24.01.2015 1 Ethik in der Psychiatrie – Grundlagen Ethik in der Psychiatrie und Psychotherapie 15. Vierwaldstätter-Psychiatrietag 22. Januar 2015 Dr. theol. Ruth Baumann-Hölzle Interdisziplinäres Institut für Ethik im Gesundheitswesen Stiftung Dialog Ethik 1 Übersich Ethik – Sitte – Moral Ethik – Recht Ethik in der Psychiatrie 24.01.2015 2 24.01.2015 2 Hinführung 24.01.2015 3 Der Mensch Doppelnatur des Menschen Naturwesen Vernunftwesen Verhältnis von Natur und Vernunft? Als reines Naturwesen wäre der Mensch nur instinktgesteuert Als reines Vernunftwesen wäre der Mensch absolut entscheidungsfähig Freiheit und Zwänge 24.01.2015 4
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Ethik in der Psychiatrie Grundlagen - lups.ch · geschehen soll (informed consent) Urteilsunfähige Personen haben Anspruch auf Autonomie und Würde – es muss nach ihrem mutmasslichen
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Transcript
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Ethik in der Psychiatrie –
Grundlagen
Ethik in der Psychiatrie und Psychotherapie
15. Vierwaldstätter-Psychiatrietag 22. Januar 2015
Dr. theol. Ruth Baumann-Hölzle
Interdisziplinäres Institut für Ethik im Gesundheitswesen Stiftung Dialog Ethik 1
Übersich
Ethik – Sitte – Moral Ethik – Recht Ethik in der Psychiatrie
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Hinführung
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Der Mensch
Doppelnatur des Menschen Naturwesen Vernunftwesen
Verhältnis von Natur und Vernunft? Als reines Naturwesen wäre der Mensch nur
instinktgesteuert Als reines Vernunftwesen wäre der Mensch
Analyse der ethischen Güter Formulierung des ethischen Dilemmas Ethische Güterabwägung Entscheid Handlung Evaluation
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Entscheidungssituationen
Mit dem urteilsfähigen Patienten Stellvertretend für den urteilsunfähigen Patienten
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Arzt – Patienten – Beziehung in der somatischen Medizin mit einem
urteilsfähigen Patienten
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Recht auf Information
Recht'auf'Würde''und'Selbstbes[mmung'
Recht'auf'Behandlung'
Recht'auf'sorgfäl[ge'Behandlung'
Pflicht,'den'Arzt'zu''informieren'
Recht'auf'Nichtwissen'
Recht'auf'eine'Zweitmeinung'
Recht'auf'Einsicht'in'die'Krankengeschichte'
Recht'auf'Vertraulichkeit'
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Die Selbstbestimmung des Patienten
niedrig hoch Partizipative Entscheidungsfindung
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gleichberechtigte Partner gleichfähige Partner? aktive Beteiligung von Patient und Arzt geteilte Information gemeinsam verantwortete Entscheidung?
,par[zipa[ve'Entscheidungsfindung'32
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Kommunikation
«Gesagt ist noch nicht gehört. Gehört ist noch nicht verstanden. Verstanden ist noch nicht einverstanden. Einverstanden ist noch nicht beherzigt. Beherzigt ist noch nicht angewendet. Angewendet ist noch nicht beibehalten.»
Volksmund
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Drei wirkungsvolle Regeln für ein gelingendes Gespräch zwischen Arzt und Patient: Fragen Fragen Fragen
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Beide Seite tragen dazu bei
Fürsorge
Patient
Selbstbestimmung
dialogischer Austausch
- Beschwerden - Gefühle und Werte
Arzt,
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- medizinische Daten - Gestaltung der Beziehung
Entscheidung für welche beide
Verantwortung übernehmen
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Der Patient ist verpflichtet, dem Arzt alle Informationen zu geben, die für die Behandlung von Bedeutung sind: Schmerzen Beschwerden Medikamente
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Informationspflicht des Patienten
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Arzt-Patienten-Beziehung
Machtgefälle Verantwortung zur Beziehungsgestaltung Der urteilsfähige somatisch kranke Patient hat
das Recht, lebenserhaltende Massnahmen zu verweigern. Tod wird dabei in Kauf genommen.
Freiheit zur Selbstschädigung
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Arzt – Patientenbeziehung in der Psychiatrie mit dem urteilsfähigen Patienten
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Arzt – Patienten - Beziehung
Für den urteilsfähigen psychisch kranken Patienten gelten die gleichen Ansprüche an die Arzt – Patienten – Beziehung wie in der Somatik aber:
In der Psychiatrie ist das Abwehrrecht des Patienten beschränkt.
Im Gegensatz zur Somatik muss mit dem Patienten stets ein Behandlungsplan erstellt werden, dem der urteilsfähige Patient zustimmen können muss.
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Psychisch kranker Patient
Bei Urteilsfähigkeit: Behandlungsplan muss unter Einbezug des
Patienten und seiner Vertrauensperson erstellt werden.
Zustimmung ohne Hinweis auf Zwangsbehandlung Anspruch auf Information über Gründe, Zweck, Art
und Modalitäten der Behandlungen als auch über mögliche Risiken und Nebenwirkungen, über Behandlungsalternativen und potenzielle Folgen des Unterlassens einer Behandlung zu informieren (Art. 433. Abs. 2 ZGB) Andrea Büchler & Margot Michel 2015, S. 141
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Behandlungsvereinbarung
Ausdruck einer Arzt-Patienten-Beziehung auf
Augenhöhe!
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Abwehrrecht des Psychischkranken
Beschränkt sich auf somatisch medizinische Massnahmen
Gegenüber psychiatrischen Behandlungen hingegen kann sich der Psychischkranke nur solange wehren, als die Schädigung gering sind.
Zwangsmassnahmen sind möglich. Dies aber sind Handlungen mit grösster
ethischer Eingriffstiefe in einem demokratisch verbrieften Rechtsstaat.
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Artikel 7 der BV
„Die Würde des Menschen ist zu achten und zu schützen“
Der Mensch hat eine Würde und keinen Preis Der Mensch darf nicht für fremde Zwecke instrumentalisiert werden. Der Mensch hat grundsätzlich Anspruch auf Selbstbestimmung im
Sinne von Autonomie als einem existentiellen Grundanspruch (auto-nomos = Selbstgesetzgebung)
Dieser Grundanspruch ist ein Abwehrrecht, aber kein Einforderungsrecht.
Dieser Grundanspruch geht mit dem Menschen als Menschen einher und ist gerade nicht abhängig von bestimmten Eigenschaften oder Fähigkeiten
Menschenrechte: Schutz des Menschen vor Instrumentalisierung
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Schweizerische Bundesverfassung Grundrechte Art. 10 Recht auf Leben und auf persönliche Freiheit 1. Jeder Mensch hat das Recht auf Leben. Die
Todesstrafe ist verboten. 2. Jeder Mensch hat das Recht auf persönliche
Freiheit, insbesondere auf körperliche und geistige Unversehrtheit und auf Bewegungsfreiheit.
3. Folter und jede Art grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung sind Verboten.
Körperverletzung
Jede medizinische und pflegerische Handlung gilt in der Schweiz juristisch als Körperverletzung
Die Einwilligung des Patienten/der Patientin hebt diesen Tatbestand nicht auf, sondern nur die Widerrechtlichkeit der Handlung
Diese Abwehrrecht hat zur Folge, dass die Freiheit zur Selbstschädigung besteht.
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Autonomieanspruch Auto-nomos = Selbstgesetzgebung der vernünftigen Wesen (I. Kant) Anspruch auf Willensfreiheit Anspruch auf Würde = Instrumentalisierungsverbot Anspruch als Subjekt behandelt zu werden Autonomieanspruch ist v. a. ein Abwehrrecht Gilt unabhängig von konkreten Eigenschaften und Fähigkeiten!
Personen müssen gefragt werden, wenn etwas mit ihnen geschehen soll (informed consent)
Urteilsunfähige Personen haben Anspruch auf Autonomie und Würde – es muss nach ihrem mutmasslichen Willen gehandelt werden und sie dürfen nicht instrumentalisiert werden.
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Paradigmenwechsel in der medizinischen Entscheidungsfindung
Von der Orientierung an der „Heiligkeit des Lebens“ und dem Arzt/der Ärztin als gute Mutter/guter Vater zum autonomen Entscheid des urteilsfähigen Patienten/der urteilsfähigen Patientin
Anspruch auf informierte Zustimmung (informed consent)
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Informed consent
Einwilligungsfähigkeit („competence“) Informationsvermittlung („disclosure“) Informationsverständnis („comprehension“) Freiheit der Entscheidung („voluntariness“) Einwilligung in eine konkrete medizinische Massnahme („consent“)
'Belmont'report'1979'
Urteilsfähigkeit
Normativ gilt das Abwehrrecht gilt auch für die urteilsunfähige Person (Instrumentalisierungsverbot)
Dreh und Angelpunkt bei der praktischen Umsetzung der demokratisch verbrieften Werteordnung
Doch sobald die Urteilsfähigkeit nicht mehr gegeben ist, tritt die Verpflichtung zur Lebenserhaltung an die erste Stelle
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Urteilsfähigkeit
Urteilfähigkeit ist ein Rechtsbegriff (Büchler/Michel, S. 65)
Urteilsfähigkeit bezieht sich immer auf den zu entscheidenden Gegenstand –ist immer relativ
Die fachliche Bestimmung der Urteilsfähigkeit obliegt der Psychiatrie.
KESB entscheidet in strittigen Fällen aufgrund von psychiatrischen Gutachten
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Definitionsmacht
Definitionsmacht bei der Bestimmung der Urteilsfähigkeit hat eigentlich der Rechtsstaat
Faktisch aber hat entscheidet die Psychiatrie mit ihren Gutachten
Psychiatrie entscheidet bei Bestimmungen über die Urteilsfähigkeit über Handlungen mit der grössten staatrechtlichen Eingriffstiefe
Kriterien: Fähigkeit, Informationen zu verstehen Fähigkeit, Situation und Konsequenzen abzuwägen Fähigkeit, Informationen zu gewichten Fähigkeit, eigene Wahl zu äussern
SAMW-Richtlinien Betreuung von Pat. am Lebensende
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Urteilsfähigkeit
Beeinträch[gung'
Verstandesdefekt'
Willensdefekt'
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Relativität der Urteilsfähigkeit
Urteilsfähig'S'wozu'
hinsichtlich'einer'
bes[mmten'Handlung''
konkrete'Umstände'
zum'gegebenen'Zeitpunkt'
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Urteilsfähigkeit
Vermutung der Urteilsfähigkeit Beweislast der Urteilsunfähigkeit Feststellung erfordert häufig psychiatrische
Einschätzung bzw. Gutachten
Urteilsunfähiger Patient
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Freiheit
Somatisch Kranke: Freiheit zu selbstschädigendem Verhalten
Psychisch Kranke: Freiheit zu selbstschädigendem Verhalten im somatischen Bereich, sofern sie in Bezug auf die somatisch medizinische Behandlung urteilsfähig sind.
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Urteilsunfähiger Patient
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Somatisch kranker Patient Bei Urteilsfähigkeit: Muss in eine Behandlung einwilligen können Jedoch keine Verpflichtung für einen Behandlungsplan Kann jede medizinische Behandlung und Betreuung
ablehnen: Freiheit zur Selbstschädigung Bei Urteilsunfähigkeit: Umsetzung der Patientenverfügung Stellvertretung muss ihre Zustimmung zum Behandlungsplan
geben können Im Notfall: Im Zweifel für das Leben, wenn Urteilsfähigkeit fraglich
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Stellvertretung
1. die in einer PV ernannte Vertretung 2. die behördlich bestimmte Vertretung (Beistand) 3. der Ehegatte bzw. die eingetragene Partnerin mit
der die urteilsunfähige Person einen Haushalt führt oder ihr Beistand leistet
4. die Person mit der die urteilsunfähige Person und einen gemeinsamen Haushalt führt *
5. die Nachkommen * 6. die Eltern * 7. die Geschwister * * … sofern sie der urteilsunfähigen Person Beistand
leisten.
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Psychisch kranker Patient
Bei Urteilsunfähigkeit: • Patientenverfügung nur zu berücksichtigen • Keine Stellvertretungskaskade Behandlung ohne Zustimmung mit schriftlicher
Anordnung des Chefarztes oder der Chefärztin der Abteilung möglich.
Zwangsbehandlung möglich - Grundrechtbindung berücksichtigen Andrea Büchler & Margot Michel 2015, S. 141f
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Zwangsbehandlung – Definition
„Als Zwangsbehandlung gilt in erster Linie der Fall, in dem einem Betroffenen gegen seinen Willen unter Anwendung von physischer Gewalt Medikamente verabreicht werden. Von einer Zwangsbehandlung ist ferner auszugehen, wenn der Patient unter dem Druck bevorstehenden unmittelbaren Zwangs in die ärztliche Behandlung einwilligt (...) oder nach einer tatsächlich vorgenommenen zwangsweisen Verabreichung von Medikamenten diese im weiteren Verlauf des Aufenthalts „ohne Druck“ bzw. „freiwillig“ einnimmt (...).“ (BGer, Urteil vom 7. Oktober 2013, 5A_666/2013E.3.2. )
in Büchler A. &Michel M. Medizin – Mensch – Recht, S. 142
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Urteilsunfähige Patienten
Somatisch Kranke: Stellvertreterentscheide
gemäss Entscheidungskaskade: Behandlungszustimmung durch Personen mit der grössten Beziehungsnähe
Ärztliche Garantenstellung: Anrufung der KESB
Psychisch Kranke: Stellvertreterentscheide
durch den behandelnden Arzt/Ärztin
Garantenstellung der Vertrauenspersonen: Anrufung der KESB
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Stellvertretungskaskade
Gilt auch für somatische Therapieentscheide für Psychischkranke
„Die Behandlung somatischer Erkrankungen bei urteilsunfähigen, psychisch kranken Personen fällt hingegen, auch wenn sie in einer psychiatrischen Klinik erfolgt, nach überwiegender Auffassung in den Anwendungsbereich von Art. 377 ff.“
Andrea Büchler & Margot Michel (2015)
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Patientensituation
Patient lehnt die medizinisch somatische Behandlung nicht mit der Begründung der schädlichen Wirkung der Medikation ab, sondern weil er befürchtet, dass ihn der Arzt vergiften möchte. Dies obwohl er explizit am Leben bleiben möchte.
Darf der Patient in dieser Situation aus psychiatrischen Gründen gegen seine Willensäusserungen nicht nur psychiatrisch sondern auch somatisch zwangsbehandelt werden?
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Psychisch kranke Patienten
Im medizinischen Notfall, darf der psychisch kranke Patient auch somatisch behandelt werden, wenn seine Zweifel an seiner Urteilsfähigkeit bestehen.
Ausserhalb des medizinischen Notfalls muss die Einwilligung für die somatische Behandlung durch die Stellvertretung, respektive durch die KESB erfolgen.
Trifft diese Schlussfolgerung auf den Patienten zu?
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Patientensituation - Fragen
Inwiefern ist der Patient urteilsfähig im Hinblick auf die somatische Behandlung?
Dürfte in dieser Situation die Stellvertretung den Behandlungsplan ablehnen?
Worin besteht die rechtliche Verpflichtung des Behandlungsteams dem Patienten gegenüber?
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Patientensituation
Dringliche Situation: Somatische Lebenserhaltung vor Abwehrrecht, da Ablehnung der Ernährung Ausdruck der psychischen Erkrankung ist.
Aber: Nur ultima ratio nach Ausschöpfung aller Möglichkeiten, den Mann zur Zustimmung des Behandlungsplanes zu bringen.