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Charles Dickens Essay von Andreas Isenschmid | Karl-Heinz Ott über Rousseau | Friedrich II. Neue Bücher | Begegnung mit Aharon Appelfeld | Wolfgang Ruge Meine Jahre im Gulag | Johannes B. Kunz Schweizer Uno- Diplomat rechnet ab | Weitere Rezensionen zu Egon Bahr, Edith Wharton, Stefan Zweig, Ian Kershaw u. a. | Charles Lewinsky Zitatenlese Nr. 1 | 29. Januar 2012
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Essay von Andreas Isenschmid | Karl-Heinz Ott über ...Januar+12_1.14527822.pdf · John Locke musste ins Exil fliehen, um seine «Discourses Concerning Government» fertig zu stellen.

Aug 29, 2019

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Page 1: Essay von Andreas Isenschmid | Karl-Heinz Ott über ...Januar+12_1.14527822.pdf · John Locke musste ins Exil fliehen, um seine «Discourses Concerning Government» fertig zu stellen.

Charles Dickens Essay von Andreas Isenschmid | Karl-Heinz Ott über Rousseau | Friedrich II. Neue Bücher | Begegnung mit Aharon Appelfeld | Wolfgang Ruge Meine Jahre im Gulag | Johannes B. Kunz Schweizer Uno-Diplomat rechnet ab | Weitere Rezensionen zu Egon Bahr, Edith Wharton, Stefan Zweig, Ian Kershaw u. a. | Charles Lewinsky Zitatenlese

Nr. 1 | 29. Januar 2012

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Lesetipp

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Inhalt

29. Januar 2012 NZZ am Sonntag 3

Belletristik4 AharonAppelfeld:DerMann,dernicht

aufhörtezuschlafen Von Christoph Plate6 EdithWharton:EinaltesHausamHudson

River Von Pia Horlacher FrançoisVillon:DasKleineunddasGrosse

Testament Von Stefana Sabin7 Karl-HeinzOtt:Wintzenried Von Martin Zingg8 YoussefZiedan:Azazel Von Susanne Schanda 9 «JedeFreundschaftmitmiristverderblich».

JosephRothundStefanZweig.Briefwechsel1927–1938

Von Arnaldo Benini MarkusBrüderlin:DieKunstder

Entschleunigung Von Gerhard Mack10 A.F.Th.vanderHeijden:Tonio

Von Sieglinde Geisel 11 StewartO’Nan:Emily,allein

Von Simone von Büren

KurzkritikenBelletristik11 KatharinaHacker:EineDorfgeschichte Von Regula Freuler

IrenBaumann:NochwährenddiePendlerheimfahrenVon Manfred PapstFriedrichAchleitner:IwahaubbtVon Manfred PapstNancyMitford:LandpartiemitdreiDamenVon Regula Freuler

Essay12 CharlesDickens,Schriftsteller

Verliebt in die Romane eines 200-Jährigen Von Andreas Isenschmid

Kolumne15 CharlesLewinsky

Das Zitat von Ludwig Börne

KurzkritikenSachbuch15 EstherGirsberger:EvelineWidmer-Schlumpf Von Urs Rauber OttoStich:Ichbliebeinfacheinfach

Von Urs Rauber PhilippBlom:AngeloSoliman

Von Geneviève Lüscher DanielaKuhn:ZwischenStallundHotel

Von Kathrin Meier-Rust

Sachbuch16 ChristianvonKrockow:FriedrichderGrosse UteFrevert:Gefühlspolitik JohannesBronisch:DerKampfumKronprinz

Friedrich Von Kathrin Meier-Rust

18 ManfredGeier:Aufklärung–DaseuropäischeProjekt

Von Katja Gentinetta19 PeterMichaelKeller:CabaretCornichon

Von Urs Bitterli BerndBrunner:DerMond

Von Thomas Köster20 JohannesB.Kunz:DerletzteSouveränund

dasEndederFreiheitVon Paul Widmer

AmyStewart:GemeineGewächse Von André Behr

21 WolfgangRuge:GelobtesLandVon Urs Rauber

22 EgonBahr,PeterEnsikat:GedächtnislückenVon Gerd Kolbe

IanKershaw:DasEndeVon Markus Schär

23 HeinerBoehncke,HansSarkowicz:GrimmelshausenVon Manfred Koch

24 MichaelMann:Sahibs,SklavenundSoldatenVon Geneviève Lüscher

EmanuelAmmon:70erVon Kathrin Meier-Rust

25 ThomasBuomberger,PeterPfrunder:Schönerleben,mehrhaben

Von Martin Walder26 KlausTöpfer,RangaYogeshwar:Unsere

ZukunftVon Patrick Imhasly

DasamerikanischeBuch DerekChollet,SamanthaPower:TheQuiet

American.RichardHolbrookeintheWorld Von Andreas Mink

Agenda27 OliviaHarrison:GeorgeHarrison Von Manfred Papst BestsellerJanuar2012

Belletristik und Sachbuch AgendaFebruar2012

Veranstaltungshinweise

Chefredaktion Felix E. Müller (fem.) RedaktionUrs Rauber (ura.) (Leitung), Regula Freuler (ruf.), Geneviève Lüscher (glü.), Kathrin Meier-Rust (kmr.), Manfred Papst (pap.) StändigeMitarbeitUrs Altermatt, Urs Bitterli, Andreas Isenschmid, Manfred Koch, Gunhild Kübler, Charles Lewinsky, Beatrix Mesmer, Andreas Mink, Klara Obermüller, Angelika Overath, Stefan ZweifelProduktionEveline Roth, Hans Peter Hösli (Art-Director), Urs Schilliger (Bildredaktion), Felix Eberlein (Layout), Korrektorat St. Galler Tagblatt AG VerlagNZZ am Sonntag, «Bücher am Sonntag», Postfach, 8021 Zürich. Telefon 044 258 11 11, Fax 044 261 70 70, E-Mail: [email protected]

Der Kampf um Gedankenfreiheit ist ein aufregendes, ja gefährliches Unterfangen. John Locke musste ins Exil fliehen, um seine «Discourses Concerning Government» fertig zu stellen. Voltaires Schriften wurden verboten, Diderots Werke verbrannt, die «Encyclopédie» auf den Index gesetzt. Im 18. Jahrhundert wurden Philosophen oft gejagt, geächtet, inhaftiert. Auch heute erfordert der Ausbruch aus der Unmündigkeit Courage, wie Manfred Geier in seinem neuen Buch «Aufklärung – Das europäische Projekt» beschreibt (Seite 18). Vom turbulenten Leben des Genfer Aufklärers Jean-Jacques Rousseau, dem wichtigen Wegbereiter der Französischen Revolution, und seiner pädagogisch-erotischen Lehrmeisterin Madame de Warens erzählt anderseits Karl-Heinz Ott in seinem grandiosen Roman «Wintzenried» (S. 7).Einer, der Toleranz hochhielt und verfolgten Autoren Asyl gewährte, war Preussenkönig Friedrich der Grosse. Das historische Urteil über ihn fällt heute, im Jahr seines 300. Geburtstages, differenzierter aus, so zeigt unsere Rezension der neusten Publikationen (S. 16).Botschafter Paul Widmer bespricht das «gescheite und mutige Buch» seines Kollegen Johannes B. Kunz: ein Plädoyer gegen den drohenden Souveränitätsverlust und eine kritische Bilanz humanitärer Uno-Einsätze (S. 20). Dies und auch Leichteres finden Sie, liebe Leserinnen und Leser, auf den folgenden Seiten. Urs Rauber

Der Ruf der Aufklärung ist nicht verhallt

CharlesDickens(Seite12).IllustrationvonAndréCarrilho

Charles Dickens Essay von Andreas Isenschmid | Karl-Heinz Ott über Rousseau | Friedrich II. Neue Bücher | Begegnung mit Aharon Appelfeld | Wolfgang Ruge Meine Jahre im Gulag | Johannes B. Kunz Schweizer Uno-Diplomat rechnet ab | Weitere Rezensionen zu Egon Bahr, Edith Wharton, Stefan Zweig, Ian Kershaw u. a. | Charles Lewinsky Zitatenlese

Nr. 1 | 29. Januar 2012

MalikAmbarausSudan(1550–1626).AusMichaelMann:Sahibs,SklavenundSoldaten(S.24).

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Belletristik

4 NZZ am Sonntag 29. Januar 2012

Aharon Appelfeld: Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen. Aus dem Hebräischen von Mirijam Pressler. Rowohlt, Berlin 2012. 285 Seiten, Fr. 28.50.

Von Christoph Plate

Als Hebräisch zu seiner neuen Mutter-sprache wurde, wäre er fast verstummt. Weil er immer noch auf Deutsch und Jiddisch dachte und weil sie ihn zwan-gen, die neue Sprache zu benutzen. Heute, 66 Jahre nach seiner Ankunft in diesem Land, mag er Hebräisch. Die Sprache ist alt, voller Bilder, und sie lebt, auch wenn geschwiegen wird.

Es ist laut. Wir sitzen im Restaurant des Tichu-House, einer Galerie im Zen-trum Jerusalems. Die jungen Frauen am Nachbartisch, leicht übergewichtig und etwas zu stark geschminkt, sind so lär-mig, dass Aharon Appelfeld immer wie-der einmal sanft strafend hinüberschaut. Dann essen wir weiter, schauen uns an, reden, bis die Frauen nebenan wieder laut werden. Vor über 50 Jahren war der heute 80-Jährige zum ersten Mal hier. Der Philosoph Martin Buber brachte ihn ins Haus von Anna Tichu, der malenden Frau eines Wiener Augenarztes. «Frei-tags gab es Apfelstrudel mit Sahne und Kaffee, zwei Dutzend Intellektuelle waren da, ich war zu schüchtern, um auch nur etwas zu sagen», erklärt Ap-pelfeld. Er zeigt die breiten Ledersessel, in denen sie damals sassen.

Kandidat für den NobelpreisHeute gehört das Haus der Museums-gesellschaft, Appelfeld kommt gern hierher, plaudert mit den Sicherheits-leuten am Eingang, und die Serviertöch-ter begegnen ihm mit einer Ehrfurcht, als wüssten sie, dass dieser Mann mit der blauen Schiebermütze auf dem kah-len Schädel immer wieder ein Kandidat für den Literaturnobelpreis ist.

Sein neues, bei Rowohlt auf Deutsch erschienenes Buch «Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen» ist eine

Eloge auf das Leben, eine Danksagung an seine Eltern und ein Zeugnis davon, wie jemand sich eine neue Sprache er-kämpfen muss. Zuhause in Czernowitz sprach man in der assimilierten jüdi-schen Familie Deutsch. Paul Celan wohnte in der gleichen Strasse. Damals war Czernowitz Schnittstelle zwischen Ost und West, heute liegt es vergessen im Südwesten der Ukraine, nahe der Grenze zu Rumänien.

Träumt Appelfeld von seinen Eltern – die Mutter wurde von rumänischen Faschisten erschossen, der Vater über-lebte den Holocaust und emigrierte nach Jahren in der Sowjetunion nach Is-rael –, dann spricht er das Deutsch eines 8-Jährigen. Im Traum ist Aharon aber schon erwachsen, und der Vater macht sich lustig über dessen Kinderdeutsch. Zur Mutter sagt er: «Mama, ich habe eine neue Sprache.» Appelfeld teilt sein

Croissant und strahlt zufrieden. Er trinkt koffeinfreien Kaffee, der aus einem altmodischen Tassenfilter tröp-felt. Dann bestellt er eine Gemüsesuppe, Osteuropäer liebten doch Suppen, ob-wohl diese hier längst nicht so gut sei, wie die im Café Sprüngli am Paradeplatz in Zürich.

In «Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen» geht es um vieles. Um die Suche nach einer Melodie in der Spra-che, um das Bewusstsein für die eigene Geschichte und die Bedeutung des Sich-Erinnerns, um die eigene Position in der Gegenwart zu bestimmen. Seit einigen Jahren bekommt Appelfeld Briefe von israelischen Lesern, die schreiben, sie hätten ihre Eltern oder Grosseltern nie nach dem jüdischen Leben in Osteuropa und nach dem Holocaust gefragt. «Meine Bücher würden ihnen diese un-tergegangene Welt des Judentums, ihre Gerüche und Schönheit nahe bringen.» Liest er diese Briefe, zittert er manchmal vor Aufregung und Last. Ihm wird da eine Rolle zugedacht, die er gar nicht annehmen mag. Lange wurde Appelfeld vom literarischen Establishment ge-scholten, weil er keinen Agitprop schrieb, sondern die Geschichte jener erzählte, die nach dem Holocaust aus Europa nach Palästina gekommen waren. Das passte nicht nach Israel. Appelfeld hat damals festgestellt, dass «man als assimilierter Jude Weltbürger ist, während man als Israeli schnell pro-vinziell wird».

«Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen» ist ein autobiografischer Roman, wobei jedes seiner Bücher auch den Aharon Appelfeld zu enthalten scheint, der früher Erwin hiess. Aharon wurde in Czernowitz als Erwin gebo-ren, als er mit ukrainischen Banditen umherzog, nannte er sich Janosch. Appelfeld ist überzeugt, dass jede Art von Äusserung eine Verstellung sei, die Literatur aber eine der am wenigsten verstellten Äusserungen. Es sind dies Erinnerungen, wie sie einige auch schon in seinem Buch «Die Geschichte eines

Roman Zum 80. Geburtstag Aharon Appelfelds erscheint sein neues autobiografisches Buch. Darin beschwört er die jüdische Vergangenheit und Israels Gegenwart

Neue Melodien in einer alten Sprache

Geboren wurde Aharon Appelfeld am 16.2.1932 in der Nähe von Czernowitz (damals Rumänien, heute Ukraine). Er wuchs in einem gut bürgerlichen Haus-halt auf. Damals hiess er noch Erwin. Erst der Holocaust habe ihn zum Juden ge-macht, sagt er. Er musste den Mord an seiner Mutter miterleben, wurde mit dem Vater zusammen ins Ghetto gesperrt und schlug sich später alleine bis nach Italien durch. Von dort gelang er 1946 nach Pa-lästina. Diese traumatischen Erlebnisse sind die Triebfeder seines Schaffens. Seine Muttersprache war Deutsch, heute ist die für ihn wichtigste Sprache Hebrä-isch. Er arbeitete von 1975 bis 2001 als Literaturprofessor an der Ben Gurion Universität in Beerscheba. Zu seinen gros sen Romanen gehören: «Blumen der Finsternis», «Bis der Tag anbricht» und «Elternland». Für «Der eiserne Pfad» wurde er 1999 mit dem National Jewish Book Award ausgezeichnet.

Aharon Appelfeld

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29. Januar 2012 NZZ am Sonntag 5

Lebens» vorkommen, nur sind sie jetzt vielfältiger, reflektierter, stärker ausge-arbeitet. Der Ich-Erzähler schreibt von der Kindheit, vom Holocaust, von der Flucht, von der beschützenden Wärme einer Hure am Strand von Neapel. Ap-pelfeld durchläuft noch einmal seine Versuche, sich nach der Ankunft in Pa-lästina und der Verwundung im Krieg gegen die Araber seine Identität zu er-halten. Es ist dies die Persönlichkeit eines Mannes, der Kleist und Stifter liest, um den Eltern nahe zu sein, die Bibel, um sich an seine religiösen Gross-eltern zu erinnern, und Karl Marx, um auch seine kommunistischen Onkel zu würdigen.

Vielleicht braucht es ein Leben als Philosoph, um scheinbar einfach zu schreiben, so wie er es tut. Ob er immer noch seine Manuskripte einige Jahre in die Schublade lege, um sie danach wie-der zu bearbeiten, zu streichen und erst dann an den Verlag zu übergeben? «Ja, fünf Jahre müssen sie liegen», sagt er. Das mache er bis heute, «oder haben Sie etwa den Eindruck, ich hätte dafür keine Zeit?», fragt der bald 80-Jährige und lacht. Dann gehen wir hinauf in den ehe-maligen Salon von Frau Tichu, in dem Aharon Appelfeld in die Intellektuellen-szene von Jerusalem eingeführt worden war. «Diese Leute haben mich auf eine Art gerettet», sagt er und scheint sie alle

dort sitzen zu sehen in den schweren Ledersesseln. Irgendwann hat er sich dann auch getraut mitzureden. Mit Han-nah Ahrendt hat er gestritten, weil ihre Theorie von der Banalität des Bösen nicht zuträfe. Banal sei das Gute, das Böse dagegen sei ungemein kreativ. Er sei eigentlich immer ein Rebell gewe-sen, einer, der sich gegen Vereinnah-mung gewehrt habe.

Fiktion ist WahrheitAppelfelds nur mit ein paar Strichen gezeichnete Charaktere haben oft noch Erde unter den Fingernägeln, sie sind einfache Leute, eine Prostituierte, ein Dorfschullehrer, eine Bäuerin, die alle auf ihre Art fähig sind, über den Rand der engen Dorfwelt hinauszuschauen. Appelfeld beschreibt den Verrat einiger Juden und Nichtjuden und erzählt von der Menschlichkeit der anderen.

Vielleicht ist es auch dieser Lebens-wille, der den Mann, der nicht aufhörte zu schlafen, irgendwann aufwachen liess. Der Mann, der ein Junge war, wurde von den Überlebenden in Europa auf ihrer Wanderung nach Palästina immer weitergetragen, so wie Appel-felds Vater den Sohn auf einem der Todesmärsche getragen und geschoben hatte. Als der Junge Erwin dann in Paläs-tina ist, begegnet er zum Glück auch solchen, die ihn so lassen, wie er ist, die

nicht den neuen Juden schaffen wollen, der blond und blauäugig ist und sich nie mehr wird demütigen lassen müssen. Der Ich-Erzähler trifft auf Menschen, die sich an seinen Vater erinnern und an dessen literarische Ambitionen, auch an dessen Schock, als der das erste Mal Kafka las.

Wenn ihm heute die Kinder und Enkel der Holocaust-Überlebenden schreiben, dann ist das natürlich nicht nur Last. Es ist auch späte Genugtuung für die harte Zeit, als der literarische Betrieb ihn zwar ehrte, aber nie ganz akzeptierte, weil der Rebell sich weigerte, seine Vergangen-heit abzustreifen, so wie die anderen ihre Lagerkleidung abgelegt hatten.

Appelfeld lächelt, während es an den Tischen noch lebhafter wird. Da kom-men viele, auch orthodoxe Juden, sie essen Salat mit viel Knoblauch, Käse-kuchen und Gemüsesuppe. Das Handy klingelt, die Frau des Autors ist dran. Die drei Kinder der Appelfelds sind Anwalt, Literaturwissenschafter und Maler ge-worden. Die Enkel, Teenager noch, lesen die Bücher des Grossvaters. Sie fragen, was Fiktion sei, ob er all das erlebt habe, ob er von einer Hure vor den Nazis ver-steckt wurde oder wie das war, den Cou-sin zu finden, dessen Vater konvertierte und der seine Mitte verlor. Und was antwortet er den Enkelinnen? «Dass die Fiktion die Wahrheit ist.» l

Der neue Roman von Aharon Appelfeld ist eine Danksagung an seine Eltern. Hier ein Bild aus dem Jahr 2004 in Israel.

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Belletristik

6 NZZ am Sonntag 29. Januar 2012

Edith Wharton: Ein altes Haus am Hudson River. Aus dem Amerikanischen von Andrea Ott. Manesse, München 2011.624 Seiten, Fr. 36.90.

Von Pia Horlacher

Jane Austen, Henry James, Edith Whar-ton – hätte man vor der Jahrtausend-wende eine Prophezeiung gewagt, wel-che Art von Literaturverfilmungen auf das 21. Jahrhundert einstimmen würden, so wäre man wohl zuletzt auf diese Namen gestossen. Doch Zufall war es nicht. Nachdem Martin Scorsese 1993 Whartons «The Age of Innocence», die-ses Sittengemälde aus dem Goldenen Zeitalter New Yorks, zu einem Meister-werk der Leinwand adaptiert hatte, ahnte man es: Scheinbar altmodische Li-teratur kann aktuelle Zeitfragen schärfer ausleuchten als vieles, was von Zeitge-nossen produziert wird. Die Geschichte von der kapitalistischen Gier und deren Verheerungen wiederholt sich.

Die Neuengländerin aus bestem Haus mit dem unbestechlichen ethnologi-schen Blick auf ihre eigene Gesellschaft, begann erst mit vierzig zu schreiben –aus einer unglücklichen Ehe heraus, die sie oft auf Reisen trieb. Vor allem nach Europa; in Frankreich liess sie sich nach ihrer Scheidung nieder, dort liegt sie be-graben. Beides, ihr Unglück und ihre Weltläufigkeit, sollte ihr viel Stoff bieten für Romane, die das Ersticken in der Enge und den Selbstverlust in der Flucht thematisieren. Vor allem aber den Un-tergang einer Gesellschaft, die zwischen müder Dekadenz und rasender Gier da-hinsiecht und schliesslich in der grossen

Depression von Börsen und Individuen zerfallen wird.

So auch in ihrem Spätwerk aus dem Jahr 1929. Im alten Haus am Fluss, das unbewohnt, aber voller Geister der Er-innerung vor sich hinmodert, treffen sich zwei Sprösslinge, die aus parallelen Welten flüchten. Vance Weston, emp-findsamer Sohn eines erfolgreichen Im-mobilienhändlers aus dem Mittleren Westen, und Halo Spear, intelligente Tochter einer verarmenden Bildungs-bürgerfamilie aus der Oberschicht New Yorks. Im alten Haus, im Schatten reich bestückter Bücherwände und einer un-tergehenden Kultur des Geistes entfaltet sich eine Seelenverwandschaft und eine noch unerkannte Liebe, die selbst litera-rische Früchte tragen wird.

Inspiriert von dieser exotischen Le-benswelt mausern sich Vances vage künstlerische Ambitionen zur ernsten Schriftstellerei; gleich sein erster Roman wird zum Überraschungserfolg. Halo, seine Türöffnerin in die literarische Ge-sellschaft der Ostküste, seine Muse, seine Lektorin und der eigentliche krea-tive Motor, muss es ihrem Geschlecht gemäss bei der Inspiration und der Ar-beit im Hintergrund bewenden lassen. Der finanzielle Niedergang ihrer Fami-lie drängt sie zum Opfer einer Heirat mit einem reichen Verehrer, in der sie zunehmend an Lebenskraft verliert.

Das Unglück der beiden nimmt sei-nen Lauf. Am Ende dieser «Zeit der Un-schuld» schwinden Vances Illusionen dahin im jahrelangen Lavieren zwischen Überheblichkeit und Opportunismus, zwischen «unmoralisch» in der Wer-bung verdientem Geld und bitterer Armut, während Halos Jugend und Ta-

lent in der Düsternis einer traditionel-len Ehe zusehends verblüht. So etwas wie ein «unhappy Happyend» zeichnet sich ab – 1932, wird Wharton die Fortset-zung der Geschichte präsentieren.

Vordergründig ist das ein klassisches «portrait of the artist as a young man», hintergründig das rare Porträt einer jun-gen Frau als verhinderte Künstlerin. Eingebettet in ein Tableau von Figuren, die sich zu einer zeitlosen Satire auf die Moden und Heucheleien des Kultur- und Literaturbetriebes versammeln, re-präsentieren die beiden jungen Men-schen eine Epoche der Verschiebungen zwischen alten und neuen Welten, wie sie uns, eine Jahrhundertwende später, durchaus vertraut scheinen.

Klassiker Edith Whartons Porträt einer verhinderten Künstlerin liegt in der deutschen Erstübersetzung vor

Zeiten der Unschuld

François Villon: Das Kleine und das Grosse Testament. Aus dem Französischen, mit einem Nachwort von Frank-Rutger Hausmann. Reclam, Leipzig 2011.145 Seiten, Fr. 11.90.

Von Stefana Sabin

Spätestens durch Brechts Refrain zu «Nannas Lied» (1939) ist die Frage «Wo ist der Schnee vom vergangenen Jahr?» sprichwörtlich geworden. Diese Frage hatte sich Brecht bei dem bedeutends-ten Dichter des französischen Spätmit-telalters geliehen, nämlich bei François Villon, dem Meister des parodistisch-sozialkritischen Gedichts.

Villons Identität ist – wie diejenige Shakespeares – unklar. Er soll 1431 in Paris geboren und Anfang 1463, nach einem abenteuerlichen Leben, ver-

schwunden sein. Lange hat man seine Gedichte autobiografisch gedeutet, aber inzwischen hat sich die These durchge-setzt, dass ein Pariser Jurist sich den Namen des Gauners François Villon zu eigen machte, um Justiz- und Institutio-nenschelte scharfzüngig zu versifizie-ren. Wer auch immer Villon war – seine Frechheit und sein Sprachwitz wurden traditionsbildend. Die französischen Symbolisten sahen in ihm den «poète truand» als Vorläufer des «poète mau-dit», und für die deutschen Expressio-nisten wurde die derbe Sozialkritik vor-bildlich.

Als Villons Hauptwerk gelten die bei-den «Testamente»: Es sind Gedichtzyk-len, in denen das lyrische Ich ein Vaga-bund ist, der sein Leben am Rande der Gesellschaft beschreibt, über die Pariser Honoratioren herzieht und die Unmög-lichkeit der reinen Liebe beklagt. «Das

kleine Testament» verbindet Parodien höfischer Liebeslyrik mit satirischen Le-gaten an Amts- und Würdeträger. Nicht zuletzt die Politikerschelte, die darin steckt, macht die Verse bis heute aktuell. «Das grosse Testament» enthält selbst-reflexive, elegische und satirische Verse, in die ausgeformte Balladen eingestreut sind – darunter die «Ballade der Frauen von einst», deren Refrain Brecht für «Nannas Lied» benutzte.

Villons «Testamente» sind voller Anspielungen auf damalige Ereignisse und Figuren und in höchstem Mass sprachspielerisch, so dass Überset-zungen zum philologisch-ästhetischen Abenteuer werden. Darauf hat sich der Freiburger Romanist Frank-Rutger Hausmann eingelassen und eine rhyth-misierte deutsche Fassung geschaffen, die die Frechheit und die Geschmeidig-keit des Originals erhält.

Ballade François Villons Vermächtnis in einer frechen und geschmeidigen Neufassung

Ein Vorbild der derben Sozialkritik

Die amerikanische Erzählerin Edith Wharton erhielt 1921 den Pulitzer-Preis.

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29. Januar 2012 NZZ am Sonntag 7

Karl-Heinz Ott: Wintzenried. Hoffmann und Campe, Hamburg 2011. 207 Seiten, Fr. 30.50.

Von Martin Zingg

Ohne ihn wäre alles anders gekommen. Ohne Wintzenried hätte der junge Jean-Jacques Rousseau seinen Platz im Her-zen und im Bett von «Mama» nicht ver-loren: Es wäre ihm erspart geblieben, in die weite Welt hinaus zu ziehen und sich in Unternehmungen zu stürzen, deren Ende nicht abzusehen war.

«Mama» ist Madame de Warens. Bei ihr, der dreizehn Jahre Älteren, kommt der junge Jean-Jacques im Alter von sechzehn Jahren unter. Hinter ihm lie-gen schwierige Zeiten. Seine Mutter ist im Kindbett gestorben: «Ich kostete meiner Mutter das Leben, und meine Geburt war mein erstes Unglück», schreibt er später. Sein Vater hat sich wieder verheiratet, die Lehrzeit in Genf war freudlos. Bei «Mama» wird er, von einigen Reisen unterbrochen, lange Jahre des Glücks verbringen. Allerdings verlangt «Mama» gleich zu Beginn, dass er, der calvinistisch aufgewachsen ist, zum Katholizismus übertritt Ω Madame de Warens bekommt für ihre Bemühun-gen Geld von der katholischen Kirche.

Ihr junger Zögling und Geliebter, das muss sie bald erkennen, ist anstrengend, empfindlich, oft krank und scheut jede Anstrengung. Als er von einem Kurauf-enthalt in Montpellier zurückkehrt, hat «Mama» einen neuen Geliebten: Wint-zenried, von Beruf Perückenmacher. Jean-Jacques muss den Haushalt verlas-sen. Eine Kränkung für immer.

Von Ehrgeiz getriebenIn «Wintzenried» erzählt Karl-Heinz Ott die Geschichte von Jean-Jacques Rousseau, die Geschichte eines Mannes, der zunächst unschlüssig durchs Leben dümpelt. Eine Ausbildung hat er nicht, von vielem bloss ungefähre Vorstellun-gen, eigentlich kann er noch nichts. In seinen Phantasien jedoch könnte er alles werden: Komponist, Pfarrer, Diplo-mat. Einen Versuch als Komponist wagt er in Lausanne, wo er sich sehr kokett als Musiker präsentiert und den Auftrag bekommt, ein Menuett zu komponieren. Dessen öffentliche Aufführung wird zur Blamage. Und weil er mit dem Noten-system nicht zurechtkommt, beschliesst er kurzerhand, ein neues zu erfinden, eines, das nur mit Zahlen operiert. Das wird dann die nächste Blamage.

Mit seiner Erfindung im Gepäck macht er sich auf nach Paris. Er will an-erkannt, berühmt werden. Er lernt Dide-rot kennen, der gerade ein grosses Pro-jekt wälzt, die «Encyclopédie», aber der

geplante Aufstieg will nicht gelingen Ω bis er realisiert, dass er Zugang finden muss zu einem der Pariser Salons, die von resoluten und einflussreichen Damen geführt werden.

Eine dieser Damen verschafft ihm Ar-beit. In Venedig wird er Sekretär des französischen Botschafters, nun glaubt er sich auf dem Weg zur Diplomatenkar-riere. Es kommt anders. Zwar scheint er gute Briefe schreiben zu können, aber er ist überheblich, aufbrausend und kor-rupt. Und er hat ein Talent, die Gunst des Augenblicks zu versäumen und sich hinterher darüber zu ärgern.

Kritiker des FortschrittsKarl-Heinz Ott lenkt seinen Rousseau sehr geschickt und immer unterhaltsam durch die biografisch verbürgten Statio-nen, aber er präsentiert keine Biografie, nennt keine Jahreszahlen und hält kein Philosophieseminar. Er zeigt seinen Jean-Jacques gleichsam von hinten, als den oft Verzweifelten, Suchenden, von Grössenwahn und Verfolgungsängsten Geplagten. Als Erotomanen, der sich ständig in Frauen verliebt und sich durch Onanieren vor deren Nähe schützt. Als einen, den viele Zufälle vor-anbringen und Vorbehalte bremsen.

Als Rousseau in Paris vom Preisaus-schreiben einer Akademie erfährt, be-schliesst er, daran teilzunehmen. Es geht um die Frage, ob der Fortschritt der Wis-senschaften und Künste unsere Sitten

verfeinert oder verdorben habe. Als er Diderot davon erzählt, rät ihm dieser, den Fortschritt nicht zu rühmen: Loben sei bloss langweilig. Kritik am Fort-schritt hingegen werde auffallen. Dide-rot, der das als Spiel auffasst und selber kein Wort davon glaubt, diktiert ihm auch gleich die ersten paar Sätze. Rous-seau muss sich anfänglich überwinden, den Faden weiterzuspinnen.

Mit seiner furiosen Kritik an den Fol-gen des Fortschritts wird Rousseau den ersten Preis gewinnen, und damit hat er auch sein lebenslängliches Thema. Er wird ein einfaches, aber ziemlich turbu-lentes Leben führen, zusammen mit sei-ner Geliebten Thérèse, und er wird sich konsequenterweise mit den führenden Aufklärern verkrachen. Viele Adlige wiederum suchen bei ihm, der alle seine fünf Kinder im Waisenhaus abgeliefert hat, Rat in Fragen der Erziehung.

In seinem grandiosen Roman zeich-net Ott eine höchst interessante, von Widersprüchen geprägte Figur. Dass sie von belegbaren Daten gestützt wird, ist hier zweitrangig. Interessanter ist das Bild eines Menschen, der sich buchstäb-lich ins Gewühl seiner Epoche stürzt und seine tragische Zerrissenheit auf skandalöse Weise auslebt Ω und in vie-lem aus dem Rahmen eben dieser Epo-che fällt. Otts Roman erzählt damit, in-direkt und mit leichter Hand, auch von den Bedingungen, unter denen das Neue entsteht. Es sind oft krumme Wege.

Roman Der deutsche Schriftsteller Karl-Heinz Ott zeichnet das Leben Rousseaus fulminant nach

Er stürzte sich in die Wirren seiner Epoche

Jean-Jacques Rousseau (1712–1778)mit «Mama», seiner ersten Geliebten, Madame de Warens, in Annecy.

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Belletristik

8 NZZ am Sonntag 29. Januar 2012

Youssef Ziedan: Azazel. Aus dem Arabischen von Larissa Bender. Luchterhand, München 2011. 448 Seiten, Fr. 32.90.

Von Susanne Schanda

Schon der Titel ist für die religiöse Le-serschaft eine Provokation: «Azazel» heisst im Alten Testament wie im Koran Satan, gefallener Engel oder auch Sün-denbock. Er spielt die treibende Rolle in Youssef Ziedans preisgekröntem Roman und ist zugleich der Stachel im Fleisch des ägyptischen Mönchs Hypa. Ketze-risch fragt Azazel den von Glaubens-zweifeln gepeinigten Mönch: «Hat Gott den Menschen erschaffen oder umge-kehrt?»

Der Autor Youssef Ziedan beschäftigt sich als Philosoph, Sufismus-Forscher und Direktor der Handschriftenabtei-lung der Bibliothek von Alexandria seit Jahrzehnten mit alten Schriften. Nach etlichen wissenschaftlichen Büchern hat er für seinen zweiten Roman «Aza-zel» 2009 den Arabischen Bookerpreis erhalten. In Ägypten löste der Roman einen Sturm der Entrüstung aus und wurde zum Bestseller. Mehrere Bischöfe der Koptisch-Orthodoxen Kirche war-fen Ziedan vor, den christlichen Glau-ben zu verunglimpfen, sprachen ihm als Muslim das Recht ab, über das Christen-tum zu schreiben, und forderten ein Verbot des Buches – erfolglos.

Löste Kontroverse ausAuch muslimische Geistliche ereifer ten sich über den Roman, in dem ein junger Mönch zwischen der asketischen Hin-gabe an den Glauben und seinen körper-lichen Begierden hin und her gerissen wird. Zwar hat die Kontroverse dem Buch zusätzliche Popularität verschafft. Dennoch bedauert der Autor im Ge-spräch die Angriffe: «Es ist absurd, mir vorzuwerfen, dass ich das Christentum schlecht mache. Mein Roman richtet sich gegen keine Kirche, sondern gegen die Haltung, im Namen der Religion Gewalt auszuüben. Er thematisiert das Menschsein in seiner Vielfalt von Füh-len, Denken, Glauben, Zweifeln und Sehnen.»

Youssef Ziedan hat seine Geschichte in der frühchristlichen Zeit in Ägypten, Palästina und Syrien angesiedelt, als die Kirche von theologischen Kontroversen

und Machtkämpfen erschüttert wurde. Erzähler ist der Mönch Hypa, angetrie-ben von Azazel, einer schillernden, lo-ckenden sowie irritierenden Figur, die er zuerst entrüstet zum Schweigen brin-gen will, schliesslich aber als innere Stimme erkennt. Auf 30 Pergamentrol-len schreibt er seine Erinnerungen nie-der, gequält von Schuldgefühlen und um seinen Glauben ringend. Hypa stammt aus einem Dorf im südlichen Ägypten, wo an der Schwelle zum fünften Jahr-hundert noch der Glaube an die alten ägyptischen Götter herrscht. Als junger christlicher Mönch studiert er Medizin und bricht dann auf gegen Norden. Im kosmopolitischen und intriganten Alex-andria lässt er sich von der schönen Ok-tavia zur Lust verführen und beinahe um den Verstand bringen. Als mindestens so sündhaft gelten der Kirche allerdings die Vorträge der heidnischen Philoso-phin, Astronomin und Mathematikerin Hypatia, denen er fasziniert lauscht. Entsetzt und machtlos muss er mit anse-hen, wie die Gelehrte von einem christ-lichen Mob angegriffen und zu Tode geschleift wird.

Brennend aktuellDer Schock dieser Gewalttat im Namen des Christentums wird zum Wende-punkt, vertreibt ihn aus Alexandria, vor-erst nach Jerusalem und von dort weiter in ein abgelegenes Kloster auf einem Hügel nördlich von Aleppo. Hier will er sich nach seiner abenteuerlichen Wan-derschaft mit nur 33 Jahren der Welt ent-ziehen, sich dem Studium und seinem Kräutergarten widmen und als Arzt den notleidenden Menschen helfen. Doch es kommt anders.

Der Roman erzählt die Ereignisse nicht chronologisch, sondern folgt den Erinnerungssprüngen des Mönches. Ge-rade dessen innere Auseinandersetzung lässt uns als Lesende mitfiebern und atemlos weiterblättern, als würde sich das Geschehen hier und jetzt vor unse-ren Augen abspielen. Youssef Ziedan erzählt auf der Folie der Geschichte einen modernen Entwicklungsroman von brennender Aktualität. Ein Ver-gleich mit dem amerikanischen Thriller «Da Vinci Code» bietet sich an, greift aber zu kurz. «Azazel» ist keine leichte Kost, sondern ein philosophischer Roman, der sich mit arabischer Theolo-gie, Moral und der Selbstverantwortung des Einzelnen auseinandersetzt. Er ist

«mit Blut, Schweiss und Tränen ge-schrieben», wie der Autor sagt. Umso mehr freut es ihn, dass der Roman gera-de bei jungen Lesern so gut ankommt. In Ägypten hat inzwischen sein jüngster historischer Roman das Buch «Azazel» von der Spitze der Bestsellerlisten ver-drängt. Der Autor wird bei seiner Arbeit von einem aufklärerischen Impuls ge-trieben: «Ich habe bereits 55 Bücher ge-schrieben, und immer mit dem An-spruch, Licht ins Dunkel zu bringen, Verständnis für unser kulturelles Erbe zu wecken.» Sein Arbeitsplatz, die ge-schichtsträchtige Bibliothek von Alex-andria, wurde einst von Cäsar angezün-det und vor rund zehn Jahren in Zusam-menarbeit mit der Unesco wieder er-richtet, mit Blick aufs Mittelmeer. «Wozu haben wir die Bibliothek wieder aufgebaut, wenn nicht, um aufzuklä-ren?» fragt Youssef Ziedan.

Roman Das preisgekrönte Werk von Youssef Ziedan erzählt vom bewegten Leben eines Geistlichen aus dem fünften Jahrhundert

Stachel im Fleisch eines christlichen Mönchs

Youssef Ziedan sucht in seinem Roman nach dem Licht im Dunkeln. Koptischer Mönch im Kloster von Wadi Natrun in Ägypten.

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29. Januar 2012 NZZ am Sonntag 9

«Jede Freundschaft mit mir ist verderblich». Joseph Roth und Stefan Zweig. Briefwechsel 1927–1938. Hrsg. Madeleine Rietra. Wallstein, Göttingen 2011. 623 Seiten, Fr. 53.90.

Von Arnaldo Benini

Ein Briefwechsel mit eher wenigen Brie-fen legt selten Zeugnis für eine Existenz ab. Genau dies jedoch ist der Fall bei Jo-seph Roth und seiner elfjährigen Korre-spondenz mit Stefan Zweig. Der Band enthält 219 Briefe von Roth, 49 Antwor-ten Zweigs, einige Briefe zwischen Roth und Zweigs Ehefrau Friderike, Aus-schnitte von 58 Briefen mit Bezug auf Roth, fast alle von Stefan und Friderike Zweig an Bekannte gerichtet, sowie Zweigs Nachruf auf den 1939 verstorbe-nen Freund. Ein Kommentar und ein historisch-biografisches Nachwort ver-vollständigen das hervorragend edierte Werk. Allerdings ist nur ein Bruchteil des Briefwechsels der Jahre 1927 bis 1938 erhalten, die Roth und Zweig teilweise im Exil verbrachten. Im Exil Verfasstes geht leicht verloren, weil die Geflohe-nen nur das Nötigste mitnehmen – und Roth reiste pausenlos «nur mit drei Kof-fern» durch ganz Europa.

«Ich bin entsetzt» schreibt er im Juli 1933 an Zweig, «ich habe kein einziges meiner Bücher.» Roth richtet seine Brie-fe an den «sehr verehrten und sehr lie-ben Stefan Zweig», ohne den 13 Jahre Älteren und viel Bekannteren je zu duzen. Von einigen Ausnahmen abgese-hen, greifen die beiden Autoren kaum politische und kulturelle Themen auf. Roths Briefe an den geduldigen und grosszügigen Zweig sind eine Litanei an Klagen über familiäres Unglück und über «unsägliche Peinlichkeiten», ver-ursacht meist durch den Alkohol, der das erzählerische Talent bedroht und die Honorare hinwegspült. Der Ton ist jeweils ultimativ: Zweig muss sofort ant-worten, er muss «Geld telegraphisch anweisen», weil Roth sonst verhungern oder der Lynchjustiz der Gläubiger an-heimfallen würde, er muss sich bei einem Verleger sofort für ein Buch ein-setzen, das Roth, wie sich später heraus-stellt, bereits einem anderen abgetreten hat. Roth ist für die erbrachten Dienste zwar dankbar, aber wenn Zweig nicht reagiert, überschüttet er ihn mit Verach-tung oder schreibt ihm, um ihn zu ver-letzen. Er ist sich bewusst, dass er die Beziehung missbraucht: «Jede Freund-schaft mit mir ist verderblich.»

Die Geduld des Wiener Aristokraten Zweig jedoch ist unendlich. 1934 schreibt er einer Freundin, es sei «furchtbar schwer» mit Roth. Er sehe «keinen Aus-weg mehr», weil ihn «der Alkohol ganz unterhöhlt». Die Freundschaft dauerte bis zu Roths Tod 1939. Dessen Urteile über Kollegen sind von Ressentiments geprägt und meist masslos: Thomas Mann «ist einfach naiv und dem eigenen

Talent geistig nicht gewachsen». «Die Geschichten Jaakobs» haben ihn «direct angewidert. Es ist eine Schande, eine Schamlosigkeit». Am 31. August 1933 ist er sicher, dass der «Usurpator der Ob-jektivität» Thomas Mann imstande sei, sich «mit Hitler auszusöhnen». Bei René Schickele liegt «Feigheit» vor, beim «Krakehler» (sic) Döblin «irritie-render Infantilismus», und Romain Rol-land ist «ein falscher Prophet».

Beide Briefpartner sind überzeugte antizionistische Juden. Roth schreibt 1935 an Zweig: «Die Zionisten stehen den Nazis sehr nahe.» Roosevelt ist für ihn «ein Schwindler, ein grosser Gauner, ein Gangster». Das sind Beispiele einer innerhalb der deutschen Emigration häufigen Aggressivität, oft in der meis-terhaften Sprache verfasst, die man aus Roths Romanen und Erzählungen kennt.Anders als Zweig hatte Roth bereits kurz

nach Hitlers Machtergreifung keine Zweifel, dass ein Krieg bevorstehe. Ge-meinsam mit Thomas Mann gehörte er zu den wenigen, die zu jener Zeit über ein sicheres Gefühl für die Realität ver-fügten. Zweig dagegen ist auffällig zu-rückhaltend und beschränkt sich auf Trost und Empfehlungen: Sein Freund solle dem Alkohol abschwören, so wie Zweig auf seine täglich 20 Zigarren ver-zichtet hat, und nicht überreizt gegen alles und alle schwadronieren. Vergeb-lich – die gut gemeinten Ratschläge ver-mögen gegen die Verzweiflung des Freundes nichts auszurichten. Zweig stand Roth sehr nahe und hat ihn auf-richtig bemitleidet. Es fehlte ihm aber die Überzeugungskraft, dem Freund entscheidend zu helfen. Der Briefwech-sel zwischen Roth und Zweig widerspie-gelt die Tragödie von Roths Leben – mit Intermezzi einer opera buffa.

Briefwechsel Die beiden österreichischen Autoren Joseph Roth und Stefan Zweig tauschten sich über persönliche Probleme und Schriftstellerkollegen aus

«Roosevelt ist ein Schwindler»

Entschleunigung Die Kehrseite der Moderne

Dass unser Leben immer hektischer wird, erfahren wir täglich. Dass wir gerne mehr Ruhe hätten, ohne auf Schnelligkeit verzichten zu müssen, wissen wir auch. Hussein Chalayan zeigt uns, wie das Paradox aussehen könnte. In einer Videoinstallation lässt der 1970 auf Zypern geborene Künstler eine Frau mit Hochgeschwindigkeit von London nach Istanbul reisen. Ganz entspannt sitzt sie in einer Kapsel, isst gelegentlich etwas oder lässt Badewasser einlaufen. Die Landschaft saust an ihr vorbei. Ausser hin und wieder einem Atomkraftwerk ist nichts zu erkennen. Im Moment äusserster Ruhe wird das Aussen zur Staffage. Die Zeitreise gehört seit Jules Verne zur Moderne, Hollywood hat das Thema ausgeschlachtet. Spätestens seit 1776 James Watt die erste Dampfmaschine installiert hat, gilt Geschwindigkeit

als Inbegriff von Fortschritt und Zukunft. Die Futu-risten haben sie vor dem Ersten Weltkrieg gefeiert, Skeptiker wie Jean Tinguely haben sie ein paar Jahrzehnte später mit sanfter Ironie hinterfragt. Seine Maschinen laufen leer und machen einen Höllenlärm. Das Widerspiel von Ruhebedürfnis und Beschleunigungssehnsucht wird in dem Band, der eine Ausstellung im Kunstmuseum Wolfsburg begleitet (bis 9. 4.), in seinen vielen Kapiteln von der Romantik an ausdrucksstark aufgefächert. Die Kunstgeschichte lässt sich auch unter diesem Aspekt betrachten. Aus dem Dilemma unserer Wünsche werden wir allerdings nicht entlassen. Gerhard MackMarkus Brüderlin (Hrsg.): Die Kunst der Entschleunigung. Hatje Cantz, Ostfildern 2011. 260 Seiten, 402 Abbildungen, Fr. 66.50.

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Belletristik

10 NZZ am Sonntag 29. Januar 2012

A. F. Th. van der Heijden: Tonio. Ein Requiemroman. Aus dem Niederländischen von Helga von Beuningen. Suhrkamp, Berlin 2011.671 Seiten, Fr. 26.90.

Von Sieglinde Geisel

Von der Trauer um einen geliebten Menschen bleibt niemand verschont, auch nicht die Schriftsteller. Mit «Tonio» hat der niederländische Autor A. F. Th. van der Heijden seinem Sohn ein Denkmal gesetzt: Am frühen Mor-gen des 23. Mai 2010 verunfallte Tonio in Amsterdam mit dem Velo, am gleichen Tag starb er, noch nicht 22-jährig. «So-lange die Literatur den Tod nicht zu überwinden vermag, hat sie nach mei-ner Auffassung die Rolle (Funktion) einer Trösterin bei allen Todesängsten.» Diese Zeilen von 1981 stammen aus einem Band mit Notizen aus dem Alltag. Nun stellt van der Heijdens «Requiem-roman» die Rolle der Literatur als Trös-terin auf die Probe.

Diffuse Lichtgestalt«Wenn ich es (…) jetzt schreibe, schon in diesem Sommer, wird es ein Bericht von innen (…), direkt aus der Gefühls-verwirrung heraus … Das Schreiben wird dann zu einem Teil des Ringens, und umgekehrt.» Ende Mai, eine Woche nach Tonios Tod, hat van der Heijden mit dem Buch begonnen, so erfährt man gegen Ende der 671 Seiten. Er habe sei-nem Gedächtnis freien Lauf gelassen und dieses Material dann «in einer Struktur untergebracht, die in etwa der eines Romans gleicht» – mit dem Ziel, seinen Sohn «in Prosa lebendig zu erhal-ten». Die strenge äussere Form, in der die Aufzeichnungen komponiert sind, erweckt den Eindruck, das Chaos der Gefühlsverwirrung lasse sich in eine Ordnung bannen – als wäre das eigene Leben, der eigene Schmerz ein Roman-stoff, über den der Autor verfügen könn-te, der am «Schwarzen Pfingstsonntag» aus seiner Ruhe gerissen wurde. Zwei Polizisten melden, Tonio liege «in kriti-schem Zustand» im Operationssaal. Der Bericht über die folgenden quälenden Stunden wird nun mit weiteren Zeitebe-nen verflochten: mit Erinnerungen an das Kind Tonio, Gesprächen mit seinen Freunden über den letzten Tag, Versu-chen, den Unfall zu rekonstruieren, Re-flexionen über Schuldgefühle.

Stolz signiert der achtjährige Tonio bei Lesungen die Bücher seines Vaters. Später macht er sich über dessen Ar-beitswut lustig: «Bist du schon bei zehn Seiten pro Tag?» – «Fünf sind das Mini-mum (…). Sechs, sieben sind machbar. Acht ist ein Supertag», so die Antwort.

Zum Streit kam es nie, auch später nicht. Tonio erscheint als eine Lichtgestalt, die undeutlich bleibt, ebenso wie seine Mutter Mirjam.

Wie privat ist dieser Requiemroman? Bisweilen blättert man in einem literari-schen Familienalbum, das einen nichts anzugehen scheint, doch in der nächs-ten Szene ist man unmittelbar berührt. Mit den Eltern stehen wir am Spitalbett des sterbenden Sohns. «Er schlief nicht, und er war auch noch nicht aus dem Traum erwacht, der das Leben war.» Wenn van der Heijden nicht nur seinen eigenen Schmerz erforscht, sondern das Wesen der Trauer überhaupt, ist nichts mehr privat. «Ich lief umher wie ein bis ins Mark betrogener Liebhaber, in dem die Liebe immer noch wächst und wächst.» «Wir liessen den Nerv frei lie-gen und erzwangen so den Schmerz, der uns mit Tonio verband.»

Neben solchen Sätzen begegnet man in diesem offenbar schnell geschriebe-nen Buch allerdings auch Phrasen aus dem Allgemeinwortschatz des Trau-erns. «In Tonios Tod kann ich keinerlei Ziel, keinerlei Sinn entdecken.» Auch Mirjam findet keine eigenen Worte für den Schmerz: «So schrecklich … so schrecklich, dass ich ihn nie mehr sehen werde.» Das sind Sätze, wie sie jeder sagen könnte, und deshalb bleiben sie in der Literatur ohne Wirkung. Der sprach-liche Übermut wiederum, der in den ausgreifenden Romanzyklen van der

Heijdens so kraftvoll daherkommt, er-zeugt hier, wo es um sein eigenes Leid geht, grell verunglückte Sätze. «Der ge-storbene Tonio ruht unausweichlich schwer und reglos in der wimmernden Hängematte meiner Aufmerksamkeit.»

Berührend ehrlichWelchen Massstab soll man an diese Tagebuch-Notizen in Romanform an-legen? Man ist berührt von der Ehrlich-keit, mit der van der Heijden seine Trau-er mitteilt – umso mehr jedoch schmer-zen die vielen Sätze, die dem Floskelhaf-ten, Alltäglichen verhaftet sind. «Diese Notizen haben KEINEN LITERARI-SCHEN ANSPRUCH, die jetzigen nicht und auch nicht die zurückliegenden», so hiess es in der Notiz-Sammlung «En-gelsdreck». Auch «Tonio» besteht aus Alltagsnotizen, allerdings aus einem Alltag im Ausnahmezustand. Es sei ihm nicht gelungen, zum Kern dessen vorzu-dringen, was wirklich passiert sei, no-tiert van der Heijden nach einem Besuch bei seinem Bruder. Diesen Eindruck hat man auch nach der Lektüre: Der Plau-derton, der über weite Strecken herrscht, nimmt den Ereignissen ihr Gewicht.

Man hat dieses dicke Buch nicht nur überraschend schnell gelesen, man hat es auch «gern» gelesen. Doch dies ist das falsche Kompliment. Was fehlt, ist jener Trost, den Literatur zu geben ver-mag, wenn sie den Schmerz durch Spra-che verwandelt.

Autobiografischer Roman Ein niederländischer Autor setzt seinem Sohn ein Denkmal

Wenn Literatur zur Trösterin wird

A. F. Th. van der Heijden verarbeitet seine Trauernotizen über den bei einem Velounfall verstorbenen Sohn zu einem Requiem.

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29. Januar 2012 NZZ am Sonntag 11

Kurzkritiken Belletristik

Stewart O'Nan: Emily, allein. Aus dem Amerikanischen von Thomas Gunkel. Rowohlt, Hamburg 2011. 352 Seiten,Fr. 30.50.

Von Simone von Büren

Betagte Protagonisten, gebrechlich, ver-gesslich und kompliziert, gibt es in der Literatur wenige. Bei Stewart O’Nan, der Thriller schreibt und sich gerne mit dra-matischen Stoffen befasst, erwartet man sie schon gar nicht. Doch nun hat der Amerikaner mit «Emily, allein» einen Roman über eine alte Frau geschrieben, deren «Leben keine dringende oder not-wendige Angelegenheit mehr» ist.

Emily ist über achtzig und seit Jahren verwitwet, eine pflichtbewusste Dame, die viel erwartet und leicht enttäuscht wird – etwa wenn Kinder und Enkel zu früh abreisen und keine Dankesbriefe schreiben. Ihr Leben besteht aus langen Hunde spaziergängen, Frühgottesdiens-ten und dem Ausschneiden von Rabatt-gutscheinen.

O’Nan beschreibt Emilys unspektaku-lären Alltag gewissenhaft und in nüch-ternem Stil. Das Irritierende dabei ist, dass er Dinge behauptet, anstatt sie sichtbar zu machen: Der Drittperson-erzähler beschreibt eine Frau, die zu Hause gerne klassische Musik hört und in Fotoalben blättert, sagt dann aber, dass sie sich in ihrem Haus «klaustro-phobischen Gedanken ausgeliefert» fühlt. Er zeigt uns eine unscheinbare Dame, höflich und angepasst, sagt aber, sie habe schlimme Wutanfälle. Und statt ihre Empfindungen zu beschreiben, legt er ihr Sentenzen in den Mund: Ange-sichts des Todes «in Hysterie zu verfal-len hatte keinen Sinn».

Was der 50-jährige Autor vorlegt, ist ein Klischee von Alter. Auf den 350 Sei-ten kommt alles vor, was man mit dem Alltag einer betagten Frau assoziiert: Vergesslichkeit, Angst vor Stürzen «beim Auffüllen des Vogelhäuschens», das Wählen der republikanischen Partei auch nach Bush, Schlaflosigkeit, Abhän-gigkeit von Nachbarn, Fixiertsein auf ein Haustier, Hang zu Paranoia, Arzt-besuche, Testamentschreiben, Beerdi-gungen, verklärte Erinnerungen.

Es fehlen die unerwarteten Einzig-artigkeiten, die eine Figur lebendig

machen. Nur Ansätze dazu sind zu erkennen: Etwa wenn Emily merkt, dass man ihr in ihren gelieb-ten viktorianischen Fil-

men die Nebenrolle der schrulligen Alten geben würde, wäh-rend sie sich selber immer noch in der Hauptrolle sieht.

Roman Unspektakulärer Alltag, klischeehaft geschildert

Eine alte Dame gerät in Wut

PETER

PEIT

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Katharina Hacker: Eine Dorfgeschichte. S. Fischer, Frankfurt 2011. 127 Seiten, Fr. 25.90.

Über der bürgerlichen Kindheit liegt die Trägheit der Sonntagnachmittage und der Sommer auf dem Land. Bei der 44-jährigen Katharina Hacker, deutsche Buchpreisträgerin («Die Habenichtse», 2006), sind es die Sommer, welche die gebürtige Frankfurterin mit ihrer Fami-lie in einem Odenwalder Dorf zubrach-te. In ihrem schmalen Buch gibt sie we-niger eine titelgebende «Geschichte» wieder als atmosphärische Erinnerungs-passagen: Arier-Dokumente im Estrich, Hitze, Gewitter, die wilde Fantasie der drei Geschwister, Dorfdeppen, die ver-ehrte Grossmutter. Die Autorin erzählt aus der Gegenwart heraus, das Autobio-grafische kryptisch verneinend. Wozu? Das verschleiernd Märchenhafte im Ton, in der Syntax bleibt und damit die Stimmung, die einen einhüllt wie ein samtenes Futteral. Oder wie die Lange-weile eines Sommers auf dem Land. Regula Freuler

Iren Baumann: Noch während die Pendler heimfahren. Gedichte. Waldgut, Frauenfeld 2011. 80 Seiten, Fr. 20.10.

Die Lyrikerin Iren Baumann gehört zu den originellsten Stimmen der Zürcher Literaturszene. Das Werk der 1939 gebo-renen Dichterin ist schmal, aber bedeut-sam. Fünf Gedichtbände umfasst es mittlerweile. Die reimlosen, in freien Rhythmen gehaltenen Zeilen widerspie-geln oft Alltagsbeobachtungen und kommen ohne prätentiöses Vokabular aus, sind aber doch hintersinnige Wort-gespinste. Zärtlichkeit und Genauigkeit verbinden sich in ihnen mit einer ko-boldhaften Heiterkeit. Iren Baumann sieht in die Menschen hinein und durch sie hindurch, scheinbar simple Dinge schimmern bei ihr in einem gebroche-nen Licht und offenbaren so eine unge-ahnte Schönheit. Die aber steht niemals still: Denn Kobolde haben einen siche-ren Instinkt, der sie alle Feierlichkeit vermeiden und stets neue Volten schla-gen lässt.Manfred Papst

Friedrich Achleitner: Iwahaubbt. Gedichte im Dialekt. Zsolnay, Wien 2011. 208 Seiten, Fr. 25.90.

Der 1930 im oberösterreichischen Schal-chen geborene Friedrich Achleitner ist Schriftsteller, Architekt und emeritier-ter Professor für angewandte Kunst. 1955 stiess er zur Wiener Gruppe um Bayer, Artmann und Rühm. Er publizierte Dialektgedichte sowie Konkrete Poesie und Montagetexte. Berühmt wurde sein experimenteller «Quadratroman» von 1973. In den letzten Jahren hat er mehre-re Sammlungen von kurzen Texten pub-liziert, in denen sich Beobachtungsgabe, kauziger Humor und Sprachmusikalität verbinden. Nun legt er unter dem Titel «Iwahaubbt» seine gesammelten, im Dialekt des Innviertels verfassten Ge-dichte vor. Sie sind im Lauf eines halben Jahrhunderts entstanden und von viel-fältigem Zauber. Übermütig spielen sie mit Formen wie der Stanze und Litanei. Nicht immer sind sie auf Anhieb zu ent-ziffern. Für neugierige Sprachspieler aber sind sie ein unerschöpflicher Quell des Vergnügens. Manfred Papst

Nancy Mitford: Landpartie mit drei Damen. Satirischer Roman. Graf, München 2011. 247 Seiten, Fr. 24.50.

Herausfordernd und doch mit jener Ge-lassenheit der Selbstbewussten schaut sie einen an auf der Umschlagfoto. Der Eindruck täuscht nicht: Nancy Mitford (1904–1973), Tochter eines britischen Barons, scheute keine Konflikte, weder im Privaten noch im Schreiben Ω bei letzterem mit Erfolg. Auch im Roman «Wigs on the Green», der nun zum zweiten Mal auf Deutsch übertragen wurde, seit er 1935 im Original erschie-nen ist, nimmt ihr bekannter Witz keine Rücksicht auf die Nächsten. Die da waren: sechs Geschwister, darunter zwei glühende Hitler-Verehrerinnen (die eine, Guinness-Erben-Gattin, liess sich scheiden, um den Faschistenführer Sir Oswald Mosley zu ehelichen). In Porträts von beissendem Spott lässt die Autorin Nancy Mitford die Verwandt-schaft auftreten. Eine Neuauflage ver-hinderte sie 1951: Zu viel Grausames sei im Krieg geschehen. Aus heutiger Sicht: Eine grossartige Groteske! Regula Freuler

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Essay

12 NZZ am Sonntag 29. Januar 2012

Charles Dickens (1812–1870) mutet seinen Leserinnen und Lesern ganz viel Kitsch zu, schreibt aber so unvergesslich wie kein zweiter Autor. Andreas Isenschmid hat mit dessen Werk einige Lesewochen verbracht

Verliebt in die Romane eines 200-Jährigen

Alle, soweit sie Klassiker lesen, halten es mit Stendhal, Flaubert und, etwas seltener viel-leicht, mit Balzac. Alle lesen Jane Austen und George Eliot. Aber Charles Dickens? Er ist eher eine Angelegenheit des gehobenen (und ge-kürzten) Jugendbuches, ferner ein englischer Nationalsport. Aber wirklich gelesen wird er, einer repräsentativen Langzeitbeobachtung meines Lesefreundeskreises zufolge, kaum. «Mit Dickens hatte ich immer Mühe» – keinen Satz habe ich in den zurückliegenden Wochen meiner Dickens-Lektüre häufiger gehört.

Dabei ist es kinderleicht, sich in den alten Di-ckens zu verlieben. Meine todsichere Dickens-Verführungsanthologie besteht aus den ersten dreissig Seiten seiner drei besten Romane. Wer die Anfangskapitel von «Bleakhaus», von «Gros-se Erwartungen» und von «Unser gemeinsamer Freund» liest, um den ist es geschehen. Es wer-

den in seinem imaginären Lesermuseum einige Szenen, Figuren und Stimmungen auf ewig mit einer Kraft strahlen, wie sie bei den oben ge-nannten Klassikern eher selten vorkommt.

Nehmen wir die Ouvertüre der «Grossen Er-wartungen», die Hanser in einer fabelhaft kom-mentierten Übersetzung neu herausgebracht hat. Dickens war 48 Jahre alt, als er das Buch begann, neben «David Copperfield» sein einzi-ger durchgängig in der ersten Person erzählter Roman. Und wie «Copperfield» und «Oliver Twist» beginnt er in der Welt eines Kindes.

Pip, wie der Held heisst, mag sechs, sieben Jahre alt sein, als er am Tag vor Weihnachten, «an einem denkwürdigen nasskalten Nachmit-tag, der sich zum Abend neigte», seine «erste und eindringliche Vorstellung von der wahren Beschaffenheit der Dinge» erhält. Erst begreift er auf dem Friedhof vor den Grabsteinen seiner Eltern und Geschwister aufs mal, was er und seine Welt sind: dass er ein Waise ist, dass das feuchte, von Gräben und Schleusen durchzoge-ne Marschland seine Heimatgegend ist und «dass das kleine Espenlaubbündel, das sich vor alledem zu fürchten und zu weinen begann, Pip war». Im gleichen Augenblick begreift er auch, wie diese Welt ist: finster und brutal. Ein schrecklich aussehender Mann mit einem gros-sen Eisen am Bein, ein Sträfling, wie sich zeigen wird, springt zwischen den Gräbern hervor, herrscht ihn an, hält ihn an den Füssen in die Luft und fordert ihn unter brutalsten Todesan-drohungen auf, ihm am andern Morgen Esswa-ren und eine Feile zu bringen.

Es liesse sich nun lange weiter resümieren, wie Pip nach Hause geht, unter Qualen stiehlt, sich im Frühnebel rausschleicht und wie schliesslich mitten im Weihnachtsmahl, gerade als sein Diebstahl aufzufliegen droht, Soldaten auf der Suche nach entflohenen Sträflingen ins Haus dringen. Zum Schluss ist Pip auf dem Rü-cken seines Pflegevaters in einfallender Nacht und im eisigen Graupelschauer dabei, als die Sträflinge wie in einer BBC-News-Sendung von

heute unter Geschrei, Schüssen, Fackellicht blutend aus einem Schlammgraben gezogen und in Handschellen gelegt werden.

Aber Literatur lässt sich nicht zusammenfas-sen, und Dickens am wenigsten. Man muss sein erzählerisches Grossgenie haben, um auf dreis-sig, vierzig Seiten eine so dichte, tiefe, stim-

mungsstarke und komplexe Welt zu erzeugen, wie sie uns in den Eröffnungen von seinen gros-sen Romanen begegnet. Im Vergleich zu diesem Vollkorn sind nicht wenige andere Klassiker bleiches Toastbrot. Kommt dazu, dass in Di-ckens dichter Ouvertüre der «Grossen Erwar-tungen» zugleich der ganze Dickens-Kosmos symbolisch drinsteckt.

Lebenstrauma des AutorsWelches sind die Elemente des Dickens-Kos-mos? Zuallererst sind es Kinder in seelischem und körperlichem Elend. Zur Arbeit gezwunge-ne Kinder wie Oliver Twist. Geschlagene Kin-der wie Pip, Waisen- und Heimkinder, Kinder mit einer tiefen Sehnsucht nach Wärme, Fami-lie, Aufgehobenheit. Dass Dickens aus dem Schicksal dieser Kinder literweise sentimenta-len Kitsch-Sirup gepresst hat, ist bekannt. Man «müsse ein Herz aus Stein haben, um bei Little Nells Tod nicht in Lachen auszubrechen», geht ein böses Wort Oscar Wildes zur Heldin des Romans «Der Raritätenladen»; Dickens hat es sich redlich verdient. Aber die Menge, die im

Vor 200 Jahren, am 7. Februar 1812, kam Charles Dickens zur Welt, am 9. Juni 1870 ist er gestorben. Wer sein produktives Leben verfolgen will, findet in Hans-Dieter Gelferts Biografie einen verlässlichen Begleiter, der auch die wichtigsten Werke vorstellt (C. H. Beck, 380 Seiten, Fr. 40.90). Hinreissend geschrieben ist Claire Tomalins englischsprachige Biografie mit fabelhaften Bildern (Penguin, 530 S., Fr. 29.50).Wie der Jüngling Dickens sich über Nacht in einen Literaturstar verwandelte, zeigt Robert Douglas-Fairhurst in «Becoming Dickens» (Harvard University Press, 390 S., Fr. 39.90). Die feinsten Neuübersetzungen stammen von Melanie Walz: Sie hat den späten Roman «Grosse Erwartungen» herausgegeben (Hanser, 830 S., Fr. 46.90) und die teils erstmals übersetzten Reportagen «Reisender ohne Gewerbe» (C. H. Beck, 128 S., Fr. 21.90).

Charles Dickens

Es ist bekannt, dass Dickens aus dem Schicksal von Kindern in seelischem und körperlichem Elend literweise sentimentalen Kitsch-Sirup gepresst hat.

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29. Januar 2012 NZZ am Sonntag 13

Charles Dickens (1812–1870) mit zwei seiner Töchter, der Schriftstellerin Mary Dickens und der Malerin Kate Dickens, um 1865.

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Essay

14 NZZ am Sonntag 29. Januar 2012

Hafen von New York dem Schiff, das die letzte Fortsetzung des «Raritätenladens» nach Ame-rika brachte, voller Angst entgegenrief «Ist Litt-le Nell tot?», war auch nicht blöd. In Dickens Kindern steckt ein Leiden und Sehnen, das allen Kitsch übersteigt.

Das alles hat natürlich mit Dickens' Lebens-trauma zu tun: als er zwölf Jahre alt war, haben ihn seine Eltern wegen finanzieller Nöte für ein Jahr zur Arbeit in eine Schuhwichsfabrik weg-gesperrt, bald darauf kam sein Vater für kurze Zeit ins Gefängnis. Diese Erfahrung war für Di-ckens so traumatisierend, dass er sie sein Leben lang nur einem einzigen Menschen erzählt hat, sie aber doch lebenslänglich hinausschrie, indem er sie in all seine Bücher hineinschrieb. Ein nach seinem Tod publiziertes autobiografi-sches Fragment über diese Erfahrung wirkt bis in zahlreiche wörtliche Übereinstimmungen hinein – wie ein Brühwürfel all seiner Werke.

Romantechnischer GrossmeisterDoch dieses Trauma wäre keiner Erwähnung wert, wenn Dickens es nicht so meisterlich um-gesetzt hätte. Einzigartig in der Weltliteratur ist seine feine Darstellung des kindlichen Seelen-lebens. Hinreissend ist aber auch, wie er das kindliche Sehnen ins Grosse, in die Handlun -gen und Baupläne seiner Romane übersetzt. Dickens ist der romantechnische Grossmeister der Familienzusammenführung.

Familienkons truktion ist oft geradezu der Handlungsmotor seiner Bücher. Allenthalben finden Elende und Reiche, Adlige und Depra-vierte in abenteuerlichen Handlungsverschlin-gungen als Eltern und deren verlorene, verges-sene, totgeglaubte Kinder zueinander. Der Sträf-ling, der Pip am Anfang des Romans bedroht, wird als sein verkannter Wohltäter ihm den so-zialen Aufstieg zu verschaffen versuchen, den seine Eltern ihm schuldig bleiben mussten. Zu-gleich wird dieser Sträfling sich als der Vater der von Pip lebenslang angebeteten kalten Schönheit Estella herausstellen. Auch für Estel-las einst ganz elende Mutter hat Dickens ein warmes Romanplätzchen arrangiert.

Interessanter als dieses Plätzchen ist aber die Herkunft der Mutter. Bevor sie Haushälterin (und Geliebte?) eines der abertausend Rechts-anwälte wurde, die Dickens Werk bevölkern, war sie eine gewalttätige Landstreicherin, Her-umtreiberin, Mörderin. Sie ist eine der zahllo-sen Figuren, die Dickens Bücher – zweites Ele-ment des Dickens-Kosmos – zu einer sozialge-schichtlichen Enzyklopädie der armen Klassen machen. In Dickens Büchern ist die Lebens-wirklichkeit der einfachen und armen Men-schen so umfassend und so leuchtend darge-stellt wie in keinem anderen Werk der Weltlite-ratur. Gewiss kannte auch Cervantes die einfa-chen Leute, Flaubert hat die Geschichte einer

Magd geschrieben, Tolstoi wandte sich den Knechten zu, und Zola zeigte, was es bei Di-ckens noch nicht gibt, Arbeiter im modernen Sinn. Aber Dickens Blick auf das schmutzstar-rende, dunkle London, auf die alle Augenblicke einstürzenden Häuser der Armen, auf den elen-den «Streifen vorstädtischer Sahara» ist gross-artig und unvergleichlich. Bei Dickens und nur bei ihm bekommen die Halbwahnsinnigen, um die wir im städtischen Alltag einen grossen Bogen machen, ihren ausführlichen Auftritt. Jede Gesellschaft wendet vor ihren elendesten Realitäten den Blick weg – Dickens zwang die seine hinzusehen. Das ist der bis heute unend-lich bewegende christliche Teil in ihm.

Schliesslich kombiniert sich, nächstes Ele-ment seines Kosmos, sein sozialer Blick mit einem kritischen politischen Urteil. Er liebt

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Szene aus dem Film «Great Expectations» (1974), einer amerikanischen Verfilmung des Dickens-Romans.

noch die geringsten unter seinen Menschen-brüdern, aber den Adel und die herrschenden politischen Eliten übergiesst er mit ätzendem Spott. Selten merkt man das stärker als am An-fang von «Unser gemeinsamer Freund», beim Wechsel von der teilnehmenden, dunkel leuch-tenden Schilderung der Leichenfischer in der Themse zur kalten und ganz und gar mo-dernen Satire auf ein Diner bei den neureichen Veneerings. Das hätte Tom Wolfe nicht besser gekonnt. Doch all das wird übertroffen von der Schilderung des Kanzleigerichts am Anfang von «Bleakhaus». Der amerikanische Starkriti-ker Harold Bloom, der Dickens über Tolstoi und neben Shakespeare stellt, hat das feine Ar-gument formuliert, erst Kafka habe uns gehol-fen, diesen Anfang richtig zu sehen: als Darstel-lung einer Rechtskrake, die alle Menschen so unentrinnbar bannt und vernichtet wie das Sys-tem in Kafkas «Prozess».

Verwandlung ins MärchenhafteIn der Beschreibung des Kanzleigerichts ent-hüllt sich schliesslich das letzte Element des Dickens-Kosmos. Man kann es das mythische Element nennen. Dickens hat für seine Be-schreibung des Kanzleigerichts zwar ausführ-lich recherchiert, aber zugleich gibt er dem Ge-richt durch die Art seiner Beschreibung eine mythische Qualität. Er verwandelt eine wohl-bekannte Londoner Institution, indem er sie in Düsternis, Nebel und Russ hüllt in einen dunkel drohenden Höllenschlund. Diese Verwandlung reporterhaft realistischer Beschreibungen – Di-ckens begann als Reporter – in etwas Überwirk-liches ereignet sich in vielen seiner Romane. Ausser in mythische Dimensionen kann sie auch ins Märchenhafte, in die Legende, in die Romanze zielen. Immer wieder wehen jeden-falls anderweltliche Schleier und Vorhänge durch Dickens' Hardcore-Realismus. Und oft haben diese Stellen, an denen einem ganz an-ders wird, mit den kühn überraschenden Iden-titätsumschwüngen des Autors zu tun: der im finstersten Loch verstorbene Drogensüchtige entpuppt sich als der Liebhaber der schönsten aller schönen und unerreichbaren Ladys – und schon wird die so undurchdringliche Realität auf etwas ganz anderes durchsichtig.

Aber: so viele Gründe es gibt, sich in Dickens zu verlieben, reichen sie auch für die Verwand-lung der Verliebtheit in Liebe? Zahllose aus-schweifende Dickensleser haben genau das be-zweifelt. Kafka stiess sich an den «Stellen grau-enhafter Kraftlosigkeit, wo er müde nur das bereits Erreichte durcheinanderrührt. Barba-risch der Eindruck des unsinnigen Ganzen». Arno Schmidt: «Der frühe und mittlere Dickens liefert das peinliche Schauspiel eines Schrift-stellers, der sein Handwerk liederlich betreibt – ein ‹Meister der Fehlkonstruktion›». Am här-testen ist George Orwells Dickens-Essay, eine aus Liebe geschriebene, unendlich kluge Ver-nichtung. Niemand erreiche Dickens «im Ver-mögen, bildliche Vorstellungen zu evozieren. Wenn Dickens etwas einmal beschrieben hat, sieht man es für den Rest seines Lebens». Nur sei Dickens leider ein Autor, «bei dem die Teile wichtiger sind als das Ganze. Er besteht ganz aus Fragmenten, ganz aus Details – scheussli-che Architektur, aber wunderbare Wasserspei-er.» Freilich muss man auch die Wasserspeier oft quälend lange suchen. Denn Dickens quält seine Leser nicht selten mit endlosen, völlig überflüssigen, komplett statischen Beschrei-bungen, er martert sie mit Handlungen, die ab-surd verwinkelt, vollkommen unwahrschein-lich und kaum zu behalten sind. Doch gerade wenn man es mit einem seiner Bücher wieder mal aufgeben will, läuft man in eine dieser un-vergesslichen Stellen, und es geht mit der Ver-liebtheit wieder los. l

Dickens Blick auf das schmutzstarrende, dunkle, elende London, auf die einstürzenden Häuser der Armen ist grossartig und unvergleichlich.

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Kolumne

29. Januar 2012 NZZ am Sonntag 15

Charles Lewinskys Zitatenlese

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Charles Lewinsky ist Schriftsteller und arbeitet in den verschiedensten Sparten. Sein letzter Roman «Gerron» ist 2011 bei Nagel & Kimche erschienen.

Wer in der wirklichen Welt arbeiten und in der idealen leben kann, der hat das Höchste erreicht.

Ludwig Börne

Ist es Ihnen auch aufgefallen? Seit eini-ger Zeit stehen hinter dem Autorenver-merk von Artikeln immer häufiger die Worte: «Lebt und arbeitet in . . .» Sprachschludernde Redakteure hauen den Satz unterdessen so automatisch in die Tastatur, wie Werbeleute über ein hunderttausendfach verbreitetes Flug-blatt die Lüge setzen: «Ihr ganz persön-liches Angebot».

Was müssen das für Autoren sein, frage ich mich, die darauf bestehen, der Öffentlichkeit mitzuteilen, dass sie in London, New York oder Bümpliz nicht etwa nur leben, sondern – welche Überraschung! – auch arbeiten? Oder verstehe ich den Satz falsch, und die ei-gentliche Botschaft lautet: «Ich arbeite nicht nur, sondern – wer hätte das ge-dacht? – ich lebe auch»?

Seit wann, frage ich mich weiter, sind Leben und Arbeiten zwei so ganz und gar verschiedene Dinge, dass man sie in einer biografischen Notiz separat an-führen muss? Stellen diese Autoren ihr Leben ein, während sie am Computer sitzen? Sagen sie ihrer Frau am Telefon: «Ich schreibe nur noch diesen Artikel zu Ende, Schatz, aber pünktlich um halb sieben fange ich wieder an zu leben»?

Oder, wenn wir schon mal am Aus-deuten sind, finden sie vielleicht vor allem mitteilenswert, dass sie diese bei-den so ungeheuer verschiedenen Tätig-keiten aus irgendeiner Marotte heraus tatsächlich in der gleichen Stadt aus-üben? Soll der Leser darüber staunen, dass sie nicht etwa in Melbourne leben und gleichzeitig ihrer beruflichen Tätigkeit in Stockholm nachgehen? («Wissen Sie, ich komme auf den täg-lich dreissig Stunden Flug so schön zum Lesen.»)

Oder steckt hinter der verquasten Formulierung überhaupt keine inhaltli-che Bedeutung? Macht im Kindergarten des Journalismus jeder den gleichen Sprachpurzelbaum, nur weil ihn der an-dere auch gemacht hat? Ist das Ganze nur – um eines der schönsten Sprach-bilder von Karl Kraus seinem ursprüng-lichen Kontext zu entfremden – der Versuch, auf einer Glatze Locken zu drehen?

Ich weiss es nicht. Ich beobachte nur, dass sich diese Formulierungsseuche immer weiter ausbreitet und dass immer noch – Wo bleibt die chemische Industrie, wenn man sie wirklich braucht? – niemand ein wirksames Mit-tel dagegen entwickelt hat.

Ich kann Ihnen lediglich versichern: Während ich diese paar Zeilen zu Computer brachte, habe ich sowohl gearbeitet als auch gelebt.

Kurzkritiken Sachbuch

Esther Girsberger: Eveline Widmer-Schlumpf. Die Unbeirrbare. Orell Füssli, Zürich 2012. 208 Seiten, Fr. 29.90.

Im Geheimen vorbereitet, wurde das Buch exakt am Tag der Wiederwahl von Eveline Widmer-Schlumpf am 14. De-zember angekündigt. In neun Gesprä-chen zwischen Herbst 2010 und Juli 2011 befragte Esther Girsberger die BDP-Bundesrätin über Familienpolitik, Zu-wanderung, Bankgeheimnis und andere Themen. Viele Ansichten der «unbeirr-baren» EWS sind bekannt. Aufschluss-reich sind ihre Antworten über den Tod ihrer Schwester, ihr Verhältnis zur Macht, oder wenn sie eingesteht, dass sie bei der Kinder-Betreuungsverord-nung «einen Bock geschossen» habe. Deutlich wird auch, wie früh die Diffe-renzen zu Christoph Blocher aufgebro-chen sind: beim Zwist um die EWR-Ab-stimmung 1992 und die «Messerstecher-Inserate» 1993. Der Studienkollege und frühere Preisüberwacher Werner Marti umschreibt EWS’ Charakter treffend mit einem Kletter-Begriff: «Free Solo». Urs Rauber

Otto Stich: Ich blieb einfach einfach. Autobiografie mit Texten von I. Bachmann. Schwabe, Basel 2011. 144 Seiten, Fr. 28.–.

Der gerade 85 gewordene Otto Stich ist der Prototyp eines schweizerischen Dorfpolitikers: bodenständig, bieder, pragmatisch und bauernschlau. Mit 30 wird der Arbeitersohn erster (und bis-her einziger) sozialdemokratischer Ge-meindepräsident von Dornach (SO). Mit 36 rückt er in den Nationalrat nach, bleibt dort aber ein Hinterbänkler. Bis er 1983 gegen den Willen seiner Partei von den Bürgerlichen zum Bundesrat ge-wählt wird. Die Bankiervereinigung würdigte den ebenso sozialen wie eigen-sinnigen Politiker nach seinem Rücktritt 1995 als «hervorragenden Finanzminis-ter». Nun plaudert Stich frank und frei über Internas aus dem Bundesrat, sti-chelt gegen Adolf Ogi und zieht über die legendäre «SP-Viererbande» (Gerwig, Hubacher, Uchtenhagen und Renschler) her. Der «hartgrindige Schwarzbube» bleibt sich selber auch in seiner schmal-brüstigen Autobiografie treu.Urs Rauber

Philipp Blom (Hrsg.): Angelo Soliman. Ein Afrikaner in Wien. Ausstellungskatalog. Brandstätter, Wien 2011. 248 S., Fr. 40.90.

Das Umschlagporträt des schönen Schwarzen mit Turban, gekleidet in ein fürstliches Gewand des europäischen 18. Jahrhunderts, weckt Neugier. In Wien ist Angelo Soliman (1721–1796) eine stadtbekannte Grösse, über deren Ende man aber nicht gerne spricht. Soliman wurde nach seinem Tod gehäutet, wie ein Tier ausgestopft und im kaiserlichen Naturalienkabinett als halbnackter Wil-der zur Schau gestellt. Das rassistische Bild des Mohren hatte im letzten Augen-blick Überhand gewonnen. Soliman, einst Sklave aus der Sahelzone, hatte sich emporgearbeitet, war hochgebildet, Freimaurer, Lehrer von Fürstenspröss-lingen und Gesprächspartner von Kai-ser Joseph II. Alles in allem das geglück-te Leben eines Migranten, ein Erfolg der Aufklärung. Mit der Schändung seines Leichnams verwies die Gesellschaft So-liman aber wieder in die alte Ecke.Geneviève Lüscher

Daniela Kuhn: Zwischen Stall und Hotel. 15 Geschichten aus Sils im Engadin. Limmat, Zürich 2012. 180 Seiten, Fr. 34.–.

Christina Godley führt die Stüva Mar-chetta, ihre Schwester Maria die Pen-siun. Bis heute arbeiten sie sieben lange Tage in der Woche, wie es schon ihre Mutter tat, in Küche, Gaststube und Garten. Sils, darin sind sie sich einig, ist zu gross geworden: «Früher war man überall zu Hause – heute vermögen es die Hiesigen kaum mehr, hier zu woh-nen.» Die Schwestern sind zwei von 17 «echten» Silsern und Silserinnen, die die Journalistin Daniela Kuhn aus ihrem Leben erzählen lässt. Sie haben in Gast-gewerbe und Landwirtschaft, als Schrei-ner, Kutscher oder Skilehrer gearbeitet. Sie erinnern sich an illustre Gäste – Ge-neral Guisan! –, an Zeiten, als die Touris-ten vor allem im Sommer kamen und noch jeder im Dorf einen Stall hatte. Sie lassen ein altes Sils aufleben, das schon heute von der Luxus-Tourismus-Fassade verdeckt, bald ganz verschwinden wird.Kathrin Meier-Rust

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Sachbuch

16 NZZ am Sonntag 29. Januar 2012

Christian Graf von Krockow: Friedrich der Grosse. Ein Lebensbild. Lübbe, Köln 2012 (Neuauflage). 224 Seiten, Fr. 31.50.Ute Frevert: Gefühlspolitik. Friedrich II. als Herrscher über die Herzen? Wallstein, Göttingen 2012. 159 S., Fr. 24.50.Johannes Bronisch: Der Kampf um Kronprinz Friedrich. Wolff gegen Voltaire. Landt, Berlin 2011. 125 Seiten, Fr. 28.50.

Von Kathrin Meier-Rust

Philosophenkönig mit Flöte oder zyni-scher Machtpolitiker, der Adolf Hitler zum Präventivkrieg inspirierte – lange schwankte das Urteil über Friedrich den Grossen zwischen kultischer Verehrung und absoluter Verdammung. Noch Hel-mut Schmidt liess als frischgekürter Verteidigungsminister die Büste Fried-richs aus seinem Büro entfernen. Doch mit den grossen preussischen Jubilä-umsjahren – zum 200-jährigen Todestag des Königs 1986, zum 300-jährigen Jubi-läum des preussischen Königtums 2001

und nun zum 300-jährigen Geburtstag des Königs am 24. Januar 2012 – ist das Urteil der Historiker ausgewogener ge-worden, steht die abgründige Ambiva-lenz dieser Figur im Vordergrund.

Geblieben ist die Faszination des Kö-nigs und seines an Drama so reichen Le-bens. Rund zwei Dutzend Neuerschei-nungen sollen es sein in diesem Winter: nebst mehreren Biografien etwa die Erstpublikation der Vortragsnotizen des grossen Basler Historikers Jacob Burck-hardt zu seiner Vorlesung über «Das Zeitalter Friedrichs des Grossen» (C. H. Beck), neue Darstellungen des Vater-Sohn-Konfliktes (Pieper) oder von Friedrich als Musiker (C. H Beck) bis hin zum Friedrich-der-Grosse-Gedächt-nisspiel. Wo also anfangen?

Empfehlenswerter KlassikerWer einen ersten Zugang sucht greift mit Gewinn zu einem preussischen Klassiker, wie ihn nebst Sebastian Haff-ner («Preussen ohne Legende») oder Marion Gräfin Dönhoff («Preussen – Mass und Masslosigkeit») auch Christi-an Graf von Krockow verfasst hat (1986, Neuauflage Lübbe 2012). Der aus pom-merschem Adel stammende Historiker lehrte an verschiedenen deutschen Uni-versitäten. In seinem «Lebensbild» Friedrichs II. versteht er es auf glänzen-de Weise, das biografische Drama dieses Königs mit seiner überragenden Bedeu-tung für die europäische Geschichte immer neu zu verflechten.

Hier findet sich alles: Die Kindheit und Jugend im Zeichen des gewalttäti-gen «Soldatenkönigs» Friedrich Wil-helm I., dem sein intellektuell und mu-sisch begabter Sohn geradezu physisch zuwider ist; nach dem Fluchtversuch des 18-Jährigen lässt er diesen in den Kerker werfen und die Hinrichtung des Freundes Katte mit ansehen. Die weitge-hend autodidaktische Bildung des Kron-prinzen zum schöngeistigen Aufklärer, der in den ersten Tagen seiner Regie-rung Folter und Zensur abschafft (nicht

für lange allerdings) und in Preussen Religionstoleranz verkündet, nach dem berühmten Motto «Ein jeder muss nach seiner Façon selig werden». Und der dann wenige Monate später mit der Armee, die sein Vater geschaffen hatte, das österreichische Schlesien überfällt. Der diesen Raub durch drei Kriege hin-durch gegen eine Übermacht der euro-päischen Grossmächte verteidigt und doch den Siebenjährigen Krieg nur dank einem Wunder übersteht: dem «Mirakel des Hauses Brandenburg», das darin be-steht, dass die Zarin Elisabeth rechtzei-tig stirbt.

Es findet sich die Freundschaft des Königs mit Voltaire, die mit der Flucht des Spötters ein bitteres Ende nimmt. Sein tiefgründiger Hass auf Frauen, nicht nur weil mit Maria Theresia in Ös-terreich, Elisabeth in Russland und Ma-dame Pompadour in Frankreich Preus-sens Erzfeinde sozusagen ein weibliches

Geschichte Lange schwankte das historische Urteil über den preussischen König Friedrich II. zwischen Verehrung und Verdammung. Heute steht seine Ambivalenz im Vordergrund

Friedrich der Grosse

Friedrich der Grosse

Friedrich II. wird am 24. Januar 1712 als ältester Sohn des preussischen Königs Friedrich Wilhelm I. und seiner Gattin Sophie Dorothea in Berlin geboren. 1736 bezieht der Kronprinz das Schloss Rheinsberg und widmet sich dem Studium der Philosophie, Geschichte und Poesie. 1740 wird er zum König von Preussen gekrönt.Friedrich II., auch Friedrich der Grosse genannt, gilt als Repräsentant des auf-geklärten Absolutismus. Er führt zahl-reiche Reformen in Justiz und Verwal tung durch und versteht sich als «Erster Diener des Staates». Unter seiner Herrschaft etabliert sich Preussen als europäische Grossmacht. Am 17. August 1786 stirbt Friedrich in Potsdam.

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Gesicht hatten. Der männerbündische Geist, der Preussens Geschichte prägt, und die zynische Menschenverachtung, die den alternden König verbittern und vereinsamen liess. Der historische Ruhm, den er fand, weil er aus dem Fli-ckenteppich der mausarmen «Sand-büchse» am Rande Europas einen mo-dern verwalteten Militärstaat machte, und der Abscheu, weil er dafür kalther-zig eine Million Tote und die Verhee-rung seines Landes in Kauf nahm.

Einen neuen Zugang sucht die renom-mierte Historikerin Ute Frevert: Als Vertreterin der «emotionalen Wende» in der Kulturwissenschaft fragt sie nach der «Gefühlspolitik» Friedrich des Gros sen. Damit meint sie nicht etwa die wahren Gefühle des Königs, die schlicht nicht zu ergründen seien. Vielmehr geht es ihr um Gefühle als Werkzeuge des po-litischen Handelns, wie sie in der Politik längst selbstverständlich sind, man

denke etwa an den Kniefall Willy Brandts im Warschauer Ghetto. Es geht darum, wie der König Gefühle einsetzte, in Propaganda, Rhetorik und Selbstdar-stellung, um die Zustimmung, ja gar die Liebe seiner Untertanen zu wecken. Denn just dies hatte der junge Kron-prinz in seinem berühmten Traktat vom «Antimacchiavell» verlangt: dass ein Fürst als «erster Diener seines Staates» nicht Furcht, sondern Liebe wecke in seinen Untertanen und «Herr über die Herzen» werde.

Gelang es Friedrich in seinen 46 Re-gierungsjahren Herr der Herzen zu sein? Ute Frevert vermag die Frage nicht wirklich zu beantworten. Zwar zog der König alle richtigen Register: Er warf sich persönlich ins Schlachtgetümmel, er trauerte am Grabe seiner Soldaten und Generale. Er ermunterte Bitt- und Klageschriften, die er selbst kaum las, demonstrierte Frömmigkeit, die er si-

cherlich nicht empfand, und nahm, trotz seiner Abneigung gegen das Zeremoni-ell, die althergebrachten Huldigungen entgegen. Ein eigenes Kapitel widmet Frevert dem huldvollen Lüpfen des Hutes, das der berittene König zu prak-tizieren pflegte: Gegen 200 Mal, berich-tet ein Augenzeuge, habe er es auf einem einzigen Ritt durch Berlin getan. Doch um Liebe zum Volk ging es bei alledem kaum: Zu selbstverständlich, zu unüber-windlich war die Distanz eines Monar-chen zu seinen Untertanen.

Keine echte ZuneigungNoch unklarer bleibt der Unterschied zwischen echtem Gefühl und handfes-tem Interesse auf Seiten dieser Unterta-nen. Zwar sangen die Soldaten auf ihren langen Märschen unaufhörlich Kirchen- und Königslieder, zwar zirkulierten Kö-nigsoden und Devotionalien aller Art, doch auch sie beweisen kaum echte Zu-neigung. Zudem bot Friedrich weder Mätressen und Skandale noch eine eige-ne königliche Familie, an der sich die Neugierde der Untertanen hätte «ab- arbeiten» können. Und selbst wenn ihn die Zeitgenossen als «Mensch», als mit-fühlenden und empfindsamen König an-riefen, sieht die Historikerin hierin vor allem eine Projektion von Wünschen. Insgesamt lässt die offenbar nicht zu be-antwortende Frage den Titel ihres Bu-ches trotz dem interessanten Material etwas gar theoretisch bleiben.

Einen Zugang ganz anderer Art bietet ein schmales Bändchen des Berliner Historikers Johannes Bronisch. Hier geht es um eine Episode im Jahr 1736, als Kronprinz Friedrich 24 Jahre alt war und das Schloss Rheinsberg bezog, wo er sich vier Jahre lang seiner Bildung, der Musik und dem Tischgespräch mit geistreichen Freunden widmen wird. Der in sächsischen Diensten ergraute Diplomat Ernst Christoph von Manteuf-fel buhlt, wie viele andere, um die Gunst des Thronfolgers. Mit Hilfe der gut christlichen Lehren des deutschen Auf-klärers Christian Wolff will er ihn zum wahrhaft aufgeklärten Herrscher bilden. Er wird seine Sache schnell und gründ-lich verlieren – an den atheistischen Spötter Voltaire nämlich.

Wie sich die Frage nach der Unsterb-lichkeit der Seele mit politischen Intri-gen und einem rätselhaften Pseudonym verbindet, wie gegensätzliche Strömun-gen der Aufklärung mit Machtinteres-sen zusammenspielen, insbesondere mit jenen eines französischen Gesandten, der mit 100 000 (!) Flaschen französi-schen Weins und Voltaires Schriften in Berlin eintrifft, wie schliesslich Fried-rich auf den weltberühmten Namen «Sanssouci» kam – all dies wird hier, reich mit Quellen unterfüttert, erzählt wie ein Krimi. Anspruchsvoll in seiner Dichte, ist das Buch doch immer klar formuliert und zudem wunderschön il-lustriert. Wie es uns durch den Seh-schlitz einer kleinen Nebenepisode tief in die unendliche Vielfalt der histori-schen Landschaft des 18. Jahrhunderts blicken lässt – das ist meisterhafte Ge-schichtsschreibung. l

Friedrich der Grosse spielte auch Flöte. Hauskonzert in Sanssouci. Ölbild von Adolph Friedrich Menzel, 1850–52.

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Sachbuch

18 NZZ am Sonntag 29. Januar 2012

Manfred Geier: Aufklärung – Das europäische Projekt. Rowohlt,Reinbek 2012. 352 Seiten, Fr. 35.50.

Von Katja Gentinetta

Der Sprach- und Literaturwissenschaf-ter Manfred Geier legt eine umfangrei-che und wohldokumentierte Geschichte der Aufklärung vor. Mit der Charakteri-sierung der Aufklärung als «europäi-sches Projekt» fragt er gleich zu Beginn: Ist die Aufklärung abgeschlossen? Und: ist sie universell? Der Ausflug in die Ge-schichte lohnt sich.

Anhand der zentralen Figuren John Locke und dem Third Earl of Shaftesbu-ry (Anthony Ashley Cooper war ein Phi-losoph des frühen 18. Jahrhunderts), Voltaire und Jean-Jacques Rousseau, Moses Mendelssohn, Olympe de Gouges, Wilhelm von Humboldt und na-türlich Immanuel Kant, zeichnet der Autor die philosophische Dynamik des 18. Jahrhunderts nach und füllt die Auf-klärung mit Leben.

Die Geschichte beginnt in England, und sie beginnt mit einem Abenteuer: mit Lockes umfangreichen Schriften, die er bei seiner Rückkehr aus dem hol-ländischen Exil nach England verpackt und verschifft hatte – ohne freilich eine Kopie derselben zu haben. Die Texte kamen heil an, und mit seinem Plädoyer für «life, liberty and estate» – der These, dass sich die Menschen «zum gegensei-tigen Schutz ihres Lebens, ihrer Freihei-ten und ihres Vermögens» zusammen-geschlossen hätten – wird Locke zum Philosophen der «Glorious Revoluti-on», jenes friedlichen Übergangs zur konstitutionellen Monarchie.

Unter Einsatz des LebensÜberhaupt ruft das Buch von Manfred Geier in Erinnerung, dass die Gedanken der Aufklärung nicht einfach in häusli-cher Abgeschiedenheit entwickelt wur-den, um dann ihren natürlichen und un-gehinderten Weg an die Öffentlichkeit zu finden. Im Gegenteil: Unter teilwei-sem Einsatz ihres Lebens entschlossen sich die Aufklärer, ihre provozierenden Erkenntnisse zu publizieren. So flüchtet Locke 1683 ins holländische Exil, um seine «Discourses Concerning Govern-ment» fertig zu stellen. Voltaires «Lett-res philosophiques», ein Loblied auf die politische, wirtschaftliche und geistige

Freiheit Englands, werden 1734 in Frank-reich verurteilt, und gegen ihn ergeht ein Haftbefehl. Diderots «Pensées phi-losophiques» werden verbrannt, er selbst 1749 ins Gefängnis von Vincennes gesteckt. Weil er seine Autorschaft ge-steht, und weil die Verleger der Enzyk-lopädie intervenieren, werden ihm schliesslich Schriftverkehr und Besuche doch erlaubt.

Die «Encyclopédie» wird später nicht nur in Frankreich verboten, sondern auch vom Papst auf den Index gesetzt; katholischen Besitzern droht die Ex-kommunikation. Die Einschätzung die-ses 28 Bände umfassenden, in 25 Jahren von mehreren hundert Autoren verfass-ten Werks durch die Obrigkeit hätte un-missverständlicher nicht sein können: «Die Vorteile eines solchen Werks für Künste und Wissenschaften können den irreparablen Schaden für Glauben und Sittlichkeit niemals aufwiegen.»

Gleichberechtigung für alleWelche Rolle der Glaube und die Religi-onszugehörigkeit – immerhin 150 Jahre nach der Reformation – noch spielten, beschreibt Manfred Geier anhand des Schicksals von Moses Mendelssohn. Dieser Unternehmer und Philosoph, der in Berlin vom «sans papier» zum ange-sehenen Bürger aufstieg, musste sich, aufgefordert vom Zürcher Theologen Johann Caspar Lavater, öffentlich zu sei-nem Judentum bekennen, ohne freilich das Christentum angreifen zu dürfen. Lavaters Fehdehandschuh war nichts weniger als die Rückkehr hinter die von John Locke postulierte Gewissensfrei-heit in Glaubensangelegenheiten. Für diesen war zwar eine Moral ohne Gott nicht vorstellbar, wohl aber eine ohne kirchliche Unterweisung, womit er die Autorität der Institution Kirche unter-grub.

Dass die Gedankenfreiheit auch für Frauen galt, war beileibe keine Selbst-verständlichkeit. So liessen die Enzyklo-pädisten keine Frauen als Autoren zu, und für Rousseau war, wie für Sophie in seinem Roman «Emile», jede Frau «dazu geschaffen, zu gefallen und sich zu un-terwerfen». Geier illustriert diese un-gleiche Aufklärung mit einem «Requi-em auf eine mutige Frau», nämlich Olympe de Gouges, die 1793 in Paris guillotiniert wurde. Nur Kant hegte diesbezüglich keine Zweifel: Selbst wenn er die Frauen dem «schönen Ge-

schlecht» zuordnete und die Männer dem «erhabenen»: Er ging von der Gleichberechtigung der Geschlechter aus. Den Schritt in die Mündigkeit sah er genauso für das «ganze schöne Ge-schlecht».

Dem grossen Aufklärer Kant nähert sich Geier aus der Gegenwart, genauer, dem 11. September 2001 und der folgen-den Auseinandersetzung, die sich um die Frage drehte, ob die europäische Aufklärung gescheitert sei. Jenseits des Atlantiks beschuldigte Robert Kagan die Europäer des falschen Glaubens an ein posthistorisches Paradies. Unter Bezug-nahme auf Kants kurze Abhandlung «Vom ewigen Frieden» hielten Derrida, Habermas und Sloterdijk dagegen. Ralph Dahrendorf und Timothy Garton Ash versuchten zu vermitteln, indem sie Kant von Rousseau abgrenzten. Ein wahrer Philosophenstreit, der noch wei-tere Kreise zog – und mit dem Geier zu-letzt illustriert, wie alltagsnah und not-wendig Philosophie sein kann.

Die Antwort auf die eingangs gestell-ten Fragen liefert das Buch explizit und implizit: Die historische Aufklärung war eine europäische; das Streben nach Mündigkeit aber ist universell und im-merwährend. Gerade heute wieder er-streckt sich der Ruf der Aufklärung über den Globus. Und er verlangt, wie da-mals, Klarheit und vor allem Mut. Katja Gentinetta ist Lehrbeauftragte der Hochschule St. Gallen und Gesprächsleiterin «Sternstunde Philosophie» am Schweizer Fernsehen.

Aufklärung Gedankenfreiheit und Mündigkeit sind nicht allein europäische, sondern universelle Werte

Locke, Voltaire, Kant und andere Provokateure

«Die Freiheit für das Volk»: Besucher vor dem bekannten Gemälde von Eugène Delacroix (1830) im Louvre in Paris.

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29. Januar 2012 NZZ am Sonntag 19

Peter Michael Keller: Cabaret Cornichon. Geschichte einer nationalen Bühne. Chronos, Zürich 2011. 428 Seiten, Fr. 78.–.

Von Urs Bitterli

Am 1. Mai 1934 fand im Hotel Hirschen im Zürcher Niederdorf die erste Vorfüh-rung des Cabaret Cornichon statt. Im Vorjahr hatten der Schweizer Walter Lesch und der Deutsche Otto Weissert den Entschluss gefasst, ein Kabarett ins Leben zu rufen. Man fand, wie dies spä-ter das Ensemble-Mitglied Max Werner Lenz euphemistisch formulierte, das Leben in der Schweiz sei «einfach zu süss» und «eine kleine, ätzende Gegen-säure» sei nötig, «um das glückvolle Da-sein in der Schweiz» nicht in den Him-mel wachsen zu lassen. Lesch übernahm die künstlerische und Weissert die ad-ministrative Leitung.

Das Cabaret Cornichon arbeitete viele Jahre sehr erfolgreich; man ging auf Tournee, trat an der Weltausstellung in Paris und an der Landesaustellung auf und spielte in Truppenunterkünften. Manche der Autoren und Schauspieler des Cornichon waren zusätzlich bei Presse, Radio oder Film tätig. Ensemble-Mitglieder wie Elsie Attenhofer, Hein-rich Gretler, Zarlie Carigiet und Emil Hegetschweiler wurden zu herausra-genden Repräsentanten der Schweizer Theatergeschichte.

Während siebzehn Jahren trat das Cornichon beinahe wöchentlich auf. Es verfolgte die politischen Entwicklungen im In- und Ausland, reagierte spontan auf Tagesereignisse und thematisierte die Ängste und Hoffnungen der Bevöl-kerung. In der Zeit des Kalten Krieges gelang es dem Cornichon nicht mehr,

sich publikumswirksam zu positionie-ren. Eines der letzten erfolgreichen Pro-gramme ging 1947 über die Bühne und stand, aktuell genug, unter dem Motto «Zwüschet Whisky und Wodka». Vier Jahre danach war Schluss.

Zur Geschichte des Cabaret Corni-chon liegt seit kurzem eine sorgfältig erarbeitete, gut lesbare Dissertation vor. Der Verfasser, Peter Michael Keller, sah sich mit einer äusserst komplexen Quel-lenlage konfrontiert. Die Nummerntex-te liegen in der Regel nicht gedruckt vor; die Tondokumente sind lückenhaft und Filmaufnahmen fehlen ganz. Keller musste in zahlreichen privaten Nachläs-sen und Archiven nach den Textgrund-

lagen der Nummern suchen, diese den einzelnen Programmen zuordnen und in eine plausible chronologische Ordnung bringen.

In der kollektiven Erinnerung er-scheint das Cabaret Cornichon als Inbe-griff des intellektuellen Widerstandes gegen Nationalsozialismus und Faschis-mus. Mitglieder des Ensembles beton-ten diesen Aspekt in ihren Erinnerun-gen, und Historiker übernahmen diese Sicht, die zwar nicht falsch ist, der The-menvielfalt der Cornichon-Programme aber zu wenig Rechnung trägt. Es ist das grosse Verdienst von Kellers Darstel-lung, dass sie das Cornichon als Spiegel gesellschaftlicher Verhältnisse und als Ausdruck der mentalen Verfassung un-seres Landes begreift. Die Geistige Lan-desverteidigung, zu der sich das Corni-chon bekannte, war ja nicht nur, wie zu-weilen in polemischer Verkürzung be-hauptet wird, eine Art Anti-Ideologie zum Nationalsozialismus. Das Corni-chon verstand sich auch nicht als Pro-paganda-Instrument; aber es ermöglich-te in schwieriger Zeit eine nationale Selbstdarstellung, in der Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung sich nuan-cenreich verbanden. Der Verfasser führt zahlreiche Nummerntexte in vollem Wortlaut vor, kommentiert sie kenntnis-reich und fügt vorzügliche Szenenfotos bei. Das Cornichon hat keinen Tuchols-ky oder Kästner hervorgebracht; aber manche Verse haben ihre Frische und ihren Biss nicht verloren.

Kellers Buch darf als die abschlies-sende Darstellung zu diesem Thema be-zeichnet werden; es stellt einen gewich-tigen Beitrag zur Geistesgeschichte un-seres Landes dar. Urs Bitterli ist emeritierter Professor für neuere Geschichte der Universität Zürich.

Theater Die Programme des Cabaret Cornichon liefern einen Spiegel der gesellschaftlichen Verhältnisse in der Schweiz von 1934 bis 1951

Das ätzende Gegengift

Bernd Brunner: Der Mond. Die Geschichte einer Faszination. Antje Kunstmann, München 2011.320 Seiten, Fr. 28.50.

Von Thomas Köster

Im späten 16. Jahrhundert formulierte der italienische Naturforscher und Dra-matiker Giambattista della Porta den Gedanken vom Mond als Informations-Bildschirm. «Ein Parabolspiegel grosser Brennweite sollte Buchstaben auf die Oberfläche projizieren, die dann von den Menschen auf der Erde zu lesen ge-wesen wären», beschreibt Bernd Brun-ner die Idee. Auch wenn aus dieser Visi-on bekanntlich nichts wurde, umreisst sie bildhaft das, was das Buch Brunners

liefert: Zeigt es doch eindringlich auf, wie stark die Menschheit ihre Wünsche, Sehnsüchte und Ängste seit jeher über die Kulturgrenzen hinweg auf die un-wirtliche Kugel zu projizieren wusste.

Überaus kenntnisreich und anschau-lich erzählt Brunner von der Entstehung und physischen Beschaffenheit des Mondes, und von der Geschichte unse-rer Mondwahrnehmung. Dabei wird of-fenbar, wie sehr die Betrachtung des Erdtrabanten unsere Gedankenwelt be-einflusst hat – und wie stark sich die Bil-der von ihm in Malerei, Dichtung, Reli-gion, Philosophie, Trivial- und Hochkul-tur durch technische Innovationen wie das Fernrohr gewandelt haben – oder eben durch die Raumfahrt, die nicht nur erstmals die dunkle Seite des Mondes beleuchtete, sondern durch den Blick

vom Mond auf die Erde auch unsere Vorstellung vom blauen Planeten präg-te. Dass das Bild, das der Autor dabei präsentiert, bei der Fülle an histori-schem Material von eigenen Vorlieben geprägt ist, tut dem positiven Gesamt-eindruck dabei keinen Abbruch.

«Ohne unseren Mond wäre die Erde ein völlig anderer Ort», schreibt Brun-ner gleich zu Beginn seines Buchs: Zu Ebbe und Flut leistet er ebenso seinen Beitrag wie zum Wechsel der Jahreszei-ten oder zu einem moderaten Klima, ohne das das Leben in seiner jetzigen Form wohl gar nicht entstanden wäre. Wie lebendig und vielfältig der Mond nicht nur unser Leben, sondern auch unser Denken beeinflusst hat, wird man als Leser am Ende der Lektüre mit Si-cherheit besser begreifen.

Astronomie Der blaue Planet hat die Gedankenwelt der Erdbewohner schon immer beeinflusst

Mensch und Mond

«Zwüschet Whisky und Wodka» (1947): Programm des Cabaret Cornichon.

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Sachbuch

20 NZZ am Sonntag 29. Januar 2012

Johannes B. Kunz: Der letzte Souverän und das Ende der Freiheit. Internationale Politik und bürgerliche Rechte.NZZ Libro, Zürich 2012. 400 Seiten,Fr. 58.–.

Von Paul Widmer

Johannes B. Kunz hat ein gescheites und mutiges Buch geschrieben. Gescheit, weil er mit einem beeindruckenden Wissen und viel Scharfsinn die These verteidigt, dass Souveränität die Freiheit und das Wohlbefinden eines Volkes auch im Zeitalter der Globalisierung er-höht. Derlei liegt zurzeit nicht im Main-stream. Vielmehr vernimmt man täg-lich, jeder Staat müsse Souveränität ab-geben, um sich in einer globalisierten Welt richtig zu positionieren. Ob das auch stimmt, wird kaum hinterfragt.

Kunz bürstet gegen den Strich. Es be-reitet ihm offensichtlich Vergnügen, die landläufige Meinung in ihrer konventio-nellen Bequemlichkeit als falsch zu ent-larven. Das gilt derzeit als politisch un-korrekt. Man will nicht wissen, wie die einzelnen Akteure der sogenannten in-ternationalen Gemeinschaft oft zusam-menspannen, um die Souveränität von Staaten und die Freiheit der Bürger zu beschränken.

Unter anderem zeigt er am Beispiel des, wie er es nennt, «humanitär-inter-ventionistischen Komplexes», wie frag-würdig gerade auch humanitäre Inter-ventionen, die in bester Absicht einge-leitet werden, enden können. Nicht sel-ten erreichen sie das Gegenteil von dem, was sie bezwecken. Oft ist die Lage nach

einer Intervention desolater als vorher. Man denke an Somalia, Afghanistan oder den Irak.

Der Autor sieht die Souveränität, wie sie sich seit dem Westfälischen Frieden (1648) durchgesetzt hat, von vielen Sei-ten her gefährdet: vom Uno-Sicherheits-rat, von einer extensiven Auslegung der Menschenrechte, von internationalen Organisationen, die ihre eigenen Inter-essen verfolgen, und natürlich auch von einer EU, die ihre Kompetenzen ständig zu erweitern versucht und allmählich Formen eines mittelalterlichen Reiches annimmt. Diese Entwicklung wird kräf-tig von einer international gut vernetz-ten politischen Elite gefördert. Im Allge-meinen verneint Kunz die Existenzbe-rechtigung von internationalen Institu-

tionen nicht, aber er kritisiert deren Auswuchern. Damit sich die internatio-nalen Organisationen wieder auf das Wesentliche beschränken, gibt es seiner Meinung nach nur einen Weg: ihnen die finanziellen Mittel kürzen.

Kunz verfügt über ein stupendes Wis-sen. Das breitet er grosszügig aus. Es reicht von afrikanischen Stammes-gesellschaften über die chinesische Kul-tur bis zu Machiavelli, von begriffsge-schichtlichen Erörterungen bis zu eth-nografischen Exkursen. Die Vorteile des Buches sind freilich auch dessen Nach-teile. Mit seinen Vergleichen will er hieb- und stichfest eine an sich schlichte These beweisen, nämlich dass ohne staatliche Souveränität nirgends auf der Welt Freiheit, Recht und Wohlstand auf die Dauer gedeihen können. Vielleicht hätte er seine These wirkungsvoller mit einem konzisen Essay von weniger als hundert Seiten verfochten.

Dennoch: In einer Zeit, in der die In-ternationalisierung ständig als Wert an sich angepriesen wird, tut es gut, wenn jemand mit neuem Elan an den Sinn von staatlicher Souveränität erinnert. Selbst wenn einige Gedankengänge des Autors diskussionswürdig sind wie etwa sein Begriff von Souveränität, den er mit le-gitimer Herrschaft gleichsetzt, ist es verdienstvoll, neue subkutane Macht-strukturen aufzuzeigen – dies umso mehr als das Buch von einem Schweizer Diplomaten stammt, also von jeman-dem, der sich selbst in den kritisierten Sphären bewegt. Kunz ist Berater bei der Uno-Mission in New York. Paul Widmer ist Autor von «Schweizer Aussenpolitik und Diplomatie» (2003).

Globalisierung Botschafter Johannes B. Kunz warnt vor Verlust der Souveränität

Schweizer Uno-Diplomat rechnet mit internationaler Gemeinschaft ab

Amy Stewart: Gemeine Gewächse. Radierungen von Briony Morrow-Cribbs. Berliner Taschenbuch,Berlin 2011. 299 Seiten, Fr. 18.90.

Von André Behr

Ohne Chemie wären weder das Leben, noch die Materialen und technischen Geräte denkbar, die uns den Alltag er-leichtern. Dennoch hat die Chemie einen schlechten Ruf, weil «chemisch» mit «künstlich» und oft auch «giftig» assoziiert wird. Dabei wird vergessen, dass die für den Menschen gefährlichs-ten Stoffe von der Natur synthetisiert werden. Zum Beispiel von Quallen, oder in stattlicher Anzahl auch von Pflanzen.

Aus Krimis bestens bekannt ist etwa das Strychnin, das aus dem Samen des

zu den Brechnussgewächsen zählenden Strychninbaums stammt. Der in ganz Europa und den USA verbreitete Was-serschierling wiederum produziert in seinen lecker süsslich schmeckenden Wurzeln Cicutoxin, das bereits in gerin-gen Mengen ein Kind töten kann. Selbst Gras ist nicht immer harmlos, wie Amy Stewart in ihrem Buch über «gemeine Gewächse» am Fall des japanischen Blutgrases zeigt, dessen Blätter gefähr-lich wie eine Säge sind und das leicht entflammbar ist, damit es sich durch Ab-brennen der Konkurrenten einen Stand-ortvorteil verschaffen kann.

In über 60 Kapiteln, bebildert mit fili-granen Radierungen, erzählt die in Kali-fornien lebende Autorin Geschichten über Pflanzen, die morden, verstüm-meln, berauschen oder uns anderweitig ärgern können. Dabei verwebt sie ge-

schickt botanisches Wissen mit Kultur-geschichte, Symptombeschreibungen oder Garten- und Verhaltenstipps.

Auf der Reise quer durch alle Konti-nente erfährt man so einiges über Pfeil-gifte oder Drogen, aber auch über un-schöne Eigenschaften schöner Topf-pflanzen in der eigenen Stube. Haben Sie etwa gewusst, dass Giftzentralen in den USA 2006 über 1600 Anrufe wegen Philodendronvergiftungen entgegen-nehmen mussten? Oder der Oleander zu den Hundsgiftgewächsen gehört?

Stewart, die auch Wanderausstellun-gen organisiert und viele Vorträge hält, kostet rund um die «gemeinen» Strate-gien von Pflanzen mögliche Horror-szenarien so genüsslich aus, dass nach der Lektüre kein empfindsamer Leser mehr unbedarft durch Wälder, Wiesen, Gärten oder Wohnungen streift.

Botanik Pflanzen sind nicht immer harmlos. Sie können auch morden und verstümmeln

Von Blumen, die töten

Johannes B. Kunz setzt ein Fragezeichen hinter humanitäre Interventionen: Uno-Truppen in Abidjan, Januar 2011.

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29. Januar 2012 NZZ am Sonntag 21

Wolfgang Ruge: Gelobtes Land. Meine Jahre in Stalins Sowjetunion. Rowohlt, Reinbek 2012. 489 Seiten, Fr. 35.50.

Von Urs Rauber

Letzten Herbst erhielt Eugen Ruge für seinen Roman «In Zeiten des abneh-menden Lichts» den Deutschen Buch-preis. Der 57-jährige Dokumentarfilmer und Drehbuchautor legte eine autobio-grafisch geprägte Familiensaga vor, die in der DDR, Mexiko und der Sowjet-union spielt. «Das Buch erzählt von der Utopie des Sozialismus, dem Preis, den sie dem Einzelnen abverlangt, und ihrem allmählichen Verlöschen», begründete die Jury ihren Entscheid.

Den gleichen Satz könnte man den Memoiren von Ruges Vater, des späte-ren DDR-Historikers Wolfgang Ruge (1917–2006), voranstellen, die zwischen 1984 und 1999 entstanden und 2003 in einer unzulänglichen Fassung (Ruge litt damals an beginnender Demenz) publi-ziert wurden. Sohn Eugen entschloss sich deshalb zu einer gründlichen Über-arbeitung, die er mit seinem Nachwort versehen jetzt neu herausgibt. Wolfgang Ruge wurde von seinen Eltern kommu-nistisch erzogen, wanderte als 16-Jähri-ger mit seinem zwei Jahre älteren Bru-der Walter im Sommer 1933 von Berlin nach Russland aus. Im «gelobten Land», erhielt er eine Ausbildung als Zeichner, wurde freischaffender Kartograf an der Universität Moskau und erwarb die so-wjetische Staatsbürgerschaft.

Vom Paradies in den GulagMit Begeisterung stürzte sich der Jung-kommunist in die Entdeckung der neuen Welt. Er verspürte «ein unbeschreibli-ches Gefühl – wie es ein religiöser Mensch beim Anblick der Jungfrau Maria empfinden mag». Walter Ruge zeichnet Personen und Milieu atmo-sphärisch dicht, teilweise fast poetisch. Lenins Witwe Nadeshda Krupskaja, die ihm eine Lehrstelle vermittelte, be-schreibt er als «steinalte und unendlich müde» Frau, die einwandfrei Deutsch gesprochen habe. In Moskau begegnete Ruge der späteren DDR-Elite um Walter Ulbricht, Johannes R. Becher, Markus Wolf und anderen.

Bald wich die Hoffnung jedoch der Ernüchterung und dem Erschrecken: über die Armut, das Elend, die allmäch-tige Partei und das Spitzelwesen. Ruge erlebte die Jahre des politischen Terrors ab 1936. Lähmendes Entsetzen packte ihn, als er zuhause auf die Geheim-dienst-Agenten wartete, die Nacht für Nacht irgendwo Leute abholten. Nach dem deutschen Angriff auf die Sowjet-union 1941 traf es auch ihn: Der «deut-sche Spion» wurde in die kasachische Steppe nach Karaganda deportiert. Spä-ter landete er mit anderen deutschen

«Arbeitsmobilisierten» in einem Lager bei Soswa im Nordural.

Präzise und anschaulich zeichnet der deutsche Häftling den Alltag im Gulag, die Lagerhierarchie, die Brutalität des Wachpersonals, aber auch von kriminel-len Elementen unter den Häftlingen. Be-sonders ausgeprägt empfand er den Hass der im gleichen Lager einsitzenden Kulaken (Mittel- und Grossbauern), die ihr Essen nicht mit den «Fritzen», den Deutschen, teilen wollten. Erfüllten die Gefangenen das Plansoll nicht, wurde ihnen die ohnehin kärgliche Brotration gekürzt. Nässe, Schnee und Kälte waren ständige Begleiter. Immer wieder star-ben Leute an Krankheit und Entkräf-tung, auch der Autor war mehr als ein-mal kurz vor dem Ende.

Traumatische ErfahrungIm Lager arbeitete Ruge als Holzfäller, Bastschuhflechter und Gleisbauer; als es ihm besser ging, als Barackenwart, Sau-na-Heizer, Pilzsucher und Zeichner. Nach Kriegsende im Januar 1946 wurde die Lagerhaft in Verbannung umgewan-delt: auf dem Papier erhielten die Häft-linge alle Rechte zurück, durften aber den Ort nicht verlassen. Auf die 4½ Jahre Gulag folgten über 10 Jahre Ver-bannung, bis Ruge 1956 nach Chrusch-tschows Geheimrede frei kam und mit seiner dritten russischen Frau in die DDR ausreisen konnte.

Ruges umfangreicher Erlebnisbericht ist ein Zeugnis von ungewöhnlicher

Qualität. Packend sind nicht nur die Schilderungen des Augenzeugen, der seine traumatischen Erfahrungen jahr-zehntelang mit sich trug, bevor er sie mit einem verblüffenden Erinnerungs-vermögen niederschrieb. Ruge porträ-tiert Dutzende von Mithäftlingen, auch Wärter und Vorgesetzte, die im umfang-reichen Personenregister namentlich aufgeführt sind, und setzt ihnen so ein Denkmal. Er gibt seinen Gefühlen aller-dings mehr Raum als seiner politischen Desillusionierung. Grossartig sind die Passagen, in denen aufkeimende Hoff-nungen sichtbar werden. Als am 4. März 1953 die Nachricht von Stalins Tod durchsickerte, riefen sich die Leute ver-schwörerisch «SSSR» zu. Was diesmal nicht die russische Abkürzung für Union der Sozialistischen Sowjetrepub-liken bedeutete, sondern: «Smert Stalina spasjot Rossiju» – Stalins Tod rettet Russland!

Für Eugen Ruge ist es bis heute ein Rätsel, warum sein Vater die traumati-schen Erfahrungen zu DDR-Zeiten nicht öffentlich machen wollte. Es brauchte offenbar den Mauerfall, damit der «ver-letzbare und verletzte Mensch» die vor den Angehörigen verheimlichten Auf-zeichnungen 1998 wieder hervor holte. Abgesehen vom literarischen Rang darf man Wolfgang Ruges Gulag-Report wohl mit Solschenizyns Roman «Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch» (1962) und Schalamows «Erzählungen aus Kolyma» (1971) vergleichen.

Stalinismus Erst Jahrzehnte nach seinem Aufenthalt im Gulag hat DDR-Historiker Wolfgang Ruge seine Erinnerungen niedergeschrieben. Nun gibt sein Sohn die Memoiren neu heraus

Ein deutscher Iwan Denissowitsch

Wolfgang Ruge (Mitte, Zweiter von rechts) verbrachte fast fünf Jahre im Gulag und zehn Jahre in der Verbannung im Ural (Foto Frühjahr 1951).

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Sachbuch

22 NZZ am Sonntag 29. Januar 2012

Egon Bahr, Peter Ensikat: Gedächtnis-lücken. Zwei Deutsche erinnern sich. Aufbau, Berlin 2012. 204 Seiten, Fr. 24.50.

Von Gerd Kolbe

Es ist wie eine Modeerscheinung über die Verlagsbranche, Abteilung Sach-buch, gekommen und ökonomisch obendrein. Zwei setzen sich in ein Stu-dio, plaudern über dies und das, und fer-tig ist das Buch. Doch Egon Bahr, der geistige Vater und Stratege der Ost- und Deutschland-Politik Willy Brandts, und der – um im Sprachgebrauch der Zeit zu bleiben, von der die Rede ist – Autor und Chef des Ostberliner Kabaretts «Die Distel», Peter Ensikat, machen die er-wähnenswerte Ausnahme. Im Dialog lassen sie 50 Jahre Nachkriegspolitik Revue passieren. Es wird nie langweilig. Der Leser erfährt, wo Westdeutsche und Ostdeutsche einer Meinung sind oder auch nicht.

Da ist zum Beispiel das bis auf den heutigen Tag umstrittene Kapitel der Aufarbeitung der Stasi-Akten, also der über Karrieren und Lebensläufe ent-scheidenden Dossiers des DDR-Ge-heimdienstes. Ensikat hält die Öffnung der Stasi-Akten im Grunde für richtig; schliesslich waren es die DDR-Bürger-

rechtler, welche die Einrichtung einer eigens dafür geschaffenen Behörde noch vor der Wiedervereinigung durchsetz-ten. Bahr, der Mann aus dem Westen, hält es ausnahmsweise mit Helmut Kohl. Hätte der Altkanzler gewusst, was mit den Akten geschieht, hätte er dazu gera-ten, alles zu verbrennen, zu vergraben und in den Keller zu stecken. Ensikat be-zweifelt heute, dass die Aktenöffnung der Geschichtsaufarbeitung dient. Es geschehe dies doch nur «aus rein tages-politischen Interessen». Bahr wird über-deutlich. Er nennt es eine Schweinerei, «wenn die Menschen aus dem Osten härter und unnachsichtiger behandelt werden als die Nazis».

Das Buch gewährt dank Bahr bislang nur unzulänglich bekannte Einblicke in die Verhandlungen, die zur Entspan-nung zwischen Ost und West führten. Nie wäre das Berliner Vier-Mächte-Ab-kommen zustande gekommen, hätte es zwischen Bonn und Moskau nicht nach amerikanischem Muster einen «Back-Channel» gegeben. Der stellvertretende Chefredakteur der «Literaturnaja Ga-seta» und ein KGB-General führten im Auftrag des damaligen Moskauer Partei-chefs Juri Andropow Gespräche am offi-ziellen Apparat vorbei. Der damalige Sowjet-Botschafter in der DDR, Abras-simow, war ahnungslos. Franzosen und

Briten durften die Ergebnisse abnicken. Es verhandelten der Amerikaner Ken Rush, Bahr und der Russe Valentin Falin.

Es war dies bei weitem nicht der ein-zige Fall, in dem nach aussen der Schein gewahrt wurde. Jedermann dachte, als John F. Kennedy 1963 nach Berlin kam und im Schöneberger Rathaus mit Ade-nauer und Brandt zusammentraf, jetzt werde Weltpolitik gemacht. Bahr er-zählt, wie es wirklich war. Kennedy me-morierte mit seinem Dolmetscher einen seiner berühmtesten Sätze, der da lau-tet: «Ich bin ein Berliner.» Adenauer las – wer hätte das gedacht – das SED-Zent-ralorgan «Neues Deutschland».

Auch sonst mangelt es nicht an Anek-dotischem. Ensikat berichtet, wie die Zensur der Kabaretts in Berlin, Leipzig und Dresden funktionierte. Eine institu-tionelle Zensur gab es nicht. Wohl aber reichte der Einspruch eines hohen Funk-tionärs, um ein Programm abzusetzen. Und das Komischste war, dass die Kaba-retts in der DDR vom Staat finanziert wurden. Auch nach Verboten wurden die Akteure – Ensikat nennt sie «Satire-beamte» – weiter bezahlt. Wie noch in jeder Diktatur ersetzten Witze das offe-ne Wort. Zum Beispiel dieser: «Der Ka-pitalismus steht am Abgrund, der Sozia-lismus ist schon einen Schritt weiter.» Viel Spass bei der Lektüre.

Nachkriegsgeschichte Ein Politiker und ein Kabarettist enthüllen unbekannte Fakten

Wie der West-Ost-Dialog wirklich war

Ian Kershaw: Das Ende. Kampf bis in den Untergang. NS-Deutschland 1944/45. DVA, München 2011. 702 Seiten,Fr. 40.90.

Von Markus Schär

Es war «ein Ende mit Schrecken, wie es die Geschichte noch nie gesehen hatte», schreibt Ian Kershaw: «Das Ausmass, in dem sich Deutschland in den letzten Monaten des Dritten Reichs in ein riesi-ges Leichenhaus verwandelt hat, lässt sich kaum vorstellen.» Die Deutschen kämpften, bis sich Adolf Hitler am 30. April 1945 erschoss. Sie folgten ihm scheinbar willig in den Untergang, wag-ten keinen Aufstand, quälten weiter Juden und Zwangsarbeiter und brachten um, wer an Kapitulation dachte. Warum?

Ein wissenschaftliches Werk, das die Mentalitäten im letzten Kriegsjahr un-tersuche, sei ihm zu seiner Verwunde-rung nicht eingefallen, stellt Kershaw fest. Der emeritierte Professor der Uni-versität Sheffield, der mit seinen ge-wichtigen Arbeiten zur Historiografie des NS-Staates (1985) und zu Hitler (1998/2000) zu den führenden Experten für das Dritte Reich zählt, verfasste des-halb selber «eine integrierte Geschichte einer Desintegration». Mit dem Zusam-

menfassen von zahllosen Detailstudien und dem Auswerten von Briefen, Tage-büchern und Spitzelberichten bis hin zu Abhörprotokollen von Wehrmachtsoffi-zieren in britischer Kriegsgefangen-schaft wollte er die Fragen beantworten: Warum wurden Hitlers selbstzerstöreri-sche Befehle immer noch befolgt? Wel-che Herrschaftsmechanismen befähig-ten ihn dazu, das Schicksal Deutsch-lands zu bestimmen, wenn es für jeden offenkundig war, dass der Krieg verlo-ren war und das Land jetzt ganz und gar verwüstet wurde?

Die Darstellung setzt am 20. Juli 1944 ein, als die Verschwörer um Graf von Stauffenberg mit ihrem Bombenan-schlag auf Hitler scheiterten. Dass der Führer das Attentat schicksalhaft über-lebte, stärkte seine Herrschaft wieder, führte zur Mobilisierung des leidenden Volkes und stachelte die Nazis zu ver-schärftem Terror an. «Wer mir von Frie-den ohne Sieg spricht, verliert seinen Kopf», drohte Hitler. Danach fährt Kershaw getreu der Chronologie fort bis am 8. Mai 1945, als Grossadmiral Karl Dönitz, der vom Führer eingesetzte Nachfolger, die Kapitulation unter-schrieb. Er erzählt von der Ardennen-offensive im Dezember 1944, die noch-mals Hoffnung aufkeimen liess, vom Vorrücken der Roten Armee im Osten,

von den Flüchtlingsströmen und den Todesmärschen der KZ-Häftlinge wie in einer konventionellen Geschichte des Dritten Reiches über Dutzende von Sei-ten hinweg – über viel zu viele Seiten.

Dabei vergisst Kershaw sein Problem oder begnügt sich, wo er doch einmal auf seine Fragestellung zurückkommt, mit Relativierungen: «Allgemeine Aus-sagen über die Haltung von Soldaten zu treffen ist riskant.» Oder: «Derartige Mosaiksteine lassen sich nie zu einem vollständigen Bild zusammenfassen.» Die Fakten zu durchdringen und die Im-pressionen zu verdichten, also generelle Aussagen zu wagen, ist aber gerade die Aufgabe des problemorientiert arbei-tenden Historikers.

Eine Antwort gibt Kershaw erst im Schlusskapitel: Die «charismatische Herrschaft» von Hitler, der zuletzt in seinem Berliner Bunker hockte, führte für ihn dazu, dass die Wehrmacht bis zur Zerstörung des Dritten Reichs kämpfte und die Bevölkerung dem Führer in den Untergang folgte. Sein Buch beginnt Kershaw allerdings mit Jagdszenen aus dem bayerischen Ansbach, wo am 18. April 1945 ein Student, der mit Flug-blättern für die kampflose Übergabe des Barockstädtchens geworben hatte, am Strick endete. Ob der Terror der Nazis allein solche Gräuel erklärt?

Zweiter Weltkrieg Warum die Deutschen auch nicht aufgaben, als die Niederlage sicher war

Bis zum bitteren Ende

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29. Januar 2012 NZZ am Sonntag 23

Heiner Boehncke, Hans Sarkowicz: Grimmelshausen. Leben und Schreiben. Vom Musketier zum Weltautor. Eichborn, Frankfurt a. M. 2011.499 Seiten, Fr. 45.90.

Von Manfred Koch

1634, im siebzehnten Jahr des Dreissig-jährigen Kriegs, wird die lutherische Reichsstadt Gelnhausen von kaiserli-chen Truppen eingenommen und ge-plündert. Viele Einwohner fliehen in die nahegelegene protestantische Festung Hanau, unter ihnen auch ein Junge von zwölf, dreizehn Jahren: Hans Jacob Chris toffel von Grimmelshausen, Sprössling einer Bäcker- und Schank-wirtfamilie, der nach dem frühen Tod seines Vaters im Haus der Grosseltern aufgewachsen war.

«Wollustbarliches» WeltbuchMit der Verwüstung Gelnhausens ist seine kurze Schulzeit beendet, von nun an geht es für ihn nur noch um das Über-leben im Krieg. Hans Jacob wird 1635 von kroatischen Soldaten aus Hanau verschleppt, dann wieder von hessi-schen Truppen gefangengenommen. Nach mehrmaligem Seitenwechsel lan-det er schliesslich in kaiserlich-katholi-schen Diensten, wo er es vom einfachen Musketier zum Regimentsschreiber bringt. 1649, ein Jahr nach Kriegsende, heiratet er und verdient fortan den be-scheidenen Lebensunterhalt für seine vielköpfige Familie als Verwalter adliger Güter und Gastwirt. Zuletzt ist er «Schultheiss» im badischen Renchen, wo er erneut in Kriegswirren (ausgelöst durch die Feldzüge Ludwigs XIV.) gerät und 1676 stirbt.

Dieser Mann, der fast die Hälfte sei-nes Lebens an einen entsetzlichen Krieg verlor, nie eine akademische Ausbildung erhielt und später im Berufsalltag zeit-raubende administrative Arbeit zu leis-ten hatte, war gleichwohl ein ungemein produktiver Schriftsteller. Grimmels-hausen ist unbestritten der bedeutends-te Prosa-Autor der deutschen Barock-literatur, Schöpfer des einzigen Romans aus dieser Zeit, der auch heute noch un-mittelbar packen, begeistern, ja, in einen Leserausch versetzen kann: «Der Aben-teuerliche Simplicissimus Teutsch» von 1668 (datiert auf 1669).

Es handelt sich – barock gesprochen – um eine «historia voller safft» über das Leben eines gewissen Melchior Sternfels von Fuchshaim, der in Ich-Form von seinen Widerfahrnissen in Zeiten der Kriegspest erzählt. Ein derb lustiges, immer wieder auch erschre-

ckendes Panorama von Schlachten, Schlägereien, Sauf- und Fressgelagen, abgefeimten Betrügereien, Liebeshän-deln und – Momenten religiöser Besin-nung. Kurz: ein «wollustbarliches» sati-risches Weltbuch.

Wie Grimmelshausens umfangrei-ches Gesamtwerk zustande kam, ist ein Rätsel. Auch seine jüngsten Biografen verneigen sich am Ende «staunend» vor einem Mann, der, «was ihm an Zeit, Ruhe, vielleicht auch Arbeitsraum fehl-te, durch ein Übermass an Gaben, Eigen-schaften und Fertigkeiten wettgemacht haben muss». Geschrieben haben kann er nur in Kriegs- bzw. Arbeitspausen, vornehmlich nachts. Sein Held Simpli-cius zieht sich im letzten Buch des Ro-mans in eine stockfinstere Höhle zu-rück. Er erhellt sie mit Hilfe von «schwarzen Käfern», die wunderbarer-

weise einen Lichtstrahl versenden – vielleicht ein Reflex auf die Beleuch-tungskunst des Nachtpoeten.

Eine Grimmelshausen-Biografie zu verfassen, ist ein tapferes Unternehmen. Zum einen gibt es für seine Jugend- und frühen Mannesjahre keine erhaltenen Dokumente. Auch die kargen Angaben zur Gelnhausener Kindheit und seinen Schicksalen im Krieg sind deshalb durchgängig mit einem «vermutlich» oder bestenfalls «höchstwahrschein-lich» zu versehen. Zum andern hat Grimmelshausen, als er mit über 40 Jah-ren endlich zu publizieren begann, seine Autorschaft systematisch versteckt. Er war ein Liebhaber des Anagramms, ein leidenschaftlicher Buchstabenverdre-her, und so erwuchsen aus seinem Ei-gennamen all die «Samuel Greifnson von Hirschfeld», «German Schleifheim von Sulsfort», «Simon Leugfried von Hartenfels» usw., die als Verfasser sei-ner Bücher firmierten. Am Ende wusste niemand, wer eigentlich für den überaus erfolgreichen «Simplicissimus» verant-wortlich war; erst 1834 wurde Grim-melshausen von den Pionieren der Ger-manistik als Autor identifiziert. Am Literaturbetrieb des Barockzeitalters nahm der Aussenseiter nicht teil, des-halb fehlen auch aus diesem Bereich Do-kumente, die Aufschluss über seine Per-son geben könnten.

Fiktive AutobiografieWas bleibt den Biografen also anderes übrig, als sich an die Lebensgeschichte des Romanhelden zu halten, in die ge-wiss Erfahrungen seines Autors einge-gangen sind? Aber «Simplicius Simpli-cissimus» ist eben eine höchst fiktive Autobiografie: ein Schelmenroman, der – durchaus in christlicher Absicht – die Verderbtheit der Welt anprangert, zur Freude des Lesers aber die Laster und Torheiten der sündigen Menschen so opulent beschreibt und satirisch über-treibt, dass man ständig laut auflachen möchte.

Souverän meistern Boehncke und Sarkowicz die Gratwanderung, aus die-sem Feuerwerk an Witz und Fabulierlust die wenigen verlässlichen Daten heraus-zufiltern, die – im Verbund mit akribisch recherchiertem Archivmaterial zur Ge-schichte seiner Familie und seiner Wir-kungsstätten – immerhin die Umrisse eines biografischen Porträts ermögli-chen. Vor allem aber machen sie ver-ständlich, woher das komische Genie dieses Autors rührt. Seine Romane waren das «epische Rettungswerk» eines Kriegstraumatisierten, der sich angesichts der Gräuel seiner Zeit ins entlarvende Lachen flüchtete.

Literatur Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen (um 1622 bis 1676), Autor des Schelmenromans «Simplicissimus», in einer neuen Biografie

Angesichts der Kriegsgräuel flüchtete er sich ins Lachen

Saftige Geschichte: Titelblatt zu «Der Abenteuerliche Simplicissimus Teutsch», Kupferstich von 1669.

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Sachbuch

24 NZZ am Sonntag 29. Januar 2012

Michael Mann: Sahibs, Sklaven und Soldaten. Geschichte des Menschenhandels rund um den Indischen Ozean. Zabern, Darmstadt 2012. 254 Seiten, Fr. 40.90.

Von Geneviève Lüscher

Das erste Bild, das beim Wort «Sklave-rei» vor dem inneren Auge auftaucht, sind die im Schweisse ihres Angesichts schuftenden Schwarzen in den Zucker-rohr- oder Baumwollplantagen, ange-trieben von peitschenschwingenden Weissen auf dem hohem Ross. Dieses Bild ziehe eine ganze Reihe von Kli-schees nach sich, so der Indologe Mi-chael Mann von der Humboldt-Univer-sität in Berlin, beispielsweise das der Rechtlosigkeit. Aber «zu keiner Zeit und an keinem Ort der Welt waren Sklaven ausschliesslich rechtlose Subjekte», schreibt der Fachmann, ohne die Grau-samkeit des Phänomens in Abrede zu stellen. Sklaverei gibt es in zahllosen Formen, und bis anhin existiere keine befriedigende Definition dieser seit Jahrtausenden – und bis heute – gesell-schaftlich akzeptierten Erscheinung. Michael Mann selber definiert in sei-nem Buch «Sahibs, Sklaven und Solda-ten» als Sklaven einen Menschen, der in das persönliche Eigentum eines anderen Menschen übergegangen ist, jederzeit veräussert werden kann und zur Arbeit gezwungen ist. Konzeptionell basiere die Institution Sklaverei «auf dem Er-satz für einen nicht erlittenen Tod», meist im Kriegsfall. Das habe nichts mit Gnade oder Nächstenliebe zu tun, son-dern diente einzig zur Rekrutierung von Arbeitskräften.

In einer kurzen Einleitung schreibt Mann über Entstehung und Ausbreitung der Sklaverei, die schon in Mesopotami-en im 2. Jahrtausend vor Christus das Los der meisten Kriegsgefangenen war. Sklaverei war auch unter den Juden des Alten Testaments üblich, und ohne Heerscharen von Sklaven wären Grie-chen und Römer nicht in der Lage gewe-sen zu erreichen, was sie erreicht haben. Während aber der Sklavenanteil in der Antike «nur» 20 Prozent betrug – die «kritische Masse» um in den Augen des Autors als Sklavengesellschaft bezeich-net zu werden –, erreichte er in den Süd-staaten der USA bis 70 Prozent der Ge-samtbevölkerung!

In den folgenden Kapiteln wird klar, dass auch in Südasien solche Sklavenge-sellschaften normal waren. Gemäss neu-eren Forschungen versorgte das sub- saharische Afrika nicht nur die Gebiete rund um das Mittelmeer, die Karibik, Nordafrika und die beiden Amerikas mit Menschenmaterial, sondern eben auch die Anrainerstaaten rund um den Indi-schen Ozean. Bereits vorhandene Struk-turen der Sklaverei und des Sklaven-handels sind laut Mann durch die euro-päische Kolonialherrschaft seit dem 16.

Jahrhundert aggressiv ausgeweitet und in das transatlantische Handelssystem eingebunden worden – eine frühe Form der globalen Vernetzung. Die Abschaf-fung des Menschenhandels 1807 und der Sklaverei 1834 im Britischen Imperium hatte einen massiven Aufschwung bei-der Phänomene in den anderen Koloni-algebieten zur Folge, besonders in Mosambik, Madagaskar und Sansibar. In Ostafrika und auf der arabischen Halb-insel dauerte der Sklavenhandel an, zum Teil sogar mit britischer Unterstützung.

Aufschlussreich sind die Ausführun-gen zur Forschungssituation. Sklaverei und Sklavenhandel sind ausgesprochen junge Untersuchungsfelder. Umfassen-de Gesamtdarstellungen zur Situation an der afrikanischen Ostküste und in den arabischen Ländern erschienen erst

in den 1970er Jahren. Weil die britische Geschichtsschreibung die Sklaverei rund um den Indischen Ozean als etwas ganz Anderes betrachtete als diejenige in Amerika, die entsprechende Bezeich-nung tunlichst vermied und so die Skla-verei in den Kolonialgebieten überhaupt in Abrede stellte, fehlten grundlegende wissenschaftliche Aufarbeitungen bis in die 80er Jahre. Eine erste monografische Studie erschien gar erst 1999.

Neuste Forschungen zeigen, dass Sklaverei und Sklavenhandel keine loka-len oder regionalen Phänomene waren, die getrennt voneinander existierten, sondern als weltweiter «dynamischer Bestandteil eines sich (...) in globalen Bezügen vernetzenden und zunehmend kapitalistisch ausgerichteten Wirt-schaftssystems» zu betrachten sind.

Menschenhandel Ausbeutung und Knechtschaft begleiten die Kulturgeschichte seit jeher. Dass sie auch rund um den Indischen Ozean im grossen Stil stattfanden, belegt eine neue Studie

Besiegt, versklavt, verkauft

Pressefotografie Als die Welt noch schwarzweiss war

Eine Spur von Elvis in der Haartolle, gewagte Jackets und ein mürrisch-scheuer Blick auf die maskierte Schöne. Auf dem Maskenball im «Kreuz» in Schüpfheim ist 1977 die Welt noch in guter Ordnung. Emanuel Ammons Fotoband «70er» bringt eine Zeit zurück, als Fotos schwarzweiss waren und Röcke kurz, als man noch ohne Helm aufs Töffli sass und die Kinderwagen aussahen wie auf der Bühne bei Emil. Auch der junge Emil selbst fehlt nicht in dieser Rückschau des Luzerner Fotografen, ebenso wenig wie der alte Hans Erni, die 13-jährige Anne Sophie Mutter oder Guru Maharishi, mit Rolls Royce in

Weggis. Von 1975 an arbeitete Ammon als Presse-fotograf für das «Luzerner Tagblatt», was ihn nicht nur an die Musikfestspiele und in den Zirkus, sondern auch zu Schwingfesten, Verkehrsunfällen und Bränden führte. Verdienstvoll erklärt der Fotograf in eigenen Bildlegenden, wer da auftrat beim Punkkonzert in Adligenswil, und wie es kam, dass er die Rockband Krokus mitten auf der Bühne zwischen den Musikern stehend ablichten konnte. Kathrin Meier-RustEmanuel Ammon: 70er. Pressefotografie. Aura Fotobuchverlag, Luzern 2011. 256 Seiten, Fr. 86.–.

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29. Januar 2012 NZZ am Sonntag 25

Thomas Buomberger, Peter Pfrunder (Hrsg.): Schöner leben, mehr haben. Die 50er Jahre in der Schweiz im Geiste des Konsums. Limmat, Zürich 2012.267 Seiten, Fr. 54.-.

Von Martin Walder

Sie haben keinen guten Ruf: «die langen Fünfziger», die «falschen Fufziger», die «bleierne Zeit». Erstickend seien sie gewesen in ihrer Kultur der Verbote und des Mittelmasses, bieder im Brötchen-duft der Bäckerei Zürrer, restaurativ, konformitätssüchtig; erst «68» brachte die Erlösung eines breiten politischen, sozialen und mentalen Aufbruchs.

Wer gleich nach dem Zweiten Welt-krieg geboren ist, kann das von heutiger Warte aus so sehen und liegt nicht gar daneben. Interessant nur, dass die eige-nen Erinnerungen an damals dem Be-fund teilweise widersprechen und ihn immer wieder lebhaft unterspülen.

Kribbelnde ÄngsteWar da nicht auch ein unbesorgt anste-ckendes Gefühl des Aufbruchs, ein geschenktes Versprechen von Zukunft, eine naiv blühende technische Fort-schrittsgläubigkeit, dass alles machbar und erreichbar sein würde? Ihr gegen-über existierte zwar die Angst im Kalten Krieg vor der totalen atomaren Vernich-tung, sie wurde von uns Jugendlichen aber eher kribbelnd-abstrakt und später dann (mit Weizsäcker & Co.) auch mo-ralisch herausfordernd erlebt. Kurz ge-sagt: In den Fünfzigern schien die Welt für einen Heranwachsenden noch er-oberbar.

Wie wenig ein pauschales «Fifties-Bashing» taugt und gerechtfertigt ist, zeigt anschaulich dieser Bild- und Text-band zu jener Zeit, die sich im Übrigen nicht strikte ins Korsett einer geraden Dekade zwängen lässt. Die Fünfziger fingen bald nach dem Krieg an und reichten bis in die Hälfte der 60er Jahre hinein – in der Schweiz vielleicht mit dem Kulminationspunkt der «Expo 64» in Lausanne, die nach vorne schaute und gleichzeitig im Armee-Pavillon die alte Schweiz nochmals wehrhaft einigelte.

Frauen ohne StimmrechtIn neun lesenswerten Essays fächert der Band ein Panorama jener Jahre auf: Eine glänzende kulturgeschichtliche Analyse des Phänomens Kühlschrank respektive moderner Häuslichkeit von Beatrice Schumacher fehlt darin so wenig wie jene des damals überbordenden Mythos Auto und des Strassenbaus durch Tho-mas Buomberger. Die eklatanten Wider-sprüche zwischen weiblichen und männlichen Rollenbildern und Rollen-Realität (Stimmrecht!) werden von Eli-sabeth Joris blossgelegt, die erwachende Macht der Unterhaltungsindustrie zwi-schen Patriotismus und Weltläufigkeit von Edzard Schade und Samuel Mu-

menthaler geschildert, der Einbruch des «Fremden» aus dem südlichen Nachbar-land von Gianni D’Amato untersucht.

Bereits Georg Kohlers Einleitungs-Essay macht unter dem Titel «Konsum-glück, Kalter Krieg und Zweite Moder-ne» jenes Phänomen namhaft, von dem die Epoche, wie sich in den Beiträgen stets von neuem zeigt, politisch, kom-merziell und kulturell durchsetzt war: der Kalte Krieg mit seinem auch das Selbstverständnis der neutralen Schweiz stabilisierenden Antikommunismus. Dieser nahm die Idee der Geistigen Lan-desverteidigung der Nazizeit ins erste Nachkriegsjahrzehnt in Variation herü-ber. Der Antikommunismus «als Klam-mer, welche die Schweiz zusammen-hielt: Er war Ideologie und Methode»,

schreibt Benedikt Loderer in seinem Beitrag zum «Armeereformhaus» Schweiz und erinnert an die Frage von Frischs Stiller: «Was ist, wenn ihnen die Russen erspart bleiben, ihr eigenes Ziel?» Ja, was war das eigene Ziel?

Im Befund des «Fortbestands tradier-ter Ordnung unter neuen Vorzeichen» (Beatrice Schumacher) wird einiges von der Widersprüchlichkeit der Fünfziger fassbar. Nicht zuletzt spiegelt sich in dem schön gemachten Buch die bei aller Kontinuität «unterschwellige Dynamik» der Schweizer Fotografie damals auch im reichen Bildteil, den Peter Pfrunder, Direktor der Fotostiftung Schweiz, zu-sammengestellt hat. Da sind die Fünfzi-ger gleich wieder zum Riechen und zum Schmecken nahe.

Konsum Die Schweiz der 50er Jahre – eine Epoche voller Widersprüche

Kühlschrank und Kalter Krieg

Die Werbung in den 1950er Jahren pries das Glück des Besitzes von neuen elektrischen Geräten.

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Sachbuch

26 NZZ am Sonntag 29. Januar 2012

Klaus Töpfer, Ranga Yogeshwar: Unsere Zukunft. Ein Gespräch über die Welt nach Fukushima. C. H. Beck, München 2011. 234 Seiten, Fr. 28.50.

Von Patrick Imhasly

Als es vor bald einem Jahr im Atom-kraftwerk Fukushima Daiichi zur nukle-aren Katastrophe kam, wurde die japani-sche Gesellschaft in ihrem grenzenlosen Vertrauen in die Technik erschüttert. Energiepolitische Konsequenzen aus diesem Unglück zogen dann aber nicht etwa die Japaner, sondern die Deutschen und die Schweizer. Deutschland und die Schweiz beschlossen, definitiv aus der Kernenergie auszusteigen und stattdes-sen vermehrt auf alternative Energie-quellen wie Sonne oder Wind zu setzen.

Das tönt gut, doch wie müssen die Menschen ihr alltägliches Verhalten än-dern, um die Energiewende möglich zu machen? Und wie wird die Welt nach

Fukushima aussehen? In einem Inter-viewbuch diskutieren Klaus Töpfer und Ranga Yogeshwar über Fragen, die viele von uns beschäftigen. Der CDU-Politi-ker Klaus Töpfer hat langjährige Erfah-rung in Umwelt- und Energiethemen: als Minister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit unter Helmut Kohl, später als Exekutivdirektor des Umweltprogramms der Vereinten Na-tio nen und schliesslich als Co-Vorsit-zender der deutschen Ethikkommission für eine sichere Energieversorgung, die Angela Merkel nach Fukushima einsetz-te. Der indischstämmige Ranga Yogesh-war seinerseits war als Nuklearphysiker tätig, bevor er Wissenschaftsjournalist wurde und sich einen Namen als Ent-wickler und Moderator diverser Forma-te im deutschen Fernsehen machte.

Bescheidenere Autos fahren, seltener fliegen, den persönlichen Energiever-brauch reduzieren, Solaranlagen auf dem Hausdach und weg vom grenzenlo-sen Konsum: Das sind nur ein paar der

Rezepte, welche die Autoren für eine neue Gesellschaft propagieren. Denn diese muss den Strom kompensieren, der durch den Ausfall der Kernenergie wegfällt. Ob das klappen kann? «Ich bin da keineswegs resignativ», sagt Töpfer, es sei «eine grossartige Chance, die Energiewende erfolgreich umzusetzen.» «Wir müssen die Dinge grundsätzlicher angehen», erklärt demgegenüber Yo-geshwar: «Mit etwas Glück werden wir in dreissig, vierzig Jahren zur Neujahr-zeit keine Reden mehr hören, in denen Vokabeln wie ‹Wachstum› vorkommen. Vielmehr wird es in ihnen um Glück, Wahlmöglichkeiten, kulturelle Vielfalt und Freiheit gehen.»

Was Töpfer und Yogeshwar uns er-zählen, ist alles richtig, sympathisch und muss vielleicht so sein. Schade nur, klopfen sich die beiden allzu oft gegen-seitig auf die Schultern. Dabei hätten sie besser kontrovers erörtert, warum die Energiewende eben doch nicht so ein-fach zu schaffen sein wird.

Umweltschutz Zwei Experten diskutieren über die Zukunft

Nicht weniger als die Energiewende

Das amerikanische Buch Richard Holbrooke, Gestalter der US-Aussenpolitik

Selten war Trauerarbeit für eine brei-tere Öffentlichkeit so fruchtbar wie der Sammelband The Quiet American. Richard Holbrooke in the World (PublicAffairs, 383 Seiten), der die Karriere dieses bedeutenden Diplomaten mit Beiträgen von Weggefährten und an-hand eigener Texte darstellt. Das Buch macht nicht nur die Verdienste Holbrookes lebendig, sondern illust-riert auch die Grenzen und Möglich-keiten der amerikanische Aussenpolitik seit dem Beginn des Vietnam-Krieges unter John F. Kennedy. Der Demokrat Holbrooke war an deren Gestaltungdirekt beteiligt, wenn seine Partei das Weisse Haus kontrollierte. Republika-nische Regierungen hat er als scharf-sinniger Publizist begleitet, währender als Banker unter anderem bei der Credit Suisse tätig war.

Wie die Herausgeber Derek Chollet und Samantha Power in ihrem Vorwort er-klären, entstand die Idee zu «The Quiet American» in den Wochen nach Holbrookes Tod am 13. Dezember 2010. Zwei Tage zuvor hatte er Hillary Clin-ton im US-Aussenministerium über seine Arbeit als Sonderbeauftragter für Afghanistan und Pakistan berichtet. Der 69-Jährige erlitt dabei einen massi-ven Herzinfarkt, dem er schliesslich er-legen ist. Vor seinem Krankenzimmer und auf der Beisetzung trösteten Holbrookes Freunde und Kollegen ein-ander mit Erinnerungen, die nach ei-nem dauerhaften Gefäss riefen, so die Herausgeber. Laut Power zählten sie und Chollet zu den vielen Talenten, die in Holbrooke einen liebevollen, aber kritischen Mentor fanden. Power lernte den Diplomaten als junge Journalistin

während der Balkankriege kennen. Sie ist nun zur Menschenrechtsbeauftrag-ten von Barack Obama aufgestiegen. Chollet war Holbrookes Assistent wäh-rend dessen Zeit als UN-Botschafter der USA Ende der 1990er Jahre.

Trotz der persönlichen Nähe der Auto-ren zu ihm bleibt «The Quiet Ameri-can» dem Charakter Holbrookes verpflichtet, der sich durch seinen Ehr-geiz und seine unverblümte Art in Wa-shington auch Feinde geschaffen hat. Wie der ehemalige Staatssekretär Strobe Talbott schreibt, blieb Holbrooke deshalb der heiss ersehnte Aufstieg zum Aussenminister versagt. Auch die Auto-ren nehmen kein Blatt vor den Mund und schildern Holbrookes Eigensinn in anschaulichen Anekdoten. Dafür mag das Zitat von Henry Kissinger genügen, der diese vitale Persönlichkeit so be-schrieben hat: «Wenn Richard dich um

etwas bittet, ist es am besten, Ja zu sa-gen. Denn sonst wird der Weg von ei-nem Nein zum Ja höchst peinsam. Absagen akzeptiert er nicht.»

Philosophisch stand Holbrooke dem Aussenminister republikanischer Prä-sidenten durchaus nahe. Wie Kissinger – allerdings nur von der Mutter her – ein Nachkomme jüdischer Naziflücht-linge aus Deutschland, war er ein hochintelligenter Pragmatiker und überzeugt von der globalen Mission Amerikas als Ordnungsmacht. Und wie Kissinger hat Holbrooke fest geglaubt, Geschichte werde letztlich von grossen Männern gemacht. Talbott lässt keinen Zweifel daran, dass sein FreundRichard sich für eine dieser Persönlich-keiten gehalten hat. Sein grösster Er-folg, die Beilegung des Balkankonfliktes in Dayton Ende 1995, hat Holbrooke in dieser Überzeugung bestätigt.

Wie die «New York Times» in einer an-sonsten lobenden Besprechung an-merkt, hat der Erfolg amerikanischer Bombenangriffe auf Serbien Holbrooke jedoch zu der Illusion verleitet, diese würden auch im Irak Saddam Husseins rasch die Ziele Washingtons durchset-zen. Dabei hat Holbrooke als Co-Autor der «Pentagon Papers» bereits wäh-rend des Vietnamkrieges verstanden, dass Wunschträume und konfuse Ent-scheidungsabläufe auch das mächtige Amerika in eine Katastrophe führen können. So haben ihn während seiner letzten, unvollendeten – und letztlich wohl unmöglichen – Mission inAfghanistan ständig Erinnerungen an Vietnam gequält. Von Andreas Mink

Richard Holbrooke spricht mit einem Flüchtling im pakistanischen Lager von Chota Lahore.Autorin Samantha Power (unten).

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Agenda

29. Januar 2012 NZZ am Sonntag 27

BaselDienstag, 7. Februar, 19 UhrBarbara Honigmann: Bilder von A. Lesung, Fr. 17.–. Literatur haus, Barfüssergasse 3, Tel. o61 261 29 50.

Donnerstag, 9. Februar, 19 UhrSandra Hughes: Zimmer 307. Lesung, Fr. 17.–. Literaturhaus (s. oben).

Donnerstag, 23. Februar, 19 UhrHeiko Haumann: Hermann Diamanski – Überleben in der Katastrophe. Lesung, Fr. 17.–. Literaturhaus (s. oben).

BernDonnerstag, 2. Februar, 19 Uhr Werner Wüthrich: Frauen Land Frauen.Lesung, Eintritt frei, inkl. Apéro. Haupt- Buchhandlung, Falkenplatz 14, Tel. 031 309 09 09.

Freitag, 17. Februar, 19.30 UhrPedro Lenz: Dr Goalie bin ig. Lesung, Fr. 20.–. Forum Altenberg, Altenberg -str. 40, Tel. 031 332 77 60.

Mittwoch, 22. Februar, 20 UhrMilena Moser: Montagsmenschen. Lesung, Fr. 15.–. Thalia im Loeb, Spitalgasse 47/51, Tel. 031 320 20 40.

ZürichDonnerstag, 2. Februar, 20 UhrEndo Anaconda: Walterfahren. Lesung, Fr. 18.–. Kaufleuten, Pelikanplatz 1, Tel. 044 225 33 77.

Dienstag, 7. Februar, 20 UhrArno Camenisch: Ustrinkata. Lesung, Fr. 18.– . Literaturhaus, Limmatquai 62, Tel. 044 254 50 00.

Donnerstag, 9. Februar, 20 UhrAsli Erdogan. Die türkische Autorin in Residence im Gespräch. Fr. 18.– inkl. Apéro. Literaturhaus (s. oben).

Freitag, 10. Februar, 16 UhrAlbert der Storch. Kinderlesung mit Claudia Engeler. Für Kinder von 4 bis 8 Jahren. Pestalozzi-Bibliothek, Zürich-Affoltern, Bodenacker 25. Info: www.pbz.ch.

Mittwoch, 22. Februar, 20 UhrHelen FitzGerald: Tod sei Dank. Lesung, Fr. 15.–. Kaufleuten (s. oben).

Donnerstag, 23. Februar, 20 UhrSarah Kuttner: Wachstumsschmerz. Lesung, Fr. 25.–. Komplex 457, Hohlstrasse 457, Tel. 044 500 00 60.

Erhebung Media Control im Auftrag des SBVV; 17. 1. 2012. Preise laut Angaben von www.buch.ch.

Agenda Februar 2012

Bestseller Januar 2012

Bücher am Sonntag Nr. 2erscheint am 26. 2. 2012

Weitere Exemplare der Literaturbeilage «Bücher am Sonntag» können bestellt werden per Fax 044 258 13 60 oder E-Mail [email protected]. Oder sind – solange Vorrat – beim Kundendienst der NZZ, Falkenstrasse 11, 8001 Zürich, erhältlich.

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SachbuchBelletristik

1 Walter Isaacson: Steve Jobs. Bertelsmann. 701 Seiten, Fr. 35.50.

2 Guinness World Records 2012. Bibliographisches Institut. 280 Seiten, Fr. 35.90.

3 Barney Stinson: Das Playbook. Riva. 176 Seiten, Fr. 15.90.

4 Barney Stinson: Der Bro Code. Riva. 200 Seiten, Fr. 14.90.

5 Rolf Dobelli: Die Kunst des klaren Denkens. Hanser. 246 Seiten, Fr. 21.90.

6 Esther Girsberger: Eveline Widmer- Schlumpf. Orell Füssli. 208 Seiten, Fr. 29.90.

7 Lisa Marti: Mutanfall. Wörterseh. 205 Seiten, Fr. 39.90.

8 Richard D. Precht: Warum gibt es alles und nicht nichts. Goldmann. 200 Seiten, Fr. 34.50.

9 Remo H. Largo: Jugendjahre. Piper. 400 Seiten, Fr. 35.90.

10 Martin Ott: Kühe verstehen. Faro. 172 Seiten, Fr. 34.90.

1 Catalin D. Florescu: Jacob beschliesst zu lieben. C. H. Beck. 402 Seiten, Fr. 25.90.

2 Michael Theurillat: Rütlischwur. Ullstein. 381 Seiten, Fr. 26.90.

3 Umberto Eco: Der Friedhof in Prag. Hanser. 519 Seiten, Fr. 32.90.

4 Paulo Coelho: Aleph. Diogenes. 309 Seiten, Fr. 27.90.

5 Jonas Jonasson: Der Hundertjährige. Carl’s Books. 412 Seiten, Fr. 21.90.

6 Alex Capus: Léon und Louise. Hanser. 314 Seiten, Fr. 24.90.

7 Charles Lewinsky: Gerron. Nagel & Kimche. 539 Seiten, Fr. 34.90.

8 Cecelia Ahern: Ein Moment fürs Leben. Krüger. 447 Seiten, Fr. 19.50.

9 Jussi Adler-Olsen: Erlösung. dtv. 588 Seiten, Fr. 19.90.

10 Paul Wittwer: Widerwasser. Nydegg. 400 Seiten, Fr. 39.-.

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Der jüngste Beatle Naturschützer und Rennsport-Fan

George Harrison (1943–2001) war nicht nur der jüngste und sympathischste Beatle: Er war auch als Solokünstler ein vorzüglicher Musiker – und eine vielfältige Persönlichkeit. Umweltschützer, leidenschaftlicher Gärtner und zugleich Formel-1-Fan, Sinnsucher und Filmproduzent für die schräge Truppe Monty Python. In sich gekehrter Philosoph und wilder Rock ’n’ Roller. Er tat Entscheidendes für die Popularität des Sitar-Virtuosen Ravi Shankar, mit

dem er hier posiert, und musizierte mit einem Who Is Who der Musikszene von Eric Clapton bis Bob Dylan. Olivia Harrison, die seit 1978 mit George verheiratet war, hat ihrem Mann einen umfassenden Text-Bild-Band gewidmet, der mit zahlreichen überraschenden Fotos und Dokumenten aufwartet. Manfred Papst Olivia Harrison: George Harrison. Living In The Material World. Knesebeck, München 2011.399 Seiten, Fr. 53.90.

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www.nzz-libro.ch

Freiheit, Recht und Reichtum sind eine direkte Folge staatlicher

Souveränität. Im Umkehrschluss bedeutet das: Je weniger

Souveränität, desto weniger Reichtum, Recht und Freiheit. Dennoch

wird heute in internationalen Gremien viel über Souveränitätsverzicht

als Mittel zur Mehrung von Frieden und Wohlstand diskutiert.

Johannes B. Kunz geht in seinem Buch diesem Widerspruch auf den

Grund und erläutert den Zusammenhang zwischen Souveränität und

Freiheit bzw. Demokratie.

Die staatliche Souveränität sieht er durch die Machtpolitik, die inter-

nationalen Organisationen, den heutigen humanitären Interventionis-

mus und die Europäische Union gefährdet. Er setzt die Souveränität

in Bezug zur Globalisierung und zeigt Wege auf, wie sie gewahrt

werden kann.

Max Imbodens Buch «Helvetisches Malaise» hat 1964 für heftige

Diskussionen gesorgt. Es diagnostizierte der schweizerischen Politik

u. a. Isolationismus, Sloganisierung und Verdrossenheit beim Wahl-

und Stimmvolk. In Intellektuellenvoten fällt das Schlagwort

«helvetisches Malaise» seither regelmässig, obwohl zu vermuten ist,

dass nicht alle den wegweisenden Text noch präsent haben.

Jetzt kann Abhilfe geschaffen werden. Georg Kreis hat Imbodens

Text mit Kommentaren und Hinweisen zur Wirkungsgeschichte neu

herausgegeben.

2011. 400 Seiten, 5 Grafiken.Fr. 58.– / € 50.–

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Das «Helvetische Malaise»Max Imbodens historischer Zurufund seine überzeitliche Bedeutung

Georg Kreis

DIE NEUE POLISVerlag Neue Zürcher Zeitung

«Helvetisches Malaise» von 1964 gehört zuden in seiner Zeit am häufigsten zitiertenSchriften. Ihr Ruhm hallt bis heute nach.Der an der Universität Basel lehrende undals Freisinniger politisierende Professorfür Staats- und Verwaltungsrecht Max

Imboden setzt sich darin kritisch mit denSchwächen des politischen Systems der

Schweiz auseinander. Schon damals merkteer an, dass die Schweiz nicht als autarke Inselim europäischen Staatengefüge existierenkann. In der Neuedition dieser historischenIntervention wird der Text mithilfe erstmalszugänglicher Tagebuchaufzeichnungen inden zeitgenössischen Kontext eingeordnet,im Detail kommentiert und im Lichte der

weiteren Entwicklung bewertet.[164 Seiten zeitgenössische Politik]

2011. 164 Seiten, 7 s/w Abbildungen.Fr. 24.– / € 21.–