Philipps-Universität Marburg Fachbereich 15: Chemie Übung: Experimentalvorträge für Studierende des Lehramts Leitung: Herr Dr. Reiß, Herr Prof. Dr. Neumüller Sommersemester 2019 Referent: Johannes Bulle ([email protected]) Datum des Vortrags: 26.06.2019, 12.30 Uhr Experimentalvortrag AC: Wasserstoffperoxid – Zwischen (Redox)Chemie und Alltag
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Experimentalvortrag AC: Wasserstoffperoxid – zwischen ... · großtechnischen Darstellung (Anthrachinon- bzw. Isopropanolverfahren) an inkl. eines kurzen Blicks in die Historie
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Philipps-Universität Marburg
Fachbereich 15: Chemie
Übung: Experimentalvorträge für Studierende des Lehramts
In ein Demo-Reagenzglas werden ca. 20 mL heißes entmineral. Wasser gegeben und darin
anschließend 2 Spatelspitzen Kaliumperoxodisulfat gelöst. Nach Versetzen mit 2 Pasteur-Pi-
petten Schwefelsäure (c ≈ 2 mol/L) wird die entstandene Lösung noch kurz mit einem Glasstab
gerührt, bevor abschließend eine Pipette Titanylsulfat-Lösung zugegeben wird.
Beobachtung:
Es bildet sich eine klare farblose Lösung, wobei am Boden des Reagenzglases ggf. noch geringe
Mengen nicht gelöstes Kaliumperoxodisulfat zu erkennen sind. Nach dem Versetzen mit Ti-
tanylsulfat kann die Bildung einer gelb-orangenen Lösung wahrgenommen werden.
Abb. 2: Lösung vor (links) und nach (rechts) Zugabe von Titanylsulfat.4
Entsorgung
Die Reaktionslösung wird erhitzt (Abkochen von H2O2), anschließend mit Thiosulfat umge-
setzt und schließlich neutral und abgekühlt in den Schwermetallabfällen entsorgt (Titan!).
S2O32-
(aq) + 5 H2O(l) + 4 S2O82-
(aq) → 10 SO42-
(aq) + 10 H+(aq)
Fachliche Auswertung der Versuchsergebnisse
Die Darstellung von Wasserstoffperoxid im betrachteten Versuch beruht zunächst auf der
Hydrolyse des Kaliumperoxodisulfats, welche schrittweise über die intermediäre Peroxo-
dischwefelsäure bzw. Peroxomonoschwefelsäure verläuft. Das so entstandene H2O2 wird an-
schließend mit Titanylsulfat als orange-gelber Peroxotitanyl-Nachweiskomplex qualitativ veri-
fiziert.
Herstellung von H2O2 durch Hydrolyse von Peroxodisulfat
Kaliumperoxodisulfat stellt formal betrachtet das Kaliumsalz der Peroxodischwefelsäure oder
auch Marshall´schen Säure (H2S2O8) dar; entsprechend lässt sich durch Ansäuern einer wäss-
rigen Lösung von Peroxodisulfat ebenjene Säure gewinnen.5
4 Eigene Erstellung mit Handykamera, 15.05.2019. 5 Vgl. Holleman, A.F.; Wiberg, N.: Lehrbuch der Anorganischen Chemie. 102. Auflage, Walter de Gruyter Verlag, Berlin/New York, 2007, S. 600 f.
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I II
III
Abb. 3: Bildung von Peroxodischwefelsäure durch Ansäuern durch Peroxodisulfat.6
Anhand der obigen Strukturformel der Peroxodischwefelsäure ist ersichtlich, dass als zentra-
les Strukturmotiv bereits die charakteristische Peroxofunktion vorliegt, in der beide Sauer-
stoffatome die für Peroxide typische Oxidationsstufe -1 aufweisen. Entsprechend handelt es
sich bei den folgenden Hydrolyseprozessen nicht um Redox-Reaktionen, sondern lediglich um
LEWIS-Säure-Base-Prozesse.
Abb. 4: Mechanismus der Hydrolyse von Peroxodischwefelsäure zu H2O2.7
Zunächst (s. obere Zeile) kommt es zu einem quasi-solvolytischen (Wasser ist Lösungsmittel
und liegt entsprechend in hoher Konzentration vor) Angriff des LEWIS-basischen Wassers mit-
tels seiner freien Elektronenpaare auf das positiv polarisierte und damit LEWIS-saure S-Atom
der Peroxodischwefelsäure, woraus ein zwitterionisches Addukt-Intermediat (I) entsteht. Die-
ses wiederum zerfällt in die intermediäre Peroxomonoschwefelsäure (II), auch als Caro´sche
Säure bezeichnet, sowie (als Nebenprodukt) H2SO4. Auch die Peroxomonoschwefelsäure je-
doch kann nun (untere Zeile) ihrerseits hydrolysiert werden; mechanistisch analog entsteht
durch diese Reaktion schließlich ein zweites Äquivalent H2SO4 und Wasserstoffperoxid (III).8
Nachweis mit Titanylsulfat-Lösung
Klassisches Nachweisreagenz für H2O2 ist eine Titanylsulfat-Lösung, da diese bereits mit sehr
geringen Mengen den typischen orange-gelben Peroxotitanyl-Nachweiskomplex ausbildet.9
6 Eigene Erstellung mit Chemdraw, 25.05.2019. 7 Eigene Erstellung mit Chemdraw, 25.05.2019. 8 Vgl. Riedel, E.; Janiak, C.: Anorganische Chemie. 8. Auflage, Walter de Gruyter Verlag, Berlin/New York, 2011, S. 453 f. 9 Vgl. Holleman, A.F.; Wiberg, N.: Lehrbuch der Anorganischen Chemie. S. 1527.
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Abb. 5: Bildung des Peroxotitanylkomplexes.10
Hierbei kommt es prinzipiell zu einer zweifachen Ligandenaustauschreaktion begleitet mit
doppelter Deprotonierung des H2O2: So koordiniert sich der Peroxoligand side-on an das Titan-
Atom unter Ausbildung des gelb-orangenen Peroxotitanylkomplexes (worauf die im Versuch
beobachtete Farbe der Lösung beruht), wobei die Triebkraft der Reaktion wie anhand obiger
Reaktionsgleichung ersichtlich u.a. in der günstigen Entropie zu sehen ist (Verdoppelung der
Teilchenanzahl). Die Farbigkeit des Komplexes resultiert dabei aus Charge-Transfer-Effekten.11
Abb. 6: LMCT als Ursache der Farbigkeit des Peroxotitanylkomplexes.12
Der Charge-Transfer beruht im obigen Fall auf einem reversiblen ligand-to-metal-Charge-
Transfer (LMCT), d.h. durch Absorption von sichtbarem (in diesem Fall blauem) Licht kommt
es zu einer mikroreversiblen Redoxreaktion, im Zuge derer ein Elektron aus dem Peroxoligan-
den intermediär in ein d-Orbital des Ti-Atoms angeregt werden kann (Änderung der Elektro-
nenkonfiguration des Ti von d0 auf d1). Hiermit wiederum geht der CT-Effekt und damit auch
die im Versuch beobachtete Farbigkeit des Komplexes einher.13
Industrielle Herstellung von Wasserstoffperoxid
Ausgehend von der in Versuch 1 eher im kleinem (Labor- bzw. Schul-)Maßstab durchgeführten
H2O2-Darstellung bietet es sich an, an dieser Stelle einen kurzen Blick auch auf die großtech-
nische Produktion des Wasserstoffperoxids zu werfen. Dabei sind heute zwei Verfahren gän-
gig, das Anthrachinon-Verfahren (BASF) sowie das Isopropanol-Verfahren.14
10 Eigene Erstellung mit Chemdraw, 25.05.2019. 11 Vgl. Holleman, A.F.; Wiberg, N.: Lehrbuch der Anorganischen Chemie. S. 1527. 12 Eigene Erstellung mit Chemdraw, 25.05.2019. 13 Vgl. Copéret, C.; Chaudret, B.: Surface and Interfacial Organometallic Chemistry and Catalysis. Springer Verlag, Berlin/Heidelberg, 2005, S. 60. 14 Vgl. Holleman, A.F.; Wiberg, N.: Lehrbuch der Anorganischen Chemie. S. 534 f.
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Abb. 7: Anthrachinon-Verfahren der BASF.15
Beim Anthrachinon-Verfahren (s.o.) werden formal Diwasserstoff und Disauerstoff (in Form
von günstigem Luftsauerstoff) bei vergleichsweise milden Bedingungen zu H2O2 umgesetzt,
wobei es anders als es die Bruttoreaktionsgleichung suggeriert jedoch nicht zu einer direkten
Reaktion zwischen H2 und O2 kommt, sondern lediglich vermittels des katalytischen Redox-
Systems aus Anthrachinon/Anthrahydrochinon: Hierbei wird zunächst das alkylierte (meist
ethylierte) Anthrahydrochinon (links) mit Disauerstoff zum Anthrachinon und H2O2 oxidiert,
bevor das Anthrachinon anschließend wieder zum Anthrahydrochinon zurückgebildet wird
durch katalytische Hydrierung an Palladium. Typischerweise findet die Umsetzung in einem
2-Phasen-System aus org. Lösungsmittel und Wasser statt, aus dem am Ende des Prozesses
H2O2 wässrig extrahiert wird16 (Kapazität einer solchen Anlage/Jahr: ca. 40.000 – 60.000 t).17
Abb. 8: Isopropanol-Verfahren.18
Beim alternativen Isopropanol-Verfahren, das heute kommerziell nur noch in Russland betrie-
ben wird, wird Isopropanol (2-Propanol) mit O2 bei erhöhtem Druck zu Aceton und Wasser-
stoffperoxid umgesetzt. Ein wesentlicher Vorteil dieses Verfahrens liegt darin, dass neben
H2O2 auch das als Nebenprodukt anfallende Aceton kommerziell vermarktet werden kann und
daher anders als beim Anthrachinon-Verfahren eine katalytische Rückhydrierung des Acetons
(obgleich technisch möglich) aus Kostengründen unterbleibt.19
15 Eigene Erstellung mit Chemdraw, 25.05.2019. 16 Vgl. Klapötke, T.M.; Tornieporth-Oetting, I.C.: Nichtmetallchemie. VCH Verlag, Weinheim, 1994, S. 351. 17 Vgl. Offermanns, H.; Dittrich, G.; Steiner, N.: Wasserstoffperoxid in Umweltschutz und Synthese. In: ChiuZ, Jg. 34 (2000), H. 3, S. 152. 18 Eigene Erstellung mit Chemdraw, 25.05.2019. 19 Vgl. Holleman, A.F.; Wiberg, N.: Lehrbuch der Anorganischen Chemie. S. 535.
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Kurzer Überblick zur Historie des Wasserstoffperoxids
Obgleich H2O2 bei zahllosen (bio-)chemischen Prozessen oder z.B. auch in der Atmosphäre in
nennenswertem Ausmaß gebildet wird (Konzentration von H2O2 in der Luft: ca. 0,1 – 1 ppb; in
Meerwasser: 0,5 – 14 µg/L; in Süßwasser: 1-30 µg/L), lässt sich die erste bewusst von Men-
schen durchgeführte H2O2-Darstellung erst ins Jahr 1818 zurückdatieren, als THÉNARD erstmals
Wasserstoffperoxid durch Ansäuern von Bariumperoxid gewinnen konnte und der noch unbe-
kannten Verbindung aufgrund ihrer außergewöhnlichen Eigenschaften den Namen „oxidiertes
Wasser“ verlieh. In Folge dessen kam es 1873, nach einer intensiven wissenschaftlichen De-
batte über die genaue Struktur bzw. die Hintergründe der bis dato nicht weiter aufgeklärten
Verbindung, zur ersten industriellen Herstellung von Wasserstoffperoxid (analog dem
THÉNARD-Verfahren), wobei max. 3%-Lösungen produziert werden konnten. 1894 wurde be-
reits reines H2O2 durch WOLFFENSTEIN destillativ gewonnen, was den Grundstein legte für eine
intensivere und systematische Erforschung und Charakterisierung des Wasserstoffperoxids.
Als „Durchbruch“ kann jedoch erst die Entdeckung des Anthrachinon-Verfahrens durch die
damalige IG Farben (heute BASF) in den Jahren 1935-45 angesehen werden, da nun zum einen
deutlich größere Mengen H2O2 hergestellt werden konnten und zudem ein Anreichern bis auf
die noch heute gängige Perhydrol-Konzentration (35% H2O2) möglich war. Entsprechend stei-
gerte sich auch die Weltjahresproduktion an Wasserstoffperoxid von ca. 2.000 t (1900) auf
35.000 t (1950), 300.000 t (1970) bis hin zu 2,7 Mio. t H2O2 im Jahr 1998 (stets gerechnet als
100% H2O2), mit noch immer zunehmender Tendenz, da sich H2O2 gerade in Zeiten gestiege-
nen ökologischen und Nachhaltigkeits-Bewusstseins wachsender Beliebtheit erfreut.20
Versuch 2: Oxidierende Eigenschaften (Oxidation von Tartrat-Ionen)21
Nachdem im Vorherigen die Herstellung von Wasserstoffperoxid sowohl im Schul- wie auch
im technischen Maßstab intensiver beleuchtet wurde, kann nun unter dem Gesichtspunkt der
zweiten Leitfrage (Wie reagiert H2O2?) insbesondere die Redox-Chemie bzw. dort im Speziel-
len die Redox-Amphoterie des Wasserstoffperoxids näher in den Fokus treten. Zu diesem
Zweck soll der folgende Versuch 2 zunächst zeigen, dass H2O2 oxidierende Eigenschaften hat.
20 Vgl. Offermanns, H./Dittrich, G./Steiner, N.: Wasserstoffperoxid in Umweltschutz und Synthese. S. 151-153. 21 Quelles des Versuchs: Vgl. Inner London Education Authority: Independent Learning Project for advanced Che-mistry (ILPAC), Unit I 5, Transition Elements. 1. Auflage, John Murray Publishers, London, 1984, V6, S. 60-62 (ver-ändert).
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Chemikalien:
Geräte und Materialien:
- Magnetrührer und Rührfisch - Kristallisierschale (als ggf. Über-
wird nun mit einem Stopfen verschlossen und 2 – 3x geschwenkt, um eine gleichmäßige
Durchmischung der Lösung zu erhalten. Die so erhaltene Lösung wird nun gleichmäßig auf
zwei Reagenzgläser aufgeteilt: Das erste verbleibt als Referenz-Lösung (zum Vergleich), in das
zweite werden nun 1 Pipette Schwefelsäure (c ≈ 2 mol/L) sowie 20 mL Wasserstoffperoxid-
Lösung (w ≈ 0,35) gegeben, bevor abschließend kurze Zeit mit dem Glasstab gerührt wird.
Beobachtung:
In dem mit Schwefelsäure und Wasserstoffperoxid versetzten Reagenzglas kommt es nach ei-
niger Zeit zur vollständigen Entfärbung der vormals intensiv violetten Lösung, zudem sind nach
etwas Warten einige Gasbläschen zu erkennen. Die Referenzprobe hingegen verbleibt unver-
ändert und weist auch am Ende noch dieselbe violette Farbe wie auch am Anfang auf.
Abb. 14: Beobachtete Entfärbung ggü. Referenzprobe (links), Gasbläschen in der entfärbten Probe (rechts).35
Entsorgung:
Sowohl die Reaktions- wie auch die nicht abreagierte Referenzlösung werden vereinigt, mit
Oxalsäure versetzt (Zerstörung von Permanganat) und schließlich erhitzt, um überschüssiges
H2O2 zu vernichten. Diese Lösung kann neutral in den Schwermetallabfällen entsorgt werden.
16 H+(aq) + 5 C2O4
2-(aq) + 2 MnO4
-(aq) → 2 Mn2+
(aq) + 8 H2O(l) + 10 CO2(g)↑
Fachliche Auswertung der Versuchsergebnisse
Kaliumpermanganat stellt ein sehr starkes Oxidationsmittel dar, was u.a. auf die hohe Oxida-
tionsstufe des Mangan-Atoms (+7) zurückzuführen ist. Mit zahlreichen Verbindungen wie
bspw. auch Wasserstoffperoxid geht es daher Redox-Reaktionen ein, wobei dies sowohl qua-
litativ wie im betrachteten Versuch (Beobachtung der Entfärbung als Hinweis auf eine Reduk-
tion von violettem MnO4-) als auch quantitativ (titrimetrische Bestimmung als Permangano-
metrie) Einsatz findet. Im Fall der Reaktion mit H2O2 kommt es daher zu einer Redox-Reaktion,
die sich wie folgt aufschlüsseln lässt; entscheidend ist, dass die Reaktion im Sauren abläuft, da
dies gemäß der NERNST-Gleichung der Oxidationskraft des Permanganats nochmals erhöht.
35 Eigene Erstellung mit Handykamera am 16.05.2019.
16
Abb. 15: Redox-Reaktion zwischen Kaliumpermanganat und Wasserstoffperoxid unter Beteiligung v. Protonen.36
Bei diesem Redox-Prozess wird Manganat(VII) zu Mn2+-Ionen reduziert, worauf auch die beo-
bachtete Entfärbung der Reaktionslösung zurückgeführt werden kann: Mn2+-Ionen weisen
zwar eine Fleischfarbe auf, die jedoch recht schwach ist und daher in derart hoher Verdünnung
wie im konkreten Versuch letztlich als Entfärbung erscheint.37 Gleichzeitig wird Wasserstoff-
peroxid oxidiert zu Disauerstoff, woraus sich auch die beobachtete Gasbläschenbildung im
Versuch erklären lässt: H2O2 fungiert so insgesamt tatsächlich als Reduktionsmittel.
Interessant an der betrachteten Reaktion ist ferner, dass sie autokatalytisch verläuft, m.a.W.
katalysieren die durch den Redox-Prozess gebildeten Mn2+-Ionen ihrerseits die eigentliche Re-
dox-Reaktion.38 Dies ist auch z.B. der Grund dafür, dass die beobachtete Entfärbung erst nach
kurzer Zeit zu beobachten ist, da die Reaktionsgeschwindigkeit am Anfang der Reaktion (wenn
erst wenig MnO4- zu Mn2+ umgesetzt wurde) vergleichsweise niedrig ist und erst durch die
Autokatalyse steigt, bis makroskopisch eine Veränderung wahrzunehmen ist. Aus diesem
Grund sollte gerade bei quantitativen (titrimetrischen) Bestimmungen von H2O2 am Anfang
nur wenig und langsam KMnO4 zugegeben werden, da sonst ein unbeabsichtigtes Überschrei-
ten des Äquivalenzpunktes droht; weil der Effekt hier jedoch nur qualitativ vorgeführt werden
sollte, konnte problemlos ein deutlicher Überschuss H2O2 zugesetzt werden.
Wasserstoffperoxid kann somit tatsächlich als redox-amphoter identifiziert werden, insofern
es sowohl Oxidations- wie auch Reduktionsmittel sein kann. Ein interessanter Fall ergibt sich
nun, wenn beides in ein und demselben Versuch stattfindet, d.h. wenn H2O2 mit sich selbst
reagiert und dabei gleichzeitig oxidiert und reduziert wird. Dies wiederum ist die Grundlage
der katalytischen Zersetzung, die im folgenden Versuch näher betrachtet wird.
36 Eigene Erstellung mit Chemdraw, 25.05.2019. 37 Vgl. Riedel, E.; Janiak, C.: Anorganische Chemie. S. 829 & 834. 38 Vgl. B. Neumüller: Skript zum AC-II Praktikum für Lehramtskandidaten. Marburg, 2015, S. 148.
17
Versuch 4: Katalytische Zersetzung durch Fe3+ (Demo)39
Die Zersetzung (Disproportionierung) von Wasserstoffperoxid zählt neben der Redox-Ampho-
terie zu dessen wichtigsten Eigenschaften; Grund hierfür ist die schwache und daher ver-
gleichsweise leicht zu brechende Peroxo-O-O-Bindung, was H2O2 insgesamt nur zu einer meta-
stabilen Verbindung macht.40 Da die Disproportionierung von H2O2, die bei Raumtemperatur
zwar thermodynamisch günstig (s.u.), jedoch kinetisch gehemmt ist (hohe Aktivierungsener-
gie), in Gegenwart zahlreicher Reagenzien wie Säure, Base, Schwermetall-Ionen, Enzyme etc.
katalytisch beschleunigt werden kann, soll im folgenden Versuch eine solche katalytische Zer-
setzung exemplarisch anhand von Fe3+ fokussiert werden, inkl. kinetischer Auswertung.
Chemikalien:
Geräte und Materialien:
39 Quelle des Versuchs: Vgl. Autorenkollektiv: Elemente Chemie Niedersachsen 11/12. Klett Verlag, Stuttgart, 2010, Versuch 1, S. 144 (verändert). 40 Vgl. Riedel, E.; Meyer, H.-J.: Allgemeine und Anorganische Chemie. 12. Auflage, Walter de Gruyter Verlag, Ber-lin/Boston, 2019, S. 276.
15 Sekunden wird nun das Gasvolumen im Kolbenprober gemessen und notiert. Im Anschluss
hieran wird für die Glimmspanprobe das aus dem Versuch erhaltene Gas im Kolbenprober
pneumatisch in einem Reagenzglas (normale Größe) aufgefangen (mit Reagenzglasstopfen
verschließen), anschließend wird dieses in die vorbereitete Apparatur gespannt und direkt
nach Wegnahme des Stopfens die Glimmspanprobe durchgeführt.
Beobachtung:
Die eingesetzte H2O2-Lösung ist klar und farblos, die FeCl3-Lösung weist eine typisch orange-
gelbe Farbe auf. Nach der Zugabe der Eisen(III)-chlorid-Lösung zum Wasserstoffperoxid nimmt
die Reaktionslösung ebenfalls die orange-gelbe Farbe an, wobei nach kurzer Zeit eine Gasent-
wicklung einsetzt (Gasbläschen). Diese steigert sich im weiteren Verlauf der Reaktion, nach
wenigen Minuten ist die Lösung zudem tiefbraun. Am Ende der Reaktion, wenn kein Gas mehr
frei wird, hat die Lösung wieder dieselbe orange-gelbe Farbe wie auch am Anfang. Die Glimm-
spanprobe verläuft positiv, die erhaltenen Messwerte (V → t) sind unten graphisch skizziert.
Abb. 18: Reaktionslösung am Anfang (links), während (Mitte) und am Ende der Reaktion (rechts).43
Abb. 19: Positive Glimmspanprobe.44
Abb. 20: Messwerte des Versuchs, graphisch aufgetragen.45
43 Eigene Erstellung mit Handykamera am 14.05.2019. 44 Eigene Erstellung mit Handykamera am 14.05.2019. 45 Eigene Erstellung mit MS Excel, 25.05.2019.
20
Entsorgung:
Die Reaktionslösung wird zur Sicherheit noch einmal aufgekocht (thermische Zerstörung von
H2O2) und anschließend neutral und abgekühlt den flüssigen Schwermetallabfällen zugeführt.
Fachliche Auswertung der Versuchsergebnisse
Anhand der Beobachtung, dass die Reaktionslösung am Anfang und am Ende der Reaktion
dieselbe (orange-gelbe) Farbe aufweist, lässt sich auch experimentell verdeutlichen, dass das
zugesetzte Eisen(III)-chlorid insgesamt nur eine katalytische Funktion besitzt und am Ende des
Reaktionsprozesses wie für einen Katalysator typisch wieder regeneriert wird (vgl. die analoge
Beobachtung auch bei Versuch 2, bzgl. der Cobalt-Katalyse). Die eigentliche Redox-Reaktion
läuft also allein zwischen H2O2 ab und kann daher wie folgt beschrieben werden.
Die Zersetzung von Wasserstoffperoxid lässt sich somit als durch Fe3+ katalysierte Dispropor-
tionierung in Wasser und Disauerstoff deuten; sowohl die Oxidations- wie auch die Redukti-
ons-Teilgleichungen sind bereits aus Versuch 2 & 3 bekannt. Auf der Bildung des Disauerstoffs
beruht zudem die beobachtete Gasentwicklung, zudem erklärt dies auch, weswegen die
Glimmspanprobe – wie beobachtet – ein positives Resultat liefert. Die katalytische Zersetzung
von H2O2 verläuft stark exotherm (ΔH0 = - 196,2 kJ/mol),46 sodass sie aus enthalpischer wie
auch entropischer Perspektive (Zunahme der Teilchenanzahl von 2 auf 3, zudem irreversible
Bildung eines Gases) günstig erscheint und damit eine negative freie GIBBS-Energie aufweist:
M.a.W. handelt es sich bei der Zersetzung von Wasserstoffperoxid um einen exergonischen
und daher thermodynamisch spontan-freiwillig ablaufenden Prozess, dessen Rückreaktion,
d.h. die Gewinnung von H2O2 somit endergonisch verläuft. Hierin schließlich begründet sich
die ledigliche Metastabilität des Wasserstoffperoxids, die die thermodynamische Labilität der
Verbindung und damit u.a. auch deren Reaktionsfreudigkeit erklärt.
Mechanistisch kann die Fe3+-katalysierte H2O2-Zersetzung dabei mithilfe des sog. KREMER-
STEIN-Mechanismus beschrieben werden, d.h. dem wechselseitigen Redox-Übergang von
46 Vgl. Holleman, A.F.; Wiberg, N.: Lehrbuch der Anorganischen Chemie. S. 535.
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I II III IV I
Fe(III) zu Fe(V); die konkurrierende Erklärung, d.h. der Übergang von Fe(III) zu Fe(II) in Form
des HABER-WEIS-Mechanismus, ist nach neueren Untersuchungen weniger plausibel.47
Abb. 21: Redoxreaktion (oben) und KREMER-STEIN-Mechanismus (unten); farblich zugeordnet sind Edukte und Pro-
dukte, die die völlige Deckungsgleichheit zw. Redoxgleichung und Mechanismus widerspiegeln.48
Der KREMER-STEIN-Mechanismus initiiert mit Fe3+, welches im wässrigen Medium in Form gelb-
orangener Aqua- bzw. Hydroxo-Komplexe vorliegt (I);49 diese wiederum bilden sich aus dem
Hexaaquaeisen(III)-Komplex, der bedingt durch die hohe positive Polarisierung des Zentrala-
toms H+-Ionen abspaltet und somit eine Kationensäure darstellt. Im ersten mechanistischen
Schritt wird nun zunächst ein Aqua-Ligand gegen H2O2 substituiert (II), wobei die Oxidations-
stufe des Fe-Zentralatoms jedoch noch unverändert bleibt. Erst im nächsten Schritt wird durch
Abspaltung eines zweiten H2O eine intermediäre Fe(V)-Spezies generiert (III): Diese Fe(V)-Spe-
zies wiederum weist eine intensiv braune Farbe auf und erklärt so die Versuchsbeobachtung,
dass die Lösung nach einiger Zeit tiefbraun vorliegt (vgl. Abb. 18). Im Anschluss wird das inter-
mediäre Fe(V) unter Beteiligung eines zweiten Wasserstoffperoxidmoleküls wieder zurück zu
Fe(III) reduziert (IV), bevor abschließend durch irreversible Freisetzung eines O2-Moleküls sich
der Ausgangskomplex (I) wieder zurückbildet und damit die insgesamt nur katalytische Betei-
ligung des Fe3+ plausibilisiert.50 Durch geeignete farbliche Zuordnung kann schließlich die völ-
lige Kongruenz zw. Redox-Gleichung und Mechanismus bestätigt werden (s. Abb. 21: Farben).
Reaktionskinetische Auswertung
Aufbauend auf dieser eher qualitativen Versuchswertung sei nun versucht, die durchgeführte
katalytische Zersetzung auch quantitativ, d.h. hier unter einem reaktionskinetischen Gesichts-
punkt weiter zu fokussieren. Als Ziel soll dabei die Geschwindigkeitskonstante der Reaktion,
kr, auf Grundlage des Experiments bestimmt werden. Zu diesem Zweck werden nachfolgend
einige hierzu notwendige mathematisch-physikochemische Zusammenhänge entwickelt.
47 Vgl. Holleman, A.F.; Wiberg, N.: Lehrbuch der Anorganischen Chemie. S. 536. 48 Eigene Erstellung mit Chemdraw, 25.05.2019. 49 Vgl. Housecroft, C.E.; Sharpe, A.G.: Anorganische Chemie. 2. Auflage, Pearson Verlag, München, 2006, S. 187. 50 Vgl. Holleman, A.F.; Wiberg, N.: Lehrbuch der Anorganischen Chemie. S. 536.
22
(1)
(2)
(3)
(4)
Die Reaktionsgeschwindigkeit (Momentangeschwindigkeit v bzw. Durchschnittsgeschwindig-
keit v̅) ist zunächst definiert als die zeitliche Änderung der Stoffmengenkonzentration eines
Reaktanden, bzw. mathematisch als Differenzialquotient dc/dt (oder bei v̅: als Differenzen-
quotient Δc/Δt) und damit als Steigung eines c/t-Diagramms.51
v = dc
dt bzw. v̅ =
∆c
∆t
Für den betrachteten Versuch kann nun, mit der Reaktionsgleichung
2 H2O2(aq) → O2(g) + 2 H2O(l)
folgender Zusammenhang formuliert werden:
Das Verhältnis der Stoffmengenänderungen (Δn) ergibt sich aus den zugrundeliegenden stö-
chiometrischen Koeffizienten der Redox-Gleichung (2:1-Stöchiometrie von H2O2:O2). Wird der
gebildete Disauerstoff in guter Näherung nun als ideales Gas betrachtet, so kann seine Stoff-
mengenänderungen wie in Gl. (1) auch über den Quotienten von Volumenänderung und mo-
larem Volumen des idealen Gases ausgedrückt werden (s.o.).
∆c(H2O2) = ∆n(H2O2)
V(Lösung)= −2 ∙
∆V(O2)
Vm,ideal(O2) ∙ V(Lösung)
Damit lässt sich wiederum wie in Gl. (2) die Konzentrationsänderung des abreagierenden Was-
serstoffperoxids berechnen; zugrunde liegt hier die Fundamentalbeziehung c = n/V. Durch Ein-
setzen von Gl. (1) erhält man Gl. (2).
c(H2O2) = c0(H2O2) + ∆c(H2O2)
Somit kann die Momentankonzentration des H2O2 nach Gl. (3) bestimmt werden, die ja nichts
anderes ist als die Ausgangskonzentration c0 (hier: 0,2 mol/L) addiert mit der Änderung der
Konzentration; da Δc stets negatives Vorzeichen hat – Wasserstoffperoxid als Edukt wird bei
der Reaktion verbraucht – müsste c(H2O2) somit kontinuierlich abnehmen.
v̅ = − ∆c(H2O2)
∆t= −
(−2 ∙ ∆V(O2)
Vm,ideal(O2) ∙ V(Lösung))
∆t= 2 ∙
∆V(O2)
24,0L
mol ∙ 27,0 mL ∙ ∆t
Damit kann die mittlere Reaktionsgeschwindigkeit experimentell bestimmt werden: Durch
Verwenden der Definition v̅ = Δc/Δt kann nun Δc gemäß Gl. (2) substituiert werden; das
51 Vgl. Atkins, P.W.; de Paula, J.: Physikalische Chemie. 5. Auflage, Wiley-VCH Verlag, Weinheim, 2013, S. 835.
∆n(H2O2) = −2 ∆n(O2) = −2 ∆V(O2)
Vm,ideal(O2)
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(5)
negative Vorzeichen vor dem Differenzenquotienten rührt daher, dass die Reaktionsgeschwin-
digkeit per Definition als positiver Wert angegeben wird (wegen negativem Vorzeichen von
Δc: Multiplikation mit -1).52 Durch Einsetzen (molares Volumen des idealen Gases bei 20 °C
und 1.000 hPa: 24,0 L/mol; Volumen der Lösung: 24 mL (H2O2) + 3 mL (FeCl3) = 27 mL) resultiert
schließlich Gl. (4), in der beide noch verbleibende Variablen experimentell zugänglich sind.
Da es sich zudem bei der katalytischen Zersetzung von H2O2 schließlich um eine Reaktion ers-
ter Ordnung handelt, kann das Geschwindigkeitsgesetz wie in Gl. (5) formuliert werden.
v = kr ∙ c(H2O2)
Bei genauerer Betrachtung von Gl. (5) ergibt sich die Erwartung, dass bei graphischer Auftra-
gung eines v/c-Diagramms eine Ursprungsgerade resultiert, deren Steigung kr – also der letzt-
lich gesuchten Größe – entspricht. Tatsächlich können auf Grundlage der Messwerte sowie
der Gl. (1)-(5) ebenjene Diagramme berechnet und damit kr experimentell bestimmt werden.
Abb. 22: Gasvolumen an O2(g) in Abhängigkeit von der Zeit.53
Übereinstimmend mit den Beobachungen nimmt das Volumen des gebildeten Disauerstoffs
kontinuierlich zu und erreicht, wenn H2O2 quantitativ abreagiert ist, einen konstanten Wert.
Abb. 23: Abnehmende H2O2-Konzentration in Abhängigkeit von der Zeit.54
52 Vgl. Holleman, A.F.; Wiberg, N.: Lehrbuch der Anorganischen Chemie. S. 189. 53 Eigene Erstellung mit MS Excel, 25.05.2019. 54 Eigene Erstellung mit MS Excel, 25.05.2019.
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Erwartungsgemäß nimmt die Stoffmengenkonzentration des Edukts, also Wasserstoffperoxid,
gemäß Gl. (3) sukzessive ab, ausgehend vom Startwert (c0 = 0,2 mol/L). Dass die Kurve nicht
ganz bis auf null geht, hängt sehr wahrscheinlich mit Messungenauigkeiten (z.B. Undichtigkei-
ten) oder potentiellen Fehlergrößen zusammen (z.B. Vernachlässigung der Gas-Löslichkeit von
O2 in Wasser; ggf. zu niedrige Startkonzentration durch bereits vorherige Zersetzung, etc.).
Abb. 24: Reaktionsgeschwindigkeit in Abhängigkeit von der Zeit.55
Anhand von Abb. 24 ist zu erkennen, dass die Reaktionsgeschwindigkeit zunächst bis etwa
100 s zunimmt, bevor sie kontinuierlich abfällt und am Ende der Reaktion (wenn kein H2O2
mehr vorhanden ist, d.h. keine Zersetzungsreaktion mehr ablaufen kann) erwartungskonform
wieder bei null liegt.
Abb. 25: Ausgleichsgerade und v/c-Diagramm zur Ermittlung der Geschwindigkeitskonstante.56
Das so auf Grundlage von Gl. (5) erstellte v/c-Diagramm ergibt schließlich tatsächlich nähe-
rungsweise eine Ursprungsgerade (lineare Regression bei gleichzeitigem Durchschreiten des
Ursprungs). Über die Geradengleichung der Regressionsgerade kann so schlussendlich die Ge-
schwindigkeitskonstante der Reaktion bestimmt werden zu kr = 0,0028 s-1.
55 Eigene Erstellung mit MS Excel, 25.05.2019. 56 Eigene Erstellung mit MS Excel, 25.05.2019.
⇒ kr = 0,0028 s-1
25
Auch in der Natur besitzt die Eisen-katalysierte Zersetzung von H2O2 eine hohe Bedeutung: So
bildet sich Wasserstoffperoxid bei zahlreichen biochemischen Stoffwechselprozessen, z.B. in
der Atmungskette bei der schrittweisen Reduktion von O2 zu H2O. Da es jedoch in den aller-
meisten derartigen Fällen ein unerwünschtes Nebenprodukt darstellt, das durch seine starke
des pKS = 11,62 zeigt sich, dass H2O2 acider als Wasser ist und damit ätzend.60 Neben der be-
reits experimentell untersuchten Redox-Amphoterie bzw. Metastabilität (katalytische Zerset-
zung durch H+, OH-, Mm+, Enzyme, Temperaturerhöhung) ist schließlich die Struktur des
57 Vgl. Janiak, C.; Meyer, H.-J.; Gudat, D.; Kurz, P.: Moderne Anorganische Chemie. 5. Auflage, Walter de Gruyter Verlag, Berlin/Bosten, 2018, S. 876 f. 58 Vgl. Heimann, R.: Wasserstoffperoxid aus chemischer und biologischer Sicht. In: MNU, Jg. 57 (2004), H. 1, S. 15. 59 Vgl. Graf, E.: Wasserstoffperoxid: Giftstoff oder Sauerstoffspeicher? In: NiU-Chemie, Jg. 15 (2004), H. 79, S. 33. 60 Vgl. Latscha, H.P.; Mutz, M.: Chemie der Elemente – Chemie-Basiswissen IV. 1. Auflage, Springer Verlag, Ber-lin/Heidelberg, 2011, S. 140.
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Wasserstoffperoxids von besonderem Interesse:61 In der Gasphase bildet H2O2 typische Falt-
blattstrukturen (s. Abb. 26) mit dem charakteristischen Diederwinkel von 111° sowie der auf-
fällig langen (und daher vergleichsweise schwachen, d.h. metastabilen) O-O-Bindung. Diese
wiederum resultiert (vgl. Abb. 27) aus elektrostatischen Abstoßungen der freien Elektronen-
paare an den Sauerstoffatomen, die zur Vermeidung entsprechender elektrostatischer Wech-
selwirkungen eine gauche-Form des Moleküls bedingen.62
Abb. 26: Struktur I von H2O2.63 Abb. 27: Struktur II von H2O2.64
Versuch 5: Bleichende Eigenschaften: Deinking von Altpapier (Demo)65
Im dritten und letzten Abschnitt des Vortrags, überschrieben mit der Leitfrage Wo(zu) H2O2?,
sollte die alltägliche Anwendung des Wasserstoffperoxids anhand exemplarischer Kontextzu-
sammenhänge näher in den Blick genommen werden. Von besonderer Bedeutung ist dabei,
als Beispiel einer großtechnischen Anwendung, das Deinking (Druckfarbenentfernung) von
Altpapier, bei dem H2O2 aufgrund seiner bleichenden Wirkung eingesetzt wird. Den industri-
ellen Prozess des Deinkings im Experiment zu simulieren und gleichzeitig auf die diesbezügli-
chen Verbindungen zu H2O2 hinzuweisen, war daher auch das Ziel des fünften Versuchs.
61 Vgl. Binnewies, M.; Jäckel, M.; Willner, H.; Rayner-Canham, G.: Allgemeine und Anorganische Chemie. 2. Auf-lage, Spektrum Verlag, Heidelberg, 2011, S. 542. 62 Vgl. Huheey, J.E.; Keiter, E.A.; Keiter, R.L.: Anorganische Chemie – Prinzipien von Struktur und Reaktivität. 5. Auflage, Walter de Gruyter Verlag, Berlin/Bosten, 2014, S. 68. 63 Riedel, E.; Janiak, C.: Anorganische Chemie. S. 440. 64 Housecroft, C.E.; Sharpe, A.G.: Anorganische Chemie. S. 488. 65 Quelle des Versuchs: Vgl. Ost, A.: Experimentalvortrag Wasserstoffperoxid, S. 12 (verändert). In: Reiß, P. (ver-antw.): Chids: Chemie in der Schule. Experimentalvorträge, Nr. 758. Online verfügbar: https://www.chids.de/ver-anstaltungen/uebungen_experimentalvortrag.html (Zugriff: 04.07.2019, 9:08 Uhr).
Oxi Action gegeben und anschließend mindestens 2 Stunden lang weitererhitzt. Das so erhal-
tene Papier wird abschließend noch in der Kristallisierschale getrocknet.
Beobachtung:
Durch das Kochen mit Natriumcarbonat-Lösung wird das in Schnipsel gerissene Papier zu ei-
nem rot-braunen Brei, der jedoch noch alle vormaligen Farben besitzt. Im Zuge der Behand-
lung mit Vanish kommt es zuerst zum heftigen Schäumen der Lösung während des Erhitzens,
außerdem liegt das Papier am Ende der Behandlung bzw. des Trocknungsprozesses als nahezu
reinweiße breiige Masse vor, nur noch ein leichter Grünstich ist zu erkennen.
Abb. 29: Unbehandeltes Papier (1), Papier nach dem Kochen mit Natriumcarbonat-Lösung (2) sowie nach der
Vanish-Behandlung (3).68
Entsorgung:
Die überschüssige Natriumcarbonat-Lösung kann neutral im Ausguss entsorgt werden, ebenso
die mit nur geringen Mengen Vanish Oxi Action versetzte wässrige Lösung; das Papier kann in
trockenem Zustand in die Feststoffabfälle gegeben werden.
Fachliche Auswertung der Versuchsergebnisse
Das Deinking zählt heute zu den wichtigsten industriell-großtechnischen Anwendungsszena-
rien von Wasserstoffperoxid, bei dem man sich im Besonderen die bleichende Eigenschaft des
H2O2 zunutze macht. Ziel des Deinking-Prozesses ist dabei, die noch auf dem Altpapier vor-
handenen Druckfarben durch Bleichen zu entfernen, damit das auf diese Weise von Farben
befreite, weiße Papier wieder im Recyclingprozess einer Wiederverwendung zugeführt wer-
den kann. Ausgangspunkt des Bleichprozesses im konkreten Versuch ist das Fleckensalz Va-
nish Oxi Action, das laut Etikett über 30% „Aktiv-Sauerstoff“ enthält.69
68 Eigene Erstellung mit Handykamera am 14.05.2019. 69 Vgl. Offermanns, H./Dittrich, G./Steiner, N.: Wasserstoffperoxid in Umweltschutz und Synthese. S. 155 f.
29
I II
III
Farbstoff
Chemisch gesehen handelt es sich bei diesem „Aktiv-Sauerstoff“ um Natriumpercarbonat,
welches zutreffender als Natriumcarbonat-Perhydrat zu bezeichnen ist, da es lediglich eine
Anlagerungsverbindung des H2O2 an Na2CO3 darstellt (anders als Perborat keine tatsächliche
Peroxoverbindung). Wird dieses Natriumpercarbonat in Wasser gelöst, bildet sich eine alkali-
sche H2O2-Lösung. Im Optimum-Bereich von pH 10 – 11 sowie zwischen 60 – 70 °C generiert
diese Lösung bleichende Spezies, die für die Bleichwirkung von zentraler Bedeutung sind.70
Abb. 30: Generierung von bleichenden Spezies aus Natriumpercarbonat-Lösung.71
Durch parallel ablaufende Säure-Base- sowie Redox-Reaktionen bilden sich bleichende Spezies
wie das Perhydroxyl-Radikal (I), das Hydroxyl-Radikal (II) bzw. das Superoxid-Anion (III); eine
alternative Erklärung, die die Bleichwirkung auf die Bildung von naszierendem atomarem Sau-
erstoff zurückführt, erscheint aus neueren Untersuchungen als weniger plausibel.72 Bei I-III
handelt es sich um Radikale, die aufgrund ihres ungepaarten, die Oktettregel verletzenden
Elektrons hochreaktive Teilchen darstellen, sowie um starke Oxidationsmittel, was anhand der
Oxidationszahlen zu erkennen ist. Aufgrund dessen bewirken sie ein Bleichen der Druckfarben,
m.a.W. die oxidative Zerstörung der Farbstoffmoleküle, wie nachfolgend skizziert.
Abb. 31: Schematische Bleichreaktion.73
70 Vgl. Wagner, G.: Waschmittel – Chemie, Umwelt, Nachhaltigkeit. 5. Auflage, Wiley-VCH Verlag, Weinheim, 2017, S. 117-119. 71 Eigene Erstellung mit Chemdraw, 25.05.2019. 72 Vgl. Wagner, G.: Waschmittel. S. 119. 73 Eigene Erstellung mit Chemdraw, 25.05.2019, auf Grundlage von Wagner, G.: Waschmittel. S. 118 f.
30
Tatsächlich läuft beim Bleichprozess eine ganze Kaskade komplexer Reaktionen ab, die bis
heute noch nicht vollständig aufgeklärt werden konnten. Schematisch ist anhand obiger Ab-
bildung jedoch zu erkennen, dass die vormalig intakte Farbstoff-Struktur (auf Grundlage aus-
gedehnter konjugierter Doppelbindungen) durch eine Sequenz aus oxidativem Angriff, Hydro-
lyse etc. insgesamt bleichend-oxidierend zerstört wird, worauf die auch im Versuch beobach-
tete Entfernung der Druckerfarben beruht. Zudem ist erkennbar, dass die Bleichprodukte
durch zahlreiche hydrophile Gruppen eine ausgeprägte Wasserlöslichkeit aufweisen und so
durch den „Waschvorgang“ vom Papiergewebe entfernt werden.74
Anwendungen von Wasserstoffperoxid in Technik & Alltag
Das soeben experimentell simulierte Deinking stellt tatsächlich die wichtigste industrielle An-
wendung von Wasserstoffperoxid dar, wie ein Blick auf das folgende Tortendiagramm verrät.
Abb. 32: Einsatzbereiche von Wasserstoffperoxid weltweit.75
Fast die Hälfte des weltweit produzierten H2O2 wird demnach von der Papier- und Zellstoffin-
dustrie benötigt, da das Deinking von Altpapier einen Schlüsselprozess innerhalb des Recyc-
lingkreislaufs darstellt. Weitere wichtige Anwendungsgebiete sind ferner Textil (Bleichmittel
in Waschmitteln, z.B. Percarbonat oder Perborat), chem. Synthese, Elektroindustrie (Reini-
gung von Si-Wafern) oder auch Umweltanwendungen (z.B. Dekontamination von Industrieab-
wässern), da durch den Einsatz von H2O2 keine umweltschädlichen Folgeprodukte anfallen.76
Alltagsnahe Produkte, die auf Wasserstoffperoxid oder seinen Derivaten beruhen, sind z.B.
Wasch-, Reinigungs- oder Desinfektionsmittel (bspw. für Kontaktlinsen-Reinigung), ferner Pro-
dukte für Zahn-Bleaching oder Haarbleichen („wasserstoffblond“). Typischerweise weisen
diese kommerziell erhältlichen Produkte einen max. H2O2-Gehalt von 3 % auf; im chemischen
Handel ist das sog. Perhydrol, also 35 % H2O2, Standard.77 Wasserstoffperoxid in höheren
74 Vgl. Wagner, G.: Waschmittel. S. 118 f. 75 Offermanns, H./Dittrich, G./Steiner, N.: Wasserstoffperoxid in Umweltschutz und Synthese. S. 154. 76 Vgl. ebd. S. 154-158. 77 Vgl. Riedel, E.; Meyer, H.J.: Allgemeine und Anorganische Chemie. S. 276.
31
Konzentrationen, z.B. als Komponente für Raketen- und Satellitentreibstoff, muss entspre-
chend unter hohen Sicherheitsvorkehrungen (zur Metastabilität und Zersetzungsgefahr vgl.
oben) destillativ angereichert werden.78
Versuch 6: Tintenkiller79
Mit der Chemie des Tintenkillers soll im abschließenden Versuch näher eruiert werden, inwie-
fern Wasserstoffperoxid helfen kann, die chemischen Vorgänge in einem Produkt der Alltags-
und Lebenswelt der Schüler_innen näher zu verstehen. Damit soll zugleich der „Bogen“ zurück
20 mL Wasser, versetzt mit einigen Tropfen Königsblau-Tinte
Magnetrührer
Rührfisch
Abb. 33: Aufbau Versuch Tintenkiller.80
78 Vgl. Offermanns, H./Dittrich, G./Steiner, N.: Wasserstoffperoxid in Umweltschutz und Synthese. S. 154. 79 Quelle des Versuchs: Vgl. Wiechoczeck, D.: Chemie des Tintenkillers. Online verfügbar: http://www.chemieun-terricht.de/dc2/tip/09_03.htm (letzter Zugriff: 03.07.2019, 15:28 Uhr) (verändert). 80 Eigene Erstellung mit ChemSketch, 02.07.2019.