Prison-Experiment
dieGefangenen nicht selbst über ihren „Austritt“ ausdem Experiment
entscheiden können, scheint klar,befinden sie sich doch in einer
Publikumsrolle wiesie nur für totale Institutionen wie Gefängnisse,
Ir-renanstalten oder Wehrpflichtsarmeen typisch sind(vgl. Goffman
1961). Interessanter sind die Be-schränkungen für die Wärter. Der
Experimentauf-bau basiert darauf, dass den Wärtern die Möglich-keit
zum Ausstieg möglichst wenig vor Augengeführt wird, damit man die
Anpassung ihres Ver-haltens an die experimentellen Anforderungen
be-obachten kann (vgl. Haney et al. 1973: 70ff.).
Über diese für sozialpsychologische Experimenteeher untypische
Fokussierung auf die Frage von„Weitermachen oder Ausstieg“ wird
(wohl eher un-bewusst) ein Phänomen simuliert, dass für
Organi-sationen charakteristisch ist: die Mitgliedschaft.Der große
Fortschritt der Organisationssoziologiegegenüber der Weberianischen
Bürokratietheoriewar neben dem Abschied von einer zweckrationa-len
Konzeption von Organisationen die Einführungdes Konzeptes der
Mitgliedschaft (vgl. als Über-blick zum Abschied von der
ZweckrationalitätLuhmann 1973; zum Mitgliedschaftsbegriff Luh-mann
1964). Schon die frühe Organisationsfor-schung hatte einen Blick
dafür, dass sich Personenin einer spezifischen Organisation ganz
anders ver-halten als außerhalb der Organisation oder auchnur in
einer anderen Organisation. Die liebendeund sorgende Familienmutter
regiert als Macherinin „ihrem“ Unternehmen mit harter Hand. Der
Ab-teilungsleiter, der in seinem Ministerium für seinautoritäres
Verhalten bekannt ist, fällt an der War-teschlange im Supermarkt
durch ausgesprochen zu-vorkommendes Verhalten gegenüber seinen
Mit-menschen auf. Und die anwendungsorientierteManagementforschung
arbeitet sich seit Jahrzehn-ten an der Frage ab, wie man den
Fließbandarbei-ter, der bei der Leitung seines Fußballvereins
undbeim Bau seines Hauses beeindruckende Manage-mentqualitäten
zeigt, dazu bringen kann, wenigs-tens ein wenig dieses Know-hows
auch bei derMontage eines Kotflügels einzusetzen.
Die Luhmannsche Organisationssoziologie erklärtdieses „komische“
Verhalten mit Erwartungen, dieOrganisationen an ihre Mitglieder
stellen. Der Ein-tritt in eine Organisation bindet Personen an
einen
Stefan Kühl: Ganz normale Organisationen 97
16 Vgl. Berg 1988: 330 und 339. Diese Erklärungen wei-sen
Ähnlichkeiten mit Weberianischen Begründungsver-suchen für den
Holocaust auf; vgl. Bauman 1989: 18.
-
spezifisch eingeschränkten Möglichkeitsraum desVerhaltens. Die
Personen können in einer Organisa-tion nicht das gleiche
Verhaltensspektrum aus-schöpfen wie in einer Fußgängerzone, auf
einemSpielplatz oder in ihrer Familie. Die Verhaltens-regulierung
basiert auf einer Bedingung, die Aus-gangspunkt für alle weiteren
Formalisierungen vonVerhaltenserwartungen ist. Die Bedingung für
dieMitgliedschaft in Organisationen ist die Anerken-nung der
Erwartungen, die die Organisation an dasVerhalten ihrer Mitglieder
stellt. Dementsprechendist eine Nichtanerkennung dieser
Verhaltenserwar-tungen mit einer Mitgliedschaft nicht
vereinbar(Luhmann 1964: 54, 2000: 113). Die Organisatio-nen können
durch dieses Prinzip von der Frage derindividuellen Motivation
ihrer Mitglieder abstra-hieren. Ob jemand Mitglied in der
Organisation ge-worden ist, weil die Gehaltszahlungen hoch
sind,sich Wechselchancen in attraktivere Jobs bietenoder weil man
von den Kollegen viel lernen kann,ist für die Organisation
zweitrangig. Sie kann da-von ausgehen, dass es eine generalisierte
Motiva-tion ihrer Mitglieder gibt, den Befehlen, Regeln
undProgrammen der Organisation zu folgen, und dieMitglieder nicht
von der Sinnhaftigkeit jeder einzel-nen Vorschrift und Anweisung
überzeugt werdenmüssen (Luhmann 1964: 89ff., 1973: 128ff.).
Das Besondere an der Mitgliedschaftserwartung ist,dass diese
bereits dann verletzt ist, wenn man sichals Mitglied einer einzigen
Anforderung der Orga-nisation entzieht. Wer „eine Weisung seines
Vor-gesetzten“ nicht annimmt oder „einer Vorschriftaus Prinzip die
Anerkennung verweigert“, rebel-liert, so Luhmann (1964: 63), „gegen
das Systemund gegen alle formalen Erwartungen“. Die explizi-te
Aussage eines Sachbearbeiters des Bafög-Amtesgegenüber seiner
Chefin, dass er ihr die angeforder-te Akte einer Studierenden nicht
zu Verfügung stel-len wird, löst ja nicht deswegen erhebliche
organi-satorische Unruhe aus, weil diese eine Akte für dieArbeit
des Bafög-Amtes unerlässlich ist, sondernweil die Ablehnung auch
nur dieser einen kleinenAnweisung als Rebellion gegen alle
formalisiertenErwartungen in der Organisation interpretiert wer-den
muss.
Nur über diese Fokussierung der zentralen Mit-gliedschaftsregel
auf auch nur eine explizite Miss-achtung können Organisationen eine
Generalisie-rung von formalisierten Verhaltenserwartungenzustande
bringen, die in der modernen Gesellschaftsonst kaum noch
vorzufinden ist. Bei jeder Kom-munikation innerhalb einer
Organisation fragt sichein Mitglied, ob es sich gerade den formalen
Erwar-tungen der Organisation entsprechend verhält oder
nicht und ob es mit einer Ablehnung einer formalenErwartung die
Mitgliedschaft aufs Spiel setzt. DieFrage, die gerade bei
problematischen Anforderun-gen im Raum steht, ist: „Kann ich
Mitglied bleiben,wenn ich diese und jene Zumutung offen
ablehne?“(Luhmann 1964: 40).
Um das Argument zuzuspitzen: Erst die Fokussie-rung aller vier
Experimente auf „Weitermachenoder Ausstieg“ bewirkt, dass – wohl
eher unbe-wusst – die zentrale Mitgliedschaftsregel von
Orga-nisationen abgebildet wird und das Verhalten derTestpersonen
in Experimenten dem Verhalten vonMitgliedern in Organisationen so
ähnlich wird.17
Die Diskussionen zwischen Versuchsleiter und Test-person im
Soda-Cracker-Experiment, in dem dieTestpersonen versuchen sich den
Erwartungen zuentziehen ohne eine offene Verweigerung
auszuspre-chen, kann als eine Auseinandersetzung über die zen-trale
Mitgliedschaftsregel interpretiert werden. BeimMilgram-Experiment
macht der Experimentleitermit seiner expliziten Aufforderung an die
Testper-son, mit dem Experiment fortzufahren, diese
daraufaufmerksam, dass eine Nichtbeachtung eine Weige-rung ist, mit
der die Teilnahmebedingung verletztwird. Der Stress der
widerständigen Personen im De-portationsexperiment entsteht
dadurch, dass sie sichin ihrer Verweigerungshaltung zwar moralisch
imRecht sehen, aber sich durch die „Mitgliedschafts-regel“ an das
Experiment gebunden sehen.
Wie kann man erklären, dass Personen bereit sind,sich den
Bedingungen in den Experimenten zu un-terwerfen?
4. Die Bindungskraft vonOrganisationsmitgliedschaften:
zwischenAnreiztheorie und Selbstbindung
Sowohl in der sich auf Karl Marx berufenden Ar-beitssoziologie
als auch in der verhaltenswissen-schaftlichen Entscheidungstheorie
in der Traditionvon Chester Barnard wird die zentrale Bedeutungvon
Geldzahlungen herausgestellt. Geldzahlungensind, so die auf den
ersten Blick wenig überraschen-de Einsicht, ein effektives Mittel,
Personen an eine
98 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 34, Heft 2, April 2005, S.
90–111
17 Im Umkehrschluss kann man dann auch argumentieren,dass
Experimente die ihren Aufbau nicht auf die Frage„Weitermachen oder
Ausstieg“ zuspitzen die Mitglied-schaft nur begrenzt simulieren und
deswegen Schwierig-keiten haben, Rückschlüsse auf das Verhalten in
Organisa-tionen zuzulassen (siehe auch die frühen Versuche
vonAdams/Rosenbaum 1962 zur Simulierung von Mitglied-schaft).
-
Organisation zu binden. Anders als Interessens-organisationen,
die darauf angewiesen sind, dasssich ihre Mitglieder mit den
Zwecken und der Füh-rung der Organisation identifizieren und dass
diebereitgestellten Informationen Motivationskraft fürdie
Mitglieder haben, können sich Organisationen,die ihre Mitglieder
über Geld binden, Zwecke,Kommunikationen und Führungspersonal
leisten,die nicht motivierend auf die Mitglieder wirken(vgl.
Luhmann 1964: 89ff.).18
Da der Bedarf an Geld „chronisch“ ist, könnenMitglieder nicht
nur zeitlich befristet, sondern dau-erhaft an eine
Arbeitsorganisation gebunden wer-den. Sie können über Geldzahlungen
veranlasstwerden, den Wechsel von motivierenden Zwecken(Rettung von
aidskranken Kindern) zu wenig moti-vierenden Zwecken (Verkauf von
Aids-Medika-menten unter Profit-Gesichtspunkten) zu akzeptie-ren.
Mitglieder können über Geldzahlungen dazuveranlasst werden, auch
über längere Zeit demoti-vierende Informationen, etwa solche über
tödlicheNebenwirkungen neu entwickelter Medikamente,zu ertragen.
Organisationen ist es ferner möglich,Führungspersonal einzusetzen,
das sich zwar alssachkompetent hervortut, gegenüber den
Unterge-benen aber nicht besonders motivierend wirkt. Dadie
Folgebereitschaft über Geldzahlungen an dieMitglieder
sichergestellt wird, kann die Organisa-tion auf den charismatischen
Führer verzichten(Luhmann 1964: 94ff.). Nicht ohne Grund hebt
Max Weber hervor, dass die Ausbildung der Geld-wirtschaft eine
wesentliche Voraussetzung für dieAusbildung bürokratischer
Verwaltungen war –und man könnte ergänzen – für bürokratisierte
Ar-beitsorganisationen generell (Weber 1976: 558f.).
Es fällt jedoch auf, wie schwach in den Experimen-ten die
Bindungskraft von Geld ist. Zwar erhaltendie Teilnehmer beim
Soda-Cracker-Experiment,beim Milgram-Experiment und beim
Stanford-Pri-son-Experiment Vergütungen für ihre Teilnahme,und man
könnte aus einer organisationssoziologi-schen Perspektive hier ein
Substitut für Lohnzah-lung erkennen, aber die vergleichsweise
geringenSummen scheinen nicht der ausschlaggebendeGrund für die
Gehorsamsbereitschaft zu sein. Die 4$ für die einstündige Teilnahme
am Milgram-Expe-riment oder die 15 $ pro Tag, die beim
Stanford-Prison-Experiment bezahlt wurden, waren für dieTeilnehmer
vermutlich der Anreiz, sich für die Ex-perimente zu melden, können
aber das Verbleibenim Experiment nicht erklären. Milgram
wiederhol-te sein Experiment mit Studenten der Yale Univer-sity,
die kein Geld erhielten, und die Ergebnisse gli-chen sehr stark den
Ergebnissen der Testpersonen,die bezahlt wurden (vgl. Milgram 1963:
377). DieForschungsgruppe um Philip G. Zimbardo stelltefest, dass
die 15 $ für eine 8-stündige Wachschichtbeziehungsweise für 24
Stunden in Gefangenschaftim Verlauf des Experiments immer mehr zu
einerAbstraktion wurden, „eine schwache Quelle extrin-sischer
Rechtfertigung“, die viel weniger verlockendwar als die Motivation,
die aus der „dynamischenBeziehung zwischen Wärtern und Gefangenen
ent-stand“. So machten die Wärter unbezahlte Über-stunden und
verlangten nie mehr Geld, selbst als siebemerkten, wie ermüdend
ihre Aufgabe war. AmEnde des Experiments waren alle außer zwei
Ge-fangenen bereit, auf das schon verdiente Geld zuverzichten, wenn
sie „zur Bewährung“ freigelassenwerden würden (Zimbardo et al.
1975: 276ff.; zitiertnach der deutschen Übersetzung Zimbardo et
al.2002: 75). Die geringe Bindungswirkung von Geldwird beim
Deportationsexperiment noch deutlicher.Aufgrund der Integration in
schulische oder univer-sitäre Lehrveranstaltungen erhielten die
Teilnehmerkeine Zahlungen (vgl. Berg 1988: 181ff.).
Wie lässt sich die Rolle von Geldzahlungen anTestpersonen
einordnen? Lediglich in Ausnahme-situationen scheinen Akteure ihre
Entscheidungenentsprechend der Rational-Choice-Theorie
durch-zukalkulieren. Diese Form der rationalen Kalkula-tion tritt
auf, wenn man den eigenen Einsatz, denNutzen, die Nebenfolgen und
die möglicherweiseverpassten Alternativen bestimmen kann. Die
Über-
Stefan Kühl: Ganz normale Organisationen 99
18 Die in der Organisationsforschung zentrale Unterschei-dung
zwischen Arbeits- und Interessensorganisation bautmaßgeblich auf
dieser Unterscheidung auf. Arbeitsorgani-sationen wie Unternehmen,
Verwaltungen, Universitätenoder Krankenhäuser sind nicht darauf
angewiesen, dassdie Zwecke, Ziele und Interessen der Mitglieder mit
denender Organisation übereinstimmen. Da diese Organisatio-nen ihre
Mitglieder durch Geldzahlungen an sich binden,haben sie die
Möglichkeit, sich über die individuellen Mo-tivlagen ihrer
Mitglieder weitgehend hinwegzusetzen. Da-gegen sind
Interessensorganisationen wie Kirchen, Vereineund Parteien „von
unten“ konstituiert. Weil sie ihre Mit-glieder in der Regel nicht
bezahlen, sondern häufig im Ge-genteil durch ihre Mitglieder
finanziert werden, müssendiese Organisationen ihre Mitglieder über
motivkräftigeZwecke mobilisieren. Die Zwecksetzungen der
Organisa-tionen müssen mit den Zwecken, Zielen und Interessender
Mitglieder zwar nicht völlig übereinstimmen, aber zu-mindest
kompatibel sein. Schließlich ist der Grund für einEngagement nicht
die monatliche Überweisung, sonderndie Überzeugung, dass der eigene
Einsatz für Jesus Chris-tus, für (manchmal auch gegen) eine
Umgehungsstraßeoder für den Sieg des Sozialismus bei den nächsten
Wahlenüber eine Organisation besser zu bewältigen ist; siehe
zurUnterscheidung neuerdings Schimank 2003: 32ff.
-
legung, ob man für eine Million Euro mit einem rei-chen Mann
eine Nacht verbringt oder ob man fürdie vage Aussicht auf 250 000
Euro und einen Plat-tenvertrag bereit ist, sich hundert Tage in
einenContainer sperren zu lassen, könnten klassische Si-tuationen
für eine solche rationale Kalkulation sein.Fraglich scheint aber,
ob das Versetzen gesundheits-schädigender Stromstöße, das
Einprügeln auf Ge-fangene oder das Töten von Mitgliedern
ethnischeroder religiöser Minderheiten als Ergebnis eines
ra-tionalen Kosten-Nutzen-Kalküls zu verstehen ist.
Bei den hier geschilderten Experimenten scheinenGeldzahlungen,
wie gesagt, nur insofern eine Rollezu spielen, als sie nötig sind,
die Personen zur Ent-scheidung zu veranlassen, sich dem
Experimentauszusetzen. Dabei scheint es sogar zweitrangig zusein,
ob die Bindung über Zahlungen an die Test-personen oder über
Zahlungen der Teilnehmer her-gestellt wird. Wenn man sich vor Augen
führt, dassdie Teilnehmer am Deportationsexperiment
eineAufwandsentschädigung bezahlten, kann man ver-muten, dass die
„Zahlung durch Teilnehmer“ in Be-zug auf die Bindungswirkung ein
funktionalesÄquivalent zur „Bezahlung von Teilnehmern“ ist.
Ist die Entscheidung zum „Eintritt“ erst einmal ge-troffen, kann
man eine flexible Anpassung des An-spruchsniveaus, der
Erwartungshaltung der Test-personen an die Bedingungen beobachten.
KurtLewin (1936) hat herausgearbeitet, dass das An-spruchsniveau
von Personen nicht nur ausschlag-gebend dafür ist, ob sie eine
Handlung als Erfolgoder Misserfolg interpretieren, sondern dass
sichdas Anspruchsniveau selbst mit dem Erfolg oderMisserfolg einer
Handlung verändert. Wenn mannicht den erhofften Umsatz von 100 000
Euro imJahr erzielt, führt das nicht nur dazu, dass man überdas
Resultat seines Einsatzes enttäuscht ist, sondernman passt –
bewusst oder unbewusst – seine An-sprüche an diesen Misserfolg an.
Wenn man fest-stellt, dass man für einen Stundenlohn von 4 $
Per-sonen elektrische Stromstöße versetzen muss, danngibt es nicht
nur die Möglichkeit, mit Enttäuschungauf diese moralisch belastende
Anforderung zu rea-gieren, sondern auch die Möglichkeit einer
Senkungdes Anspruchsniveaus.
Welche Erfahrungen für die Bindungswirkung inOrganisationen kann
man aus den Experimentenziehen?
Das Besondere an Organisationen in der modernenGesellschaft ist,
dass Personen durch eine eigeneEntscheidung in ihnen Mitglied
werden. Unabhän-gig davon, ob man durch die eigenen Eltern,
durcheine göttliche Berufung oder durch die wirtschaftli-
chen Verhältnisse dazu gedrängt wird – der Eintrittin eine
spezifische Organisation ist in der modernenGesellschaft immer eine
Entscheidung des zukünfti-gen Mitglieds selbst. Es unterschreibt
selbst seinenArbeitsvertrag, spricht selbst sein Gelöbnis zurTreue
gegenüber Gott und seiner Kirche und fülltselbst das
Überweisungsformular für den Mitglied-schaftsbeitrag für die
Arbeiterwohlfahrt aus.
Die Kontingenz der Mitgliedschaftsentscheidung inder modernen
Gesellschaft wird auch im Austrittdeutlich. Fast alle
Organisationen in der modernenGesellschaft machen ihren Mitgliedern
den Austrittleicht. Salopp ausgedrückt: Aus fast jeder
Organisa-tion kommt man schneller wieder heraus als ausdem
Telefon-Vertrag bei einer Mobilfunkgesell-schaft oder dem
Kaufvertrag mit einem Buchclub.Selbst die israelische Armee,
sicherlich eine der Or-ganisationen mit den rigidesten Maßnahmen
zurVerhinderung eines Austritts, verfügt über eineVielzahl von
Tricks und Möglichkeiten, die Mitglie-dern einen Austritt
ermöglichen.
Die Experimente können als Indiz dafür gedeutetwerden, dass
genau diese Dispositionsmöglichkeitüber die eigenen
Mitgliedschaften einen Austritt soschwierig macht (vgl. Indizien
bei Milgram 1974:140ff., Miller 1986: 225f.). Weil der Eintritt
nichterzwungen wird, sondern freiwillig erfolgt, bindensich die
Mitglieder an eigene Entscheidungen. Sie„verlieren ihr Gesicht“,
wenn sie kurz nach demEinstieg in eine Organisation wieder
aussteigen. Sieproduzieren, um einen Gedanken von Erving Goff-man
zu nutzen, „Verlegenheit“ – nicht nur für sich,sondern auch für das
Gegenüber. Goffmans Gedan-ke ist, dass man in Interaktionen
Ansprüche an-meldet, wie man bezüglich seiner
Persönlichkeitwahrgenommen werden will, und dass sich die
In-teraktionspartner an diesen Ansprüchen orientie-ren, wenn sie an
der Aufrechterhaltung der Inter-aktion interessiert sind. Es wird
dann aber auchvon den Individuen erwartet, dass sie sich miteinem
kohärenten und der Situation entsprechen-den „Selbst“ präsentieren.
Bilden sich Brüche in derDarstellung aus, dann entsteht
Peinlichkeit, dienicht nur für die verlegene Person, sondern für
dieganze Interaktion ein Problem darstellt. Deswegensind die
Bemühungen von Interaktionspartnern da-rauf gerichtet, das
Entstehen von Verlegenheit undPeinlichkeit zu vermeiden (vgl.
Goffman 1956: 268;auch Silver et al. 1987: 47ff.).
In den Experimenten ist man jedoch gezwungen,seine Kündigung mit
einem Verweis auf die Vor-kommnisse in den Organisationen zu
rechtfertigen.Damit diskreditiert man aber nicht nur die
Organi-sation, sondern auch seine nur kurze Zeit zurücklie-
100 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 34, Heft 2, April 2005, S.
90–111
-
gende Entscheidung, an dieser teilzunehmen. Jero-me D. Frank
verweist beispielsweise in der Auswer-tung seines Experiments
darauf, dass der Wider-stand der Testpersonen gegen das Essen
derSoda-Cracker dadurch unterdrückt wurde, dass siedieser Aktion
freiwillig zugestimmt hatten. Einevon Franks Testpersonen erklärte
seine Folgebereit-schaft damit, dass er sich bewusst auf ein
Experi-ment eingelassen hatte und deswegen meinte, demfolgen zu
müssen, was der Experimentleiter vonihm verlangte (Frank 1944: 37).
Milgram verweistauf eine Reihe von Bindungsfaktoren, die die
Test-personen zum Ausführen der Stromstöße gebrachthätten. Dazu
gehörten die Bindung an das ur-sprüngliche „Versprechen“, dem
Versuchsleiter zuhelfen, und die „Peinlichkeit“ des
Ausscheidens(Milgram 1963: 377).
Dieser Gedanke wird noch deutlicher, wenn mansich das Verhalten
der Personen ansieht, die ihre„Mitgliedschaft kündigten“ und aus
den Experi-menten ausstiegen. Interessant am Milgram-Experi-ment
ist ja nicht nur das hohe Maß der Gehorsams-bereitschaft, sondern
auch das Verhalten derjenigenPersonen, die sich entschlossen, dem
Schüler keineStromstöße mehr zu versetzen. In keinem der
doku-mentierten Fälle sprangen diese Personen nach Ab-bruch des
Experiments auf und eilten dem ver-meintlich verletzten Schüler zur
Hilfe. Vielmehrblieben sie in der Regel bedrückt auf ihrem
Stuhlsitzen. Beim Stanford-Prison-Experiment schämtesich einer der
Wärter, der seinen Job kündigen woll-te, nicht nur gegenüber
„seinen Kollegen“, sondernauch gegenüber der Experimentleitung. Bei
einemder genauer dokumentierten Deportationsexperi-mente äußerte
eine der Personen, die nach langemZögern „ihren Job“ als
Waggonausstatter kündigte,dass sie sich bei der Kündigung schlecht
gefühlt ha-be. Sie habe sich bei der Anmeldung zum Seminarja
eigentlich zur Teilnahme bereit erklärt. In einemanderen Fall
folgte die Person, die als einzige ihrenJob gekündigt hatte, in der
Auswertungsphase einerdreißigminütigen Diskussion, wie man die
Trans-porte noch effizienter hätte gestalten können, undwagte es
nicht, ihre Bedenken gegen das Experi-ment vorzubringen (vgl.
Zimbardo 1974: 567, Mil-ler 1986: 252).
Man kann vermuten, dass den Testpersonen derAusstieg aus
Experimenten besonders deswegen soschwer fällt, weil durch den
Experimentaufbau eineVielzahl „gesichtswahrender“
Austrittsbegründun-gen verbaut wird, die wir aus Organisationen
sonstkennen. Man kann nicht auf die plötzliche Verset-zung seines
Mannes oder seiner Frau hinweisen, diees einem unmöglich macht, an
dem Experiment
weiter teilzunehmen. Man kann nicht verkünden,dass man ein
finanziell besseres Angebot von einemanderen Experiment bekommen
hat. So stecken dieTestpersonen in dem Dilemma, entweder
ihrenZweifeln an der Richtigkeit ihres Handelns nach-zugeben und
damit einen Gesichtsverlust zu riskie-ren oder aber die
Verlegenheit in der Interaktion zuverhindern und die Handlungen
fortzusetzen.
5. Die graduelle Steigerung von Anforde-rungen innerhalb der
Indifferenzzone
Der Aufbau der meisten Experimente zur Gehor-samsbereitschaft
ist durch eine graduelle Steigerungder Anforderungen an die
Testpersonen gekenn-zeichnet. Beim Soda-Cracker-Experiment
interes-siert, beim wievielten Keks die Testperson anfängt,die
Nahrungsaufnahme zu verweigern (vgl. Frank1944: 48ff.). Beim
Milgram-Experiment werdendie Stromstöße kontinuierlich gesteigert,
und diegesamte Experimentapparatur zielt darauf ab zumessen, bis zu
welcher Stärke Stromstöße gegebenwerden (vgl. Milgram 1963: 376).
Beim Deporta-tionsexperiment steht die Frage im Mittelpunkt, obbei
der Mitteilung zusätzlicher Informationen oderbei Verschärfung der
Anforderungen Widerstandentsteht. Wann, so die Frage im
Deportationsexpe-riment, ziehen die Teilnehmer Konsequenzen
undtragen das Risiko ihrer Entlassung: Wenn sie erfah-ren, dass
nicht 50, sondern 150 Personen pro Wag-gon umgesiedelt werden? Wenn
ihnen mitgeteiltwird, dass während der Transporte Menschen
zuSchaden kommen? Wenn sie nebenbei aus der Zei-tung erfahren, dass
der Zielort mit hoher Wahr-scheinlichkeit radioaktiv verseucht ist,
die Umsied-ler also in den Tod geschickt werden (vgl. Kraus2003;
siehe auch Kraus 1987: 80, Berg 1988: 199)?
Besonders bei der Auswertung des Milgram-Experi-ments wurde
darauf verwiesen, dass die Folge-bereitschaft mit der graduellen
Steigerung der An-forderungen zu tun hat. Die Bestrafung
desSchülers beginnt mit dem harmlosen Stromstoß von15 Volt, und
jeder weitere Stromstoß bedeutet im-mer nur eine relativ geringe
Verschärfung gegen-über dem unmittelbar vorhergehenden
Stromstoß(vgl. Gilbert 1981: 691ff.). Angesichts der nur
gra-duellen Steigerung fragt man sich, wann der Mo-ment erreicht
ist, in dem man aussteigen sollte.Wenn die ersten Proteste der
Testperson erklingen?Oder wenn die Proteste der Testperson bei
immerhöher werdenden Stromstößen plötzlich verstum-men? John Sabini
und Maury Silver verweisen da-rauf, dass die Schwierigkeit für die
Testperson da-
Stefan Kühl: Ganz normale Organisationen 101
-
durch entsteht, dass sie bei einem Ausstieg sichselbst (und der
Experimentleitung) gegenüber recht-fertigen muss, weswegen sie
bereit war, den nur ge-ringfügig niedrigeren Stromstoß zu
versetzen. Indiesem Selbstdarstellungsdilemma scheinen
vieleTestpersonen bereit zu sein, weitere Stromstöße zuversetzen,
weil sie dadurch das Problem vermeiden,ihre vorige Handlung
rechtfertigen zu müssen (vgl.Sabini/Silver 1980; siehe auch Kelman
1973: 44ff.,Gilbert 1981: 691f., Baumann 1989: 157, Neuba-cher
2002: 57).19
In der Sozialpsychologie wird das Phänomen
alsFoot-in-the-Door-Prinzip bezeichnet. Die Theseder
Sozialpsychologen Jonathan L. Freedman undScott C. Fraser ist
simpel: Einer Person, die sich zueiner wenig fordernden und
anspruchsvollenHandlung bereit erklärt, fällt es schwer, sich
denwachsenden Anforderungen eines Kommunika-tionspartners zu
widersetzen. Für jemanden, dersich beispielsweise dazu bereit
erklärt, eine Petitionfür Vorsicht im Straßenverkehr zu
unterschreiben,ist es schwer, sich dem Wunsch zu widersetzen,
eingroßes Schild gegen zu schnelles Fahren in seinemVorgarten
aufzustellen – jedenfalls schwerer als füreine Person, die nicht
bereit ist, ihre Unterschriftfür die Petition zu geben (vgl.
Freedman/Fraser1966: 200). Wenn man sich von einem männlichenoder
weiblichen Wesen erst einmal zu einem „Da-te“ hat breitschlagen
lassen, dann fällt es schwer,sich dem Abschiedskuss an der
Türschwelle odernoch weiter gehenden Zärtlichkeiten zu verwei-gern.
Aufgrund dieses Foot-in-the-Door-Prinzipslautet die erste Frage,
die Wahlforscher den Wäh-lern beim Verlassen der Wahlbüros stellen,
auchnicht „Was haben Sie gewählt?“, sondern „HabenSie gewählt?“ –
eine Frage, die den sozialpsycholo-gisch ungeschulten Wähler erst
einmal angesichtsder Dummheit dieser Frage verstummen lassenmüsste.
Schließlich gibt es ja kaum einen anderenGrund für einen
Erwachsenen, sich an einem Sonn-tag in einer umfunktionierten
Grundschule ein-zufinden.20
Aus organisationssoziologischer Sicht lässt sich die-ses für
soziale Systeme generalisierbare Phänomennoch weiter spezifizieren.
Alle hier vorgestelltenExperimente machen sich eine zentrale
Erwartungzunutze, die Organisationen an ihre Mitgliederrichten
können: Die Folgebereitschaft innerhalb ei-ner nicht näher
spezifizierten Indifferenzzone. Mit-gliedschaften legen, so bereits
die Beobachtung vonChester Barnard, immer nur einen Rahmenkon-trakt
zwischen der Organisation und dem Mitgliedfest. Es wird der
Zeitraum festgelegt, in dem mansich den Organisationsregeln zu
beugen hat, es wer-den die Grenzen der Autoritätsunterwerfung
be-tont, und es wird festgelegt, welche Leistungen dasMitglied für
seine Unterwerfungsbereitschaft er-hält. Aber welche Leistungen ein
Mitglied für dieOrganisation im Einzelnen zu erbringen hat,
wirdnicht weiter spezifiziert. Jedes Organisationsmit-glied stellt
mit dem Eintritt in die Organisation eineArt „Blankoscheck“ aus.
Bei Organisationsmitglie-dern entsteht eine folgenreiche
„Indifferenzzone“,innerhalb derer sie zu den Befehlen,
Aufforderun-gen, Anweisungen und Vorgaben der Vorgesetztennicht
Nein sagen können (Barnard 1938: 161ff.).21
Die Funktionalität für Organisationen liegt auf derHand: Die
Mitglieder geloben eine Art begrenztenGeneralgehorsam gegenüber
zunächst nicht weiterspezifizierten Weisungen. So ermöglichen sie
esdem Management, die Organisation schnell undohne umständliche
interne Aushandlungsprozessean veränderte Anforderungen anzupassen.
Erst die-se Dispositionsfreiheit macht es Organisationenmöglich, in
einer sich wandelnden Umwelt ihrenBestand zu sichern. Das Überleben
in problemati-schen Umwelten setzt voraus, so der Gedanke
vonLuhmann (1964: 94), dass „Entscheidungen unbe-stimmten Inhaltes
vertagt und trotzdem gesichertwerden“. Ein Mitglied erträgt
innerhalb der Indiffe-renzzone ein hohes Maß an Veränderungen,
Ent-
102 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 34, Heft 2, April 2005, S.
90–111
19 In einer Zweitauswertung der Tonbandmitschnitte ausMilgrams
Bridgeport-Experiment konnten Rochat, Mag-gioni und Modigliani
(2000) zeigen, dass Probanden, diein der Frühphase des Experiments
ihre Bedenken äußer-ten, mit größerer Wahrscheinlichkeit ausstiegen
als Pro-banden, die keine Zweifel anmeldeten. Von 21 Personen,die
sich schließlich widersetzten, widersprachen 57,1 %dem
Versuchsleiter bereits vor oder beim 150-Volt-Level;von den 19
Gehorsamen hatte bis zum 150-Volt-Level kei-ner widersprochen; vgl.
auch Neubacher 2002: 57.20 Den Hinweis auf das Wahlbeispiel
verdanke ich AndréKieserling. Für die Gesellschaftsebene gibt es
Möglich-
keiten, die von Historikern aufgestellte These
einerschrittweisen Gewöhnung der Bevölkerung an den
natio-nalsozialistischen Repressionsapparat mit dem
Foot-in-the-Door-Phänomen in Verbindung zu bringen; vgl.
denÜberblick bei Lang 1990: 8ff., Trommler 1992: 92ff.21 Mit
Gregory Bateson lässt sich der Begriff der Indiffe-renz genauer
bestimmen. Indifferenz lässt sich als die an-dere Seite von
Differenz verstehen. Indifferenz verweist al-so darauf, dass eine
organisatorische Erwartung für dasMitglied keine Differenz (keinen
Unterschied) macht. Or-ganisationen erzeugen eine Indifferenz, die
ein Nein auchdort unwahrscheinlich werden lässt, wo man es
anderen-falls vielleicht erwarten würde. Veronika Tacke sei für
denHinweis auf die Spezifikation der Indifferenzzone ge-dankt.
-
täuschungen und Belastungen, bevor es sich zumAustritt aus einer
Organisation entschließt.
Genau dieser Effekt von Indifferenzzonen wird, sodie These, in
den Experimenten (ungewollt) ge-nutzt. Die Testpersonen erhalten
bei ihrer „Bewer-bung“ lediglich rudimentäre Informationen. In
derSuchanzeige des Milgram-Experiments wird bei-spielsweise nur
mitgeteilt, dass es um die einstündi-ge Teilnahme an einem
Experiment zur Gedächt-nisleistung geht (vgl. Miller 1986: 39).
BeimStanford-Prison-Experiment erfahren die Teilneh-mer lediglich,
dass es sich um eine psychologischeStudie über das Leben in
Gefängnissen handelt (vgl.Zimbardo et al. 1973: 36). Beim
Deportationsexpe-riment wird zu Anfang nur erklärt, dass es um
dieSimulation von Transporten im Rahmen einesBahnunternehmens geht
(vgl. Kraus 1987: 74ff.).Mit der Bereitschaft, sich auf das
Experiment ein-zulassen, erklären sich die Teilnehmer zur
Folge-bereitschaft innerhalb der Indifferenzzone bereit.
Aber was genau gehört in eine Indifferenzzone, dieman als
Mitglied akzeptieren muss? Es herrscht inOrganisationen in der
Regel Einverständnis darü-ber, welche Handlungen von einem Mitglied
auf al-le Fälle erwartet werden können und welche aufgar keinen
Fall. Dazwischen liegt aber ein großerGraubereich, der immer wieder
neu austariert wird.Vom Filialleiter eines Drogeriemarktes wird
erwar-tet, dass er im Notfall an der Kasse einspringt. Ge-nauso
klar ist auch, dass er gegenüber dem Regio-nalleiter keine
allgemeinen Assistenzaufgaben zuübernehmen hat. Aber gehört auch
die gewaltsameFestnahme eines Ladendiebes in die Indifferenzzo-ne,
die er akzeptieren muss? Von einer Professorinder Fakultät für
Chemie wird das Betreuen, Kor-rigieren und Benoten von
Diplomarbeiten Studie-render ihres Fachgebiets erwartet. Genauso
klar ist,dass sie Arbeiten aus den Gesellschaftswissenschaf-ten
nicht begutachten muss. Aber wie sieht es mitder Erwartung von
Studierenden anderer Studien-schwerpunkte aus, die eine intensive
Zweitbetreu-ung möchten? Gehört dies in ihre Indifferenzzone?
Hier deutet sich an, wie sich die graduellen Steige-rungen von
Anforderungen innerhalb und außer-halb von Organisationen
unterscheiden. Bei Inter-aktionen außerhalb von Organisationen kann
sichdie Testperson den Anforderungen auf vielfacheArt und Weise
entziehen – sie hat lediglich mitSelbstdarstellungsproblemen in der
konkreten In-teraktion beispielsweise mit dem Bürgerinitiativ-ler,
dem werbenden Verehrer oder dem Wahlfor-scher zu kämpfen. Bei
Prozessen innerhalb derOrganisation hängt die gesamte
Mitgliedschaft ander Frage nach der Unterwerfungsbereitschaft
un-
ter die formalisierten Erwartungen der Organisa-tion.
6. Resistenz gegen Autoritäten: DasKontrollproblem in
Organisationen
Aus dieser Perspektive können nun Aktionen ver-deckter Resistenz
in den Experimenten erklärt wer-den. Bereits in der
Organisationssoziologie in derTradition von Herbert Simon wurde
darauf auf-merksam gemacht, dass nicht jeder Schritt kontrol-liert
werden kann. Die Indifferenzzone, so die Ar-gumentation, bringt für
die Organisation zwarFlexibilitätsvorteile mit sich, durch die nur
wageDefinition der Aufgaben des Organisationsmit-glieds entsteht
jedoch ein Kontrollproblem (vgl.Schimank 1986: 73f.). Ähnlich
strukturiert ist auchdie Idee des Transformationsproblems in der
mar-xistischen Industriesoziologie. Hier ist der Grund-gedanke,
dass durch den Arbeitsvertrag zwar dieLeistungen des Kapitalisten,
also die Lohnzahlung,genau spezifiziert ist, die Gegenleistungen
der Ar-beiter jedoch nicht genau festgelegt sind. Der Ein-kauf von
Arbeitskraft durch den Kapitalisten – dieformelle Subsumtion des
Arbeiters – sei, so das aufMarx (etwa 1962: 532f.) aufbauende
Argument,nicht gleichbedeutend mit der realen Nutzung
derArbeitskraft durch das Kapital – die reelle Subsum-tion. An
dieser Stelle setze ein alltäglicher Kampfum die Ausschöpfung des
Arbeitspotenzials ein.Auch die Principal-Agent-Theory behandelt
letzt-lich das gleiche Problem. Der Agent vollbringt be-stimmte
Leistungen für einen Prinzipal und tendiertaus eigener
Nutzenorientierung dazu, die Beloh-nungen des Prinzipals durch
möglichst geringe Leis-tungserbringung zu erzielen. Der Prinzipal
kann aufdiese Leistungszurückhaltung häufig nicht reagie-ren, weil
er verschiedene Agenten gleichzeitig imAuge behalten muss, häufig
nicht über die notwen-digen Fachkenntnisse verfügt, um die
Leistungs-erbringung des Agenten überprüfen zu können, undweil ihm
auch nicht immer Sanktionsmöglichkeitengegenüber dem Agenten zur
Verfügung stehen (vgl.Moe 1984).
In den Experimenten wird – eher ungewollt denngewollt – dieses
Kontrollproblem nachgebildet.Beim Soda-Cracker-Experiment besteht
die Strate-gie der Testpersonen im ersten Versuchsaufbau da-rin,
den Verzehr so weit es geht in die Länge zu zie-hen und den
Experimentleiter durch Gespräche vonder Durchsetzung des
Keksverzehrs abzulenken(Frank 1944: 58ff.). Beim
Deportationsexperimentzögern die Personen, die den Zweck des
Experi-
Stefan Kühl: Ganz normale Organisationen 103
-
ments erkannt haben, ihren Austritt relativ langeZeit hinaus.
Sie feilschen um eine Reduzierung derBelegungsquote für die Waggons
mit der Begrün-dung, die Umsiedler seien „keine Sklaven“ und esgehe
darum, ihre Arbeitsfähigkeit zu erhalten (Berg1988: 236ff., 258).
Die einfachere Strategie scheintzu sein, die eigenen
Arbeitsleistungen zu reduzieren,anstatt den Austritt aus der
Organisation zu erklä-ren. In einer der interessantesten Variation
des Mil-gram-Experiments verließ der Experimentleiter denRaum und
gab seine Anweisungen per Telefon. DerAnteil der Testpersonen, die
bis zum höchstenStromstoß von 450 Volt gingen, sank auf unter
einViertel. Viele Testpersonen meldeten den geforder-ten Stromstoß
an den Experimentleiter, gaben inWirklichkeit aber einen deutlich
niedrigeren odergar keinen Stromstoß ab (vgl. Milgram 1974:
62,Miller 1986: 48; siehe auch die Ergebnisse einesähnlichen
Experiments von Meeus/Raaijmakers1986: 317).
Dieses Verhalten als Widerstand zu bezeichnen,scheint
übertrieben. Martin Broszat hat in seinenStudien über den
Nationalsozialismus den BegriffResistenz vorgeschlagen, um
Verhaltensweisen zucharakterisieren, die unterhalb der Schwelle
einesdirekten Widerstandes liegen. Broszat wollte mitdiesem
Begriffsvorschlag darauf hinweisen, dass esbei Aktionen wie der
Beibehaltung des Kruzifixesin den Schulen, der Vermeidung des
Hitlergrußesoder dem Hören von ausländischen Rundfunksen-dern nicht
darum ging, das System grundlegend inFrage zu stellen. Vielmehr
ging es darum, die durchdie Nationalsozialisten gelassenen
Handlungsspiel-räume dafür zu nutzen, sich den Anforderungen
desRegimes punktuell zu entziehen (vgl. Broszat 1981;siehe auch
Hirschman 1970: 23ff.).
Die Grenze zwischen Resistenz und Widerstandlässt sich für
Organisationen konkretisieren. Ver-stöße gehören in Organisationen
zum Alltag. Mankann Fehler machen, Anweisungen unterlaufen,sein
Arbeitspensum verzögern und seine Unzufrie-
denheit mit den Anweisungen seines Chefs zumAusdruck bringen.
Als Organisationsmitglied istman sich bewusst, dass diese Verstöße
zwar teilwei-se geduldet werden, nicht aber als prinzipielle
Ver-weigerung gegen eine Anweisung oder eine Vor-schrift verstanden
werden dürfen. Erst wenn einMitglied auf einen Verstoß hingewiesen
wird und esauf seinem Verhalten beharrt, greift die Regel, dassdie
Verweigerung, einer Anweisung eines Vor-gesetzten oder einer
einzigen Vorschrift Folge zuleisten, eine Rebellion gegen die
Organisation mitihren formalen Erwartungen als Ganze ist
(vgl.Luhmann 1964: 63). Das Beharren auf einem Ver-stoß hat
deswegen in der Regel die Beendigung derMitgliedschaft oder die
Veränderung der Regelnzur Folge.
Wird dagegen das von den formalen Erwartungenabweichende
Verhalten als Versehen, Missgeschick,Missverständnis,
Unaufmerksamkeit oder einmali-ge Schwäche dargestellt, kann dies
ohne große Pro-bleme mit der zentralen Mitgliedschaftsregel
ver-einbart werden. Ein von den Formalerwartungenabweichendes
Verhalten wird als Fehler markiertund ist, wenn diese Markierung
vom betroffenenOrganisationsmitglied übernommen wird,
keineBedrohung mehr für die Formalisierungsversucheder Organisation
als Ganze. Die Organisation hatnach dem Eingeständnis eines Fehlers
die Möglich-keit, verstärkt auf die Einhaltung der Regel zu
ach-ten, das Organisationsmitglied dieser Verhaltens-erwartung
nicht mehr auszusetzen oder sogarweitere Verfehlungen zu übersehen
(vgl. Woodard1944: 333f., Luhmann 1964: 256f.).
In den Experimenten wurde das Ausnutzen derKontrolllücken nicht
systematisch untersucht. DieTestfrage für die Unterscheidung von
Resistenz undWiderstand wäre, wie eine Person reagiert, wennsie auf
ihr von den Regeln abweichendes Verhaltenhingewiesen wird. Wie
reagieren die Personen inFranks Soda-Cracker-Experiment auf den
Hinweis,dass sie den Keks bitte schneller zu essen haben?
104 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 34, Heft 2, April 2005, S.
90–111
Abb. 3 Vergleich zwischen dem Base-line-Experiment, dem
Experiment, indem die Testperson lediglich die An-weisung zum
Setzen der Stromstößegibt, dem Bridgeport-Experiment unddem
Experiment mit einem abwesen-den Leiter (vgl. Milgram 1974:
56ff.,62ff.). Gemessen wird die Prozent-zahl der Personen, die
bereit ist, denhöchsten Stromschlag von 450 Voltzu setzen.
-
Wie reagieren die Testpersonen im Milgram-Expe-riment, wenn der
Experimentleiter wieder in denRaum zurückgekehrt? Setzen sie ihre
Schummeleienfort, setzen sie die erwarteten Stromschläge
odersteigen sie aus dem Experiment aus? Wie reagierendie ihre
Arbeit verzögernden Testpersonen im De-portationsexperiment, wenn
sie von ihren Vor-gesetzten dazu aufgefordert werden, wenigstens
ei-nen Teil ihres Arbeitspensums zu erfüllen?
7. Zusammenfassung und Ausblick
Die Bedeutung der Experimente zur Gehorsams-bereitschaft für die
Sozialpsychologie liegt darin,dass sie „unmenschliches Verhalten“
mit der Anpas-sung an Rollenerwartungen erklären. Sie machen da-mit
einen „situativen Ansatz“ stark, der einen Blickdafür hat, dass
sich auch „normale“ Personen „un-menschlich“ verhalten, wenn sie
einem bestimmtenSet von „Rollenerwartungen“ ausgesetzt werden.
Injedem, so die zugespitzte Schlussfolgerung, stecktdas Potenzial
für einen kleinen Eichmann. Man mussnur in die entsprechende
organisatorische Maschineeingebunden werden.22
Mit dieser Überlegung werden Ansätze konterka-riert, die
organisierte Brutalitäten vorrangig mitpsychischen Dispositionen
oder Sozialisationseffek-ten erklären. Theodor W. Adorno,
sicherlich der be-kannteste Vertreter eines solchen Ansatzes, sucht
bei-spielsweise eine Erklärung für Auschwitz in derAusbildung eines
„Sozialcharakters“, der durch feh-lende emotionale Beziehungen, die
Unfähigkeit zumenschlichen Erfahrungen, Organisationswut undeine
Hypostasierung der Tätigkeiten gekennzeichnetist (vgl. Adorno
1970). Schon im Mittelpunkt seinerfrühen Studien zur autoritären
Persönlichkeit standdas potentiell faschistische Individuum, das
durch ei-ne hohe Vorurteilsbereitschaft gekennzeichnet istund
dessen Persönlichkeitsstruktur es empfindlichfür antidemokratische
Propaganda macht (vgl.Adorno et al. 1950).
Dieser Artikel kritisiert, dass der situative Ansatzbisher nicht
weit genug getrieben wurde. Überspitztausgedrückt: Bei der
Interpretation der Experimen-
te besteht die Tendenz, sich mit der Aussage zufrie-den zu
geben, dass es die Situationen und nicht diepersönlichen
Dispositionen sind, die zur Gehor-samsbereitschaft führen. Es wird
aber nicht im De-tail spezifiziert, welcher Typ von sozialem
Systemim Experiment simuliert wurde. Vor dem Hinter-grund dieser
fehlenden Spezifizierung liegt es dannnahe, aus den Experimenten
Aussagen übermenschliches Verhalten in der modernen Gesell-schaft
insgesamt zu treffen und die Aussagekraftder Experimente
tendenziell zu überziehen. Ent-gegen diesem Trend zur
Übergeneralisierung vonExperimentergebnissen scheint es sinnvoll,
sozial-psychologische Experimente danach zu differenzie-ren, ob sie
spontane Face-to-face-Interaktionen,Interaktionen in einer Gruppe
oder Kommunikatio-nen in Organisationen abbilden.23
Bei einer ersten Kategorie von Experimenten han-delt es sich um
die Simulation von spontanen Inter-aktionen. Interaktionen als
soziale Systeme bildensich aus, wenn sich Personen gegenseitig
wahrneh-men und sich bemüßigt sehen, ihr Verhalten auf dasder
anderen Personen einzustellen. Ein Interak-tionspartner weiß, dass
er von anderen wahr-genommen wird, und er weiß auch, dass diese
ande-ren wissen, dass er das weiß (vgl. grundlegendLuhmann 1975:
10ff., Fuchs 1989: 171f., Kieser-ling 1999: 15ff.). Interaktionen
entstehen in Grup-pen oder in Organisationen, sie können aber
auch,wie in dieser uns interessierenden Kategorie, spon-tan,
unfokussiert beim Zusammentreffen auf einerParty, beim Warten in
einer Schlange oder beim Zu-sammenprall in der Fußgängerzone
entstehen. Zudieser letzten Kategorie lassen sich die
Experimentezur Normanpassung in Interaktionen zählen, wiesie von
Muzafer Sherif und Solomon E. Asch unterdem unpräzisen Begriff des
Gruppendrucks durch-geführt wurden (vgl. Sherif 1936, Asch
1951,1955). Zu Experimenten, die spontane, unfokus-sierte
Interaktionen abbilden, kann man auch dasAussonderungsexperiment
von Hagen Kordes rech-nen. In diesem Feldexperiment wurden vor
einerUniversitäts-Mensa Studierende unter dem Vor-wand einer
statistischen Erhebung in „Deutsche“und „Ausländer“ getrennt. Durch
Handzettel, Mar-kierungen vor den Türen und Ansprechen
durchMitglieder des Versuchsteams wurden Studierendezu einem nach
„Deutschen“ und „Ausländern“ ge-
Stefan Kühl: Ganz normale Organisationen 105
22 Besonders die Forschergruppe um Zimbardo sieht ihreeigene
Forschung in dieser sozialpsychologischen Tradi-tion. Mit Verweisen
auf Mischel 1969 und Argyle/Little1972 wird behauptet, dass
Persönlichkeitsmerkmale nurvon beschränktem Nutzen für die
Vorhersage künftigenVerhaltens sind. Die Situation sei die
ausschlaggebendeVariable zur Erklärung von menschlichem Verhalten;
vgl.Zimbardo et al. 1975.
23 Bei Organisationen benutze ich den Begriff der
Kom-munikation, weil in den Experimenten nicht nur verbaleoder
nonverbale Face-to-face-Interaktionen provoziertwerden, sondern
auch der schriftliche Verkehr zwischenTestpersonen.
-
trennten Eintritt veranlasst. 95 % der Studierendenfolgten den
Anweisungen und ließen sich wie eine„Trottmasse“ bereitwillig
segregieren (vgl. Kordes1994: 14ff., 46).
Bei einer zweiten Kategorie von Experimenten wer-den scheinbar
Gruppenprozesse nachgebildet. Es istdas Verdienst Erving Goffmans,
die Gleichsetzungvon Interaktion und Gruppe in der frühen
Klein-gruppenforschung in Frage gestellt zu haben (vgl.Goffman
1962). Gruppen „erschöpfen“ sich nichtin einer Interaktion, und man
kann zu einer Gruppeauch gehören, wenn man an einer Interaktion
nichtteilnimmt. Gruppen sind, so die Bestimmung Hart-mann Tyrells,
mehr als ein „lockeres Netzwerkpersönlicher Verbindungen“. Es
bildet sich eineVorstellung von „Zugehörigkeit“ und
„Zusammen-gehörigkeit“ aus (Tyrell 1983: 83). Zu der Katego-rie
Gruppe lassen sich beispielsweise die Experi-mente zählen, in denen
während Jugendcamps dieBildung von unterschiedlichen Cliquen
gefördertund dann beobachtet wird, welche Faktoren zu ei-ner
Verstärkung oder Abschwächung von Konflik-ten zwischen den Gruppen
führen (vgl. Sherif 1958;auch Sherif et al. 1955).
Bei einer dritten Kategorie von Experimenten wer-den zentrale
Elemente von Organisationen abgebil-det. Zu dieser Kategorie lassen
sich Experimentezählen, die die Bindung von Mitgliedern an
hierar-chische Anweisungsstrukturen und Regeln spezifizie-ren (vgl.
für die Abgrenzung von Organisationenvon Interaktionen und
Gesellschaft Luhmann 1975:12). Eine der ersten experimentellen
Untersuchungs-reihen, die das Zusammenspiel von
Mitgliedschafts-regeln, Hierarchie und Programmen untersucht
ha-ben, waren die Experimente der Forschungsgruppevon John French.
Im Mittelpunkt der Experimen-treihe stand die Frage, welche Rolle
die Legitimitäteiner Vorgesetztenanweisung auf die
Folgebereit-schaft von Untergebenen hat (vgl. French et al.1960;
siehe auch French/Raven 1958a, 1958b). Ei-ne der ersten
Untersuchungen, die in den Blicknahm, wie sich
Organisationsmitglieder bei Wider-sprüchen zwischen hierarchischen
Anweisungenund Organisationsprogrammen verhalten, war
dasFeldexperiment der Gruppe um Charles K. Hoflingzum abweichenden
Verhalten in Krankenhäusern.Sie konnte zeigen, dass
Krankenschwestern auf-grund ärztlicher Anweisungen dazu bereit
waren,gegen zentrale Regeln der Organisation zu versto-ßen (vgl.
Hofling et al. 1966).
Schon in der Welt außerhalb des Laboratoriumssind die
Abgrenzungen zwischen Interaktionen,Gruppen und Organisationen
nicht immer selbst-verständlich. Wenn es bei Personen zu einer
Anei-
nanderreihung von Interaktionen kommt, weil siezufällig den
gleichen Rückweg von der Schule ha-ben oder sich regelmäßig in der
Disko treffen, kön-nen sich Gruppenprozesse ausbilden. Wann aber
ge-nau eine Gruppe entsteht, können häufig weder dieBeteiligten
noch die interessierten Wissenschaftlergenau bestimmen. Manchmal
kommt es vor, dasskleinere Organisationen nur begrenzt
eindeutigeMitgliedschaftsbestimmungen und hierarchische
An-weisungsverhältnisse nutzen. Firma, Partei oder Ver-ein
erscheinen dann eher als Clique denn als ausdif-ferenzierte
Organisation. Bei vielen Interaktionen imUmfeld von Organisationen,
wie Betriebsfeiern,Mensaschlangen oder Fahrstuhlfahrten, ist nicht
ein-deutig, ob sie mit der Funktionsweise von Organi-sationen oder
mit der Logik geselliger Interaktionerklärt werden können.24
Erschwert wird eine Differenzierung dadurch, dassAspekte wie
Selbstbindung, Indifferenz und Kon-trolle auch in spontanen
Interaktionen, Gruppenoder Familien vorkommen. In der spontanen
Inter-aktion am Infostand einer Partei binden sich dieDiskutanten
an die Positionen, die sie zu Beginn derDiskussion eingenommen
haben. In einer Cliquemüssen sich die Mitglieder gegen viele
Anforderun-gen der Gruppen indifferent verhalten, weil siesonst
nicht akzeptiert werden. Auch in einer Fami-lie kann es das Problem
geben, dass sich die Kinderder Kontrolle ihrer Eltern entziehen
(oder die „Un-terwachung“ der Eltern durch die Kinder nur
un-vollständig funktioniert). In Organisationen bildensich diese
Aspekte jedoch in einer eigenen Formaus, weil die Selbstbindungen
der Mitglieder, derenSich-Einlassen auf Indifferenzzonen und deren
(im-mer unvollständige) Kontrolle vor dem Hinter-grund
formalisierter Rollenerwartungen stattfin-den, an die sich die
Mitglieder durch ihren Eintrittin die Organisation und den
drohenden Ausschlussaus dieser gebunden fühlen.25
106 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 34, Heft 2, April 2005, S.
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24 Diese Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen Interaktio-nen,
Gruppen und Organisationen spiegeln sich – in ver-schärfter Form –
in Experimenten wider, da bei ihnen derÜbergang zwischen den
simulierten sozialen Systemenhäufig fließend ist. Gerade weil
Experimente zeitlich starkbeschränkt sind und es sich vorrangig um
einmalige Inter-aktionen zwischen Personen handelt, die sich nicht
ken-nen, deuten sich die Gruppen- oder Organisationsprozessehäufig
nur an. Andere Typen von sozialen Systemen wieMassen (vgl. Wright
1978) oder Bewegungen (vgl. Japp1993) können durch Experimente kaum
abgebildet wer-den, weil die dafür erforderliche hohe
Teilnehmerzahl nurschwer zu mobilisieren und in einen
Experimentaufbau zuintegrieren ist.25 Ein Besuch beim Arzt oder die
Teilnahme an einer Un-
-
Welche Schlussfolgerungen lassen sich aus der Rein-terpretation
des Soda-Cracker-, des Milgram-, desStanford-Prison- und des
Deportationsexperimentsziehen? Auch wenn die Übergeneralisierung
der Ex-perimentsergebnisse zurückgewiesen wird und dieAussagekraft
der Experimente auf das Verhalten inOrganisationen reduziert wird,
ist diese „Beschei-dung“ der Experimente lediglich ein
schwacherTrost.
Erstens ist es kaum möglich, sich eine moderne Ge-sellschaft
ohne Organisationen vorzustellen. Sicher-lich: Gegen die
vorschnelle Diagnose einer Organi-sationsgesellschaft spricht, dass
das IndividuumRollenerwartungen nicht nur in Organisationen,sondern
auch in der Familie, im Freundeskreis,beim Spontaneinkauf im
Warenhaus, im Stau aufder Autobahn oder bei der
semesteranfänglichenDemonstration gegen Studiengebühren kennt
(vgl.Kühl 2004: 79ff.). Aber gerade im Vergleich zu denHochkulturen
scheint die moderne Gesellschaft ins-gesamt auf die
Ordnungsleistung von Organisatio-nen nicht verzichten zu können.
Dementsprechendsind durch Organisationen geplante, unterstützteund
durchgeführte Brutalitäten typische Phänome-ne der modernen
Gesellschaft.
Zweitens spricht nichts dafür, dass koordinierteBrutalitäten nur
durch Organisationen erzeugt wer-den. Die Pogrome gegen Juden in
Europa lassensich, auch wenn sie häufig koordiniert waren, eherals
Massenphänomen denn als Organisationsphä-nomen beschreiben. Die
Forschungen über den Ge-nozid in Ruanda gehen zwar von einem hohen
Maßan Planung und Koordination aus, der Blutrauschscheint aber
weniger das Ergebnis von auf Mitglied-schaft, Hierarchie und
Zweckformulierung basie-renden Organisationen denn Ausdruck einer
sozia-len Bewegung gewesen zu sein. Forschungen überGangs, Cliquen
und Banden haben gezeigt, dassauch nicht formalisierte Gruppen zu
einem hohenMaß an Brutalität sowohl gegenüber ihren
Grup-penmitgliedern als auch gegenüber Nichtmitglie-dern fähig
sind. Mitläufertum in Form von still-schweigender Akzeptanz von
Gewalt lässt sich nurschwer mit Kategorien der
Organisationssoziologieerklären, sondern scheint eher im
Widerstreben zuliegen, sich auf unfokussierte und
unberechenbareInteraktionen einzulassen.
Drittens ist es wenig beruhigend, d