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Zeitschrift für Geschichtsdidaktik, Jg. 11 (2012), S. 31–49 © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2012, ISSN 1610–5982 Für eine historische und transkulturelle Menschenrechtsbildung Zur Kritik an der »westlichen« Menschenrechtserzählung Regina Richter 1. Einleitung In einer sich globalisierenden Welt sind Menschenrechte und Menschenrechts- bildung von grundlegendem Interesse für Fragen des Zusammenlebens, der Dis- kriminierung oder Emanzipation/Partizipation von Menschen, nicht zuletzt in der deutschen Migrationsgesellschaft. Ausgangspunkt dieses Aufsatzes ist das Problem, dass Menschenrechte häufig als Errungenschaft der »westlichen« 1 Kul- tur und Geschichte angesehen und dargestellt werden. Aus der Anerkennung der pluralistischen Gesellschaft und dem universalen, alle Menschen gleichermaßen einbeziehenden Anspruch der Menschenrechte ergibt sich aber, dass Menschen- rechtsbildung per se interkulturell – oder besser: transkulturell und rassismuskri- tisch – ausgerichtet sein muss. Wenn die Menschenrechte dabei jedoch als »west- lichen« Ursprungs imaginiert werden, widerspricht sich Menschenrechtsbildung dann nicht selbst und wird zum Handlanger einer kulturimperialistischen, globa- len Verwestlichung? Oder sind Menschenrechte eben doch nur ein ideologisches Instrument des »Westens« im Kampf um politische wie ökonomische Vorherr- schaft in der Welt? Aber vielleicht braucht man das Kind (die Menschenrechte) nicht gleich mit dem Bade (der Kritik am Eurozentrismus) auszukippen: Ist die, im Zusammen- hang von Universalismus oder Kulturrelativismus der Menschenrechte immer wieder diskutierte Frage, ob »die« Menschenrechte eine »westliche« Erfindung seien und vor allem auf »europäischen« Ideen und Initiativen beruhen, also wes- sen Erfindung die Menschenrechte seien, nicht einfach die »falsche« Frage? Sind gar nicht »die« Menschenrechte »westlich«, sondern vielmehr lediglich die Ge- schichtserzählungen und Interpretationen zu den Menschenrechten »westlich«/ eurozentrisch dominiert und verengt? Und wären insofern zunächst und vor allem die Vorgehensweisen und die Geschichtsvorstellungen dieser Erzählungen zu hinterfragen? Auffällig bei der Beschäftigung mit diesen Fragen war, dass Ge- schichte in der Menschenrechtsforschung und -bildung und Menschenrechte in den historischen Wissenschaften bis vor kurzem kaum eine Rolle spielten und 1 »Westlich« ist natürlich ein Konstrukt, das es in diesem Aufsatz zu kritisieren gilt. Gemein- »Westlich« ist natürlich ein Konstrukt, das es in diesem Aufsatz zu kritisieren gilt. Gemein- hin wird darunter verstanden: (West-)Europa, Nordamerika, (nicht orthodoxes) Christen- tum, weiße Menschen.
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Für eine historische und transkulturelle Menschenrechtsbildung. Zur Kritik an der »westlichen« Menschenrechtserzählung.

May 13, 2023

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Zeitschrift für Geschichtsdidaktik, Jg. 11 (2012), S. 31–49© Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2012, ISSN 1610–5982

Für eine historische und transkulturelle Menschenrechtsbildung

Zur Kritik an der »westlichen« Menschenrechtserzählung

Regina Richter

1. Einleitung

In einer sich globalisierenden Welt sind Menschenrechte und Menschenrechts-bildung von grundlegendem Interesse für Fragen des Zusammenlebens, der Dis-kriminierung oder Emanzipation/Partizipation von Menschen, nicht zuletzt in der deutschen Migrationsgesellschaft. Ausgangspunkt dieses Aufsatzes ist das Problem, dass Menschenrechte häufig als Errungenschaft der »westlichen«1 Kul-tur und Geschichte angesehen und dargestellt werden. Aus der Anerkennung der pluralistischen Gesellschaft und dem universalen, alle Menschen gleichermaßen einbeziehenden Anspruch der Menschenrechte ergibt sich aber, dass Menschen-rechtsbildung per se interkulturell – oder besser: transkulturell und rassismuskri-tisch – ausgerichtet sein muss. Wenn die Menschenrechte dabei jedoch als »west-lichen« Ursprungs imaginiert werden, widerspricht sich Menschenrechtsbildung dann nicht selbst und wird zum Handlanger einer kulturimperialistischen, globa-len Verwestlichung? Oder sind Menschenrechte eben doch nur ein ideologisches Instrument des »Westens« im Kampf um politische wie ökonomische Vorherr-schaft in der Welt?

Aber vielleicht braucht man das Kind (die Menschenrechte) nicht gleich mit dem Bade (der Kritik am Eurozentrismus) auszukippen: Ist die, im Zusammen-hang von Universalismus oder Kulturrelativismus der Menschenrechte immer wieder diskutierte Frage, ob »die« Menschenrechte eine »westliche« Erfindung seien und vor allem auf »europäischen« Ideen und Initiativen beruhen, also wes-sen Erfindung die Menschenrechte seien, nicht einfach die »falsche« Frage? Sind gar nicht »die« Menschenrechte »westlich«, sondern vielmehr lediglich die Ge-schichtserzählungen und Interpretationen zu den Menschenrechten »westlich«/eurozentrisch dominiert und verengt? Und wären insofern zunächst und vor allem die Vorgehensweisen und die Geschichtsvorstellungen dieser Erzählungen zu hinterfragen? Auffällig bei der Beschäftigung mit diesen Fragen war, dass Ge-schichte in der Menschenrechtsforschung und -bildung und Menschenrechte in den historischen Wissenschaften bis vor kurzem kaum eine Rolle spielten und

1 »Westlich« ist natürlich ein Konstrukt, das es in diesem Aufsatz zu kritisieren gilt. Gemein-»Westlich« ist natürlich ein Konstrukt, das es in diesem Aufsatz zu kritisieren gilt. Gemein-hin wird darunter verstanden: (West-)Europa, Nordamerika, (nicht orthodoxes) Christen-tum, weiße Menschen.

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entsprechend große Forschungs- und Wissensdefizite bestehen.2 Deshalb soll es Ziel meines Aufsatzes sein, die Diskussion anzuregen, warum und wie eine His-torisierung der Menschenrechte und eine kritische Auseinandersetzung mit Ge-schichte in der Menschenrechtsbildung nicht nur wünschenswert erscheint, son-dern dringend angestrebt werden sollte. (Meine Fragestellung konzentriert sich also mehr darauf, warum Geschichte in der Menschenrechtsbildung notwendig ist und weniger darauf, warum Menschenrechte in der Geschichtsbildung not-wendig sind.) Die Fragestellung selber ist zwar nicht ganz neu3, hier sollen aber aus einer bisher kaum berücksichtigten einerseits transkulturellen und rassis-muskritischen Perspektive, andererseits geschichtstheoretischen und -didakti-schen Perspektive neue Begründungen und (Heraus-) Forderungen zu beden-ken gegeben werden. Zudem wird die hier einen Schwerpunkt bildende Frage, was Menschenrechtsgeschichte sein bzw. wie sie dargestellt werden könnte, bisher kaum (geschichtstheoretisch) reflektiert, sondern häufig geht es nur um das Ver-hältnis von Menschenrechtsbildung und historischer Bildung.4

Wie bereits angedeutet, ist eine wesentliche These dieses Beitrags, dass nicht »die« Menschenrechte »westlich«, sondern »nur« die dominanten Menschen-rechts-Erzählungen eurozentrisch sind. Da dieses Narrativ vom »westlichen« Ur-sprung der Menschenrechte bisher wenig hinterfragt und sehr fest in Weltbildern verankert scheint, müssen in einem ersten Schritt (zweites Kapitel) Argumente aufgezeigt werden, die diese Erzählung(en) dekonstruieren, deren wissenschaft-liche Herangehensweisen und Geschichts- und Kulturverständnisse problemati-sieren. Daraufhin können dann im dritten Kapitel Gründe, Intentionen und An-forderungen bzw. Inhalte einer historischen Menschenrechtsbildung diskutiert werden. Hier wird u. a. die These vertreten, dass nicht nur die Narrativität von Geschichte, sondern auch die transkulturelle Geschichtlichkeit der Menschen-rechte eine zentrale Rolle spielen sollte.

Da zur Entfaltung der diesbezüglichen Argumente Begriffe mit geschärften Konturen notwendig sind, soll vorab mein Verständnis der Titelbegriffe »Trans-

2 Zum Forschungsstand vgl. Regina Richter: Exposé Promotionsprojekt (2011): http://www.kgd-geschichtsdidaktik.rub.de/media/Forschungsprojekte/Promotionsvorhaben%20Rich-ter%20Heidelberg.pdf (aufgerufen am 28. 2. 2012).

3 Aktuell vgl. v. a.: Bodo von Borries: Menschenrechte im Geschichtsunterricht. Auswege aus einem Missverhältnis. Normative Überlegungen und praktische Beispiele. Schwalbach/Ts. 2011; Rainer Huhle/Stiftung EVZ (Hrsg.): Human Rights and History. A Challenge for Education. Berlin 2010 (deutschsprachige, etwas ausführlichere Version online: http://www.stiftung-evz.de/w/files/publikationen/human.rights.history-aufsaetze.deutsch.komplett.pdf, aufgerufen am 28. 2. 2012); Stefan-Ludwig Hoffmann (Hrsg.): Moralpolitik. Geschichte der Menschenrechte im 20.  Jahrhundert. Göttingen 2010; Klaus Fröhlich/Jörn Rüsen (Hrsg.): Menschenrechte im Prozess der Geschichte. Historische Interpretationen, didaktische Kon-zepte, Unterrichtsmaterialien. Pfaffenweiler 1990.

4 Auch bei Bodo von Borries (Anm. 3) geht es eher um Menschenrechte im Geschichtsunter-richt und nicht um Geschichte in der Menschenrechtsbildung oder Menschenrechtsgeschichte. Seinen Schwerpunkt bilden praktische historische Fallbeispiele; theoretisch geht es v. a. um das Verständnis von Menschenrechten in der (Geschichts-)Bildung und letztlich wenig um (Menschenrechts-)Geschichte/Geschichtstheorie.

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kulturalität« sowie »Menschenrechte« und »Menschenrechtsbildung« geklärt werden. Der Begriff Transkulturalität5 wird hier in dreifacher abgestufter Be-deutung benutzt: als »jenseits«, als Hybridität und Vielfalt und als Verflechtung. Als »jenseits« benutze ich »transkulturell« an erster Stelle, in Abgrenzung zu pro-blematischen Implikationen von »interkulturell«, als Kritik an kulturalistischen Erklärungsmodellen, die etwa soziale Ungleichheit reduzieren auf kulturelle Differenzen und »Kulturen« dabei als statische Einheiten (Inseln oder Kugeln) imaginieren. Es gibt aber keine »Kulturen« im Sinne feststehender kollektiver Identitäten oder »natürlicher« kultureller Unterschiede, sondern sie sind gesell-schaftliche Konstruktionen zur Herstellung von Zugehörigkeits-(Ein- und Aus-schluss-)ordnungen. Als Hybridität und Vielfalt verweist der Begriff Transkultur-alität darauf, dass Menschen nicht Repräsentant_innen/Gefangene einer »Kultur« (oder Nation, »Ethnie«, Geschlecht, etc.) sind, sondern sehr unterschiedlich und vielfältig; auch jede_r Einzelne ist transkulturell, hybrid. Allerdings werden diese vielfältigen Zugehörigkeiten nicht herrschaftsfrei verhandelt, haben Menschen also entlang gesellschaftlicher Ungleichheiten unterschiedlichen Zugang zu selbstbestimmten Identitäts- und Lebensentwürfen. Erst an dritter Stelle meint »transkulturell« also Kultur als Prozess, als Verflechtung, als Transnationalität oder »Glokalität«. Der Begriff wurde in Deutschland zwar von Wolfgang Welsch geprägt, ich beziehe mich aber nur bedingt auf sein Konzept, u. a. da es zu wenig macht- und rassismuskritisch reflektiert ist.6 Trotzdem bleibe ich beim Begriff »transkulturell«, weil er m. E. bestimmte Aspekte sprachlich am ehesten einfängt, gerade was das »jenseits« betrifft.

Menschenrechtsbildung7 wird hier nicht als Werte- oder staatsbürgerlich-affirmative Erziehung verstanden, sondern im Sinne des Menschenrechts auf

5 Näheres zum Verständnis von »Transkulturalität«, »Kultur« oder »Rassismus« vgl. Paul Mecheril u. a.: Migrationspädagogik (Bachelor/Master). Weinheim 2010; diverse Artikel in Susan Arndt/Nadja Ofuatey-Alazard (Hrsg.): Wie Rassismus aus Wörtern spricht. (K)Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutsche Sprache. Ein kritisches Nachschlagewerk. Münster 2011; Ute Daniel: Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselwör-; Ute Daniel: Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselwör-ter. Frankfurt a. M. 2002. Vgl. unten S. 37 und Anm. 19; S. 44 und Anm. 42.

6 Vgl. Wolfgang Welsch: Was ist eigentlich Transkulturalität? (2009), http://www2.uni-jena.de/welsch/tk-1.pdf (aufgerufen am 24. 06. 2012); zur Kritik etwa Paul Mecheril/Louis. H. Seukwa: Transkulturalität als Bildungsziel? Skeptische Bemerkungen. In: ZEP, Zeitschrift für internationale Bildungsforschung und Entwicklungspädagogik, 2006, H. 4, S. 8–13.

7 Zu einem ähnlich dem hier vertretenen Begriffsverständnis vgl. Forum Menschenrechte (Hrsg.): Standards der Menschenrechtsbildung in Schulen, Berlin 2006 (http://www.forum-menschenrechte.de/cms/upload/PDF/fmr_standards_der_menschenrechtsbildung.pdf, aufgerufen am 28. 2. 2012); Deutsches Institut für Menschenrechte: http://www.institut-fuer-menschenrechte.de/de/menschenrechtsbildung.html (aufgerufen am 28. 2. 2012); Bun-deszentrale für politische Bildung u. a. (Hrsg.): Kompass. Handbuch zur Menschenrechts-bildung für die schulische und außerschulische Bildungsarbeit. Bonn 2005, online: http://kompass.humanrights.ch (aufgerufen am 24. 06. 2012). Zur Forschung vgl. z. B. Felisa Tib-Zur Forschung vgl. z. B. Felisa Tib-bitts/Peter G. Kirchschlaeger: Perspectives of research on human rights education. In: Jour-In: Jour-nal of Human Rights Education/Zeitschrift für Menschenrechtsbildung, 2010, H. 1, S. 8–29.

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Menschenrechts-/Bildung8 vor allem als Empowerment/Befähigung, die eigenen Rechte und die aller Menschen zu kennen, zu achten und einzufordern. Zudem soll Menschenrechtsbildung als demokratische politische Bildung dazu befähi-gen, in Kontroversen und Politiken rund um die Menschenrechte eine reflek-tierte Position einnehmen und teilnehmen zu können.

Unter »Menschenrechten«9 als Kriterium/Norm der Menschenrechtsbildung werden hier nicht in erster Linie die Grundrechte (meist nur Staatsbürgerrechte) des deutschen Grundgesetzes verstanden, sondern die weit darüber hinaus ge-henden, in diversen Übereinkommen der letzten fast 70 Jahre international, völ-kerrechtlich verankerten Menschenrechte. Hier besteht der Anspruch der Unteil-barkeit der Menschenrechte: politische, bürgerliche/zivile, soziale, wirtschaftliche und kulturelle Rechte bedingen einander, sie bilden einen systematischen Zusam-menhang, können nur gemeinsam ihren Zielen gerecht werden. Grundlegendes Strukturprinzip aller Menschenrechte ist das Diskriminierungsverbot, dass sich gegen Ungleichbehandlung etwa aufgrund körperlicher Merkmale, Herkunft, Geschlecht, sozialer Stellung, Religion oder Weltanschauung, Behinderung, se-xueller Orientierung, Alter, etc. wendet. Die Zielsetzung menschenrechtlicher Abkommen ist begrenzt: Menschenrechte stellen weder eine »Humanitätsreli-gion« oder »Heilslehre« dar, noch wollen sie die Vielfalt weltanschaulicher Werte und Sinngebungen zusammenfassen oder vereinheitlichen. »Sie formulieren auch keinen umfassenden Verhaltenskodex für Individuen und Gemeinschaften, son-dern enthalten lediglich rechtliche Mindeststandards für menschenwürdige Koexis-tenz«.10 Zudem gibt es nicht »die« (wahre Auslegung der) Menschenrechte, sie sind immer Aushandlungssache und als unvollendetes, weiterzuentwickelndes Projekt, als Prozess zu verstehen.

2. »Westlicher« Ursprung der Menschenrechte?

Wenn überhaupt, wurde Menschenrechtsgeschichte bis vor Kurzem eher von Politik- und Rechtswissenschaftler_innen oder Philosoph_innen11 geschrieben; wie bereits oben erwähnt, waren (und sind) die Menschenrechte kein Schwer-punkt der historisch arbeitenden Wissenschaften (zumindest der deutsch- und englischsprachigen »westlichen«). Entsprechend groß sind die Wissensdefizite nicht zuletzt in Bezug auf »außereuropäische« oder gar transnationale (Men-schenrechts-)Geschichte, und es besteht ein großer Forschungs- und Diskus-sionsbedarf, was denn eigentlich unter »Menschenrechten« oder verwandten

8 Vgl. zum Recht auf Menschenrechtsbildung: Forum Menschenrechte (Anm. 7), S. 13–19. 9 Vgl. Heiner Bielefeldt: Menschenrechte in der Einwanderungsgesellschaft. Plädoyer für

einen aufgeklärten Multikulturalismus. Bielefeld 2007, S. 25–40; Arnd Pollmann/Georg Lohmann (Hrsg.): Menschenrechte. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart 2012.

10 Bielefeldt (Anm. 9), S. 39.11 Ich benutze den Unterstrich (»Philosoph_innen«), um alle Geschlechter (Frauen, Trans-

und Intersexuelle, Queere, Männer, etc.) einzubeziehen.

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Ideen in welcher Zeit, Sprache, Region, politischen Gruppe oder Konstellation verstanden wurde – letztlich, wie Menschenrechtsgeschichte überhaupt geschrie-ben und dargestellt werden kann.

Diese »unhistorische« Beschäftigung mit Menschenrechten kann einerseits mit dem Doppelcharakter der Menschenrechte erklärt werden: Menschenrechte müssen zwar konkret in Zeit und Raum von Menschen gemacht (ausgedacht und vereinbart) werden, tragen aber gleichzeitig einen überzeitlichen ethischen Anspruch in sich, woraus eine gewisse Angst vor Relativierung durch Histori-sierung resultieren mag. Andererseits könnten die Defizite und Einseitigkeiten bezüglich Menschenrechtsgeschichte auch mit der Prägung der Wissensproduk-tion durch den europäischen (Post-)Kolonialismus zusammenhängen: dieser hat eurozentrische und durch das sog. Othering tendenziell hierarchisch-dualistische Welt-, Menschen- und Geschichtsbilder hervorgebracht (wie etwa: »der Westen« vs. »der Rest«, »wir« vs. »die Anderen/die Fremden«, weiße vs. Schwarze Men-schen12, fortschrittlich/modern vs. rückständig/traditionell, zivilisiert vs. »wild«, rational vs. emotional, etc.).13 Doch trotz einerseits der Kritik an der Dominanz und Instrumentalisierung des Menschenrechtsdiskurses durch den »Westen« und andererseits der zunehmenden Dekonstruktion eurozentrischer Geschichts- und Weltbilder ist das Narrativ als solches, dass die Menschenrechte »westlichen« Ur-sprungs seien, bisher kaum hinterfragt worden.14 Dieser tendenziell blinde Fleck lässt vermuten, dass koloniale Denkmuster (noch) sehr wirkmächtig sind und weiterhin gesellschaftliche und politische Funktionen erfüllen. Umso notwendi-ger erscheint es mir, hier zunächst einige Argumente zur Kritik an der Art und Weise der Erzählungen und ihrer zugrunde liegenden Geschichts- und Kulturbe-griffe ins Bewusstsein und in die Diskussion zu bringen. Argumente, die hoffent-lich deutlich machen, dass die Vorstellung von der »Westlichkeit« der Menschen-rechte so nicht haltbar und äußerst problematisch ist. Aus Platzgründen können die Kritikpunkte hier nur skizziert und nicht im Einzelnen nachgewiesen wer-den. Es sei deshalb darauf hingewiesen, dass es natürlich die eine Erzählung nicht gibt und dass insofern nicht alle Argumente auf alle Erzählweisen (etwa in Schul-büchern, Medien, politischen Reden, philosophischen, rechts- oder geschichts-

12 »Schwarz« und »weiß« meinen nicht etwa adjektivische Beschreibungen von Hautfarben, sondern Positionen/Erfahrungen in rassistischen Verhältnissen – »Schwarz« der Unterdrük-kung/des Widerstands und »weiß« der Dominanz/Privilegierung. (»Schwarz« ist eine poli-tische Selbstbezeichnung und wird deshalb groß geschrieben.) Vgl. Arndt/Ofuatey-Alazard (Anm. 5).

13 Vgl. Maria do Mar Castro Varela/Nikita Dhawan: Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung. Bielefeld 2005; Sebastian Conrad/Shalini Randeria (Hrsg.): Jenseits des Eu-rozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften. Frankfurt a. M. 2002; Stuart Hall: Der Westen und der Rest. Diskurs und Macht. In: Ders.: Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2. Hamburg 1994, S. 137–179.

14 Der einzige mir bekannte Aufsatz, der die Erzählung grundsätzlich in Frage stellt, ist von Eva Kalny, auf deren Argumente ich mich in diesem Kapitel deshalb auch immer wieder be-ziehe: Eva Kalny: Der »Westen« und die Menschenrechte. Abschied vom Ursprungsmythos einer Idee. In: Zeitschrift Peripherie 109/110 (2008), S. 196–223.

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wissenschaftlichen Werken) gleichermaßen zutreffen. Die Kritikpunkte sind also eher als Fragen/Thesen für eine zum Teil erst noch zu leistende Analyse und Dis-kussion von menschenrechtsgeschichtlichen Darstellungen zu verstehen.15

Als ein grundlegendes Problem »westlicher« Menschenrechtserzählungen konstatiert Heiner Bielefeldt16, dass sie teleologisch seien, d. h. von ihrem Er-gebnis (Telos) her rückblickend eine lineare kulturhistorische Entwicklung, eine Genealogie (antike Philosophie  – Christentum  – Zeitalter der Aufklärung und Revolutionen  – »westliche« Moderne  – Menschenrechte)17 konstruieren. Dies birgt die Gefahr unwissenschaftlicher, anachronistischer Verkürzungen, Ausblen-dungen und Fehlinterpretationen (sowohl älterer als auch gegenwärtiger Men-schenrechtsideen) in sich. Verstärkt durch biologische Sprachanleihen wie bspw. kulturelle »Wurzeln« suggeriert solch eine retrospektive Teleologie, dass es sich bei der Menschenrechtsgeschichte um die »organische Entfaltung eines von An-fang an festgelegten kulturgenetischen Programms« handele, das dann auch einen »Wurzelboden«, nämlich das europäische Abendland, habe. Und diese »kultur-genetische Vereinnahmung der Menschenrechtsidee zu einem Produkt abendländi-scher Kulturentwicklung führt zuletzt fast zwangsläufig zu einem imperialistischen Verständnis der Menschenrechte«: Universalismus wird zur Verwestlichung und Integration zur Anpassung an eine »westliche Leitkultur«, die Menschenrechte zur Heilslehre und ihre Durchsetzung zur Zivilisierungsmission, das »westliche« Entwicklungsmodell zum Maßstab, vor dem sich »andere Kulturen« beweisen müssten (bspw. ob sie ähnliche Ideen und Denker_innen wie die des Zeitalters der Aufklärung zustande gebracht hätten) oder Geschichte zum Nachvollzug die-ses Modells (Stichwort »Entwicklungsländer«). »Gegen«-Geschichten aus ande-ren Weltregionen, die teleologisch nach Ursprüngen der Menschenrechte etwa in den Lehren Konfuzius suchen, sind letztlich nicht weniger problematisch, aber eben auch nicht falscher als die »westliche Meistererzählung«.

Solche, mehr oder weniger ausgeprägten, aber doch noch oft anzutreffen-den, kulturgenetischen oder linear-kausalen Fortschrittsgeschichten (sozusagen europäische »Nationalgeschichte«) machen nicht nur einen grundsätzlich frag-würdigen und kolonialistisch geprägten Geschichtsbegriff18 deutlich; sondern auch einen problematischen Kulturbegriff: Besonders zu kritisieren, da im Zu-

15 Vgl. die Berichte über »typische«/»klassische« Erzählweisen bei: Bielefeldt (Anm. 9), S. 43–45; Borries (Anm. 3), S. 25–27; Kalny (Anm. 14), S. 199 f.; Richter (Anm. 2). »Typische« und wahrscheinlich viel rezipierte Darstellungen: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): Menschenrechte. Informationen zur politischen Bildung, H. 297. Bonn 2008; K. Peter Fritz-Bonn 2008; K. Peter Fritz-sche: Menschenrechte. Eine Einführung mit Dokumenten. Paderborn 2009, S. 24–39; ganz neu: Pollmann (Anm. 9).

16 Vgl. Bielefeldt (Anm. 9), S. 43–48, folgende Zitate S. 47. Allerdings kommt Bielefeldt nicht zu dem Schluss, dass es »nur« eine Erzählung sei; sondern es bleibt bei ihm ein »historisches Faktum« (Zitat Bielefeldt S. 48), dass die Menschenrechte zuerst im Westen entstanden.

17 »Klassiker« sind etwa: Magna Charta 1225, Bill of Rights 1689, US-amerikanische Unabhän-»Klassiker« sind etwa: Magna Charta 1225, Bill of Rights 1689, US-amerikanische Unabhän-gigkeitserklärung (1776) und Verfassung (1789/91), französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte 1789 oder Denker wie Locke, Rousseau, Kant.

18 Mehr zu Geschichtsauffassungen siehe 3. Kapitel.

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sammenhang mit Menschenrechtsgeschichte immer noch anzutreffen, ist die Vorstellung von »Kulturen« als klar voneinander abgrenzbaren Großeinheiten/»Kulturkreisen« (wie »Westen/Abendland« – »Orient« oder Europa & Christen-tum – arabischer Raum & Islam etc.), die in sich homogen und in ihrem »Wesen« tendenziell unveränderlich/statisch seien – in denen die Menschen sozusagen ge-fangen seien (Essentialisierung/Biologisierung/letztlich Rassifizierung).19 Diese Einteilung reproduziert zudem den kolonialen Blick, in dem die Menschen in den »Kulturblöcken«, bewusst oder unbewusst, mit gegensätzlichen Eigenschaf-ten belegt werden, wobei »die Anderen/Geanderten/Fremden« abgewertet wer-den und dadurch Europa/Nordamerika aufgewertet wird (Othering). Aktuelles Beispiel hierfür ist etwa, mit welcher Vehemenz »die« Frauenfeindlichkeit »des« arabischen Raumes angeprangert wird, als ob es in Deutschland keine sexistische Diskriminierung gäbe und Europa geradezu der Hort der Geschlechtergerechtig-keit sei.

Diese problematischen Kultur-, Geschichts- und Wissenschaftsbegriffe spie-geln sich u. a. auch auf folgende Weisen in »westlichen« Menschenrechtserzäh-lungen wieder:

Der »Westen« wird als kulturelle Einheit konstruiert und Unterschiede in Ge-schichte und Menschenrechtsverständnis (heute z. B. Todesstrafe) unterschlagen. Die »westliche« Menschenrechtsgeschichte wird aus epistemologisch divergie-renden (philosophischen, politischen und rechtlichen) Texten aus sehr unter-schiedlichen Sprach- und Rechtstraditionen zusammengesetzt. Dabei werden bestimmte historische Räume (z. B. griech.-röm. Antike) einseitig vereinnahmt und andere Regionen (oft schon Osteuropa) als vorgeblich »fremde Kulturen« ›herausdefiniert‹.

Zudem ist es überwiegend natürlich nur der »Westen«/die Geschichte weißer, bürgerlicher, christlicher Männer. Schwarze (oder antikoloniale) Widerstandsbe-wegungen etwa, gerade auch in Europa selber, finden kaum Beachtung, da sie das »westliche«, weiße Selbstbild, sozusagen schon immer für Menschenrechte eingetreten zu sein, ja in Frage stellen. Oder die Geschichte der Antisklavereibe-wegung wird überwiegend aus der Perspektive weißer Abolitionist_innen erzählt und die Stimmen und Aktivitäten der Versklavten selbst kaum rezipiert – gewis-sermaßen, als ob die Versklavten ohne die Weis(s)heit ihrer Versklaver_innen nicht auf die Idee gekommen wären, dass Freiheit anstrebenswert sein könnte.

Die Verflochtenheit von Geschichte, Regionen und Ideen wird nicht in Be-tracht gezogen.20 Sozusagen aus sich selbst heraus – aus der einseitigen Beschäf-tigung mit der Geschichte Westeuropas und Nordamerikas – wird auf die Beson-derheit des »Westens« und seiner Menschenrechtsidee geschlossen. Es mangelt an der Erforschung von und am gleichberechtigten Vergleich mit anderen Re-gionen, Sprachen, Philosophien usw. Größtenteils relativ unbekannt sind ent-

19 »Kultur« wird zum Synonym für »Rasse«. Vgl. zum »Kultur-Rassismus«: Etienne Balibar: Gibt es einen »Neo-Rassismus«? In: Ders./Immanuel Wallerstein (Hrsg.): Rasse – Klasse – Nation. Ambivalente Identitäten. Hamburg 1990, S. 23–38.

20 Zur Verflochtenheit/Transkulturalität von Geschichte siehe S. 44.

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sprechend die »außereuropäischen« und transnationalen Beiträge zu bzw. Aus-einandersetzungen um Menschenrechte. Wobei diese Defizite selbst viel zu wenig in Rechnung gestellt werden, das enorme Unwissen (oder die Nicht-Rezeption) nicht eingestanden und so das einseitige Bild perpetuiert wird. Denn es gibt diese »nicht-westlichen« und transkulturellen Geschichten durchaus: Etwa die Haiti-sche Revolution (1789–1804), in der es Schwarze und versklavte Menschen selbst waren, die die französischen Revolutionär_innen und Kolonialherren zwangen, Sklaverei und Rassismus abzuschaffen. In der also Menschenrechte zwischen Menschen und deren Ideen aus drei Kontinenten verhandelt wurden.21 Oder die Erzählungen enden oft (spätestens) 1948 mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und über 60 Jahre internationale Debatten und Abkommen und der Einfluss »nicht-westlicher« Länder bzw. Menschen werden kaum rezipiert, dürften größtenteils unbekannt sein.22 Von »Außereuropa« ist im Zusammen-hang mit Menschenrechten meist nur die Rede, wenn es um Menschenrechtsver-letzungen geht – Menschenrechtsverletzungen finden also »woanders« statt, wo der »Westen« dann intervenieren muss.

Auch sonst wird die Menschenrechtsgeschichte hochgradig selektiv und unter-komplex konstruiert, was zumindest wissenschaftlich-methodisch fragwürdig ist:

Ganze das 18.-20. Jh. prägende historische Bereiche der »westlichen«  – vor-geblich der Aufklärung verpflichteten – Moderne, wie Imperialismus/Kolonialis-mus, Sklaverei, Rassismus, Antisemitismus, Faschismus oder Hetero-/Sexismus (und deren menschenrechtsfeindliche Gesetzgebungen und Politiken), bleiben ausgeblendet. Oder sie erscheinen als parallele Phänomene, die nichts mit auf-klärerischen Ideen zu tun hätten, oder als den begrenzten Möglichkeiten der Realität geschuldet. Menschenrechtsgeschichte wird meist nur als Erfolgs- und Fortschrittsgeschichte (der Sieger_innen) erzählt, als ob Unterdrückung und Un-rechtserfahrungen und gescheiterte oder ambivalente Menschenrechtskämpfe nichts damit zu tun hätten.

Überdies bildet die »westliche« Ideengeschichte selbst keine homogene Lehre, und auch hier werden ganze Strömungen, die direkt oder indirekt gegen Men-schenrechte argumentier(t)en oft nicht in Rechnung gestellt: Neben den deutlich menschenrechtsfeindlichen Theoretiker_innen des Rassismus und Antisemitis-

21 Vgl. u. a. Michel-Rolph Trouillot: Undenkbare Geschichte. Zur Bagatellisierung der haitia-Vgl. u. a. Michel-Rolph Trouillot: Undenkbare Geschichte. Zur Bagatellisierung der haitia-nischen Revolution. In: Conrad/Randeria (Anm. 13), S. 84–115; Laurent Dubois/John D. Garrigus (Hrsg.): Slave Revolution in the Caribbean 1789–1804. A Brief History with Docu-A Brief History with Docu-ments. Boston 2006; Regina Richter: »Hört die Freiheit, die in unser aller Herzen spricht!« Die Haitische Revolution (1791–1804) als Sklavenwiderstand. In: Geschichte Lernen, The-menheft Sklaverei, 126, Nov. 2008, S. 34–40.

22 Vgl. Kalny (Anm. 14), S. 202–211; Harro von Senger: From limited to the universal concept of human rights: two periods of human rights. In: Wolfgang Schmale (Hrsg.): Human rights and cultural diversity: Europe, Arabic-Islamic world, Africa, China. Goldbach 1993, S. 47–100, hier S. 66–87; Susan Waltz: Universalizing Human Rights: The Role of Small States in the Construction of the Universal Declaration of Human Rights. In: Human Rights Quar-In: Human Rights Quar-terly, 2001, H. 1, S. 44–72.

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mus wie Gobineau oder Chamberlain, führt Bielefeldt als menschenrechtskep-tisch bspw. an: Hegel, Schopenhauer, Nietzsche, Schmitt und Gehlen.23

Dieses selektive Vorgehen, gleichsam einfach alles, was in der »westlichen« (Ideen-)Geschichte der Menschenrechtsidee im Wege steht, zu »vergessen«, »ist umso bemerkenswerter, als im Gegensatz dazu der bloße Verweis auf Argumen-tationen für Menschenrechte in nicht-westlichen Kulturen – in der Regel ohne den Anspruch der ausschließlichen Ableitbarkeit von Menschenrechten aus dem jeweili-gen kulturellen Kontext – gern mit dem Argument der Selektivität zurückgewiesen wird«.24

Und nicht nur all die »westlichen« Denktraditionen, die die Idee der Freiheit und Gleichheit ablehn(t)en oder bekämpf(t)en, werden nicht in Rechnung ge-stellt, sondern auch vermeintliche »Klassiker« der Entstehung der Menschen-rechtsidee selektiv gelesen. Hobbes, Locke, Montesquieu, Voltaire, Hume, Rous-seau, Diderot, Kant u. a. dachten keineswegs an alle Menschen oder schlossen sogar explizit und grundsätzlich welche aus (wahlweise Frauen, Schwarze Men-schen, Juden und Jüdinnen, Nicht-Besitzende, Versklavte etc.) bzw. entwickelten hierarchische Anthropologien.25 Das sei an einem Beispiel veranschaulicht: Louis Sala-Molins hat den Code Noir, das französische Sklavengesetz seit 1685, und die Position vieler französischer Aufklärer zu ihm und zur Sklaverei detailliert ana-lysiert und kommt zu dem Ergebnis: Wenn die Denker dies »monströseste/un-geheuerlichste Rechtsdokument der modernen (neueren) Zeit«26 nicht vollkommen ignorierten, dann zeigten sie ein gewisses Verständnis und bestimmt keine Kritik, und so konnte es bis 1848 kaum hinterfragt überdauern. Selbst Rousseau – »Das Recht zur Sklaverei ist nichtig, nicht allein, weil es widerrechtlich ist, sondern auch weil es ohne Sinn und Bedeutung ist. Die Worte ›Sklaverei‹ und ›Recht‹/›Gesetz‹ widersprechen einander und heben sich gegenseitig auf.«27 – bezieht sich mit kei-nem Wort auf die Antithese seines Ausspruchs, den Code Noir, und übergeht die Ausbeutung der Afrikaner_innen und ihrer Nachfahren. Unter Aufklärer_innen wie französischen Revolutionär_innen ging  – außer den versklavten Menschen selbst28 – lange niemand so weit, wirklich die Abschaffung der Sklaverei zu for-dern.

23 Vgl. Bielefeldt (Anm. 9), S. 50–51.24 Kalny (Anm. 14), S. 199–200.25 Zur umfangreichen Forschung zu Aufklärung/moderne Philosophie und Rassismus vgl. die

Angaben bei Wulf D. Hund, Rezension im Archiv für Sozialgeschichte online: http://library.fes.de/fulltext/afs/htmrez/80791.htm (aufgerufen am 28. 2. 2012), Fußnote 10.

26 Louis Sala-Molins: Le Code Noir ou le calvaire de Canaan. Paris 1987, S. 9. Ders.: Dark Side of the Light. Slavery and the French Enlightenment. Minneapolis 2006.

27 Rousseau (Gesellschaftsvertrag, 1762) zitiert nach Christian Delacampagne: Die Geschichte der Sklaverei. Düsseldorf 2004, S. 204.

28 Vgl. oben zur Haitischen Revolution, S. 38.

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Außerdem werden die potentiellen inneren Widersprüche, die Dialektik der Ideen und Konzeptionen selbst – wie das Natur- und Vernunftrecht,29 der Gesell-schaftsvertrag,30 die Differenzierung zwischen Menschen- und Bürgerrechten31 – nicht reflektiert; obwohl dies ja gerade auf Gefahren für heute hinweisen und also eine kritisch-konstruktive Auseinandersetzung lohnen würde.

Die Betonung der Ideengeschichte in »westlichen« Menschenrechtserzählun-gen suggeriert zudem, dass diese mit ihrer Umsetzung identisch sei  – dass die Praxis der Theorie entspräche; was zur weiteren Verschleierung Menschen aus-schließender Politiken beiträgt und eben mögliche Ambivalenzen der Theorie bei ihrer Umsetzung in konkrete Praxen ausblendet. Und so wird in den meisten menschenrechtsgeschichtlichen Darstellungen immer noch höchstens am Rande erwähnt,32 dass etwa »der Klassiker« der Menschenrechtsgeschichte, die franzö-sische »Déclaration des Droits de l’homme et du citoyen« von 1789 mit »homme« (und erst recht mit »citoyen«) im Wesentlichen weiße, besitzende, christli-che Männer über 25 Jahre meinte und Sklav_innen, freie Schwarze, Arme bzw. Nichtbesitzende, Juden und Jüdinnen, alle Frauen, Jugendliche und Kinder mehr oder minder ausschloss. – Dass es sich also keineswegs um universale Menschen-rechte, sondern um partikulare Rechte/Privilegien eines Bruchteils der französi-schen Bevölkerung handelte.33

All diese Kritikpunkte in Rechnung gestellt, verdeutlicht diese Dekonstruktion die Fragwürdigkeit des Ursprungsmythos von der »Westlichkeit« der Menschen-rechte. Das soll nun keineswegs bedeuten, dass es gar keine menschenrechtlichen Ideen und Kämpfe im »Westen« gegeben hätte und die Geschichten nur Feigen-blätter des europäischen Imperialismus seien. Aber es heißt, dass die Behaup-tung, dass die Menschenrechte zuerst und vor allem im »Westen« entstanden seien, nicht haltbar ist, und dass diese Art und Weise, Menschenrechtsgeschichte zu erzählen, wissenschaftlich wie ethisch-politisch äußerst problematisch ist.34 Aber auch wenn der »Westen« (und die »Westlichkeit« der Menschenrechte)

29 Vgl. Andrea Maihofer: Die Dialektik der Aufklärung. Die Entstehung der modernen Gleich-Vgl. Andrea Maihofer: Die Dialektik der Aufklärung. Die Entstehung der modernen Gleich-heitsidee, des Diskurses der qualitativen Geschlechterdifferenz und der Rassentheorien im 18. Jahrhundert. In: Tessa Debus u. a. (Hrsg.): Zeitschrift für Menschenrechte. FrauenMen-FrauenMen-schenrechte. Nürnberg 2009, S. 20–36.

30 Vgl. Carole Pateman: The Sexual Contract. Cambridge 1988; Charles Mills: The Racial Con-Vgl. Carole Pateman: The Sexual Contract. Cambridge 1988; Charles Mills: The Racial Con-tract. Ithaca (NY) 1997.

31 Vgl. unten S. 47.32 Vgl. die Ausnahme: Lynn Hunt (Hrsg.): The French Revolution and Human Rights. A Brief

Documentary History. Boston 1996. Ansonsten kommt z. B. Olympe de Gouges »Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin« von 1791 immer noch kaum vor.

33 Einige sehen deshalb auch weniger Kontinuitäten als vielmehr gravierende Differenzen zwi-Einige sehen deshalb auch weniger Kontinuitäten als vielmehr gravierende Differenzen zwi-schen »westlichen« Menschenrechten im 18./19.Jh. (»nonuniversal human rights«) und in-ternationalen ab der 2. Hälfte des 20. Jhs. (»universal human rights«). Vgl. Senger (Anm. 22); Samuel Moyn: The last utopia. Human rights in history. Cambridge (Mass.) 2010.

34 Neuere geschichtswissenschaftliche Forschungen legen die These nahe, dass Menschen-Neuere geschichtswissenschaftliche Forschungen legen die These nahe, dass Menschen-rechte in westeuropäischen/nordamerikanischen Diskursen bis lange ins 20. Jh. hinein kaum eine Rolle gespielt haben. Vgl. Hoffmann (Anm. 3), z. B. S. 10 und 14 ff.; Moyn (Anm. 33).

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Richter: Für eine historische und transkulturelle Menschenrechtsbildung 41

nur ein Konstrukt ist, löst sich dann nicht alles in Beliebigkeit auf, sondern ist er gleichwohl ein sehr macht- und gewaltvoller Diskurs.

3. (Heraus-)Forderungen einer historischen und transkulturellen Menschenrechtsbildung

Warum und wie ist m. E. also eine transkulturelle Historisierung der Menschen-rechte und eine kritische Auseinandersetzung mit Geschichte in der Menschen-rechtsbildung notwendig?

Wie schon in der Einleitung angesprochen, ergibt sich aus der Anerkennung der Diversität der Menschen, dem alle Menschen einbeziehenden Anspruch der Menschenrechte, aber natürlich auch aus den Menschenrechten wie dem auf Menschenrechts-/Bildung, dass Menschenrechtsbildung selber menschenrecht-lich und das heißt u. a. transkulturell und antidiskriminierend ausgerichtet sein sollte. Dem widerspricht die Erzählung von der »Westlichkeit« der Menschen-rechte offensichtlich bzw. Menschenrechtsbildung läuft so zumindest Gefahr, (kultur-)imperialistisch instrumentalisiert zu werden, wie die Kritikpunkte im 2. Kapitel gezeigt haben dürften. So fördert das Narrativ hierarchische Menschen- und Weltbilder und Beziehungen, wenn etwa »nicht-westliche« (oder nicht-weiße, nicht-christliche) Menschen keine Menschenrechtsgeschichte haben, sondern sie nachholen oder sich an die »westliche Leitkultur« anpassen müssen; andersherum als »westlich« imaginierte Menschen meinen, »humanitär« (wohl eher paternalistisch) intervenieren oder »helfen« zu müssen. Eine solche Men-schenrechtsgeschichte bietet Raum für die Legitimierung aller möglichen Politi-ken wie »humanitären« Kriegen oder antisemitischen Rassismus. Sie begünstigt zudem einseitige Interpretationen der Menschenrechte, die letztlich zur Verweh-rung grundlegender Menschenrechte führen können. So betont die Erzählung den Kampf um bürgerliche Rechte und fördert damit die liberal-konservative These, dass es einen Kern von zivilen/politischen Rechten gäbe, der über den an-deren – sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen – Rechten stünde. Das wider-spricht dem Anspruch auf Unteilbarkeit der Menschenrechte auf UN-Ebene und übergeht die Kämpfe, Debatten und Vereinbarungen um bspw. soziale Rechte (auch in Europa selber), als hätten sie nichts mit den Menschenrechten zu tun.

3.1 Menschenrechtsgeschichte I: Narrativität

Da die Erzählung, dass die Menschenrechte eine Errungenschaft der »westli-chen« Geschichte und Kultur seien, also problematische Auswirkungen hat, aber eben bisher wenig hinterfragt wurde, jedoch als Geschichtsbild weit verbreitet und tief in Welt- und Menschenbilder (oder gar Identitäten) eingeschrieben zu sein scheint, darf ein kritischer Blick auf Geschichte in der Menschenrechtsfor-schung und -bildung nicht fehlen: Die Erzählung und ihre Geschichts- und Kul-

Gina
Hervorheben
Erratum: hier sollte "antimuslimischer Rassismus" stehen; Richtigstellung durch Regina Richter im März 2014
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turverständnisse sollten sehr explizit problematisiert und dekonstruiert werden. Jörn Rüsen zufolge, kann der »Herausforderung des Ethnozentrismus (…) nicht begegnet werden, ohne Geschichte zu thematisieren, denn historisches Denken ist die wichtigste kulturelle Strategie der Identitätsbildung«.35 Es gibt also sowieso Menschenrechtsgeschichten, bewusste oder unbewusste, »wissenschaftlichere« oder eher (wahrscheinlich meistens) »mythische«. Und die Geschichten beein-flussen das Verständnis von und den Umgang mit Menschen und Menschenrech-ten. Auch im Menschenrechts-Geschichtsbewusstsein36 eines Individuums oder einer Gruppe verknüpfen sich Vergangenheitsdeutung, Gegenwartsverständ-nis und Zukunftsperspektive. Darum kommt Menschenrechtsbildung gar nicht herum und vor allem: Jeder Versuch der Darstellung und Vermittlung von oder des Kommunizierens über Menschenrechte wird selber von solchen Narrativen geprägt sein, die nicht nur perspektivisch, standort- und interessenabhängig und selektiv sind, sondern zudem eingebunden sind in Herrschaftsverhältnisse und hegemoniale Diskurse. Historisierung heißt insofern schon: Die Menschen-rechtsgeschichtserzählungen und (Geschichts- und Bildungs-)Wissenschaften zu historisieren, in diesem Falle ihr Eingebundensein in eine vom europäischen Kolonialismus geprägte Welt kritisch zu reflektieren. Die unhintergehbare narra-tive Struktur von Menschenrechten, Menschenrechtsgeschichte und Geschichts-bewusstsein, deren Funktionen und Auswirkungen, werden meines Eindruckes nach in der Menschenrechtsforschung viel zu wenig bedacht; hier sei also die Ge-schichtsdidaktik aufgefordert, sich einzubringen.

3.2 Menschenrechtsgeschichte II: Transkulturelle Geschichtlichkeit

Doch mit der kritischen (Selbst-)Reflexion/Dekonstruktion solcher Narrative hat sich der notwendige Beitrag historischer Auseinandersetzung noch nicht er-ledigt. Sondern die Kritik zieht natürlich sofort die Frage nach sich, was Men-schenrechtsgeschichte dann sein könnte, ob und wie sie überhaupt erzählt und vermittelt werden kann?37

Also: In kulturgenetischer oder »›naturrechtlicher‹ (d. h. unhistorischer) Argu-mentation lassen sich Menschenrechte intellektuell redlich nicht (mehr) legitimie-ren«. Wie Alavi und Borries betonen, gilt es, »das Problem zu historisieren, die Menschenrechte als noch unvollkommene und fortzusetzende Denk- und Sozialbe-

35 Jörn Rüsen: Die Vielfalt der Kulturen, Frankfurt a. M. 1998, S. 22.36 »Geschichtsbewusstsein« ist kein normativer, sondern ein analytischer Begriff; ein Ge-»Geschichtsbewusstsein« ist kein normativer, sondern ein analytischer Begriff; ein Ge-

schichtsbewusstsein hat auch, wer sich dessen nicht bewusst ist oder wer wenig über Ge-schichte weiß.

37 Angesichts des Problems der dominanten westlichen Erzählung stellt sich meines Wissens nach im deutschsprachigen Raum (außer mir) nur Bielefeldt (Anm. 9, S. 43 ff.) die Frage, ob/was/wie Menschenrechtsgeschichte (in der Menschenrechtsbildung) dann überhaupt sein könnte. Allerdings kommt er zu anderen Antworten, vgl. Anm. 16 und in diesem Artikel S. 45 zu »Lerngeschichte«.

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Richter: Für eine historische und transkulturelle Menschenrechtsbildung 43

wegung zu erfassen«.38 Aber: Was meint Historisieren eigentlich? In diesem Falle sicherlich nicht intendiert ist: ad Acta legen/Archivieren. Bei dieser geschichts-theoretischen Frage geht es nicht nur um Narrativität, sondern um die andere Seite des Begriffs der Geschichte, nämlich nicht als (Narrationen über) Vergan-genheit, sondern als Geschichtlichkeit. Werden Historisierung und Geschichtlich-keit der Menschenrechte an sich zwar inzwischen meistens, zumindest in der Menschenrechtsforschung, zugestanden (wenn bisher auch kaum eingelöst), so wird sich doch kaum theoretisch damit auseinandergesetzt, was denn eigentlich unter der, oft lediglich als Prozesshaftigkeit oder Veränderlichkeit beschriebenen, Geschichtlichkeit genau zu verstehen ist.39 Im Historizitätsbewusstsein40 jeder Person sind jedoch, bewusst oder unbewusst, auch »Theorien« über Geschichte und Geschichtlichkeit eingeschrieben, etwa darüber, wer Geschichte macht oder wie Veränderung und Beharrung zustande kommt – also letztlich Theorien über die Gesellschaft und die Beziehungen zwischen Menschen. Diese Geschicht-lichkeitsvorstellungen haben wiederum Aus- oder Wechselwirkungen auf Ge-schichtserzählungen, ihre Inhalte und Darstellungsweisen, können unreflektiert solch einseitige Geschichts- und Menschenbilder, wie in Kapitel 2 beschrieben, re-/produzieren.

Hier soll deshalb offengelegt und diskutierbar werden, was genauer die Ge-schichtlichkeit (der Menschenrechte) ausmachen könnte, die der Forderung nach Historisierung zugrunde liegt. Eine »Basisdefinition« wäre: Menschen und Menschenrechte sind einerseits über die Zeit hinweg Veränderung unterlegen und unterscheiden sich somit von Zeitpunkt zu Zeitpunkt; andererseits sind sie damit in historisch spezifische Zeiten und gesellschaftliche Bedingungen einge-bunden (sie sind geworden), die den/die Einzelne_n überdauern. Die individu-elle wie kollektive Existenz des Menschen ist geschichtliche Existenz, Menschen und Gesellschaft sind nur in ihrer Geschichtlichkeit zu begreifen: den Menschen, die Natur des Menschen, anthropologische Konstanten oder auch ein Ende der Geschichte gibt es so nicht.

Damit ist allerdings noch nichts gesagt darüber, wie Geschichtlichkeit zu-stande kommt, was sie konstituiert; genau dies aber wird selten expliziert, ob-wohl man hier sehr unterschiedlicher Auffassung sein kann. Die hier vertretene Position wäre:

38 Beide Zitate siehe Bettina Alavi/Bodo von Borries: Geschichte. In: Hans H. Reich u. a. (Hrsg.): Fachdidaktik interkulturell. Ein Handbuch. Opladen 2000, S. 55–92, hier S. 80 f.

39 Aber auch in der Geschichtsdidaktik (und Geschichtswissenschaft) scheint »Geschichtlich-Aber auch in der Geschichtsdidaktik (und Geschichtswissenschaft) scheint »Geschichtlich-keit« als (näher zu diskutierende) Kategorie eine untergeordnete Rolle zu spielen, weder im »Wörterbuch Geschichtsdidaktik« (Hrsg. Ulrich Mayer u. a., 2006/09) noch in einem der Handbücher (Klaus Bergmann u. a. (Hrsg.): Handbuch Geschichtsdidaktik, 1997; Michele Barricelli/Martin Lücke (Hrsg.): Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts, 2012) kommt sie explizit als Begriff vor. Warum ist das so bzw. wie kommt das?

40 Als eine Dimension des Geschichtsbewusstseins laut Hans-Jürgen Pandel: Dimensionen des Geschichtsbewusstseins. Ein Versuch, seine Struktur für Empirie und Pragmatik diskutier-bar zu machen. In: Geschichtsdidaktik, 1987, H. 2, S. 130–142.

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− Menschenrechte (Menschenrechtsideen, -bewegungen, -vereinbarungen) sind nichts Gott-, Natur- oder »Kultur«gegebenes, sondern werden von Menschen gemacht. Und zwar machen alle Menschen Geschichte. Sie sind Akteure, das heißt, sie sind weder als Objekte den Strukturen hilflos ausgeliefert, noch exis-tieren sie als unabhängige Subjekte im luftleeren Raum. Auf je ihre Weise, eigensinnig, und dabei höchst unterschiedlich, deuten sie die (Um-)Welt, eig-nen sie sich an, verändern sie dadurch, handeln und schaffen dadurch Neues, Wandel (oder Beharrung).41

− Außerdem befanden und befinden sich Menschen (und nicht »Kulturen«) in beständigen Austausch- und Auseinandersetzungsprozessen untereinan-der, die an nationalen, kontinentalen, sprachlichen, etc. Grenzen nicht halt mach(t)en. Das bedeutet, dass Geschichte eigentlich immer verwoben oder »entangled« ist – eine grundsätzliche Transkulturalität42 von Geschichte (nicht erst seit der Globalisierung). Und dies heißt etwas anderes als bspw. Kunst-geschichte  – die einen bestimmten Aspekt der Geschichte beleuchtet, und auch mehr als sozusagen Diversity-Geschichte – als die bloße Addition vieler Geschichten nebeneinander. Sondern eine transkulturelle Perspektive meint einen grundlegend »neuen« Fokus auf Geschichte, der die »Weltlichkeit von Geschichte«43  – die Eingebundenheit von Geschichten und Menschen/-rech-ten in eine verflochtene Welt – betont. Das allerdings ist wiederum nicht zu verwechseln mit Modellen wie Eine-Welt- oder Globalgeschichte, sondern es geht um (meist kontingente) Verflechtungsprozesse. Konkret für Menschen-rechtsgeschichte bedeutet das: Geschichte oder Ideen sind nicht Eigentum, sondern Produkt von Austauschprozessen; es gibt keine autarke, unabhän-gige Geschichte Europas und auch keinen einseitigen Einfluss des »Westens« auf den »Rest« der Welt. Außerdem ist das Argument nicht, dass auch an-dere »Kulturen« Menschenrechtsideen entwickelt hätten, sondern dass sich Menschen überall auf der Welt für ihre Rechte einsetz(t)en und dies oft ge-rade gegen dominierende »Kulturen«. Menschen können sehr unterschiedli-che Auffassungen von Menschenrechten haben, aber diese Unterschiede sind keine zwischen »Kulturkreisen« sondern zwischen hybriden Individuen; also auch innerhalb des »Westens« gibt es Differenzen, die oft eher größer sein dürften als bspw. die zwischen einer deutschen und einer chinesischen Femi-nistin. Eine so verstandene transkulturelle Geschichtlichkeit der Menschen-rechte oder Transkulturalität der Menschenrechtsgeschichte scheint mir weder

41 Vgl. Alf Lüdtke: Alltagsgeschichte, Mikro-Historie, historische Anthropologie. In: Hans-Jürgen Goertz (Hrsg.): Geschichte. Ein Grundkurs. Reinbek 1998/2001, S. 557–578.

42 Aus der vielseitigen Literatur zu transkultureller und globaler Geschichte/Gesellschaft (auch Transnationalität, Interkulturalität, Histoire croisée, Métissage, Kreolisierung, Hybridität, Transmigration, Cross-Culture,…) sei nur verwiesen auf: Conrad/Randeria (Anm. 13), v. a. Einleitung (»entangled history«) S. 9–49; Mecheril (Anm. 5, zu »Transmigration«), z. B. S. 11, 51–53; vgl. oben S. 33.

43 Reinhard Schulze: Weltbilder der Aufklärung. Zur Globalgeschichte neuzeitlicher Wissens-Reinhard Schulze: Weltbilder der Aufklärung. Zur Globalgeschichte neuzeitlicher Wissens-kulturen. In: Margarete Grandner/Andrea Komlosy (Hrsg.): Vom Weltgeist beseelt. Global-geschichte 1700–1815. Wien 2004, S. 161–180, hier S. 161.

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in der (deutschsprachigen) Menschenrechtsforschung und -bildung noch in der Geschichtsdidaktik44 wirklich angekommen oder eingelöst.

− Mit dieser Position wird nicht alles beliebig vielfältig, vielmehr ist bei der transkulturellen Geschichtlichkeit der Menschenrechte nicht zu vernachlässi-gen, dass sie vermittelt ist durch (Menschen gemachte) gesellschaftliche Struk-turen und Herrschafts-/Ungleichheitsverhältnisse – wie »aktuell« z. B. (Post-)Kolonialismus/Rassismus, Nationalismus, Hetero-/Sexismus, Kapitalismus/Klassismus oder Adultismus.45 Menschenrechtsvereinbarungen entstanden also nicht im harmonischen, gleichberechtigten, »interkulturellen« Austausch, sondern sind kontroverses (Zwischen-)Ergebnis von ungleichen Kämpfen und Kompromissen. Der Ansatz der »entangled history« beschreibt solche Zusam-menhänge als »geteilte Geschichten«  – »geteilt« im Sinne von »shared« und »divided«.46 Das heißt für die Menschenrechtsgeschichte aber auch: »Wichtiger als der historische Ursprung ist der sachliche Ursprung der Menschenrechte. Er besteht in der Erfahrung strukturellen Unrechts, das mit der Durchsetzung von Menschenrechten überwunden werden soll.«47

In Anknüpfung an diese These der Unrechtserfahrungen als Auslöser für Men-schenrechtsgeschichte hat in der Menschenrechtsbildung eine Idee Verbreitung gefunden, die die Geschichte der Menschenrechte entsprechend als »Lernpro-zess« oder »Lerngeschichte« konzeptionalisiert. Wenn dieser Prozess auch als offen oder konflikthaft beschrieben wird und nicht alle48 genau das Gleiche damit meinen dürften, birgt das Konzept doch Probleme: Lernen alle gemeinsam und dasselbe aus den Erfahrungen? Lernen als Motor von Geschichte und Geschichte damit doch als Fortschritt/Genese?

Aus der Perspektive einer Historikerin erscheinen mir Begriffe wie Konflikt49 und Kontingenz doch einleuchtender: Historisierung heißt m. E. also Menschen-rechte in ihrer Geschichtlichkeit und damit Menschenrechtsgeschichte als un-abschließbaren transkulturellen Auseinandersetzungsprozess aufzufassen: Men-schenrechtsideen und -vereinbarungen sind politische, umkämpfte, sich evtl.

44 In Georg Wagner-Kyora u. a. (Hrsg.): Transkulturelle Geschichtsdidaktik. Kompetenzen und Unterrichtskonzepte. Schwalbach/Ts. 2008, wird »transkulturell« nicht wirklich (kul-tur- oder geschichts-)theoretisch ausgeführt bzw. m. E. verkürzt auf transnational/global und eine tendenziell kulturalistische Argumentationsweise beibehalten.

45 Adultismus = Diskriminierung von Kindern und Jugendlichen.46 Conrad/Randeria (Anm. 13), S. 17.47 Heiner Bielefeldt/Oliver Trisch: Was sind Menschenrechte? Unterrichtsmaterialien zur

Menschenrechtsbildung, hrsg. vom Deutschen Institut für Menschenrechte. Berlin 2006, S. 3.

48 Vgl. Bielefeldt (Anm. 9), S. 48 ff.; Rainer Huhle: Zur Einführung: Historisches Lernen und Menschenrechte – ein schwieriges Verhältnis. In: Ders./Stiftung EVZ (Anm. 3), S. 6–10; K. Peter Fritzsche: Zur Geschichte der Menschenrechte: Eine Lerngeschichte mit Hindernis-sen. In: Jahrbuch für Pädagogik 2011 zu »Menschenrechte und Bildung«. Frankfurt  a. M. 2011, S. 47–59.

49 Zu Menschenrechts- als »Konfliktgeschichte« vgl. Hoffmann (Anm. 3), z. B. S. 10, 36 f.; aller-Zu Menschenrechts- als »Konfliktgeschichte« vgl. Hoffmann (Anm. 3), z. B. S. 10, 36 f.; aller-dings nicht aus eurozentrismus-/rassismuskritischer Perspektive.

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widersprechende, oft kontingente, historisch fragile Antworten auf strukturelle Unrechtserfahrungen. Es geht dann aber gerade nicht um »Kulturkonflikte« oder den »Dialog zwischen Kulturen«, sondern um die unterschiedlichen politischen, sozialen und weltanschaulichen Positionen und Perspektiven von Menschen. Und darum, wo und warum »Kultur« in solchen Auseinandersetzungen als poli-tisches Argument benutzt wird.

3.3 Historische und transkulturelle Menschenrechtsbildung

Wenn Menschenrechtsbildung einen »aufgeklärten« Umgang mit Menschen-rechten anstrebt und keine einfache moralisch-affirmative (und dabei oft Men-schen ausschließende) Orientierung, dann sollte sie also die transkulturelle Ge-schichtlichkeit der Menschenrechte thematisieren. Zu einem reflektierenden Menschenrechts- wie Geschichtsbewusstsein gehört nicht nur narrative Kom-petenz, sondern auch ein kritisches Geschichtlichkeitsbewusstsein als konkrete gesellschaftsanalytische (und damit politische Handlungs-) Kompetenz: Dass Menschenrechte (oder auch menschenrechtsfeindliche Differenzordnungen wie »Rasse«/»Kultur« oder »Geschlecht«) nicht natürlich oder wahr/endgültig, son-dern gemacht, veränderlich, multi-/perspektivisch und kontrovers sind, dass sie geworden und eingebunden sind in global verflochtene Herrschaftsverhältnisse, usw.50 Hierin liegt zugleich eine Chance, weil Geschichtlichkeit immer auch Ver-änderbarkeit heißt und mensch so vielleicht nicht an den Widersprüchen von Norm/Anspruch und Realität verzweifelt.

Diese Begründung und Orientierung einer historischen Menschenrechtrechts-bildung an der transkulturellen Geschichtlichkeit unterscheidet sich von dem oben bereits erwähnten Konzept der »Lerngeschichte«. Bei deren Idee von his-torischer Bildung soll es anscheinend tatsächlich um das Lernen aus vergange-nen Erfahrungen und Lernprozessen gehen. Wird damit Geschichte nicht zum Fundus von Moralgeschichten? Hier besteht die Gefahr, dass Geschichte zur ver-einfachenden Legitimation von Menschenrechten herangezogen wird, dass Men-schenrechte zwar nicht mehr aus der Natur, dafür aber aus der Geschichte/Ver-gangenheit begründet werden.

Zwar ist auch das hier verfolgte Konzept eines sozusagen transkulturell und machtkritisch reflektierenden Menschenrechtsgeschichtsbewusstseins normativ, das ist bei Menschenrechtsbildung nicht anders zu erwarten. Es ist aber nicht als Bildungsziel zu verstehen, sondern als Kriterium oder Prinzip von Lehr-Lern-

50 Dieser Begründung einer historischen Menschenrechtsbildung am nächsten kommt wahr-Dieser Begründung einer historischen Menschenrechtsbildung am nächsten kommt wahr-scheinlich Albert Scherr (vielleicht nicht zufällig ein Soziologe?) – allerdings ohne (expli-zite) eurozentrismuskritische/transkulturelle und geschichtsdidaktische Perspektive. Vgl. Albert Scherr: Ist historisch-politische Bildung für gegenwartsbezogene Menschenrechtsbil-dung (un-)verzichtbar? In: Huhle/Stiftung EVZ (Anm. 3), S. 175–179; Ders./Ulrike Hormel: Evaluation des Förderprogramms »Geschichte und Menschenrechte«, Stiftung »Erinne-rung, Verantwortung und Zukunft«. Berlin 2008.

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Prozessen. Bildungsziel ist, wie in der Einleitung bereits beschrieben, die Unter-stützung von Analyse- und Handlungsfähigkeit bezüglich menschenrechtlicher Fragen. Hier kann und muss historische Bildung einen Beitrag zur politischen Bildung leisten. Denn, wenn auch nicht wie oben bei der Lerngeschichte, aber ohne Geschichten – ohne möglichst konkreten historischen Stoff (also differen-zierende Gesellschaftsanalysen) geht es nicht. Historisieren und »Transkulturali-sieren« heißt insofern auch Re-Politisieren: historische »Ergebnisse«, scheinbare gesellschaftliche Konsense in die ursprüngliche Situation des Konflikts zurückzu-verfolgen,51 um damit Einsichten in den Konstruktionscharakter (die gesellschaft-liche Gewordenheit) von Werten und ihren Deutungen zu gewinnen. Menschen-rechtsgeschichten können den Blick schärfen für (frühere wie gegenwärtige) Gefahren oder Widersprüchlichkeiten von Menschenrechtsverständnissen und -politiken: Die konkrete historische Umsetzung von Ideen macht deren Probleme erst deutlich, wenn etwa zwischen Menschen- und Bürgerrechten unterschieden wurde/wird und so die politischen Mitbestimmungsrechte (und damit die Ent-scheidungsrechte über »die Anderen«) zu Privilegien einer Gruppe werden und zum Ausschluss eines Teils der Bevölkerung von grundlegenden (nicht nur poli-tischen) Menschenrechten führen. Bezüglich Menschenrechtspolitiken können an historischen Beispielen Einsichten gewonnen werden z. B. für die Interessen-, Macht- und historischen Strukturen, in die menschenrechtliche Interventionen eingebettet sind (etwa Parallelen oder gar Kontinuitäten zwischen Kolonialismus und Entwicklungshilfe); oder die Kontingenz und Ambivalenz von menschen-rechtlichen Aktivitäten, die sich letztlich der Kontrolle/Steuerung ihrer Auswir-kungen und Interpretationen entziehen.

Aus alledem ergeben sich einige, erste, unvollständige Heraus-/Forderungen für eine historische Menschenrechtsbildung (und -forschung), die freilich auch die Fruchtbarkeit einer Auseinandersetzung mit Geschichte verdeutlichen:

− Menschenrechtsgeschichtserzählungen, hierzulande v. a. die »westlichen«, soll-ten explizit problematisiert und kritisch analysiert werden. Gerade in Zeiten der sog. Globalisierung und Migrationsgesellschaft ist eine rassismuskritisch, postkolonial und transkulturell sensibilisierte narrative Kompetenz dringend geboten.

− Eine Historisierung der Menschenrechte scheint also unumgänglich. Dafür ist es notwendig, überhaupt erst einmal mehr historisches Wissen zu Menschen-rechtsthemen zu generieren (bzw. zu rezipieren) und zwar multiperspekti-visch, international und interdisziplinär. Dabei sollte geschichtstheoretischen bzw. -didaktischen Fragen wesentlich mehr Aufmerksamkeit gewidmet wer-den.

− Damit Geschichtlichkeit (und Geschichtserzählungen) nicht als beliebig oder relativ wahrgenommen werden, ist es geboten, in der historischen Menschen-rechtsbildung zweierlei einzubeziehen: Die Transkulturalität und gleichzeitig

51 Vgl. Brigitte Dehne: Gender im Geschichtsunterricht. Das Ende eines Zyklopen? Schwal-Vgl. Brigitte Dehne: Gender im Geschichtsunterricht. Das Ende eines Zyklopen? Schwal-bach/Ts. 2007, z. B. S. 111 f.

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Herrschaftsförmigkeit von Gesellschaft und Geschichte. Menschenrechtsge-schichte also neu zu erzählen als verwobene, aber eben auch geteilte (»shared and divided«) Geschichte, als Geschichte von Austausch (etwa menschenrecht-licher Ideen) und Ungleichheit/Unterdrückung (etwa menschenrechtlicher Ansprüche von kolonialisierten Menschen).52 Und dies natürlich jenseits kul-turalisierender Festschreibungen: Menschen sollten als Subjekte und Akteure, wenn auch als verflochtene und widersprüchliche, erkennbar werden. Hier geht die transkulturelle Forderung unmittelbar einher mit der nach einer in-tersektionalen53 Perspektive. Menschenrechtsgeschichte sollte dabei wesentlich multiperspektivischer dargestellt und geöffnet werden für bisher vernachläs-sigte Geschichten/Stimmen, wie »außereuropäische« Beiträge zu oder Ausein-andersetzungen um Menschenrechte oder »Geschichten von Unten« wie bspw. die (Diskriminierung und) Emanzipationsbewegungen von Frauen, quee-ren54 Menschen, Armen/Besitzlosen, Juden und Jüdinnen, Schwarzen Men-schen, Sklav_innen, Kolonialisierten, Kindern, Menschen mit Behinderungen u.v.m. Diese »anderen« Geschichten helfen zudem, eingefahrene Perspektiven in Frage zu stellen, selbst wenn etwa eine bewusste kritische Reflexion über eurozentrische Geschichtsschreibung als noch zu anspruchsvoll für jüngere Schüler_innen eingestuft wird. Scheinbar widersprüchlich zur transkulturel-len Öffnung, aber aufgrund des eurozentrischen Othering dringend geboten ist es, Menschenrechtsverletzungen nicht nur in der »Dritten Welt«, sondern in erster Linie hier in Deutschland zu thematisieren; auch dabei können »Ge-schichten von Unten« wie etwa die Schwarzer Deutscher helfen.55

3.4 Schluss

Es geht hier also keineswegs darum, der »bösen« »westlichen« eine »gute« trans-kulturelle Meistererzählung, etwa eine Menschenrechts-Weltgeschichte, gegen-über zu stellen; sondern vielfältige und verflochtene, differenzierende und wider-sprüchliche, multiperspektivische und komplexe Geschichten. Weder Geschichte noch Menschenrechtsbildung sind »gut«, beide haben es vor allem mit Diskri-

52 Vgl. die historischen Beispiele oben S. 38.53 Auch Differenzordnungen wie Rassismus oder Klassismus sind natürlich miteinander ver-Auch Differenzordnungen wie Rassismus oder Klassismus sind natürlich miteinander ver-

woben  – intersektional/interdependent, und jede_r Einzelne in all diese Herrschaftsord-nungen eingebunden. Das kann hier leider nicht näher ausgeführt werden, ist aber gerade im Zusammenhang mit den folgenden Forderungen dringend zu beachten. Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Intersektionalität (aufgerufen am 24. 6. 2012).

54 Queere Menschen = die der Heteronormativität (Zweigeschlechtlichkeit und Heterosexuali-Queere Menschen = die der Heteronormativität (Zweigeschlechtlichkeit und Heterosexuali-tät) nicht entsprechen wollen oder können.

55 Vgl. Anne Frank Zentrum Berlin (Hrsg.): Mehrheit, Macht, Geschichte. 7 Biografien zwi-Vgl. Anne Frank Zentrum Berlin (Hrsg.): Mehrheit, Macht, Geschichte. 7 Biografien zwi-schen Verfolgung, Diskriminierung und Selbstbehauptung. Interkulturelles Geschichts-lernen: Interviews, Übungen, Projektideen. Mülheim an der Ruhr 2007; Paulette Reed-Anderson: Rewriting the Footnotes. Berlin und die afrikanische Diaspora. Hrsg. vom Ausländerbeauftragten des Senats. Berlin 2000.

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Richter: Für eine historische und transkulturelle Menschenrechtsbildung 49

minierung und Gewalt zu tun. Die transkulturelle Forderung ist auch eine nach unsicherer, irritierender, fragender Geschichte. Das ist an sich nicht ganz neu, jedoch unter einer globalen und rassismuskritischen Perspektive zu reformulie-ren und einzulösen.

Der (Heraus-)Forderungen sind viele – wie soll man das alles je Schüler_innen vermitteln? Darum geht es mir (noch) nicht, sondern zunächst darum, die Dis-kussion in der Wissenschaft und Lehrer_innenbildung anzuregen. Mit der eige-nen Auseinandersetzung, mit neuem Wissen und Perspektiven  – nicht zuletzt neuen Geschichten – werden dann, so bin ich überzeugt, auch neue Möglichkei-ten und Wege der Vermittlung denk- und vorstellbar.

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Unveröffentlichtes Extrakapitel zum

Artikel von Regina Richter

Für eine historische und transkulturelle Menschenrechtsbildung –

zur Kritik an der „westlichen“ Menschenrechtserzählung

für Zeitschrift für Geschichtsdidaktik (September 2012)

Themenschwerpunkt: Menschenrechtsbildung, Holocaust Education, Demokratieerziehung

(siehe http://www.v-r.de/de/magazine-92-92/zeitschrift_fuer_geschichtsdidaktik-500061)

Abstract:

The author problematizes that human rights are often seen as achievements of “Western” culture and history and that this can have negative (imperialistic) effects on our understanding of humans,

human rights and human rights education. She argues that it is not human rights that are

“Western”, but only the dominant narratives about human rights that are Eurocentric. Since the

“Western” narrative(s) seem to be very influential, the author first highlights some arguments that question and deconstruct these narratives and their conceptions of history and culture. Thereupon

the author aims to show why it is necessary for human rights education to historicize human rights

in a transcultural framework and to engage critically with history.

Die Autorin promoviert zum selben Thema – Kurzexpose, Expose und Literatur siehe:

http://www.historicum.net/fileadmin/sxw/Didaktik/04_Forschung/Promotionsvorhaben_Richter_Heidelberg.pdf

Betreuer_innen: Prof. Dr. Bettina Alavi (Geschichtsdidaktik, PH Heidelberg)

und Prof. Dr. Heiner Bielefeldt (Menschenrechtspolitik, Uni Erlangen)

Beginn Promotion: Dezember 2011, Förderung: Hans-Böckler-Stiftung (Gewerkschaftsstiftung)

Regina Richter ist Lehrerin für Geschichte und Politik und aktiv in der politischen Bildung

(v.a. zu Antidiskriminierung/ Social Justice und Rassismuskritik/ kritischem Weißsein)

Kontakt: [email protected] (Berlin)

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4. Ausblick1 – „Gegenwissen“: Beispiele einer transkulturellen Menschenrechtsgeschichte

Um nicht nur trockene Kritik zu üben und da Historisierung ohne konkreten historischen „Stoff“ nicht möglich ist, soll die Theorie hier anhand historischer Beispiele mit Leben gefüllt werden.

Beispielen, die veranschaulichen, was eine transkulturelle Historisierung und Repolitisierung der

Menschenrechte bedeuten könnte, und die so einen hoffentlich spannenden Ausblick auf „neues“ Wissen geben.

4.1. Haitische (und Französische) Revolution (1789-1804):2

In Haiti, damals französische Kolonie, brach 1789/91 eine Revolution aus, in der sich Versklavte

und Schwarze Menschen selbst von Sklaverei und Diskriminierung befreiten. Sie zwangen damit

Frankreich, zwischenzeitlich (1794-1802) die Sklaverei in Teilen des französischen Reichs

abzuschaffen und die Menschenrechte für alle Menschen3 anzuerkennen. Als Napoleon

Versklavung und Diskriminierung wieder einführen wollte, machten sich die Haitianer_innen von

Frankreich unabhängig und gründeten 1804 den zweiten unabhängigen Staat Amerikas. Haiti war

damit das erste Land zumindest im atlantischen Raum, in dem die Rechtsform ‚Sklaverei’ und

rassistische Diskriminierung für immer verboten wurden. Und die Haitische Revolution war eine der

umfassendsten Umwälzungen im „Zeitalter der Revolutionen“ – politisch, wirtschaftlich, sozial,

kulturell und personell drehte sie sozusagen das „Unterste“ zu „Oberst“. Zudem hatte sie vielfältige politische, wirtschaftliche, etc. Auswirkungen auf die Geschichte der atlantischen Welt, ohne die

etwa die Geschichten Frankreichs oder der USA unverständlich bleiben.

Doch es waren weder die weißen französischen Revolutionäre_innen (in deren

Menschenrechtserklärungen/Verfassungen spielte die real existierende Sklaverei keine Rolle)

noch die wenigen weißen Abolitionist_innen, sondern die revoltierenden Sklav_innen in Haiti, die

den wesentlichen Beitrag zur Abschaffung der Sklaverei 1794 und zum Antirassismus lieferten.

Versklavte Menschen „brauchten“ zudem die freiheitlichen Ideen ihrer Unterdrücker_innen nicht,

sie hatten selbst immer wieder Widerstand gegen ihre Versklavung und Misshandlung geleistet,

etwa durch Aufstände, Flucht oder geheime Gemeinschaften. Und besonders spannend ist: Ein

Großteil der haitischen Sklav_innen (und damit ein Großteil der haitischen Bevölkerung) waren

noch als Freie in (West-Zentral-)Afrika geboren und aufgewachsen und brachten ihre Ideen und

Erfahrungen natürlich mit und ein in die „Neue Welt“ („Black Atlantic“). Etwa aus politischen Auseinandersetzungen und Bürgerkriegen, die im 18.Jh. das Kongoreich erschütterten, nahmen

sie Debatten und Ideen um Herrschaft der Wenigen oder demokratische Mitbestimmung und

Gleichheit aller Menschen mit nach Haiti.4

Letztlich sind Haitische und Französische Revolution also nur zu „verstehen“ als eine kaum entwirrbare, transkulturelle, multikausale, kontingente Gemengelage, die die Abschaffung der

Sklaverei möglich gemacht hat. Hieraus lässt sich ersehen, dass Menschenrechte kein Produkt

Einzelner oder einer Idee sind, sondern sich in (globalen) Auseinandersetzungsprozessen

entwickel(te)n und veränder(te)n.5

1 Dieser 4. Teil wird in der Zeitschrift aus Platzgründen leider nicht erscheinen.

2 Vgl. u.a. Carolyn E. Fick: The Making of Haiti. The Saint Domingue Revolution from Below. Knoxville (Tennessee) 1990; Michel-Rolph

Trouillot: Undenkbare Geschichte. Zur Bagatellisierung der haitianischen Revolution. In Conrad (Anm.Fehler! Textmarke nicht

definiert.), S.84-115; Laurent Dubois: Avengers of the New World. The Story of the Haitian Revolution. Cambridge (Mass.) 2004; Laurent Dubois/John D. Garrigus (Hg.): Slave Revolution in the Caribbean 1789-1804. A Brief History with Documents. Boston 2006; Regina Richter: „Hört die Freiheit, die in unser aller Herzen spricht!“ Die Haitische Revolution (1791-1804) als Sklavenwiderstand. In: Geschichte Lernen, Themenheft Sklaverei, 126, Nov. 2008, S.34-40. 3 Einige Rechte, gerade die aktive politische Teilhabe, blieben allerdings besitzenden Männern über 25, nur jetzt egal welcher Couleur,

vorbehalten. 4 Vgl. John Thornton: ‘I am the Subject of the King of Congo’. African Political Ideology and the Haitian Revolution. In: Journal of World

History, Vol. 4, No. 2, 1993, S.181-214; Ders.: Africa and Africans in the Making of the Atlantic World 1400-1800. Cambridge 1999. 5 Vgl. Susan Buck-Morss: Hegel und Haiti. Für eine neue Universalgeschichte. Berlin 2011.

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4.2. UN-Menschenrechte:

Vielleicht etwas platt, aber mir scheint notwendig, sei darauf hingewiesen, dass Menschenrechte

seit nunmehr über 60 Jahren international diskutiert und völkerrechtlich vereinbart werden, und

dass man den daran beteiligten Menschen diversester regionaler und „kultureller“ Herkunft nicht allen „westliches“ Agententum unterstellen kann. Aber wie sah es z.B. bei der Entstehung des internationalen Menschenrechtssystems aus? Neuere

Forschungen6 haben aufgezeigt, dass es in der Gründungsphase der UNO vor allem Delegierte

aus „nicht-westlichen“ Staaten (z.B. China und südamerikanische Länder) waren, die sich um die Verankerung von Menschenrechten etwa in der UN-Gründungscharta bemühten, während für

„westliche“ Mächte die UNO eher als eine Staatengemeinschaft zur Absicherung ihrer Machtbereiche im Vordergrund stand. Auch bei der Erarbeitung der Allgemeinen Erklärung der

Menschenrechte (AEMR) spielte ein bereits 1945 erarbeiteter südamerikanischer Entwurf eine

wichtige Rolle, der zudem auf regionsübergreifende südamerikanische Vorläufer seit den 1930er

Jahren zurückblicken konnte. Außerdem waren es Frauen wie die Brasilianerin Bertha Lutz,

Minerva Bernardino aus der Dominikanischen Republik oder die Inderin Hansa Metha, die sich für

einen Hinweis auf Gleichberechtigung zwischen Frau und Mann in der UN-Charta einsetzten und

die in der AEMR (im Gegensatz zu Eleanor Roosevelt) durchsetzten, dass statt von „men“ von „human beings“ die Rede war. Bezeichnend ist, dass „alle westlichen Mächte gegen zentrale Aspekte der Menschenrechtsidee opponierten, an deren Verankerung nicht-westliche Staaten im

Kampf gegen Kolonialismus und Rassismus höchstes Interesse hatten.“7 Menschen aus „nicht-westlichen“ Ländern wie China erkämpften das Verbot rassistischer Diskriminierung in der UN-

Charta. Hier gilt es zu bedenken, dass all die Menschen und Regionen, die noch unter kolonialer

Herrschaft standen, in der UNO gar nicht vertreten waren und auf die Diskussionen und

Entscheidungen zur AEMR kaum Einfluss nehmen konnten; die Menschenrechte dann „natürlich“ auch nicht in den europäischen Kolonien galten… An solchen Zusammenhängen wird noch einmal deutlich: Keine transkulturelle Menschenrechtsbildung ohne kritische Geschichte!

6 Vgl. Kalny (Anm.Fehler! Textmarke nicht definiert.), S.202-211; Senger (Anm.Fehler! Textmarke nicht definiert.), S.66-87; Susan

Waltz (z.B.): Universalizing Human Rights: The Role of Small States in the Construction of the Universal Declaration of Human Rights. In: Human Rights Quarterly. A Comparative and International Journal of the Social Sciences, Humanities, and Law, 2001, H. 1, S. 44-72. 7 Kalny (Anm.Fehler! Textmarke nicht definiert.), S.209. Ähnlich verhielt es sich mit sozialen Menschenrechten…